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Erstes Kapitel.
Nachts im Regen


Lieber Leser –

Kennst du das Land, wo die Citronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still, und hoch der Lorbeer steht?

Wenn du dieses Land kennst, so wirst du uns zugeben, daß zwischen dem Frühlingsabend eines solch' wunderbaren Klima's und einer Spätherbstnacht in unserem sonst so gesegneten Deutschland ein gewaltiger Unterschied herrscht. Gewiß kennst du solche Nächte, und doch können wir nicht unterlassen, dir Eingangs unserer wahrhaftigen Geschichte eine solche zu schildern. Es ist eine von jenen Nächten, wo statt sanften Windes ein kalter Regen nicht nur vom Himmel herabfließt, sondern von heimtückischen Windstößen durch die Luft dahergepeitscht wird und dem nächtlich Wandelnden wie scharfer Hagel ins Gesicht fährt. Tiefdunkel ist der Himmel überzogen, von Mondschein und Sterngeflimmer keine Spur, und die Gaslichter in den Straßen sind auch nicht im Stande, ihren Dienst gehörig zu versehen. Sie leuchten nur wenige Schritte durch Dunst und Nebel und vermögen kaum ihr elendes, flackeriges Dasein vor dem einherstürmenden Winde zu bewahren. Wo solch ein dürftiger Lichtstrahl indessen das Pflaster spärlich erhellt, da sehen wir es von Regenwasser überflutet, bemerken immer neue glänzende Tropfen, die in schiefer Richtung und so zahlreich darauf einschlagen, daß wir uns nicht verwundern, wie die Dachröhren sprudelnd ihr Wasser ausspeien und es kaum zu bewältigen vermögen.

Auf den Straßen ist es so still und einsam, daß wir das Rieseln des Regenwassers von den Dächern und in den Rinnsteinen wie ein gelindes Brausen vernehmen. Zuweilen klappern die Ziegel auf den Häusern, wenn der rohe Wind dagegen fährt; zuweilen auch schlägt ein Fensterladen, den man zu befestigen vergaß, und nur selten hört man die Schritte eines Vorüberwandelnden auf dem Pflaster, eilige Schritte, und wenn wir im zweifelhaften Scheine der Laternen die Gestalt erblicken, welche dahin eilt, so sehen wir sie dicht in den Mantel oder Paletot gehüllt, den aufgespannten Regenschirm mühsam gegen den Wind balancirend. – Kurz, es ist ein Wetter, von dem man zu sagen pflegt, es sei zu schlecht, um einen Hund auf die Straße zu jagen.

Diesem schlechten Wetter ist es hauptsächlich zuzuschreiben, daß die große Stadt, in welcher unsere wahrhaftige Geschichte beginnt, wie ausgestorben erscheint. Die Thurmuhren schlugen erst vor wenig Augenblicken die zehnte Stunde, und das ist eine Zeit, wo es gewöhnlich hier auf den Gassen und Plätzen noch ziemlich lebhaft zugeht; bei Regen und Sturm aber, wie heute, ist sie eine der stillsten Stunden. Der ruhige Bürger befindet sich zu Hause, die Theatervorstellungen sind beendigt, und was die Wirthshausbesucher anbelangt, so sitzen diese jetzt fest hinter ihrem Schoppen und warten ruhig die elfte Stunde ab, ehe sie seufzend ans Heimgehen denken. Herrschaftliche Equipagen, Fiaker und Miethwagen sind um diese Zeit ebenfalls nicht auf den Straßen, Gesellschaften und Bälle haben um acht Uhr begonnen, darauf sind die Pferde in den Stall gezogen worden, und während sie dort ihre Köpfe hängen lassen und vielleicht trauernd an die späte Nachtstunde denken, wo sie noch einmal in Regen und Wind hinaus müssen, sitzen ihre Lenker und Bändiger in den verschiedenen Kneipen, wohin sie eine zarte Neigung treibt, die Anhänglichkeit an irgend einen guten Wein, an die rothe, bekannte Nase des Wirthes, oder an die dicken Backen der Kellnerin.

Wenden wir unsere Schritte nach einer Straße, welche, ziemlich im Mittelpunkte der Stadt gelegen, viele Bier- und Weinhäuser verschiedenen Ranges hat, Schenkstuben der mannigfachsten Gattung, von der kleinen Kneipe an, die, aus einer einzigen schwarzgerauchten Stube bestehend, versteckt in einem Thorwege liegt, bis zum großen Gesellschaftshause der höheren Bürgerklasse, welches wir dort oben sehen und dessen viele erleuchtete Fenster freundlich durch die Nacht strahlen.

Auch diese Straße scheint uns um die zehnte Stunde vollkommen menschenleer zu sein. – Doch nein. Wenn wir scharf nach der rechten Seite hinblicken, so bemerken wir in der Mitte derselben eine Menge alter Gebäude mit hohen Giebeldächern, deren Spitzen mit Wetterfahnen gekrönt sind, welche sich kreischend herumdrehen. Vor einem dieser Häuser befindet sich eine Gaslaterne, deren flackernder Schein dasselbe zuweilen bestrahlt, wo wir alsdann bemerken, daß die Vorderseite mehrere bunte Schilder hat, von denen eines hellblau mit goldenen Buchstaben den Namen: »Schwörer, Schneidermeister,« zeigt.

Vor diesem Hause nun sehen wir etwas sich hin und her bewegen. Es ist unzweifelhaft ein lebendes Wesen, das dicht bei der Thüre wie ein Schatten hin und her gleitet, jetzt langsam, jetzt geschwind, so daß es uns auf die Vermuthung bringen könnte, es sei vielleicht ein großer Hund, den man hinausgesperrt. – Aber es ist kein Hund; denn, wie schon gesagt, Hunde pflegt man bei solchem Wetter nicht auf die Straße zu jagen. Es ist vielmehr ein Knabe von vierzehn bis fünfzehn Jahren, in einem sehr ärmlichen Anzuge. Die Beinkleider haben eine für diese Jahreszeit erschreckende Aehnlichkeit mit Sommerhosen; das Jäckchen ist überall zu kurz, und da sein Besitzer, des herabflutenden Regens wegen, es etwas an die Ohren hinaufgezogen hat, so schaut unten das Hemd hervor und zeigt uns, daß der nächtliche Spaziergänger nicht im Besitz einer Weste zu sein scheint. Eine Tuchkappe bedeckt seinen Kopf, die Hände hat er fröstelnd in die Hosentaschen gesteckt.

So trabt er an dem Hause auf und nieder, gar kläglich anzusehen. Jetzt bleibt er einen Augenblick an der Hausthür stehen, blickt durch das Schlüsselloch hinein, dann nähert er sich der Klingel, die daneben hängt, ja, er streckt schon die Hand aus, um sie in Bewegung zu setzen, fährt aber erschrocken wieder zurück, als sei er im Begriffe gewesen, etwas Schreckliches zu begehen.

Die Uhren haben unterdessen halb Elf und drei Viertel geschlagen, und manchen der Gäste in den verschiedenen Wirthshäusern der Straße treibt das Herannahen der Polizeistunde nach Hause, oder der Wunsch, seiner harrenden Gattin vor die Augen treten zu können, bevor der Wächter die elfte Stunde gerufen.

Wenn solche Wanderer, bei dem kleinen Buben vorübergehen, so drückt sich derselbe in eine dunkle Ecke des Hauses, um nicht erblickt zu werden, wogegen seine scharfen Kinderaugen die Vorübergehenden genau betrachten und viele derselben erkennen.

Das ist der Herr Kaufmann Schratter, sagt er, der junge Herr Schratter. Er hat den neuen Radmantel um, den ich ihm gestern gebracht. So ein Radmantel gibt warm, setzt er fröstelnd und seufzend hinzu. – Da kommt auch der Herr Kanzleirath Schwarz. Vor acht Tagen neue Hosen und Weste. Auch nicht schlimm bei so kaltem Wetter. – Ein wehmüthiges Lächeln zuckte um das runde Gesicht des kleinen Buben, wobei er den vergeblichen Versuch machte, sich hinter den Ohren zu kratzen, was aber der aufrechtstehende nasse Kragen nicht recht zuließ. – Hätte ich nur einen kleinen Theil der warmen Kleider, die ich die Woche schon ausgetragen habe, da könnte ich es schon besser in dem garstigen Regenwetter aushalten.

Bei diesen Worten blicke er seufzend an dem Hause empor und drückte sich in eine kleine Vertiefung der Mauer, wo sich ein Prellstein befand, auf den er sich zitternd vor Frost niederließ.

Wenn ich nur einmal einen Rock fände, sagte er nach einer Pause, der Niemand gehörte, und in dem Rocke eine Hand voll Geld, die auch keinen Herrn hätte! Da ginge ich zu der Mutter hin und sagte ihr: Hier hab' ich einen großen Rock, daraus mach' ich einen für mich und einen für das Bübchen. Und hier hab' ich das Geld; das sollst du alles behalten können, aber dann – brauch' ich auch nicht mehr zu Meister Schwörer zu gehen. – Nie, nie mehr zu Meister Schwörer! fuhr er nach einer Pause fast zornig fort, und darauf ballte er seine Hände in den Hosentaschen zusammen, und sein Gesicht verzog sich zu einem leisen Weinen. Doch kam es nicht dazu; vielmehr schien der jugendliche Uebermuth durchzuschlagen; denn nach einigen Sekunden warf er den Kopf trotzig, fast lustig in die Höhe und begann die Melodie eines bekannten Liedes leise vor sich hin zu pfeifen. Es schien fast, als habe er sich damit Muth machen wollen und diesen Zweck auch erreicht; denn nachdem das Lied beendigt war, nicht ohne daß er mehrere Tonarten zu Rathe gezogen, sprang er von dem Prellstein in die Höhe, hüpfte in kurzem Galopp an dem Hause auf und nieder und sagte: Ach was! droben in der Dachkammer ist es auch nicht viel besser. Und wie mein Vater oft sagt, wenn er davon erzählt, wie er noch ein kleiner Jägerbursche gewesen und draußen im Walde habe stehen müssen, bei Frost, bei Schnee oder Regen, und wie da die Wölfe gekommen seien, da mag er auch nicht mehr Vergnügen ausgestanden haben, als ich hier. – Wenn ich nur wüßte, ob der Meister Recht hat, wenn er sagt: Wie man sich bettet, so schläft man! Ich kann das nicht wohl glauben; denn ich habe heute Morgen mein Bett recht sauber gemacht, und auch noch den alten Schlittenpelz oben hinauf gelegt, den man heute zum Flicken gebracht. Also: gut gebettet wäre droben, und doch muß ich hier im Regen herum laufen – brrr!

Dieses Brrr, das er laut und schaudernd ausstieß, brachte er nicht mit der anfänglichen Energie zu Ende; vielmehr stocke er plötzlich in Ton und Lauf, denn neben dem verschlossenen Hausthore wurde ein kleines Fenster im Parterrestock mit einem Male erhellt.

Der Meister geht zu Bett, flüsterte der Knabe, wenn ich jetzt ans Fenster klopfe, was kann er mir thun? Aufmachen muß er doch, und an der ersten Ohrfeige bin ich nicht gestorben. – Soll ich oder soll ich nicht? – Ja, ich will klopfen. Kann ich ihm doch die Wahrheit sagen; denn es ist nicht gelogen, daß ich zu Hause das kleine Kind habe wiegen müssen, und wenn er mir nicht glaubt, daß man bei uns im obersten Stock keine Uhr schlagen hört, so kann er hingehen und sich davon überzeugen. – Ja, ich muß klopfen. Wer weiß, wann der Geselle nach Hause kommt! Der scheint mir heut am Ende gar nicht kommen zu wollen, denn sonst müßt' er schon lange da sein.

Das kleine erhellte Fenster war mit einem schweren Gitter versehen, an dessen Stäben sich der Knabe mit einer Hand fest hängte und alsdann mit der andern durch die Oeffnung fuhr, um an die Scheiben zu klopfen. Ehe er dies aber ausführen konnte, begann eine näselnde, schnatternde Stimme im Zimmer ein geistliches Lied zu singen; so klang wenigstens die Melodie, wenn man auch von den Worten nichts weiter verstehen konnte, als zuweilen ein besonders laut betontes, wie Zerknirschung, Sünde, Durchbruch und Gnade.

Der Knabe zuckte die ausgestreckte Hand zurück, hängte sich an das Gitter fest, wobei die Spitzen seiner Füße auf der Steineinfassung des Hauses ruhten. Es mochte zehn Minuten dauern, ehe das Lied drinnen beendigt war; dann räusperte sich die näselnde Stimme, gerade als wenn sie sich zu einem neuen Gesang anschicken wollte; doch kam es nicht dazu, denn man hörte nun eine andere Stimme, eine weibliche, sagen: »Na, jetzt gib Ruhe, Zacharias, ich und die Kinder, wir wollen schlafen, und du brauchst dir nicht einzubilden, daß dich Jemand singen hört. Also spar' meine Kerze, sowie deinen Athem, und komm' ins Bett.«

Die näselnde Stimme murmelte eine Antwort, von der man nur den Schluß verstand, der mit lauterem Tone gesprochen wurde: »Wachet und betet, daß ihr nicht in Versuchung fallet, denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.«

»Das weiß Gott!« seufzte die Weiberstimme.

»Und der böse Geist geht um, zu sehen, wen er verschlinge.«

»Ach was!« entgegnete ärgerlich die weibliche Stimme; »da trau' ich dem bösen Geist einen bessern Geschmack zu, als daß er sich an eurer Sippschaft verlustiren möchte. Ich sage dir, komm ins Bett, oder –«

Ein passenderer Augenblick, um anzuklopfen, kam in heutiger Nacht nicht wieder; der Knabe streckte deßhalb seinen Arm abermals durchs Gitter und klopfte nun ein paar Mal sehr vernehmlich auf die Scheiben.

»Gott im Himmel!« sagte die näselnde Stimme sehr kleinlaut, »hast du das Klopfen gehört? Alle guten Geister –«

»Unsinn!« rief die Frau, »da draußen treibt sich nichts Geistiges herum; das wird dein liederlicher Geselle sein, der beduselt heimkommt, aus irgend einer Betstunde, daß sich Gott erbarm! Den hast du auf dem Gewissen, Zacharias, denn wie der Herr, so 's Geschärr! das Sprüchwort könntest du dir besonders merken.«

»Der Geselle hat einen Hausschlüssel,« entgegnete der Meister sehr kleinlaut.

»Nun, da wird es der Gottschalk sein, der die neun Uhr versäumt hat und nun herein will.«

»Das ist wahr,« hörte man den Meister in lauterem Tone sprechen; »das wird der gottlose Bube sein. Wo ist mein Ellenmaß? Na, ich werde dir helfen, in später Nacht die Leute durch Klopfen an die Fenster zu erschrecken!«

»Soll der arme Teufel vielleicht im Regenwetter draußen bleiben?«

Jetzt hörte man drinnen einen Stuhl rücken, und gleich darauf erschien der Kopf, dem die näselnde Stimme gehörte, an dem Fenster. Es war Meister Schwörer; und wenn dieser würdige Schneidermeister, schwarz angezogen, mit wohlgekämmtem Haar und sanftem, niedergeschlagenem Blick, nicht schön zu nennen war, so sah er heute Abend in der weißen Nachtmütze und einer braungewürfelten Zitzjacke wie eine Vogelscheuche aus, oder vielmehr genau wie einer jener Spielzeugmänner, die aus einem kleinen hölzernen Kasten emporschnellen. Ebenso plötzlich fuhr er in die Höhe und machte auch eine ähnliche Wirkung des Schreckens auf den Knaben; denn als der Meister drinnen so plötzlich auftauchte, fuhr der Lehrling draußen wie entsetzt zurück.

»Richtig, er ist's!« sagte die näselnde Stimme; »na, warte, gottlose Kröte!«

»Wirf' ihm den Hausschlüssel hinaus und halte Frieden!« ermahnte mürrisch die Frau, die augenscheinlich in ihrem Bette lag; denn die sonst kräftige Stimme schien gedämpft durch Vorhänge und Kissen.

Meister Schwörer schien jedoch durchaus keine friedlichen Gedanken zu haben, obgleich seine Augen in stiller Freude leuchteten. Aber es war dieselbe Freude, die wir in dem Blicke eines hungrigen Wolfes sehen, oder eines blutdürstigen Banditen, der, sein Opfer anstarrend, langsam nach seinem Messer greift. Letzteres that nun freilich Meister Schwörer nicht, hatte aber auch nicht nöthig, nach einem Messer oder sonstigen Schneideinstrumente zu suchen, denn die Natur hatte ihm eine Nase verliehen, welche lang hervorstehend, scharf und spitzig war, ja förmlich wie ein gekrümmter Dolch aussah, das Entsetzen seiner Lehrjungen und sämmtlicher Kinder der Nachbarschaft.

Jetzt öffnete er das Fenster ein klein wenig, viel brauchte er nicht, um seine Nase durchzustecken.

»So,« sagte er alsdann, und seine Stimme näselte so furchtbar, daß es klang wie das Kollern eines Truthahns, »du bist draußen, Gottschalk?«

»Ja, Meister,« antwortete demüthig der Knabe.

»Und es regnet wohl recht brav? Und du bist schon ziemlich naß geworden?«

»Ja, Meister.«

»Ei, sieh' doch! Hast du nicht in der Schule bis Neune zählen gelernt? Oder weißt du, gottvergessener Strick, nicht, daß um neun Uhr die Hausthür zugesperrt wird? – Morgen will ich dir einen Hausschlüssel anbieten, weißt du, so einen von zwei Schuhen, biegsam und doch recht dick.«

»Ach, Herr Meister,« erwiderte der Lehrjunge, offenbar mit einer affektirt kläglichen Stimme, »ich war zu Hause, ich habe das kleine Kind herum tragen müssen, und da habe ich nicht gehört, wie es neun Uhr schlug.«

»Du hast das kleine Kind herumtragen müssen! Und wo war denn dein Herr Papa, der saubere Jägersmann?«

»Was geht das dich an, Zacharias?« sagte hier wieder ärgerlich die Frau; »gib ihm endlich den Schlüssel und mach das Fenster zu!«

»Und ich sollte keinen Versuch machen,« versetzte heuchlerisch der Meister, während er seine Augen gen Himmel hob, »diese kleine, zu drei Vierteln verlorene Seele durch gute Ermahnungen noch zu retten? – Gottschalk heißest du,« fuhr er im Predigertone fort, »Gott weiß nichts von dir, aber der Schalk sitzt in deinem Herzen. Warum warst du nicht in der Erbauungsstunde für christliche Lehrlinge, die wir gegründet? – O nein, das paßt dir nicht!– An so was zu denken hast du nicht die Zeit; denn dein Kopf steck voll von andern Dingen. Ist's nicht so, Gottschalk?«

»Ja, Meister.«

»Hast du nicht heute wieder in die Rocktasche Seiner Hochehren unseres würdigen Herrn Pfarrers einen schmutzigen Theaterzettel gesteckt, zum Grauen dieses frommen Mannes? Hast du's nicht gethan?«

»Gewiß nicht, Meister, ich hab' es nicht gethan.«

»So hat es der Danziger gethan, aber du hast darum gewußt, und der Hehler ist wie der Stehler. – Wer hat dagegen heut Abend meinen armen Ludolf gepufft?«

»Zacharias, ich sage dir, mach das Fenster zu!«

»Er hat ihn gepufft!« fuhr der Meister, ins Zimmer gewendet, heftiger fort.

»Ja, Meister, aber er hat mich gekratzt.«

»Himmlischer Vater! Er hat dich gekratzt, das harmlose Kind? Na, warte – morgen früh! Ich will dich bepuffen. Morgen –«

»Kannst du thun, was du willst,« rief ärgerlich die Frau; »aber jetzt schließ' das Fenster und laß das Kind herein – oder –«

»Ja, hereinlassen muß ich dich also,« sagte der Meister erbittert, wobei seine Augen funkelten, wie die einer bösen Katze. »Aber hinauslassen werd' ich dich bald wieder, darauf kannst du dich verlassen, mein Gottschalk! Das kleine Kind hast du herumtragen müssen?«

»Ja, Meister.«

»Während dein sauberer Papa im wilden Jäger gezecht? O! das ist selbst ein wilder Jäger, und deßhalb kann man dir deine Sündhaftigkeit eigentlich nicht so übel nehmen. Aber ich will nicht Theil haben an den Thaten der Gottlosen, ich wasche meine Hände. Morgen kannst du heimziehen und meinetwegen ein Jägerbursche werden; du bist ein junger Satan und gehörst in des Teufels Revier, das da anfängt im finsteren Walde, wo die. Jägersleute zu Hause sind und nächtlich mit dem Bösen verkehren.«

»Zacharias!« rief jetzt die Stimme aus dem Bette in so drohendem Tone, daß der Meister zusammenfuhr und den Hausschlüssel emporhob, welchen er in der linken Hand hielt; doch ehe er ihn durch die Fensterspalte schob und dem vor Angst und Kälte zitternden Knaben in die Hand gab, konnte er sich nicht enthalten, ingrimmig hinaus zu näseln und zu zischen: »Wenn dich nur einmal vor meinen Augen leibhaftig der Teufel holen wollte!«

Das sprach Meister Schwörer, und dabei beugte er sein spitzes, hageres Gesicht durch das Fenster hinaus, so daß ihm der kalte Wind und die Regentropfen, welche derselbe vor sich her jagte, um die scharfe Nase spielten. Aber es war nicht Kälte und nicht Regen, was diese Nase mit einem Male noch spitzer und länger werden ließ, als sie bisher schon war; auch war es nicht der Hauch der kalten Nacht, der sein Gesicht plötzlich mit Todesblässe überzog, während seine Augen auf eine entsetzliche Art vor sich hinstarrten. – Dicht vor ihm an dem eisernen Gitter unmittelbar hinter dem Knaben, der aber nichts davon zu ahnen schien, stand, wie aus der Erde emporgewachsen, eine lange, hagere Gestalt, in einen rothen Mantel gehüllt, das Kinn umschlungen von einem Tuche von derselben Farbe, auf dem Kopfe einen röthlich braunen Hut. – So stand die Gestalt da, ernst und schweigend. Große glänzende, fast glühende Augen blitzten unter dem Hutrande hervor, die Gesichtsfarbe war gelb, und unter der höhnisch aufgeworfenen Lippe hervor glänzten lange, schneeweiße Zähne.

Als der Knabe so mit einem Male das Gesicht seines Meisters und Brodherrn sich verändern sah und dazu bemerkte, wie dessen Augen starr in die Nacht hinausblickten, da war nichts natürlicher, als daß er ebenfalls seinen Kopf herumwandte; doch hatte er nicht so bald die lange, schweigsame Gestalt hinter seinem Rücken gesehen, als er mit einem Schrei des Entsetzens das Gitter losließ und wimmernd an der Mauer niederglitt. Einen nicht minder lauten Schrei stieß auch Meister Schwörer aus, nachdem er das Phantom eine Sekunde lang angestarrt, drückte alsdann hastig das Fenster zu, löschte das Licht aus und eilte zitternd und mit schlotternden Knieen dem Bette zu, wo seine Ehehälfte, durch den doppelten Schrei erschreckt, in die Höhe gefahren war.

»Hast du's gehört?« ächzte er; »hast du's gehört?«

»Und was soll ich gehört haben?« rief Madame Schwörer, wobei sie den Gemahl kräftig abwehrte, der über alle Hindernisse hinweg das sichere Asyl zu erreichen trachtete. »Deine dummen Reden habe ich gehört, was ist denn ums Himmels willen geschehen?«

»O, ich Elender!« rief zähneklappernd der Schneider; und da er in diesem Augenblicke seinen Kopf in die Kissen verbarg, so klang seine Rede nur wie ein dumpfes Murmeln und Gurgeln. »Dem Teufel hab' ich gerufen, er solle den Gottschalk vor meinen Augen holen – und der Teufel – hat ihn geholt.«

»Zacharias, du bist ein Narr!« sprach die Frau scheinbar mit großer Entschiedenheit, doch hatte ihre Stimme nicht den gewohnten festen Klang.

»Er hat ihn geholt!« stöhnte der Meister. »Sah ich ihn doch vor dem Fenster stehen in seiner rothen Höllenlivree; sah ich doch sein grinsendes Maul, die Hörner auf seinem Kopfe und die Krallen, mit denen er den Gottschalk ergriffen. Oh! – oh! oh!«

»Wenn du nicht plötzlich übergeschnappt bist, Zacharias, so weiß ich nicht, was du gesehen.«

»Den Teufel! den Teufel! O, daß ich ein Sünder bin, daran habe ich ja nie gezweifelt.«

»Das ist wieder einmal ein vernünftiges Wort,« erwiderte die Frau, wobei sie, obgleich scheu um sich blickend, doch die Bänder ihrer Nachtmütze fest anzog und, wenn auch langsam, Anstalt machte, aus dem Bette aufzustehen.

»Der Teufel! der Teufel!« jammerte der Schneider. »Aber bin ich so verworfen, daß er es wagt, vor mir zu erscheinen? Bin ich nicht fromm gewesen, wie Einer, habe die Betstunde besucht, habe fleißig beigesteuert zu Bibel- und Missions-Gesellschaften, habe ich das nicht, Frau? Gib du selbst mir das Zeugniß.«

»Ja, das hast du. Zu viel, viel zu viel,« entgegnete Madame Schwörer, die nun vor dem Bette stand und ihre Schuhe suchte. »Aber, ich sage dir, Zacharias, mach' meinen Kopf nicht noch verwirrter, als er mir anfängt zu werden. Wo ist der Gottschalk?«

»Der Teufel hat ihn geholt, der leibhaftige Teufel! Und ich habe ihn herbeigerufen. Oh! oh! oh!«

»Das wollen wir bald erfahren.«

»Weib!« schrie entsetzt der Schneider, »du willst doch nicht hinausgehen? in die Nacht hinaus, wo der Böse umgeht?«

»Der thut mir nichts,« entgegnete kopfschüttelnd die Frau; dann zündete sie das Licht wieder an, nahm ein warmes Tuch um und leuchtete vorsichtig zum Fenster hinaus. Da war Alles still und ruhig, vor dem Gitter war weder eine gespensterhafte Gestalt, noch etwas von dem Knaben zu sehen; an den Eisenstäbchen lief der Regen herunter und glänzte im Wiederscheine der brennenden Kerze.

»Nichts?« fragte ängstlich Meister Schwörer von dem Bette her.

»Nicht das Geringste,« erwiderte die Frau.

»Gott! o Gott! Und kein Schwefelgeruch?«

Die Frau gab keine Antwort, doch schüttelte sie ernstlich besorgt mit dem Kopfe und sagte: »An deinen Teufel glaube ich nicht; wenn nur sonst dem armen Buben kein Unglück geschehen ist.«

Damit zog sie das Tuch fester um sich, nahm den Hausschlüssel und trat auf die Straße. Dort fegte der Wind von den nassen Dächern herab und stürzte sich mit Regen vermengt auf das triefende Pflaster. Die Dachröhren gossen und sprudelten nach wie vor, die Wetterfahnen drehten sich krächzend herum, und das war auch alles Leben, was die Stille der Nacht unterbrach. Die Frau schützte das Licht mit der Hand, damit der Wind es nicht ausblase, und leuchtete vor dem Fenster auf dem Boden umher. Da war aber nichts sichtbar, als der glänzende Wiederschein der kleinen Flamme, die einen zitternden Lichtkreis auf dem Boden bildete, wenige Fuß breit, rings umlagert und angeglotzt von der dunklen Nacht. Zeitweise hörte der Wind auf zu brausen, und die Wetterfahnen ließen ihr Krächzen nicht mehr hören. Vielleicht thaten sie das im gegenwärtigen Augenblicke aus Ehrfurcht vor ihrer alten Bekannten, der Glockenuhr, die setzt langsam aushob und die Mitternachtsstunde anzeigte.


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