Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. III. Buch
Karl Gutzkow

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114 5.

Die Messe, die ein Priester jeden Morgen entweder selbst lesen oder doch hören soll, mochte Bonaventura mit einem bangen Vorgefühl nicht in einer der vielen Kapellen der großen Kathedrale besuchen, die vielleicht bald von seiner eigenen Stimme widerhallen sollten. In eine kleine, abseits gelegene dunkle Kirche ging er und verfehlte auf diese Art eine Begegnung mit Lucinden, die sonst leicht möglich und sicher von dieser gesucht wurde.

Dann begab er sich zu Benno, der, von Thiebold und Enckefuß eben verlassen, zu seinen Arbeiten zurückgekehrt war und mit Hindeutung auf einen bereits fertig liegenden Brief an den Onkel Dechanten ihm den grauenhaften Vorfall der Nacht erzählte und auf die geöffneten Fenster des Hauses gegenüber zeigte, aus welchem man inzwischen in einem verdeckten Korbe die Leiche der Ermordeten getragen hatte. Eine Schwester der Frau von Gülpen! rief auch Bonaventura erstaunend aus. Auch er hatte nichts von dieser Verwandtschaft gewußt! Doch mußte er Benno Recht geben, als dieser an seine gestrigen Aeußerungen über die so dunkeln Anfänge im Leben des Dechanten und an den Zusammenhang derselben sogar mit dem Kronsyndikus erinnerte. Trotz seines gleichfalls gestern wie schon oft geäußerten Gefühls, daß ihm die geheime Welt des Beichtstuhls, mit besonderer Rücksicht auf sein eigenes Leben, eine Ueberhebung der Kirche erschiene, 115 hätte Benno dennoch und mit dem Zusatz: unter dem Siegel der Beichte! von dem Agenten Hammaker sprechen mögen und von seiner gestrigen so aufdringlichen Begegnung. Er that es noch nicht. Er nahm sich vor, ehe er zu jemand seinen Verdacht aussprach, sich genauer nach den Beziehungen zu erkundigen, die zwischen diesem und der alten geizigen, fast der ganzen Welt sich verschließenden Frau hätten stattfinden können.

Das durch diese Eröffnung gemehrte Unbehagen der Stimmung Bonaventura's verminderte sich nicht, als er bei einer von dem Freunde gestellten Aufforderung, er sollte sich dem geselligen Kreise bei dem Rittmeister von Enckefuß anschließen, die Worte hören mußte: Von diesem leichten und fröhlichen Lebemenschen, dem Landrath, kann ich mir denken, wie er damals bei dem Tode des Deichgrafen voll Schauder und Mitleid die Augen zudrückte und nur die gemeinschaftliche Standesehre zu wahren suchte! Nicht einmal glaub' ich, daß den Rittmeister die Rücksicht auf seine Verschuldung beim Kronsyndikus bestimmte. Seitdem diesem freilich eine Curatel gestellt ist, seitdem dein Stiefvater die Oberaufsicht über sein künftiges Erbe bereits factisch besitzt, hätten diese Rücksichtsnahmen aufhören können. Dennoch bin ich überzeugt, der Landrath gibt eher seinem Pferde die Sporen und jagt in einen Abgrund, als daß er sich auf einer Drohung betreffen ließe gegen Familien, die ihm befreundet waren.

Bonaventura mußte von dem Begleiter sprechen, der ihn vielleicht schon in seiner Wohnung erwartete.

Doctor Klingsohr! rief Benno staunend. Nun siehst du deine »Läuterung« bis – zum Aufpasser! Und der Zweifelnde fuhr fort: Eile, eile, dir von den Damen Schnuphase dein Frühstück serviren zu lassen! Rüste dich aber mit allen deinen Gelübden, ihrer Liebenswürdigkeit Widerstand zu leisten, besonders ihrer – stattbekannten Frömmigkeit!

116 Als Bonaventura sein Zimmer betrat, fand er beide Töchter des Herrn Maria um den Mord in großer Aufregung. Benno von Asselyn, den sie selbst sehr wohl kannten, wohnte dem Morde so nahe – Bonaventura erzählte ihnen, was er wußte. Er war nun in eine ihm so verhaßte Unthätigkeit versetzt! Er sollte nur in Begleitung des Mönchs gehen? Warum diese Anordnung? Kannte man die geheimnißvolle Beziehung desselben zu ihm? Zu seinem Stiefvater? Wol gar zu Lucinden? Bei alledem blieb auch Klingsohr aus. Ungeduldig beschloß Bonaventura, sich im Palais des Kirchenfürsten theils nach dem Befinden desselben, theils nach des Mönches Wohnung zu erkundigen.

Er erfuhr im Palais, daß der Kirchenfürst zwar wieder wohlauf, doch mit Geschäften überhäuft wäre, eben arbeite mit ihm sein Secretär. Bei der Lebhaftigkeit des Verkehrs in den Vorgemächern mußte Bonaventura natürlich finden, daß er nicht die Aufforderung zum Warten erhielt. Von Sebastus hieß es, dieser würde ihn in seiner Wohnung in Herrn Maria's steinernem Hause unfehlbar selbst aufsuchen.

Hieher zurückgekehrt fand Bonaventura die Blumen der kleinen Gertrud Ley und hatte seine innigste Freude daran. Bei alledem sich wie ein Gefangener fühlend ging er an eine Lectüre, die er sich aus St.-Wolfgang mitgebracht. Das große, von Trendchen mit Blumen bestreute Buch, das sie aufgeschlagen gefunden auf dem Schreibtisch, war eine Sammlung alter lateinischer geistlicher Gedichte, ein Erholungsstudium, zu dem Bonaventura gern zurückkehrte.

Nach einer Weile klopfte es. Ein Franciscaner trat ein – blaß, lang, hager, bloßen Halses, nackt an den nur durch Sandalen geschützten Füßen, das Haupt geschoren, der Blick eine Weile scharf, dann sogleich unstet, wie denn auch das ganze Wesen erst eine kurze elastische Spannung bot, dann sogleich sich wie 117 träumerisch nachlässig gleichsam gehen ließ. Der Kopf scharf geschnitten, so zu sagen eher chinesisch als germanisch – beim Sprechen öffneten sich kaum die Lippen, die Worte kamen flüsternd zu Gehör, jedoch mit außerordentlicher Bestimmtheit und Sicherheit. Kurzweg nannte sich der Mönch den Pater Sebastus aus dem Kloster Himmelpfort, auf Urlaub befindlich, »einen Mönch in partibus infidelium«.

Bei diesem einen Worte schon, das er in erster Anrede an Bonaventura nur so hinwarf, schien es, als wollte er sich aus der Sphäre herausheben, in die ihn seine Tracht drückte. Es war ein Eindruck wie bei jenen Zurückgekommenen, die der Zufall in untergeordnete Lebensstellungen drängte und die dann nicht unterlassen werden, in Gegenwart jener Stände, denen sie früher angehörten, sich durch ein hingeworfenes gewählteres Wort, eine französische Phrase in ihrem eigentlichen Werthe kenntlicher zu machen, oder auch wie bei jenen alten lateinischen Studenten, die mit einem: Vir doctissime, illustrissime! auf dem Lande hospitiren und sich durch ein romantisches Anklingenlassen schönerer Jugendzeit von dem, der studirt hat, ein Viaticum erbitten.

Und hätte Klingsohr nun nicht wünschen sollen, daß Bonaventura aufsprang und in ihm den berühmten Convertiten, den Streiter in den Zeitschriften, den Redner aus den Conferenztagen, den Sendboten des Kirchenfürsten begrüßte? Aber Bonaventura blieb befangen. Dem Mönch konnte diese Zögerung nicht die Folge einer Bekanntschaft erscheinen mit seinen Beziehungen zu Schloß Neuhof. Bei dem Geiste der Selbstvernichtung und gänzlichen Ertödtung jeder Beziehung zur Außenwelt, die kirchliche ausgenommen, wußte Sebastus durchaus nichts von des Pfarrers Verwandtschaft mit dem Kronsyndikus. Es gibt Naturen von einer solchen Spontaneität, von einer solchen Unfähigkeit, sich durch andere bestimmen zu lassen, daß sie wenn auch nicht ganz 118 das Gehör, doch fast die Fähigkeit verloren zu haben scheinen, an andere Menschen über irgendetwas, was jene allein betrifft, auch nur eine Frage zu stellen. Sie haben hier schon Bekannte! sagte Klingsohr gleich fest und bestimmt, lehnte den Sitz auf einem der Polstersessel ab und blätterte in Bonaventura's Brevier. Er that fast, als wenn Bonaventura gar nicht anwesend wäre.

Alles das mußte dieser seltsam finden und erwiderte nichts.

Gestern ging ich an diesem Hause vorüber, fuhr der Mönch fort, und sah Sie im Laden unten im Gespräch mit Herrn Moritz Fuld, dem Bruder eines Mannes, der im Enneper Thal eine byzantinische Kirche gebaut hat. Also dahin mußte es kommen! Juden bauen uns Kirchen! Aber oft mache ich mir Vorwürfe, daß ich mich noch immer nicht praktisch in die Juden habe finden können, während ich sie doch theoretisch schätzen muß!

Und auch jetzt noch fand Bonaventura keine Möglichkeit, im Gespräch mit irgendeiner Bemerkung einzuspringen.

Eine Art Reue über die Behandlung, die soeben doch nur wahrscheinlich von ihm Trendchen's Freund und Gönner Seligmann erfahren hatte, schien sich in diesen Worten Klingsohr's auszusprechen: Die Juden gleichen dem Speer des Achilles! Er verwundete, wie Sie wissen, und heilte zugleich! Die Juden, von Spinoza bis Heine und Börne herab, untergraben den Glauben und doch sind sie wieder im Großen und Ganzen der Sauerteig des Glaubens, die Bürgschaft des Festhaltens am Einigen Gott, die Wächter der Lehre von der Selbstheiligung, ja sogar vom Schatz der guten Werke und jedenfalls der Lehre vom Opfer und von den Reinigungen! Unser alter Rector in Detmold mühte sich mit Horazens Credat Judaeus Apella. »Das glaube der Jude Apella!« sagt Horaz. Wer war Apella? War dieser Jude in Rom so bekannt für seine Leichtgläubigkeit? Zupften die jungen 119 Adeligen des neuen Augusteischen Zeitalters ihm vielleicht am Bart und creditirte er ihnen allzu – gläubig auf ihre langsichtigen Wechsel als römischer Bankier und Vorläufer des Fürsten Torlonia in Rom? Oder wie war das mit diesem Glaubensvirtuosen Apella?

Bonaventura horchte diesem scurrilen Durcheinander nur staunend und lauschend.

Apella, fuhr Klingsohr fort und nahm jetzt mit einem elegischen Blicke eine von Trendchen's Blumen auf und befestigte sie allmählich langsam vorn an dem Strick, der seine Kutte zusammenhielt. Apella war ohne Zweifel ein jüdischer Philosoph mit griechischem Bildungszuschnitt, der in Rom Vorlesungen hielt über Kirche, Staat, Religion, Glauben und Wissen und zwar mit dem für einen Juden unerläßlichen System: Es gibt nur Einen Gott und keine andern Götter neben ihm! Dem römischen gelehrten Pöbel, den Denkern und Sophisten, erschien unser vielleicht ein wenig ins Lächerliche gräcisirende Rabbiner ein Narr, ein Diogenes, der am hellen Tage mit der Laterne umging! Nur Ein Gott! Wie? Kein belvederischer Apoll, keine mediceische Venus, kein sarnesischer Hercules mehr – neben ihm! Du armer, armer jüdischer Credo-Lehrer! Was glaubte wol dieser erste verspottete Märtyrer des Canaan-Glaubens? Er glaubte jedenfalls Jehovah, den Herrn des Himmels und der Erde, vielleicht auch schon den Messias vom Stamme David's – den kommenden! Credat Judaeus Apella! Herr Gott, dreißig Jahre vor der Krippe zu Bethlehem, der Krippe des Erde und Himmel neugestaltenden Glaubens! Nein, dieser Apella ist mir der dreizehnte Prophet! Nicht so groß war er wie Elias, dessen Größe besonders darin bestand, daß er nur sprach und nichts hat drucken lassen, aber auch nicht der Kleinste unter den Kleinen! Da lachten die Römer: Ein Glaubender! Ich sage: 120 Ein Glaubensvirtuose! Ein Denker, der den Glauben in Vorrath und wie auf Lager hat. Ein seltsamer Gast dieser Apella; ich möchte ein Buch schreiben: »Apella oder der Rothschild, der Krösus, der erste Märtyrer im Glauben. Eine Kritik der ganzen deutschen Philosophie von Wolf bis Hegel.«

Die Wirkung dieser Weise auf Bonaventura war nicht abstoßend. Bonaventura mußte sogar dem Gedanken nachhängen: Findest du nicht aus dem, was du zu hören bekommst, Lucinden heraus?

Da der Mönch sich nicht setzte und von einem Gelübde sprach, das ihm – Polstersessel verbot, forderte ihn Bonaventura zu einem Spaziergang auf und hatte schon den Hut in der Hand. Es beeinträchtigt aber unsere Kraft, auf anderer Fragen zu hören, wie nach Shakspeare Vornehmseinwollende anderer Namen nicht behalten. Nichts »duckt« einen andern mehr, als wenn man ihn in die Lage bringt, eine Bemerkung wiederholen zu müssen. Und so hörte Klingsohr gar nichts von der Aufforderung zum Ausgehen. Er sprach zu den Blumen, die ringsum fast so, wie sie Bonaventura gefunden, noch geblieben waren:

Wie müßt ihr so verbleichen
Im funkelnden Farbenschein!
Ihr jungen Blumenleichen,
Wer segnet, wer senkt euch ein!

Dann fuhr er plötzlich gleichgültig abspringend und auf die Sammlung, in welcher Bonaventura gelesen hatte, deutend fort: Da waren Sie ja bei Dante's Vorbild in der Architektur der Welten, beim Aurelius Prudentius! Ha! Nicht wahr, die bunte Rose, die Dante im Himmel sah von unermeßlicher Größe, die dort aus dem Strahlenglanz der Märtyrer und Heiligen aller Zeiten zusammengesetzt ist, hier auf Erden ist sie schon aus den Blüten und Perlen der heiligen Poesie zusammengesetzt?

121 Gewiß! fand Bonaventura endlich eine Gelegenheit einzufallen. Sie schmückt den unsichtbaren Dom unserer Kirche!

Das heißt, die »Purpurviolen« und »Saronsrosen« aus Kocher am Fall ausgenommen –! Mit diesem Spott auf Beda Hunnius war das Gespräch abgebrochen. Bonaventura's Aeußerung war dem eitlen Mönche schon zu selbständig und mehr verrathend als nur den Beruf – ihm zuzuhören –!

Klingsohr folgte dem Pfarrer, der ihn an der Thür vergebens bat voranzutreten. Plötzlich zog sich Sebastus in Demuth zurück, verbeugte sich und ließ Bonaventura vorausgehen. Sie verließen das Zimmer und das Haus. Wie sie so dahinschritten, sahen ihnen die Menschen nach – die Fremden blieben stehen – der Mönch schlug die Augen nieder – Sie betraten Kirchen und Kapellen –

Viele fanden sie leer –

Klingsohr verurtheilte die Lauheit der Gemüther und wiederholte einiges von seiner in Kocher am Fall gehaltenen Rede.

Sehen Sie denn aber nicht, erwiderte gelassen Bonaventura in einer dieser Kirchen, die beiden Kerzen am Altare? Ist das nicht so schön an unserer Kirche, daß Sie, wenn Sie in unsere Gotteshäuser treten, immer finden werden, irgendetwas geht in ihnen vor? Ist es auch nur eine einzige Seele, die irgendwo in einem Stuhl knieet und gegen die Hoheit des Gebäudes, gegen die Macht der Wölbungen und Säulen mit ihrem armen schwachen Aufseufzen wie ein Sandkorn am Meer verschwindet, doch belebt es einen ganzen Bau! Und brennen auch nur zwei kleine Kerzen an einem irgendwo versteckten Seitenaltar, immer sagt dies: Da ist irgendein Gebet im Werke, eines, das schon gehalten worden ist, oder eines, das erst gehalten werden soll; irgendeine Seele, die vielleicht in der Ferne auf dem Krankenlager liegt, hat diese Lichter anzünden lassen und bald wird, nur mit einem 122 einzigen Knaben, ein Priester kommen und, ohne Rücksicht auf Zuhörer, unhörbar nur und still hinmurmelnd die Messe lesen. Dann wieder findet man an einem Tag. wo in der Stadt und in den Gemüthern alles werkeltägig hergeht, doch in der Kirche den Hochaltar geschmückt, Blumen liegen an seinen Stufen, das Wort des Priesters schallt wie ein einsames Selbstgespräch und kaum bis über die Brüstung des Chores hinaus; ein Erinnerungstag ist's an einen Heiligen, irgendein Vorgang aus der Geschichte der Kirche wird gefeiert, ohne Geräusch, ohne allgemein verständlichen Ausdruck; nur einzelne Seelen, die gerade diesen Heiligen zu ihrem Schutzpatron wählten, sind gleichsam mit in das stille Geheimniß gezogen und dies geben sie einfach zu erkennen durch ihre Spenden, durch ihre Anwesenheit in den Kirchenstühlen, durch das Nachlesen in ihren Brevieren.

Der Mönch schlug die Augen hellauf und erwiderte nach einer langen Pause des Schweigens mit fast unhörbarer Stimme: Wäre das nicht, wie sähen Sie mich auch wol in dieser Tracht!

Bonaventura hatte durch seine längere Rede den Neophyten in seinem neuen Glauben bestärken wollen. Wiederum trumpfte ihn Klingsohr ab, als gleichsam in seiner Gegenwart zum Sprechen nicht berechtigt.

Beide waren jetzt in die Kathedrale getreten, die einem großen heiligen Walde glich von vielen tausendjährigen Eichenstämmen. Die Ueberfülle an neugierigen Fremden vertrieb sie. Sie traten in einen stillern, schön erhaltenen Kreuzgang, der zur Seite lag. In der Mitte desselben sprudelte über grünem Rasen ein Springquell – es war still ringsum, friedlich, »poetisch«, wie der Mönch sagte, kokett und herausfordernd wie immer –

Der Reiz, sich persönlicher zu ergründen, nahm aber zu. Bonaventura hatte das Bedürfniß, einem Convertiten und einem Mönche vollends sein schweres Lebensgefühl zu erleichtern, und 123 suchte dafür nach Anknüpfungen. Bei Klingsohr wiederholte sich die alte Erfahrung. daß allen denen, die sich originell glauben und geben, ein ruhiges und festes Entgegentreten auch einer fremden Art allmählich Verwirrung bereitet. In Göttingen und Hamburg zog Klingsohr in solchen Fällen vor, sich die Oberherrschaft dadurch zu sichern, daß er mit dem, der ihm gewachsen war, Frieden schloß und dann wieder mit einem Freunde von solcher Bedeutung kokettirte. Er sagte: Lieber doch noch die herumlorgnettirenden Engländer und um Trinkgelder handelnden Lohnbediente in unsern Kathedralen, als sich Kirchen nur erfüllt zu denken von Superintendenten- und Consistorialrathsweisheit! Gott! Gott! Darum zerriß man 1517 die zarten Verbindungsfäden des Ueberlieferten mit dem Gemüthe, zerriß Deutschlands kaiserlichen Purpurmantel, nur – damit in den Kirchen ewig geredet und das Echo der alten zum Redewiderhall gar nicht geschaffenen Wände mit tausendfach persönlich bedingter Weisheit gequält werde! Man spricht von dem Protestantismus als dem Bundesgenossen der Freiheit – Haha!

Nichts will die Freiheit des Volkes mehr, als die katholische Kirche! fiel Bonaventura ein.

Der Mönch stand still und betrachtete jetzt zum ersten mal erst längere Zeit den Sprecher – Die Fortsetzung dieser Gedankenreihen unterbrach jedoch ein Geräusch in einer Kapelle, die den zuletzt dunkler gewordenen Kreuzgang schloß. Diese Kapelle lag völlig einsam und diente zur Aushülfe für die Winterszeit, wenn allzu schneidende Kälte die vorgeschriebenen Gebete und Messen in der Kathedrale, besonders den ältern Priestern, oft kränklichen und hinfälligen Domherren, unmöglich machte. Beim Verharren in der Kühle dieses entlegenen Winkels, über den Leichensteinen und Wappen der hier seit Jahrhunderten begrabenen Priester, wollte Klingsohr eben beginnen: Der Stab Aaron's ist 124 ein mächtiger, ein grünender und blühender in unserer Hand – als ihn jenes Geräusch unterbrach –

Bonaventura ging näher, sah in die offene Thür, stieg einige dunkle Stufen nieder und zeigte dem Nachfolgenden, der von einer Eule oder einer Fledermaus sprach, einen großen Vogel, der aus den hundert Nestern an den Spitzgiebeln und Thürmen der Kathedrale sich hierher verirrt hatte, scheu in dem dunkeln Innern hin- und herflog und den Ausgang nach den hochliegenden kleinen Fenstern suchte, die auf der andern Langseite der Kapelle in die Straße gingen. Der Vogel umflog den Altar, riß die Leuchter um, verschob die Altardecke und warf einige Schalen nieder – Der Anblick hatte etwas Düsteres, ja Schauerliches bei der Dunkelheit und Einsamkeit des Ortes. Zuletzt sah man den Vogel sich zwischen zwei der kleinern Säulen an der sogenannten Evangelienseite des Altars festklammern und wild und starr die Augen auf die Ankommenden richten –

Greifen Sie das Thier! sagte Bonaventura. Ich will den Altar wieder herrichten –

Klingsohr stand in der Ferne und erbot sich zu der umgekehrten Hülfsleistung. Er ordnete den Altar und so langte denn Bonaventura den großen Vogel nieder, einen Habicht mit gekrümmtem Schnabel und spitzen Krallen. Die Unheimlichkeit der Scene mehrte sich durch das Erscheinen eines rasch draußen aus dem einsamen dunkeln Kreuzgange daherkommenden Priesters, der kaum in die Kapelle geblickt hatte, als er schon zurückkehrte, fast erschreckend, sie nicht leer zu finden. Und noch mehr . . . Bonaventura erkannte den hier plötzlich Auftauchenden und wieder Verschwindenden auf den ersten Blick. Es war Cajetan Rother, sein Vorgänger im Amte zu St.-Wolfgang. Da lag das Ordnen des verstörten Altars seltsam nahe.

Bonaventura betrachtete den Vogel, den er an beiden 125 zurückgebogenen Flügeln rückwärts auf die Hand gebreitet hielt und der ihn wild und trotzig und wieder doch furchtsam und scheu ansah. Er sagte: Er sieht aus wie die unbekehrte Seele eines Menschen!

Klingsohr war bereits wieder voraus auf dem sonnigen Rasenplatz des innern Geviertes der Gänge; Cajetan Rother war verschwunden. Daß er nicht zum Gebete gekommen, ersah man alsbald aus einer ihm begegnenden, ihn anredenden und mit ihm zurückkehrenden Dame. Und in dieser erkannte Bonaventura, trotz des von ihr, als sie hier Beobachter sah, plötzlich übergeworfenen Schleiers, zu seinem Erstaunen eine der Töchter des Herrn Schnuphase. Alles das währte nur einige Minuten, hinterließ aber auf lange und tief einschneidend einen Eindruck, dem der Mönch, als ihm das freiere und leichtere Aufathmen selbst Bedürfniß wurde, das Wort der Erklärung gab: Lassen Sie den Vogel fliegen! Das Thier ist ein Bote des Satans! Nur deshalb scheint es auf uns so grimmig zu sein, weil wir ihm ein Rendezvous gestört haben!

Bonaventura warf den Vogel in die Höhe. Er schoß auf und verschwand auf dem grauen Schieferdache des Langhauses der Kathedrale. Schweigend verließen beide den Kreuzgang und den Ort überhaupt. Man wollte noch einige andere Kirchen besuchen.

Es konnte Bonaventura nicht entgehen, daß der Mönch in seltsame Aufregung versetzt war, die ihn seine bisherige bewußte und selbstgefällige Weise fast aufgeben ließ. Wie über irgendetwas Gespenstisches hatte sich sein Auge vergrößert, die Runzeln, die auf der Stirnfläche des kaum Dreißigjährigen zahlreich lagen, zogen sich in die Höhe, er zupfte, um die Kutte höher zu ziehen, an dem Strick, der ihn umgürtete, so fast, als fröre ihn. Endlich, an einem großen alterthümlichen Hause, schien sich der Begleiter 126 wieder erholt zu haben von dem Eindruck, den ihm die Scene in der Kapelle gemacht hatte. Am Sonnenlicht athmete er wieder auf und ließ, halb mit einem, wie es schien, vom tiefsten Innern kommenden Seufzer, halb aber auch wieder hinblinzelnd auf Bonaventura, die Worte der Schrift fallen: »Wo ihr aber durch den Geist des Fleisches Geschäfte tödtet, da werdet ihr leben!«

Bonaventura kannte, schwer genug (wie er zu gestehen sich niemals schämte), diese allein erst wahrhaft lebendig machende Kraft des Geistes und nickte Beifall.

Nun fühlte sich der Mönch ermuthigt, zur frühern Schärfe seiner Aeußerungen zurückzukehren. Er klagte die Priester an, denen er vorzugsweise den Verfall des großen Kirchengebäudes schuld gab. Kennen Sie dies Haus hier? fragte er und ohne die Antwort abzuwarten, gab er sogleich die Erklärung: Der Sitz des Domcapitels ist's! In dem Hause hier mit seinen zahllosen Fenstern, langen Gängen und auf die Ewigkeit angelegten Oefen kommen aus vierundzwanzig Gegenden auf ihre alten Tage vierundzwanzig Menschen zusammen, zwei auf jeden Jünger Christi, und – ja, das ist ihr Unterschied – einer spricht und geht und raucht und schnupft anders als der andere. Noch sind Greise darunter, die einst auch unsern Herrgott abgesetzt haben in der Französischen Revolution! Domherren, die mit Hontheim von Trier eine deutschbischöfliche Kirche gründen wollten, frei vom Papst, eine constitutionelle, die in den Emser Punktationen ihre Charte-Vérité haben sollte. Alle haben sie noch über Voltaire gelacht und manchen, die man freundlich, liebenswürdig nennt, sind davon die Runzeln so stehen geblieben wie lachenden Porzellanmännchen; sie lachen auch bei Erlebnissen, die ihnen das Weinen nahe bringen sollten, ja sie wissen nichts von diesen stehen gebliebenen Mienen, sie weinen wirklich mit diesem alten 127 Voltaire-Lächeln! Gerade, als wenn sie wüßten, daß sie den Feuertod verwirkt haben, so heizen sie ihre Oefen ein in ihren großen kaltgründigen Stuben! Wälder stecken sie in die Flammen und doch erwärmen sie nicht den innerlich schauernden Frost! Furchtsam verrichten sie ihre Aemter am Hochaltar, wo sie vor Podagra kaum noch die Stufen des Chores ersteigen können, und bei den großen römischen Missalen, die neben ihnen aufgeschlagen liegen, bei den durchstrichenen Noten des Antiphonales werden sie gespenstisch nur an die Todtenköpfe des Beinhauses erinnert. Ha, aus Angst der Seele wirft sich dann einmal einer oder der andere auf das Studium eines alten Kirchenvaters! Da drüben, wo Sie die grünen Vorhänge am Fenster zugezogen sehen, wohnt einer, der sein ganzes erspartes Vermögen an die Herausgabe des Origenes hingegeben und hinterher bedeutet worden ist, daß Origenes nicht zu den Heiligen gehört und den Protestanten zu überlassen ist. Der Aermste –! Ach, er wird dieser Tage sterben, ist vielleicht schon todt, und seine aus theuer erstandenen Manuscripten gesammelten verschiedenen Lesarten werden ihm ohne Sang und Klang ins Grab folgen! Dort – ja dort wohnt der Kanonikus und Domherr Martinus Taube! Krank kann er werden vor Neid und Eifersucht, wenn im Kattendyk'schen Hause jemand dreimal hintereinander zum Diner eingeladen war und Frau Commerzienräthin ihn einen angenehmen Gesellschafter genannt hatte, an den sie sich – gewöhnen könnte! Nebenan – da wohnt einer, der mit dem Hause Kattendyk Geldgeschäfte macht – Dort dem andern da ist sein Dasein ganz in Whist und Boston aufgegangen! Und fragen Sie ihn, ob der heilige Goar zu Trier seine Einsiedlerkutte wirklich an einem Sonnenstrahl aufhängen konnte, er wird es mit einem lauten und deutlichen: Ja! versichern, nur um nicht aufgehalten zu werden, ein glückliches – à tout zu machen. Ha diese Priester! 128 Sie können wie junge Mädchen eifersüchtig werden auf die Cirkel. wo nur ihre Hände geküßt, nur ihre Scherze belacht sein sollen! Entschuldigen Sie an ihnen nichts! Es ist gut, daß es einen großen Geistessturm gibt! Die faule Ruhe des Friedens hat Ungeziefer selbst im Rock des Herrn einnisten lassen! Ausgeklopft muß er werden, nicht blos das Wamms der Kriegsknechte! Tüchtig! Tüchtig! Und von uns selbst! Hören Sie, unsere Trommel wirbelt schon –

Der Mönch wurde in seiner wilden Rede unterbrochen. Eben zog eine Militärcolonne mit kriegerischem Spiel über den Platz, auf welchem sie einsam gestanden. Als es stiller geworden, sprach Bonaventura: Pater! Ich meine, je höher ein Priester steht, desto mehr wachsen seine Sorgen, die Ansprüche seiner Verwandten, die Zumuthungen seiner Bedürftigen! Werden wir alt, so suchen ja gerade wir nach Augen, von denen uns doch ein klein wenig Liebe und Sehnsucht bewahrt werden möchte, auch wenn wir todt sind! Keine Familie zu haben, es sichert uns lange vor Sorge und Kummer, und doch wird zuletzt Familie unsers Herzens ganze Sehnsucht! Nun sparen wir für andere, schenken, opfern, wollen Menschen haben, die irgendwie die Unserigen sind! Das dann wird zuletzt eine unserer katholischen Priesterkrankheiten, die ebenso ihre Symptome, den Geiz, die Geldbegierde hat, wie unser schon in jungen Jahren sich meldendes Verlangen nach – Bequemlichkeit! Bonaventura sprach das so hin, wie wenn er es ebenso auf der Kanzel hätte sagen können, ohne Menschenfurcht. Sein Auge glänzte, seine Stirn umzog sich mit dem lichten Schein der Unbefangenheit.

Sie sind ein milder Versöhner! sprach der Mönch lächelnd und sich dem Redner anschmiegend. Wissen Sie denn, warum Sie herberufen sind?

Ich hoffe es zu erfahren, erwiderte Bonaventura.

129 Ich will es Ihnen sagen! Irgendeiner dieser Priester alten Stils hat Sie irgendwo gesehen, hat Sie predigen hören, und da geht es wie in Göttingen, wo ich die Rechte studirte. Die alten Professoren wehren jede Neuerung ab, lassen kein neues System, keinen jungen Docenten oder Außerordentlichen aufkommen. Plötzlich merken sie, daß die Frequenz der Universität abnimmt. Des Goldes, das von der Quästur kommen sollte, wird immer weniger, die Doctorhüte bleiben auf dem Lager, die gelehrte Jugend Deutschlands, die Gott sei Dank! noch nicht ganz aus Freitischseelen besteht, drängt sich in jene Städte, wo die Lehrstühle der in Göttingen verurtheilten Systeme stehen. Nun wird den »Geheimbdenräthen« Angst! Jetzt halten sie einen großen Rathschlag, und siehe da! Sie senden eine Deputation gen Hannover und erklären, die Facultät böte eine Lücke, man müßte die Vertreter eines neuen Systems berufen. Ministerielles Erstaunen – Stühle, auf die sich die Excellenz vor Ueberraschung niederlassen muß. Sie meinen, meine Herren? Sie befürworten –? In den »Gelehrten Anzeigen« hackten Sie ja regelmäßig die Vertreter eines neuen Systems zu göttinger Wurst? – Thut nichts, Excellenz! Mangel an doppelläufigen »Pistolen« – Und nun errichtet man einen neuen Lehrstuhl und beruft denselben jungen, früher verfemten Irrlehrer und die akademische Jugend des heiligen römischen Reichs findet wieder den alten Weg an – die »Leine«, die Honorare kommen in Gang und die Doctorhüte fabrizirt wieder »Vater Bethmann« nach wie vor und die alten Herren frischen sich mit dem jungen Blut wieder auf, wie in Arnim's »Kronenwächtern« die Transfusion des Blutes in praxi ausgeführt wird. Ebenso denk' ich mir: Wenn in Städten, wie diese, die Gesinnungen zu weltlich werden, die Beichtstühle zu leer stehen, die Büchsen und Becken beim Opfern zu viel Kupfer abwerfen, die zweischlächtigen Bastarde 130 der gemischten Ehen nur in den Taufbecken der Protestanten Stolgebühren zurücklassen, dann müssen frische, fromme, freudige Gemüther – Wiederum aber konnte diese, dem Eindruck, den Bonaventura dem Mönche machte, dargebrachte Huldigung nicht weiter kommen. Eine Volksmenge brauste daher, Vorläufer eines neuen Soldatentrupps, diesmal der großen Wachparade. Es war schon die Mittagszeit. Wie eine rauschende Flut stürzten sich die Accorde einer Janitscharenmusik über die Worte des Sprechers –

Der Mönch schwieg; beide Wanderer standen still und ließen die Truppen an sich vorüberziehen – Kennen Sie den Kirchenfürsten? verstand sich der Mönch wiederholt zu einer – Frage als es ruhiger geworden.

Aus der Zeit, als er noch Generalvicar war!

Reden Sie mit ihm, so bitt' ich, sprechen Sie Gutes von mir!

Bonaventura sah den Mönch erstaunend an.

Ich habe die Weihen noch nicht! Ich bin nicht Priester! sagte Klingsohr –

Auf Bonaventura machte der Ton dieses Geständnisses Eindruck. Es war ihm, als fiele ihm durch diese Bestätigung des schon früher in Erfahrung Gebrachten eine Last vom Herzen. Sebastus war denn doch kein Priester! Diese Hand, die Jérôme von Wittekind erschoß, diese Hand, die einen Vater ungerächt gelassen, war so noch nicht entsühnt, daß sie Segen ertheilen, das Brot des Lebens spenden konnte – jetzt verstand Bonaventura die Widersprüche in dem Wesen seines Begleiters – die Demuth schien demselben noch nicht zur wahren Natur geworden – sie erstrebte vielleicht nur das letzte Ziel des neuen Ehrgeizes – die Weihen –

Jetzt kamen vier Männer daher. Sie grüßten, standen still und es fanden gegenseitige Vorstellungen statt. Benno war es mit seinem Freunde Thiebold, mit dem Assessor von Enckefuß 131 und mit einer seltsamen Erscheinung. die sich zwischen dem Arm des letztern und dem Arme Thiebold's festhielt – ein jugendlich aufgefrischter Greis, von jenen selbst beim Weinen lachenden Gesichtszügen, wie sie Sebastus eben bei den alten gezähmten Voltairianern stereotypirt gefunden, den Bart, die Haare gefärbt, ein seltsames Bild unter drei jungen Männern, von denen wenigstens Benno und Thiebold die Lebensfrische selbst waren.

Herr Rittmeister von Enckefuß –! Herr Pfarrer von Asselyn –! hieß es.

Der Mönch stand vor Schrecken starr.

Die Gruppe wagte ihn nicht in ihren Kreis zu ziehen.

Herr Doctor! sagte ihn erkennend der Rittmeister in leichter und weinerregter Anrede. Es gab eine Zeit, wo Sie's gar nicht abgeschlagen hätten, mit uns auf den Hahnenkamp zu gehen und ein Glas Champagner zu trinken! Wir haben ihn da besser als im Englischen Hof und bei Tangermanns in Witoborn – haha! Jetzt freilich – Bitte um Entschuldigung –

Der Mönch sah den Sprecher an, als irrte er sich in seiner Person. Es war ein Blick voll Größe, als wollte er sagen: Ich spreche armenisch und komme vom Libanon! Er wurde von Benno dabei von oben bis unten fixirt. Benno würde dem vor Verlegenheit verstummenden Rittmeister irgendwie secundirt haben, wenn nicht auch Thiebold Bonaventura's Bekanntschaft nunmehr zum ersten mal machen mußte. Da gab es denn ein solches Bestürmen mit dem ganzen Feuer des Antheils, ein solches Aufrufen zur Vergleichung der Aehnlichkeit mit dem Onkel Dechanten, ein so lärmendes Erörtern der unangenehmen Nachrichten für Frau von Gülpen, daß nun eine andere Conversation nicht mehr aufkommen konnte.

Der Mönch, wie nicht im mindesten berührt von der Begegnung mit einem Manne, der ihm die trübsten Erinnerungen 132 des Lebens zurückrief, wandte sich inzwischen und richtete, wie wenn nichts wäre, den Blick auf die Straßenecke, die mit Anschlagzetteln bedeckt war. Man befand sich auf einem der vielen kleinen Plätze der Stadt, in der Nähe eines Gasthofs mittlern Ranges.

In Bonaventura's Klagen über die Verzögerung seines Aufenthalts mußte sich sein Bedauern mischen, von Benno zu hören, daß diesen jede Stunde eine Weisung seines Principals über Land zu schicken drohte und, wie er sagte, sein immer schon halb gepackter Koffer ihn vielleicht heute Abend bereits wieder aufs Dampfboot begleiten könnte. Auch ich! sagte Bonaventura und drückte damit für Benno eine Bürde aus, die er an dem, lesend der Mauer zugewandten, Begleiter zu tragen hätte, hoffe morgen empfangen und verabschiedet zu werden!

Im Rittmeister von Enckefuß sah nun Bonaventura eine Persönlichkeit, die vielfach genannt zu werden pflegte, wenn man von den Zerwürfnissen des Kirchenfürsten mit der Regierung und einer schon uralten Verfeindung des Domherrn Grafen von Truchseß-Gallenberg mit dem herrschenden Systeme sprach. In seiner Heimat drüben erfolgte nach geistlicher, dann westfälischer Herrschaft die Uebernahme der Zügel des Regiments 1815 schroff und im Geiste der Sieger, die triumphirend von ihrer Demüthigung des Corsen heimkehrten und in den neugewonnenen Ländern und Städten die wilden Söhne des Heerlagers als Wächter zurückließen. Kurze Zeit hatte der Corse auch die Söhne dieser Länder bewaffnet den übrigen deutschen Brüdern gegenübergestellt; nun trat unter Verhältnissen, wo aus jedem nur erdenklichen Grunde der Politik die Versöhnung hätte herrschen sollen, doch, wie einmal die menschliche Natur ist, die Vergeltung ein. Ein tüchtiger Heerführer befehligte in der Hauptstadt der neuerworbenen Provinz. Milderte an ihm sein Verdienst die Wildheit und konnte 133 eine gewisse barsche Treuherzigkeit, der man im rechten Augenblick sogar Gemüthvolles abgewinnen konnte, ihm manche gute Wirkung sichern, so verdarben das, was allenfalls seine Oberleitung noch gut gemacht, die Untergebenen. Vorzugsweise war es sein eigener Sohn, ein junger Offizier, der auf dem so gänzlich verschiedenartigen Boden die Sitten der heimatlichen Provinz einführen wollte. Der Husarensäbel des Rittmeisters von Enckefuß zerhieb alle Schwierigkeiten, deren sich für den alten General, seinen Vater, immer zahlreichere fanden. Verhältnisse, Vorurtheile, Meinungen, Gewohnheiten wurden verletzt, mit ihnen die Personen. Die Reizbarkeit mehrte sich. Es kam zu Kränkungen, die mit der dem dortigen Menschenschlage eigenen Selbstbeherrschung, man mag sie auch Trägheit nennen, niemand länger verwinden mochte; bald standen sich die höhern Stände aufs feindseligste gegenüber. Schon wurden einige der jüngern Domherren, Geistliche aus den ersten Geschlechtern des Landes, von jenem Militärgeist, der den Säbel gern auf dem Straßenpflaster nachschleppen läßt, geneckt und sogar auf dem neutralen Boden der Geselligkeit, vorzugsweise im Casino der Stadt. Als sie dies ihrem Amte gemäß schweigend hinnehmen mußten, wurden sie mit spottenden Worten bezeichnet. So entstand ein Ehrenstreit, an dem die Stadt, die Provinz theilnahmen. Zwei junge Domherren geriethen durch wiederholte Beleidigung in die Nothwendigkeit, von den Offizieren sich eine Genugthuung zu erwirken. Als Priester durften sie die Waffe nicht führen und ihren Stand zu verlassen verhinderte sie eigene Neigung und ein durch die Familienstatute gebundener Wille. Sie klagten vor Gericht. Nach langem Processiren kam es zu einem Austrag, der ihrer Ehre einen dürftigen Strohhalm bot. Vor den Gegnern hatten sie einen zweifelhaften Sieg gewonnen. Neue Verwickelung, neuer Hader. Da tritt der einzige Bruder eines der 134 Domherren, der Träger des Geschlechts, in die Schranken und wird, sowie später in unedlerer Veranlassung Jérôme von Wittekind, im Duell von jenem Husarenrittmeister erschossen. Der Priester Immanuel, Domherr Graf von Truchseß-Gallenberg, der jetzige Kirchenfürst, soll damals am Grabe des Bruders nur einen stillen Schwur gesprochen haben; aber die Geister Innocenz' III. und Gregor's VII. hörten ihn.

Hier nun sah man den Anlaß dieser Irrung, den alten Husaren, wie er sorglos seinen gefärbten Schnurrbart dreht und sein »junges Volk« mit der »Witwe Clicquot«, als der wahren Quelle alles Heils und aller Gnaden, unterhält! Er gab sich in einer Weise, der Bonaventura, um seine eigene ehemalige Fähnrichschaft von ihm angegangen, gar nicht gram sein konnte! Kannte er doch diese ghibellinischen Landsknechte, die in einer Nacht mit unendlichstem Leichtsinn Hab' und Gut im Würfelspiel verlieren konnten und, wenn die Drommete gerufen hätte zur Schlacht, sich aufs Roß geschwungen und nicht minder leichtblütig Leib und Leben aufs Spiel gesetzt haben würden! Die fröhliche Gesellschaft wollte weiter gehen und sah, um Abschied zu nehmen, nach dem Mönche hinüber, der fast unter ähnlichen Lebensbedingungen stand wie der fröhliche alte Rittmeister.

Klingsohr stand jetzt abgewandt und las –

Die Männer gingen. Bonaventura wartete, bis sich Sebastus wenden würde. Endlich that er es – leichenblaß. Bonaventura redete ihn um die Bekanntschaft mit dem Rittmeister an. Er erwiderte nichts. Bonaventura sprach von einer Fortsetzung des Spaziergangs am Nachmittage. Kein Wort der Entgegnung. Nur mit seinen magern Händen zeigte er jetzt über den Platz hin.

Bonaventura sah einen Gasthof, an dessen Einfahrt sich ein 135 Schwarm von Krüppeln und Bettlern durcheinander drängte. Da gab es barfüßige Kinder, Greise, Blinde, Lahme, Frauen mit verbundenem Kopf, Hexen nicht unähnlich, eine Zunft von Menschen, die den Spruch, wir wären nach Gottes Ebenbild geschaffen, zur Satire machten; alles drängte sich mit halbzerbrochenen Scherben am Eingang – ein Kellner hielt die Hungernden noch zurück – An dem Blick, den der Mönch auf jenes Gewühl warf, erkannte Bonaventura, daß er im Begriff war, sich den bettelnden Armen anzuschließen. Mein Donnerstagstisch! sagte Klingsohr und brach ebenso rasch ab, wie er vor einigen Stunden zu Bonaventura ohne alle Begrüßung gekommen war.

Lange – lange sah ihm Bonaventura nach. Sein katholisches und priesterliches Herz, seine Befangenheit in römischen Anschauungen sagte ihm: Warum sollen es denn nicht die Kranken und die Armen sehen, daß in den Fragen des Lebens auch der Genius vor ihnen nichts voraushaben will? Warum soll denn nicht ein einzelner unter sie treten und ihnen zeigen dürfen, daß jedem die Entbehrung wehe thut, Hunger, Durst und Frost nicht das Lebensloos der Armen allein sind, ja daß es eine Glorie höherer Genüsse gibt, die selbst ein Gebildeter sucht und allem vorzieht, wonach sonst die Entbehrenden mit neidischem Herzen schielen! Und als sich ihm der Einwand aufdrängte, daß ja aber auch ein Mönch nicht arbeite und mit seinen Entbehrungen denen nicht gleichstehe, die trotz ihres Fleißes in traurigen Verhältnissen leben, widerlegte sich seine noch unerschütterte Begeisterung für die Kirche durch eine eigene Auslegung der Schrift. Wenn wir nicht allein vom Brote leben, sondern auch vom Geiste Gottes, so darf zu letzterm, zu diesem lebendigen Odem, der uns erfüllt und erhebt, auch ein festgehaltener äußerer Ausdruck des Uebersinnlichen gehören. Wie man die Kirchen schmückt, statt daß auch in schmucklosen derselbe Gott erkannt und gepredigt werden könnte, wie 136 man seine Liebe durch ein Symbol ausdrückt, durch eine Blume, einen Ring, statt daß Worte diese Bedeutung haben könnten, so sollte nicht auch, fragte er sich, die äußerlich ersichtliche und vor der Welt festgehaltene Demuth, also das Kleid und die Entbehrung des Klostergelübdes, die immer bereite Vergegenwärtigung der Begriffe sein, die sie dem weltlichen Leben vorhalten und demselben gleichsam einbilden möchte? Edler, als der Spartaner sich Heloten hielt, um seinem Sohn die Niedrigkeit dienender Seelen zu zeigen, schien dem sinnend Nachblickenden sich der Christ Mönche und Nonnen deshalb halten zu dürfen, um in der Fülle der Ungebundenheit und des leidenschaftlichen Lebensgenusses auch die reinen Typen zu bewahren der Selbstbeschränkung und der Nur-Auf-Gottbezogenheit.

Bonaventura speiste dann auf seinem Zimmer, bedient von einem ungeschickten Mädchen, dessen Unerfahrenheit es hätte entschuldigen können, wenn, wie heute in der Frühe, lieber eines der Fräulein Schnuphase, mit schweigsam lauernder Ehrerbietung, einer Martha gleich, erschienen wäre und das Serviren unterstützt hätte. Die seltsame Begegnung im Kreuzgange hielt die beschämten Heuchlerinnen zurück. Daß Bonaventura bei dieser Erfahrung mit Grübeln und Nachdenken nicht zu lange verweilte, lag in der traurigen Gewöhnung seines Standes, derartige Eindrücke, so an Priestern wie an Laien, fast täglich bedenken zu müssen. Auch gibt es in den Seminaren eine methodische Erziehung zum Unterdrücken sinnlicher Phantasiegebilde. Zu dem Ende, daß, trotz der Einsamkeit, im katholischen Priester die Leidenschaften schweigen, soll er immer beschäftigt sein. So wollte es Hildebrand, als er, um aus ihnen die Gnomen der römischen Zauberkunst zu schaffen, ihnen die Ehe verbot, die Verbindung mit der Welt und mit dem gemeinen Leben. Mahnen dann aber zuletzt die Geister auch zu gewaltig, stürmt es in der 137 Brust, so haben die Lehrer der Kirche, unter ihnen in der That bewunderungswürdige Kenner des menschlichen Gemüths, dafür gesorgt, den Sinn zu heiligen, das Herz zu stillen, vor der Phantasie es zu bewahren. Denn die Phantasie ist die gefährlichste Feindin des Einsamen. Bonaventura war ein Dichter; er konnte die Phantasie nicht fliehen, aber er dachte sich mit ihr nie Zukünftiges, nur Vergangenes. Im Vergangenen – da konnte er ohne Gefahr für seine Gelübde schwelgen! Aber wie rang er auch da, um nur allein das – Eine festzuhalten! Nur die Grenze zu wahren, wo nicht plötzlich ein rosiger Zukunfts-Hoffnungsschimmer in die Seele einbrechen konnte. Mit den Zukunftsträumen beginnen die Irrpfade der Einbildungskraft. Ihrem goldenen Glanze verschließe das geistige Auge! Erwache aus jedem Traum, den es dich gelüsten könnte dir auf Zukünftiges zu deuten! Mögliches, Gehofftes ist ein Arom der Geister, das die Sinne betäubt. ein Zaubertrank, der in Paradiese versetzen kann, selbst unter den Schrecken der Wüste. Schreit dann die Seele inbrünstig »wie der Hirsch nach frischem Wasser«, so gibt ihm die römische Magie eine vom Munde möchte man glauben der schäumenden Wuth des leidenschaftlichsten Seelenschmerzes gesammelte Aqua toffana – Auch Bonaventura kannte sie – Wurde dem jungen Priester das Blut von einer plötzlichen Wallung durchglüht, rang er in der Noth des Aufschreis seiner gesunden Lebensgeister, so griff auch er – nach jenen mechanischen Hülfsmitteln, die im Rosenkranzgebet den ersten Wassersturz und Besinnungslosigkeit zu suchen lehrten! Auch Bonaventura konnte dann die – Buchstaben der Evangelien und Episteln zählen! Rechnen – wie oft – ein gewisses Wort sich auf Einer Seite wiederholte! Und wenn Paula's Name und ihre liebliche Erscheinung über seinen Geist wie eine sanfte Sphärenmusik sich senkte, so konnte auch er, um sich vor dem Vergehen in einem 138 Meer von Sehnsucht zu retten, das liebliche Gedicht in Spee's Trutznachtigall:

Wenn Morgenröth' sich zieret
Mit zartem Rosenglanz –

statt vorwärts – rückwärts lesen! Half dann auch das nicht und klangen die Sphären zu berauschend, die Lockungen zu süß, so konnte er zählen, wie oft – in einem solchen Gedichte ein einziger Buchstabe vorkam – vielleicht der Buchstabe P! – – Lacht nicht, ihr Feinde des Christenthums! Ihr am wenigsten, die besten Freunde desselben – nach dem Mönche Sebastus, ihr Juden! Das eben brachte vielleicht schon der Glaubensvirtuose Apella mit nach Rom. Mit solchen Glaubensspielen erfüllten schon am Jordan die Rabbinen das Wort des Psalmisten: »Wie hab' ich dein Gesetz so lieb, o Herr! Den ganzen Tag ist es meine Betrachtung – –!«

Jeden Augenblick horchte dann Bonaventura mit Bangen, ob es klopfen würde und der Mönch zum zweiten mal einträte, ihn zu einem Nachmittagsgange abzuholen.


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