Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. III. Buch
Karl Gutzkow

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Fünftes Bändchen.

1 Drittes Buch.

3 1.

Von einer nach dem Hofe hinaus arbeitenden Handwerkerfamilie hatte Benno von Asselyn drei auf einen kleinen, von einem belebten Brunnen geschmückten Winkelplatz hinausgehende Vorderzimmer gemiethet. Eines, einfenstrig, war sein Schlaf-, die andern, zweifenstrig, waren Wohn-, Arbeits-, Empfangszimmer, je nachdem. In einem derselben stand ein hoher Schrank mit einer Anzahl von Fächern. Hier häuften sich die Acten der ihm von Dominicus Nück zugewiesenen Processe; auch schon manche Fascikelchen der ihm bereits auch aufblühenden, freilich noch an den schützenden Namen und die Unterschrift seines Principals gebundenen ersten Frühlingssprossen einer »eigenen Praxis«. Im »Wohnzimmer«, dieser Charakter konnte dem mittlern Zimmer nicht bestritten werden, ließ Benno zuweilen schon in den Früh- und Nachmittagsstunden manche Partei warten, die über ein paar empfangene Ohrfeigen oder ein paar unbezahlt gebliebene Beinkleider seinen Rath begehrte und von ihm nach Abfertigung eines »pressantern« Clienten mit staatsmännisch bedeutsamer Miene gebeten wurde, sich auf einem Sopha von ehrwürdig altem schwarzen, »geflammten« Merino (zu diesen Flammen war hier und da schon der entschiedenere Brand einer etwas vergeßlich gerauchten Cigarre gekommen) oder auf einem wirklich prachtvoll glänzenden rothsaffianen Sessel auszuruhen, welchen Phönix seines ihm 4 theilweise eigenthümlich angehörenden Mobiliars ihm Thiebold de Jonge verehrt hatte. Phönix oder Kolibri: der Sessel war klein, zierlich, ging auf Rollen und war jedenfalls das leuchtendste Möbel in dem bescheidenen Hausrath, der aus altmodischen Kommoden von Nußbaumholz, einem Secretär von Birkenholz, lackirten Stühlen von Tannenholz bestand und sich mit einem gewöhnlichen Drahtbauer endete, in welchem Benno bereits eine Art Familie zu ernähren hatte, zwei Canarienvögel seiner Wirthsleute, die er zur Erzielung einer Hecke von ihnen in Pflege genommen hatte, bis sich herausstellte, daß die frisch aus dem Nest genommenen Thierchen beides »Sieen« waren, was leider er erst dann entdeckte, als er sich an beide Geschwister so gewöhnt hatte, daß er sie, auch ohne Gesang und Hecke, vor seiner Wirthin rettete, die von einem pflichtschuldigen Tode derselben durch irgendeine nachbarliche Katze sprach.

Seitdem Benno bei seiner Zurückkunft von Kocher am Fall wieder zu seinem höchsten Verdrusse eine neue Gabe seines manchmal »unerträglich aufmerksamen« Freundes vorfand, einen in sämmtlichen drei Zimmern gelegten bunten prachtvollen Teppich für den Winter, prangte jener Sessel ganz besonders stattlich. Gegen diese Zuvorkommenheiten des jungen Halb-Millionärs ließ sich nicht angehen. Lieber zerbrach Thiebold, statt des Gottes der Zeit, zufällig selbst einmal einen Stuhl bei seinem Freunde und erklärte dann mit gemachtem Schreck, den Wirthsleuten dafür einen Ersatz schuldig zu sein, als daß er sich die Gelegenheit hätte nehmen lassen, Benno, statt nur durch Zank, auch einmal auf diese Art seine Freundschaft zu beweisen. Den alten, in Ruhestand versetzten Lehnsessel, harmonirend mit dem Sopha in Rücksicht auf geflammtes Muster und Ehrwürdigkeit des Ueberzugs, hatte er schon vor längerer Zeit, wie er entschuldigend sagte, »in Gedanken«, mit dem Federmesser, das er wie zufällig von dem Tische 5 Benno's genommen, in der Armlehne zerschnitten und den neuen Teppich motivirte er auf Benno's Vorwürfe, die ihn deshalb heute in der Frühe gleich beim Eintreten und in medias res gehend empfingen, mit folgenden Worten: Bester Freund, das bitt' ich mir denn doch aus! Seitdem ich das Unglück gehabt, beinahe in den St.-Moritz zu fallen, bin ich von einer merkwürdigen Empfindlichkeit gegen Kälte. Im Winter hier bei Ihnen zu sitzen und über den offenherzigen Dreien Ihrer Baracke mir einen Schnupfen zu holen – das werden Sie von mir nicht verlangen können!

Und bei alledem, erwiderte Benno, sieht es nun erst recht bei mir aus wie bei solcher Bagage, die gern möchte und nicht kann! Der Teppich und der Sessel führen jetzt das große Wort und haben die Oberhand! Jedermann wird glauben, daß ich statt herauszukommen ein Heruntergekommener bin!

Stille 'mal! unterbrach Thiebold, der eben seine Cigarrentasche zog, und betrachtete ein auf dem Tische neben dem Terminkalender liegendes kleines Octavbüchelchen, worauf Benno zierlichst »Verläge« geschrieben hatte. Asselyn, ist das Ihr Einnahmebuch? Sie haben ja hinten einen Bogen mehr angeheftet? Sind das die Einnahmen von dem großen Proceß der Dorste-Camphausen, in dem Sie, hör' ich, zu thun bekommen werden? Und schon las er, eine Seite aufschlagend: »7 Groschen 6 Pfennige Concept – 2 Groschen 6 Pfennige Copiatur –«

Benno, ihm trotz des Spottes das Büchelchen sanft aus der Hand nehmend, erwiderte: Sie haben wahrscheinlich in Mainz einen ganzen schwäbischen Urwald in Empfang genommen, daß Sie heute bereits auf nüchternen Magen eine so übermüthige Geldseele sind! Kommen Sie jetzt eben mit Ihrem Holzstoß angeschwommen? Oder hatten Sie die Nacht Geschäfte mit einer vaterländischen Tabacksfabrik? Ich versichere Sie, Ihre 6 Atmosphäre versetzt die Phantasie keineswegs in die Havannah!

Merkwürdig, gab Thiebold zu und hatte bereits die Büchse mit gemahlenem Kaffee aus Benno's Schreibsecretär von verblaßtem Birkenmaser genommen, indem er leicht und leise den Besitzer, der dabei eine vorwitzige Untersuchung seiner Kasse befürchtete, bei Seite drängte, ihm auch die auf dem Secretär stehende Maschine aus und unter der Hand wegescamotirte und das heute, der noch nicht »bei Wege« befindlichen Wirthin wegen, nöthige eigne Sieden des Wassers zum Kaffee sich allein aneignete; merkwürdig, wie geistesabwesend ich gestern gewesen sein muß! Die ganze Nacht hab' ich von Piter's vermaledeiten Cigarren geraucht! Und Piter will jetzt in der Stadt den Ton angeben!

So! So! sagte Benno. Waren Sie also wieder einmal auf Ihrer amerikanischen Akademie! Dann nehmen Sie den Kaffee, bitt' ich, ein halbes Loth stärker! Welche große That ist denn diese Nacht an einer wahrscheinlich für permanent erklärten Bowle beschlossen worden?

Jetzt so ohne weiteres vor dem manchmal empfindlich kritischen Benno die Caricatur auf die Gebrüder Fuld und die drusenheimer Sonntagspartie zu nennen, nahm Thiebold der, wie es schien, im Crescendo begriffenen Satire seines Freundes gegenüber Anstand. Gab es doch zunächst auch Dinge, die ohne zu scherzen mit bitterm Ernste verdienten abgemacht zu werden. Die Versöhnungen machte zwar Benno immer nur so »links um die Ecke herum«, wie Thiebold sagte, der seinerseits, »wenn er ' mal gefühlvoll wurde« – er wurde dies öfter als er zugab – dann auch gern wünschte, daß von allen Kirchenthürmen mit Zinken und Posaunen dazu wie zur Weihnacht geblasen wurde. Auch heute, war es der entbehrte Schlaf oder welche sonstige »lyrische« Stimmung, auch heute hätte er gern die »Versöhnung« 7 ein wenig »feierlicher« gewünscht. Er ließ deshalb zunächst Benno, der sich vollständiger ankleidete, allein reden, was jemanden sonst in seiner Gegenwart selten geschah.

Benno ließ sich nun von der Schlafkammer aus dahin vernehmen: Ohne Zweifel haben Sie Ihren Freunden Bericht erstattet von unsern Manövern! Von dem Sturm auf die große Lehmschanze, wo der alte Pritzelwitz leibhaftig die Franzosen vor sich sah, bis es von uns allen hieß: »Und Roß und Reiter sah man niemals wieder!«

Thiebold schwieg. Er braute Kaffee und – Versöhnung.

Ein Glück, fuhr Benno fort, daß drüben nicht wirkliche Augereaus oder Dürocs commandirten! Den General Kleber hatten wir diesmal auf unserer Seite!

Thiebold schwieg, sogar in Erinnerung an ein ganzes Bataillon, das im Lehm stecken geblieben war.

Meine Stiefeln gingen am dritten Tage vollständig aus der Naht! fuhr Benno fort. Und um den Schrecken voll zu machen, die lederne Reserve, die Hedemann in meinem Mantel trug, paßte zuletzt gar nicht, denn vom siebenmaligen Sturm auf die Lehmschanze hatt' ich vor Anschwellung der Adern und Muskeln wahre Elefantenfüße bekommen, sodaß mir die Stiefel zu eng wurden! Und da reisen Sie mir denn auch noch mit Ihrem gewöhnlichen Stiefelmagazin, das Sie doch wol wieder bei sich hatten, ab! Ich glaube, Sie hatten in Rücksicht auf das Trottoir in Kocher und auf Ihre Hühneraugen sechs Paar mit! So schnell waren Sie über alle Berge, daß man glauben konnte, Sie hätten sie alle auf einmal angezogen! Haben Sie denn Ihren Freunden heute Nacht erzählt, wie Sie mich auf dem Weinberg beim Obersten von Hülleshoven abschilderten?

Nun verzog Thiebold ein wenig die Miene. Er merkte eine Geneigtheit des Freundes, auf »lyrische« Stimmungen einzugehen.

8 Unsereins ist freilich zu unbedeutend, fuhr Benno, immer von der Kammer aus, fort, Gegenstand so hochmögender Discussionen zu werden. Was wurde denn die Nacht erörtert? Das nächste Fastnachtsprogramm? Ich wäre für Mercur's Triumphzug! Alle neun Musen müßten hinter dem Handelsgott hergehen und ihm die schmeichelhaftesten Opfer bringen! In der Mitte muß ein großer Wagen ganz mit Rosinen gefüllt fahren und Alexander von Humboldt müßte darauf sitzen als ein ganz gewöhnlicher Kutscher in eurer Livree! Dann eine Heringstonne, Schelling und Hegel dahinter mit Löschpapier in der Hand, Fichte im grauen Rock mit der Ladenschürze! Dann eure heiligen drei Könige als Importeurs von Thee, Taback und Indigo – Melchior, der schwarze, noch mit einem Zuckerhut in der Hand – oder sind Sie für Runkelrübe? – –

Ohne im mindesten sich reizen zu lassen von Benno's »lateinischem Stolze«, unterbrach Thiebold nur mit den einfachen und höchst gelassen geseufzten Worten: Nicht einmal kleinen Zucker im Vorrath! Damit holte er tief wehmuthsvoll einen Stiefelknecht aus dem Zimmer, wo Benno's jugendlich knospende Praxis im Repositorium lag und wo er, des Abends nach Hause kommend, immer zuerst musterte, was etwa neu eingetroffen von seinem Schreiber in die kleine Baumschule künftiger fruchttragender Proceß-Obstgärten gelegt war, während er sich dabei die Stiefel auszog. Schon zerklopfte Thiebold ein großes Stück Zucker, das er gleichfalls aus Benno's offenem Schreibsecretär, Kassa und Speisekammer zu gleicher Zeit enthaltend, genommen hatte.

Nun, erzählen Sie doch von Ihrer Reise! sagte indessen Benno und setzte, doch etwas kleinlauter, hinzu: Waren Sie denn auch in Lindenwerth?

Thiebold klopfte am Fenstersims Zucker; Benno trat im Hauskleide an den Kaffeetisch. Sein geschornes Militär-Haar 9 war schon wieder voller gewachsen und setzte wieder seine gewohnte natürliche Kräuselung an. Sein Teint, gewöhnlich bleicher als er hätte sein sollen, war heute von einer milden Röthe angehaucht. Sein Hals lag offen, wie die Brust, welche die ganze bräunliche Schönheit hatte, die von den Alten am Manne gerühmt wird. Beide Freunde hätten sich zu einem Modell der Dioskuren stellen können; vorausgesetzt daß der Künstler dann eine kleine Neigung Thiebold's, mit seinen lichten Milchblutformen und dem sozusagen blonden Habitus seiner ganzen Constitution etwas ins Allzuvolle überzugehen, und bei Benno im Gegentheil eine gewisse brennende und an die mit phrygischer Mütze geschmückten Gestalten neapolitanischer Fischer erinnernde Magerkeit weise gemildert hätte.

Auf die Frage: Waren Sie denn auch in Lindenwerth? war die Thiebold'sche Gegenfrage: Gestern ist ja wol Ihr Vetter angekommen? gewissermaßen Blödsinn und doch lag darin eine Antwort. Beide nämlich, Benno und Thiebold, waren unterrichtet von dem Zwiespalt in Armgart's Familie; beide wußten, daß Armgart's Lehrerin, Angelika Müller, an den Dechanten etwas Entscheidendes in dieser Angelegenheit geschrieben hatte; doch kannten sie den nähern Inhalt der Erklärungen Armgart's nicht und mochten am wenigsten den Obersten drängen, ihnen mitzutheilen, was Bonaventura in der Morgenstunde, wo sie noch nicht die Lehmschanze erstürmt hatten, aber früh genug schon auf waren, um einen forcirten Marsch zu unternehmen, bei ihm gewollt hatte. In Armgart's Angelegenheiten war etwas geschehen, das hatten sie schon gemerkt, als sie Abends todmüde zurückkamen; aber selbst Benno wußte, von der Wanderung vom Hüneneck an bis zur Maximinuskapelle, aus Armgart's eigenem Munde über ihre heimlichen Gesinnungen gegen den Vater nichts weiter, als daß sie vor Sehnsucht brannte, ihm ein paar 10 selbstgefertigte Tragbänder zu schenken. Nun ließ sich fast annehmen, daß Bonaventura, der allerdings, wie Benno bestätigte, angekommen war, auch mit Aufträgen des Obersten und Dechanten für Lindenwerth erschien und darin lag denn also eine gewisse Logik der Thiebold'schen Gegenfrage.

Was soll ihm denn hier werden? fragte Thiebold und klopfte Zucker, blos in Hoffnung, von Armgart zu hören.

Er ist auf heute früh zum Kirchenfürsten bestellt, sagte Benno und hob den Deckel der Maschine auf, die stark genug war, Wasser zum Sieden zu bringen. Man vermuthet eine Berufung an den Dom –

Ei! Ei! Blieben Sie denn noch – hm! hm! – lange nach mir in Kocher am Fall?

Ein paar Stunden! steuerte Benno auf die feierliche Beilegung der Differenz zu. Ich hatte Eile zu meinen Arbeiten zurück! Und Nück schrieb mir Aufträge, die ich auf der Rückreise noch bei einigen Gutsbesitzern und Bauern ausrichten sollte. Alle Stunden kann ich gewärtig sein, wieder auf eine Commission hinaus zu müssen –

Ich hoffe, daß Sie Ihren Vetter bei uns einführen! ließ Thiebold fallen. Wann wollen Sie beide bei uns speisen?

Mein Vetter ist höchst einfach und liebt die Gesellschaft nicht. Er will auch schnell wieder nach St.-Wolfgang zurück. Freilich höre ich, der Kirchenfürst ist unpäßlich und kann ihn vielleicht noch nicht empfangen. Die reizbare Eminenz ist, wie mir Enckefuß erzählte, in einer gewaltigen Aufregung, die ihn um so mehr erschüttern mag, als er sie äußerlich nicht verräth.

Nun war der verhängnißvolle Name Enckefuß gefallen. Noch wich jedoch Thiebold aus und sagte: Daß ich von der Dechanei so kurzen Abschied nahm! Ich bereu' es. Hat sich das Verhältniß mit jener merkwürdigen Dame nicht ausgeglichen?

11 Wissen Sie denn nicht –? fiel Benno ein.

Was soll ich wissen?

Während ich noch mit Frau von Gülpen zu ihren Gunsten parlamentirte, war sie schon abgereist. Aber erfuhren Sie denn nicht, sie ist im Kattendyk'schen Hause –?

Wie?

Mit Ihrem »Zauberweibe« haben Sie Ihre schlechten Cigarren unter Einem Dache geraucht!

Ich weiß kein Wort –

Wenn diese scharfen Augen und Ohren das Négligé Ihres tapfern Herzens und besonders Ihrer Zunge belauscht hätten!

Ja – wer denn?

Die neue Bewohnerin des Kattendyk'schen Hauses! Lucinde Schwarz!

Gott sei Dank! Ich schwieg den ganzen Abend –

Schnuphase vermittelte das Engagement! Auf die Folgen bin ich begierig!

Deshalb Piter so geheimnißvoll – deshalb –! Noch im Bahnhofe –

Im Bahnhofe –?

Wir brachten Piter'n vor einer Stunde auf den Bahnhof. Er ist nach Witoborn, um eine Liegenschaft anzukaufen –

Aus der Enckefuß'schen Schuldenmasse? Sieh! Sieh! Das nenn' ich rasch bei der Hand!

Enckefuß'sche –? Ich habe am Ende Piter'n noch das Geleit gegeben, ein Angebot auf die Grundstücke zu machen, die der Oberst und Hedemann, namentlich letzterer die witoborner Mühle, kaufen wollten?

Beruhigen Sie sich – Indessen allerdings, diese Verhältnisse –

Eben wollte Benno seinem Freunde auseinandersetzen, daß 12 sich Assessor von Enckefuß auf seine, Benno's, Verwendung an den Procurator Nück gewandt und diesen gebeten hätte, ihm behülflich zu sein zur Befreiung seines überschuldeten Vaters von den bittersten Verlegenheiten. Eben gab Benno eine Schilderung der Verhältnisse des Rittmeisters, die den Erinnerungen, die auch Lucinde von diesem haben mußte, entsprach. Eben mußte er zugleich sein Erstaunen ausdrücken, daß, wenn wirklich Piter Kattendyk die Enckefuß'sche Masse erstehen wollte, dies nur im Auftrage Nück's geschehen sein konnte, jedoch in einer Eile, die ihn überrasche – als Thiebold vom Fenster aus eine ungewöhnliche Aufregung auf dem kleinen Platze bemerkte.

Was gibt's denn da? unterbrach er Benno's Auseinandersetzungen. Und auch dieser hatte schon lange ein ungewohntes Treppenlaufen in seinem kleinen Hause bemerkt, war ans andere Fenster getreten und bestätigte, daß an einem ganz in einen Winkel des kleinen Platzes hineingedrückten Hause ein starker Zusammenlauf von Menschen stattfand. Eben bestieg sogar ein Polizeicommissar eine nach der Straße offen liegende Treppe des von den Menschen aufgeregt umstandenen kleinen Hauses. Die Menschen drängten nach. Der Commissar wandte sich und verbot jedem aufs strengste zu folgen. Damit schloß er hinter sich die Treppenthür zu und verschwand.

Thiebold hatte in seiner raschen Art schon zum Fenster hinausgefragt, was es da gäbe?

Es ist da die Nacht einer ermordet worden! hieß es.

Eine Frau! setzten andre hinzu. Die sanguinische Natur Thiebold's hatte schon den Hut in der Hand und stürzte die Stiege hinunter, um eine für seinen Freund Benno bei »so naher Nachbarschaft beunruhigende« Thatsache festzustellen.

Indem kamen bereits die Wirthsleute Benno's und berichteten, es wäre eine alte stadtbekannte geizige und nach allgemeiner 13 Vermuthung reiche Frau diese Nacht drüben in dem Hause ermordet worden. Die Milchfrau hätte die Thür ihrer Wohnung offen gefunden, wäre hineingegangen und hätte die alte Dame mit einer Schlinge um den Hals erwürgt gefunden, dicht am Küchenherde. Eine Frau Hauptmännin – hieß es; der Name ging noch Benno verloren, zumal in der Eile, mit der man auf jeden aus sein mußte, der neue Mittheilungen brachte.

Inzwischen war Benno vollends angekleidet, wollte seinen Hut holen und auch auf die Straße. Ohnehin drängte es ihn, früh auszugehen. Da ihn gestern Nachmittag ausschließlich Bonaventura in Anspruch genommen hatte und er nicht bei Nück gewesen war, ergriff ihn die plötzliche Ahnung einer Gefahr, in die sowol Hedemann's und des Obersten Ankauf als die momentane Schuldenbefreiung des Landraths und Rittmeisters von Enckefuß zu gerathen schien. Er wußte, der »schöne Enckefuß« besaß daheim keinen einzigen Beistand, keine einzige Hülfsquelle mehr. Sein Eigenthum, ein größeres Anwesen vor und in Witoborn, konnte von seinen Gläubigern in Anspruch genommen werden und schon hatte davon Hedemann eine Mühle und deren Gerechtsame für sich erstehen wollen von einem der witoborner Juden, der eine Hypothek darauf hatte, die dem ganzen Werthe des Grundstücks beinahe gleichkam. Kaufte sie Hedemann von dem Gläubiger, so erstand er die Mühle zu geringerm Preise. Trat jedoch ein Gesammtkäufer ein, der die Gläubiger befriedigte und sich – wie der Assessor für seinen Vater wünschte und hoffte – mit diesem um so mehr arrangirte, als er ohne Besitzthum nicht mehr Landrath sein konnte, so fiel nicht nur Hedemann's Hoffnung auf einen wohlfeilen Preis fort, sondern vielleicht überhaupt die Möglichkeit des Ankaufs, überhaupt die Möglichkeit einer neuen Begründung der Hedemann'schen und Oberst Hülleshoven'schen Existenz. Wenn Nück, ohne seinem Hülfsarbeiter etwas zu sagen, diesen 14 Ankauf in so großer Eile und gleichsam hinter dessen Rücken vollziehen ließ – noch gestern früh war erst kaum die allgemeine Bereitwilligkeit des oft sehr seltsamen Procurators dafür gewonnen worden –, so fiel zwar nicht gerade die Hoffnung fort, daß Hedemann die Mühle bekam, nur jedenfalls wurde bei weitem der Preis höher, als durch den Ankauf von jenem Einzelnen, der seine Hypothek retten wollte. Und Nück's Neigung, dem bedrängten Enckefuß zu helfen, schien ihm nicht einmal eine aufrichtige.

Ein Glück aber zunächst für den Kaffee, daß eben Thiebold wieder zurückkehrte. Rasch zuspringend auf das übersiedende Wasser und ohne die Bereitung des Frühstücks aus dem Auge zu verlieren, erzählte er: Nun, das ist schön! Ein richtiger Mord! Die Wache mußte mich unter allen Umständen hinauflassen und da habe ich mir die Geschichte angesehen! Hinter den Vorhängen im zweiten Stock drüben – Schauerlich! – Braun und blau – Dicht am Feuerherd in der Küche liegt eine alte Person – mit gräßlich entstelltem Angesicht und gerade als wollte sie in Todesangst hinunterkriechen unter den Verschlag, wo das Holz liegt. Der Mörder faßte sie ohne Zweifel von hinten, erwürgte sie – darüber kann kein Zweifel sein. Alle Schränke und Kommoden in den Vorzimmern sind erbrochen. Ringsum liegen Papiere zerstreut. Und merkwürdig: wie bei einer completen alten Hexe sieht's aus! Ausgestopfte fürchterliche Vögel und Fußdecken von wilden Thierfellen und lange indianische Lanzen mit Pfeilspitzen und Köchern! Die Milchfrau klingelte und klopfte heute früh, findet die Thür offen, geht hinein und sieht die alte Person auf dem Küchenpflaster liegen und, wie gesagt, gerade am Feuerherd.

Und keine Vermuthung auf den Mörder? rief ein Chor von Hausbewohnern, der sich die Resultate der Thiebold'schen 15 Erkundigungen nicht entgehen lassen wollte und durch Nachdrängen das Vorrecht der Wirthsleute, einzutreten, mitbenutzt hatte. Und ein alter zum Tod erblaßter Garçon aus der Dachstube, der sich im Nachtkamisol sein Frühstück eben selbst geholt hatte und die Milchkanne zitternd in der Hand hielt, stotterte: War sie denn ohne Bedienung?

Ihr letztes Mädchen, erzählte man, war schon vor Wochen abgezogen – Sie wartete auf ein neues – die Person war dafür berüchtigt, daß kein Dienstbote länger als vier Wochen bei ihr aushielt. Erst in neuerer Zeit blieben manche etwas länger. Mädchen waren das, die aus den Klöstern oder den Vereinen geschickt wurden . . .

Da bei alledem dennoch die Frau Wirthin frisches Weißbrot, Milch und die im Keller aufbewahrte Butter brachte, so kam der Name der Hauptmännin von Buschbeck noch einmal an Benno's Ohr und jetzt war es ihm, als hätte er diesen noch kürzlich von jemand nennen hören. Und wie die Wirthsfrau erzählte, die Frau wohnte dort oben schon seit sieben oder acht Jahren, wäre steinalt gewesen, wäre nie mehr ausgegangen und schon von andern Städten wäre sie um ihrer Bosheit willen hierher gekommen, und wie sie fortfuhr, der sie umgebracht hätte, müßte wol »Bescheid gewußt« haben, und wie das alles allmählich so auf Benno einwirkte, daß ihm die Erinnerung kam, einen übel berüchtigten, mit seinem Principal, dem Procurator Nück, leider allzu vertrauten Menschen, einen gewissen Jodocus Hammaker, einen verdorbenen Advocaten, Winkelagenten und Makler verdächtiger Geschäfte, hätte er zuweilen Abends von jener Stiege herabkommen sehen – erst da fiel ihm ein: Auf jener Fahrt von St.-Wolfgang fragte ja Lucinde Schwarz nach einem solchen Namen und bezog ihn geradezu auf eine Schwester der Frau von Gülpen!

16 Benno stand so in Nachsinnen vertieft, daß er sogar Thiebold's Bemerkung, eben käme Polizeiassessor von Enckefuß mit einem Schreiber daher und ginge auf das Haus des Frevels zu, um wahrscheinlich das Protokoll aufzunehmen, überhörte – Die Grauengestalt jenes Hammaker verließ ihn nicht – Und Frau von Gülpen –!

Seine Empfindungen für die Freundin seines Adoptivonkels waren die allerdankbarsten; seine frühesten Knabenerinnerungen bewahrten der wunderlichen, an sich jedoch respectabeln Frau ein mannichfach verpflichtetes Andenken! Seine frühesten Lebenseindrücke waren das lächelnde Antlitz einer schönen vornehmen Frau, die einst sich über ihn beugte und ihn küßte – nachdem sie aus einer glänzenden Kutsche gestiegen war – Eine weite Reise dann, die sich ihm unter dem Bilde einer endlosen Reihe von Bäumen eingeprägt hatte, solchen, wie sie bei nürnberger Schäfereien krausköpfig von Holz geschnitten sind und ebenso rasch umfallen, wie die langen Schwadronen bleierner Soldaten, mit denen er spielte – Das Blitzen dann der Epaulettes des französischen Offiziers Max von Asselyn, der ihn adoptirt hatte – Nicht, daß diese Epaulettes noch auf des Adoptivvaters Schultern saßen, er spielte mit ihnen, mit den abgelegten, ausgedienten – Dann klangen ihm im Gedächtniß die Glocken, die das Begräbniß Maxens von Asselyn bedeuteten; den Sarg hatte er nicht gesehen, nur den vom Kirchhof zurückkehrenden Geistlichen, eine hohe mächtige Figur in weißem Ornat mit goldstarrendem Besatz, den Pfarrer Perl zu Borkenhagen – Dann tummelte er sich mit Hedemann auf dem Gehöft der Aeltern desselben, ritt nach Witoborn, Westerkamp und sah die Leute aus der alten Liborikapelle bei Stift Heiligenkreuz kommen mit Gesangbüchern, von denen sich, wie das nun so ist in unserm wunderlichen Vorrathshause, dem Gedächtnisse, vorzugsweise nur der blitzende 17 goldene Schnitt eingeprägt hatte – Auch die vierspännige Kutsche des Grafen Joseph von Dorste-Camphausen, des letzten seines Stammes, Vaters der Gräfin Paula, sah er noch oft in seinen Erinnerungen – Dann wurde er in Pensionen gegeben, hierher an den schönen Strom, erst in die Residenz des Kirchenfürsten, dann unter Bonaventura's, des schon Aelteren Aufsicht in die nahegelegene Universitätsstadt, wo er die Vorbereitungsschulen und dann die Hochschule besuchte – Alles das hatte der Dechant möglich gemacht, hatte Frau von Gülpen unterstützt – sie spielte bei diesen Phantasmagorieen der Erinnerung die freundlichste und mütterlichste Rolle – Er wie Bonaventura wurden von ihr versorgt mit allem, was zur Pflege und Nothdurft des Leibes gehörte, Ausstattung an Wäsche und wohlwollenden Rathschlägen aus ihrem bekannten reichen Schatz medicinischer und diätetischer Erfahrungen – aber zwischen alles das hindurch hatte er nie von einer Schwester der Freundin seines Oheims gehört, nie nur den Namen früher nennen hören als zum ersten male durch Lucinden – Und jetzt sollte sich dieser so grauenvoll in Erinnerung bringen? Sollte in eine Verbindung treten mit dem stillen Frieden der Dechanei und in jene leidenschaftslose, nur der Ruhe und dem Behagen gewidmete Welt die düstersten Schatten werfen?

Die Schonung und die Scheu vor Menschen, denen Benno so dankbar verpflichtet war, hinderte ihn, selbst gegen Thiebold sein Erstaunen und seine über diesen Namen tieferschütterte Ueberraschung auszusprechen. Unruhig stand er auf und schritt in seinem Zimmer, deren Thüren er öffnete, auf und nieder.

Thiebold nahm nun seine Bemerkung, daß drüben im Hause der Ermordeten Assessor von Enckefuß zugegen wäre, dann Piter's Reise und die Gefahr des Hedemann'schen Ankaufes wieder auf.

18 Letztere stellte Benno in Abrede, wenn er auch hinzufügte. Ich staune nur, wie seit gestern das so rasch gegangen ist! Schon in Kocher am Fall sagte ich Hedemann und dem Obersten für den Fall, daß etwa Nück der Gesammtgläubiger des Herrn von Enckefuß werden sollte, ich würde Sorge tragen, daß Hedemann die Mühle um den Preis bekäme, den er zahlen wollte an den auf sie angewiesenen Hypothekengläubiger. Alle diese Gläubiger lassen ja ihre Hypotheken gern mit einem Verluste ab, wenn sie nur überhaupt die Subhastation vermeiden können, bei der sie verlieren; auf diese Besitzungen wurde mehr Geld aufgenommen, als sie Werth haben. Kauft nun aber Nück durch seinen Schwager die Hypotheken auf, so wird er der alleinige Gläubiger des Verschuldeten – nein, nein, ich kann nicht glauben, daß man den armen Landrath nur um deshalb so drängt, weil er Protestant ist und sein Sohn hier allerdings dem Kirchenfürsten –

Thiebold gab auf diese Auseinandersetzungen, so sehr sie »bei ruhigerer Stimmung« interessirten, gar nicht Acht. Er fixirte nur das von Menschen umstandene Haus. Erst als Benno die Bemerkung machte: Die Vermögensumstände des Obersten scheinen nicht eben günstige zu sein! fuhr er auf und sagte: Könnte das nicht alles anders sein, wenn – wenn –

Sie sein Schwiegersohn würden? fiel Benno etwas kleinlaut ein.

Noch kleinlauter erwiderte Thiebold: Ich –? Ich – ein Bürgerlicher –!

Bürgerlicher? De Jonge! entgegnete Benno scheinbar ironisch, während ihm vor Schmerz die Nerven zuckten und die auch nur angedeutete Werbung Thiebold's ihm einen Stich durchs Herz gab.

De – de –? Ach so, Sie meinen – sagte Thiebold verlegen –

De Jonge –! Wer wird Ihnen den alten niederländischen Adel abstreiten können!

19 Einen Adel, der viel Mesalliancen durchgemacht hat! Wir handeln jetzt mit Brenn- und Nutzholz, aber kein Baum hat uns je so morsch auf Lager gelegen wie unser Stammbaum!

Das De sagt immer etwas –

Hören Sie 'mal, meine sel'ge Mutter war sogar eine geborne tor – tor Möhlen!

Zur Mühlen! Sie sehen, wie alles zusammenkommt, um das Wasser – auf Ihre Mühle zu treiben!

Joseph tor Möhlen – Aber Twist und Baumwolle –

Haben Sie nicht gehört, daß der Oberst von Hülleshoven nicht übel Lust hat, mit Hedemann die Mühle ganz einfach in eine Papierfabrik zu verwandeln?

Nach dem Dechanten, als die Rede davon war, ein bloßer Scherz –

Ein Scherz, den der Oberst im Stande ist ernst zu nehmen. Oder haben Sie nicht bemerkt, daß hier ein Sonderling dem Geist seiner Provinz gleichsam einen Fehdehandschuh hinzuwerfen gedenkt?

St! unterbrach Thiebold. Sie bekommen Besuch!

Man hörte das gleichmäßige und sichere Ersteigen der Treppe durch einen festen Schritt, der an Benno's Thür Halt machte. Ein schnelles Klopfen und ohne erst lange ein Herein! abzuwarten trat Assessor von Enckefuß ins Zimmer. Sonst war er ein Mann von seltener Bestimmtheit und Fassung. Aber in aller Frühe schon vom Lager gerufen, um den Thatbestand eines seltenen Verbrechens aufzunehmen und den Eifer und Scharfsinn seiner Beigeordneten zur Entdeckung des Urhebers in Bewegung zu setzen, fehlte ihm heute doch ein wenig jene Kälte, die ihn nie und nur dann verließ, wenn er sich von seinem im Grunde heftigen Temperament fortreißen ließ. Auf jenen Scherz, den er in dem Behagen, sich von seinem täglichen Amtsverdruß auf 20 einige Tage einmal ausgespannt zu wissen, sich gegen Porzia Biancchi erlaubt hatte, würde ohne Benno's Dazwischenkunft leicht gegen Hedemann eine rasche und schwer zu bereuende That haben folgen können. Erst da kehrte die gewohnte Kaltblütigkeit des etwa im Anfang der Dreißiger befindlichen, wohlgewachsenen und imponirenden Mannes zurück, als er Thiebold de Jonge sah, der ihn seit dem Zusammenstoß mit Hedemann vermieden und in Kocher ganz an Benno überlassen hatte.

In jeder Lage, wo ein anderer durch eine unerwartete Störung in Verlegenheit gebracht wird, knöpft ein Charakter wie der des Assessors sozusagen noch einen Knopf mehr zu und wird noch kühler, als ohnehin schon in seinem Wesen und Benehmen liegt. Nun schon wieder in dem gewohnten Tone einer vor nichts erstaunenden Ruhe und Kälte sagte der in seinem Amte gewiegte, in seinen Unternehmungen von guten Erfolgen begleitete Beamte: Herr von Asselyn! Ich suchte Sie gestern Abend überall vergebens – mein Vater ist angekommen – in dem Drang seiner Angelegenheiten begaben wir uns sofort zu Nück – eine Viertelstunde und die Verständigung war gemacht – ich danke das ohne Zweifel Ihrer Vorbereitung! Machen Sie meinem Vater das Vergnügen, heute im Englischen Hofe mit uns ein Frühstück zu nehmen – Auch Sie, Herr de Jonge, sind vielleicht zugegen – obgleich Sie die Nacht nicht geschlafen haben! setzte er nach einer leichten Verbeugung lächelnd hinzu.

Woraus schließen Sie das? fragte Thiebold mit nicht erkünstelter Kälte.

Um Reibungen zu vermeiden, hielt sich Benno an die Ueberraschung, die ihm die Ankunft des Rittmeisters und Landraths von Enckefuß in der That verursachte. Er wiederholte einigemal: Ich war bei meinem Vetter – im Schnuphase'schen Hause – sieh, sieh – nun ist mir das schnelle Arrangement erklärlich!

21 Um eine Coalition der Hypothekengläubiger zu sprengen, fuhr der Assessor fort, reiste Herr Piter Kattendyk noch in dieser Nacht nach Witoborn ab – man hat Sie in aller Frühe im Bahnhof gesehen, Herr de Jonge – also vermuth' ich, daß ich richtig errieth – indessen bis zwölf Uhr, wo uns mein guter Alter erwartet, können Sie noch ausgeschlafen haben und es wird Sie freuen, Herr de Jonge, ich habe ausdrücklich die Käuflichkeit der Mühle für meinen intimen Feind, Herrn Remigius Hedemann, beim Vater und bei Nück ausbedungen – auch zu dem Preise, für den sie unser Gläubiger ablassen wollte! Daß diese Sorgen hinter mir liegen, dank' ich Ihnen, Asselyn! Also ich hoffe, Sie kommen!

Benno schützte, wenn er ausbleiben sollte, die Abhängigkeit von Bonaventura vor.

Thiebold, ebenso rasch wieder erwärmt und versöhnt wie erzürnt, rückte mit seinem Stuhle dem Assessor näher und zeigte ihm das auf dem Platz zunehmende Gewühl. Schon kam eine Militärwache, welche die Leute vom Eindringen in das Haus der Ermordeten zurückhalten sollte. Er fragte nach des Assessors »Ansicht über den originellen Vorfall«.

Das ist eine traurige Affaire! erwiderte dieser. Die Alte wurde mit einer Schlinge erwürgt, gerade wie man einem Stier den Hals zuschnürt und ihn dann niederzieht! Sie muß von ihrer Stube bis hinten in die Küche geflüchtet sein, wo der Mörder sie am Feuerherd niederduckte und so vollends erstickte.

Und keine Vermuthung? fragten beide Hörer zu gleicher Zeit.

Gesindel haben wir genug in der Stadt! entgegnete der Assessor und lehnte nicht die angebotene Theilnahme am bescheidenen Frühstück ab. Sie wissen ja von dem Knecht aus dem Weißen Roß, der in St.-Wolfgang den Sarg erbrochen hat. Den hat man hier in der Stadt gesehen. Uebrigens war die 22 Frau berüchtigt durch ihren Geiz. Seit Jahren ging sie nicht mehr aus. Aber es fehlte um sie her nicht an Verkehr. Sie nannte sich eine Frau Hauptmann von Buschbeck, während ihr nur ein anderer Name gebührt – er wird in den Acten stehen. Geldmittel erhielt sie mit großer Regelmäßigkeit von unserer Freiherrlich Wittekind-Neuhof'schen Kameralverwaltung bei Witoborn. Vor vielen Jahren war sie in Diensten des alten Freiherrn von Wittekind!

Benno hörte die Bestätigung der Beziehungen der Ermordeten zu Schloß Neuhof mit beklommenem Herzen –

Die Alte, fuhr der Assessor fort, kam vor sieben oder acht Jahren hierher und brachte bald die Polizei mit sich in Berührung. Kein Dienstbote blieb bei ihr länger als einige Wochen, mancher kaum einige Tage. Sie quälte und mishandelte sie so lange, bis niemand mehr zu ihr ziehen mochte. Bei dem Geiz ihrer Lebensweise hätte sie für sich allein auskommen können, ohne Bedienung, aber sie hatte gesellige Bedürfnisse. Sie half sich zuletzt, wie ich gehört habe, durch einen Rath Ihres in allem kundigen Procurators – Sie deponirte ein Testament mit Nück's Hülfe und bekam von ihm oder von seinem damaligen Gehülfen Hammaker –

Benno bemerkte ein momentan aufblitzendes, wenn auch nur ganz kurzes Leuchten in den Augen des Assessors –

Von Hammaker, glaub' ich, den Rath, sie sollte einer geistlichen Schwesterschaft ein Legat aussetzen und sich von dieser dann die Dienstboten besorgen lassen. Die armen Wesen mußten dann um der Religion willen und von ihrem Beichtvater gezwungen ausharren. Der Vermittler war Schnuphase – Sie kennen ihn ja –! Daß unser gefälliger und so zartfühlender Herr Maria die endliche Auszahlung des Legats durch eine am Halse der Alten angebrachte Schlinge hat befördern wollen, ist nicht anzunehmen –

23 Ebenso wenig wie dies von einer der durch die Schwesterschaft zugeführten Mägde – ergänzte Thiebold mit jener aufwallenden Empfindlichkeit, die hier zu Lande bei geringster Reizung der religiösen Beziehungen üblich ist.

Meine Herren, sagte der Assessor lächelnd. ich werde Sie schonen und Ihr Ohr auch nicht mit der Ansicht beleidigen, daß die bekannte Schwesterschaft zu den Nothhelfern die Alte hat umbringen lassen – Und fast verdrießlich lehnte er eine zweite Tasse Kaffee ab und wollte sich entfernen. Ihm genügte, die Einladung gemacht zu haben zum Frühstück mit seinem lebensfrohen und jetzt, wie es schien, sorglos gewordenen Vater.

Benno versicherte, daß Thiebold ohne Vorurtheile und vollkommen neugierig genug wäre zu vernehmen, welche Rolle bei diesem tragischen Vorgang die Schwesterschaft zu den Nothhelfern spielte.

Meine Herren, sagte der Assessor, ich gehöre Ihrer Kirche nicht an, aber wenn Sie es hören wollen, so versichere ich Sie, daß Hamlet's Wort zu Horatio: »Es gibt Dinge unter dem Monde, die unsere Schulweisheit sich nicht träumen läßt!« hier am Platze ist. Diese Frau bekam vor drei Jahren keinen Dienstboten mehr; seitdem sie aber mit Hammaker, wollt' ich sagen mit Nück gesprochen, geht alles vortrefflich. Die Schwesterschaft beauftragt Schnuphase, die Mädchen vom Lande zu holen. Lebensfrohe passen natürlich für diese Stellung nicht und solche, die zuletzt in ein Kloster gehen, entdeckt schon ein so kundiger Blick wie der des Herrn Wachslichterfabrikanten. Die Aufgabe, die Klöster zu bevölkern, ist von Rom gestellt. Wir haben der Klöster immer noch mehr, als mit der Richtung und dem Geschmack des neunzehnten Jahrhunderts in Einklang steht. Was ist zu thun? Man muß ihnen einen Zuwachs künstlich erwerben. So werden denn die Wallfahrten in Aufnahme gebracht, so 24 fangen die wunderthätigen Heiligenbilder an Blut zu schwitzen und Thränen zu weinen, so werden Vereine gestiftet, Gesellen-, Meister-, Lehrlingsvereine, Vereine für Erkrankung und Beerdigung, Vereine für Bildung und Unterhaltung, Nähvereine für die Mädchen, alles unter kirchlichen Formen und mit geistlicher Assistenz und vor allem hat Rom den Beweis zu führen, daß für die Klöster eine nicht mehr zu hemmende Sehnsucht im Volke wirklich vorhanden sei. So lockt man die Gemüther in die Bahn der Entsagung, fesselt sie durch entsprechende Vorbereitungen, macht sie mit den auch dem Klosterleben nicht fehlenden Annehmlichkeiten vertraut und die Folge ist, daß –

Doch nicht etwa, fiel ungeduldig Thiebold ein, da drüben die Person von Jesuiten oder sonst einem Eurer Gespenster umgebracht ist?

Der Assessor erhob sich mit den Worten: Ich wollte nur sagen, daß ein Mädchen, um bei einer solchen Tyrannin aus dem Dienst zu kommen, den sie vorher ihrem Beichtvater gelobte, auch von Herzen gern dann in ein Kloster geht. So schlägt die Kirche zwei Fliegen mit Einer Klappe. Sie hat das Legat der alten Megäre drüben und gewinnt gemarterte Seelen, die zu allem fähig sind.

Der Assessor nahm zwar nur die Miene an, als wenn ihn der zunehmende Lärm auf dem Platze zwänge zu seinen Amtsgeschäften zurückzukehren, es vertrieb ihn aber eine unverkennbare Aufwallung und Entrüstung. Rasch abbrechend und aufs neue an die Hoffnung erinnernd, beide Freunde um zwölf Uhr im Englischen Hof bei seinem Vater zu finden, verließ er ohne viel Förmlichkeit das Zimmer.

Und mit einem Ausdruck, als wollte er sagen: Freund, wenn Sie sich doch nicht in Dinge mischten, die Sie nicht verstehen! begann Benno: Da haben Sie jetzt die Antwort auf Ihren Witz und Ihren gewohnten Scharfsinn!

25 Nein aber auch unglaublich, was diese Menschen sich alles für Unsinn herausspioniren! polterte Thiebold.

Seien Sie versichert, mein Bester, sagte Benno, daß Assessor von Enckefuß die Jesuiten für keine Gespenster zu halten berechtigt ist! Die Bewegung auf diesem Gebiete ist für den, der im Dunkeln sehen kann, die eines Ameisenhaufens! Ich habe, wie Sie wissen, an und für sich meine Freude daran. Nicht weil ich dieser Pfafferei und dem römischen Wesen den Sieg gönne, sondern weil in die dumpfe Stille unserer Zustände, in die Stagnation jedes politischen Lebens, in die niedergehaltene patriotische Kraft und nationale Gesinnung da doch irgendetwas hereinbricht und der geistigen Sklaverei, der Bureaukratie, dem in allen Maßnahmen vorausgesetzten »beschränkten Unterthanenverstande« ein Ende macht! Ich gehe nicht so weit wie Nück, dem die Religion Bagatelle ist und der sich nur vergnüglichst die Hände reibt, weil die Minister, die z. B. so erbittert seine Assisen und seinen Rechtscodex hassen und verfolgen, nun doch einmal von sonst loyalster Seite aus und innerhalb einer gar nicht zu bestreitenden Berechtigung jetzt in die ärgsten Verlegenheiten gerathen – diesen Cynismus der Gesinnung besitze ich nicht – wie Sie denn überhaupt in Kocher am Fall, bester Freund, meine Verehrung vor dem verbitterten und die Sackträger um ihr Kegelschieben beneidenden Mann unerlaubt übertrieben haben! Von Ihrer ganzen Auffassung meines Herzens und meiner Lebensansichten werd' ich überdies die Ehre haben, Ihnen einfach zu sagen, daß Sie sich irren, lieber alter Freund! Ich habe einen unverwüstlichen Trieb zur Gerechtigkeit und wer den hat, der wird andern immer kalt erscheinen! Seine Prüfung, niemanden Unrecht zu thun, wird immer länger dauern als der flackernde Enthusiasmus eines minder Bedenklichen. Von meiner persönlichen und Privat-Lebensbestimmung will ich gar nicht reden, aber die Zeit selbst 26 wird so ernst, lieber Freund, die Umstände, die uns umgeben, wachsen zu solcher Bedeutung heran, daß wir mit unserm »blos so 'mal dreinfahrenden« natürlichen Instinct die größten Thorheiten und sogar Sünden gegen den Heiligen Geist begehen können! Lassen Sie mir nur getrost mein Sibirien im Herzen, bester Freund! Es ist so kalt nicht, daß ich nur mit Pelzhandschuhen zu tractiren wäre! Sollte es aber auch drin Sommer werden, so wird eine gemildertere Temperatur immer gut sein Ihren Extremen gegenüber, Ihren Aufwallungen, Ihren unbedachten, frevelhaften, höchst maliciösen –

Benno mußte sich zurückziehen. Denn Thiebold war so vollkommen aufgelöst vor »Zerknirschung«, Reue, Seligkeit, »Stolz«, einen »solchen Freund« zu haben, vor so merkwürdiger Ueberraschung, »dergleichen zu hören«, vor so aufrichtiger Dankbarkeit, »dergleichen zu lernen«, daß ihm schon mit beiden zur Versöhnung ausgestreckten Händen »das Schrecklichste der Schrecken«, eine Umarmung, drohte – Benno fuhr sich retirirend fort: Ihre Extreme sind immer das Echo des letzten energischen Eindrucks, den Sie irgendwo und von irgendwem empfangen haben! Wettert der Oberst gegen die Misbräuche unserer Kirche, so sind Sie zum Ketzer reif! Hier dem Assessor gegenüber sehen Sie keine Jesuiten und rennen vielleicht heute noch vor Ekstase in einen Beichtstuhl!

Nie! Nie! Seit neun Jahren nicht! Auf Ehre! versicherte Thiebold, jetzt ein zweiter Huß und Wiclef.

Dann schämen Sie sich, daß Sie dem vernünftigen Mann seine Fährte durchkreuzten. Sie kam gerade auf einen Menschen hinaus, der sich – unter religiösen Vorspiegelungen und Intriguen dem bösen Weibe zu nähern wußte –

Indem trat Benno's Schreiber ein, erfüllt von dem Vorfall, dem die Bewegung schon der halben Stadt galt. Benno nahm 27 von Thiebold's sich nun selbst anklagenden und höchst lyrisch-sentimentalen Vorwürfen Abstand und sagte: Ich will arbeiten! Aber der verdammte Lärm wird mich kaum dazu kommen lassen! Und Sie, de Jonge, gehen Sie nach Hause und schlafen Sie aus, lassen Sie sich aber Punkt halb zwölf Uhr wecken! Ich bin begierig, den alten Haudegen, den Rittmeister von Enckefuß, kennen zu lernen! Ja schon deshalb müssen Sie dabei sein, um sogleich an Hedemann berichten zu können! Vielleicht erzählt uns auch des Assessors Vater, was denn eigentlich Hedemann gegen ihn so speciell auf dem Herzen hat!

Damit wurde denn Thiebold fast gewaltsam von Benno zur Thür hinausgedrückt. Er ging, im Hochgefühl, seinen starken und festen Freund wieder ganz so zu haben, wie er dessen bedurfte. Zwar »knirschte er an seiner Kette«, lag aber doch mit solcher Wonne an ihr, daß er jetzt jedem seiner Bekannten, der ihm etwa bis zu den Holzhöfen seines Vaters begegnete, die »Ideen« (freilich als die seinigen) wiederholt haben würde, die er soeben von Benno gehört hatte. Ja er würde keinen Anstand genommen haben, anzudeuten, daß die Frau Hauptmännin von Buschbeck ein »nächtliches Opfer der Jesuiten« war.

Für Benno, der sich zur sofortigen Abfassung eines discret vorbereitenden Briefes an den Onkel Dechanten und dann zum Arbeiten setzen wollte und allerlei wirre Gerüchte, die er theilweise schon kannte, vom Schreiber wiederholt erhielt, war es ein seltsamer Eindruck, beim nochmaligen Hinunterblicken auf die Straße, wo der Zudrang der Menschen jetzt von einem Piket Soldaten abgesperrt wurde, den Assessor von Enckefuß über die leer gewordene Mitte des Platzes dahinschreiten zu sehen – eben in Begleitung jenes Mannes, den er einigemal von der Treppe des gegenüberliegenden Hauses in nächtlicher Weile hatte herniedersteigen sehen, Jodocus Hammaker.

28 Den Verdacht auf diesen Mann irgendjemand schon auszusprechen durfte ihn jetzt nicht mehr reizen. Hammaker war auch der Vertraute seines Principals in einem Grade, der schon seit einer Reihe von Jahren um so mehr das Erstaunen der Stadt nach sich gezogen hatte, als sich gegen die Rechtlichkeit des vielbewunderten, vielgesuchten und dabei außerordentlich reichen, deshalb auf Umtriebe nicht im mindesten angewiesenen Dominicus Nück, des Schwagers Piter Kattendyk's, nicht das Mindeste einwenden ließ.


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