Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. III. Buch
Karl Gutzkow

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52 3.

Unten im Hause, ans Treppengeländer gelehnt, fand Trendchen Lucinden, die ein Papier in der Hand hielt, in das sie ganz versunken schien. Es war ein großer grauer Zettel – der Theaterzettel –

Es war schon spät geworden und doch hätte Trendchen sich noch gern, in dem überströmenden Gefühl ihres Glückes und ihrer Dankbarkeit, zu Lucinden ausgesprochen. Sie trat auch zu ihr heran.

Lucinde aber stand, als weilte sie nicht auf dieser Erde. Sie bemerkte Trendchen nicht, so versunken war sie in die Angabe der heutigen Theatervorstellung.

Trendchen wollte keine Zeit verlieren, störte Lucinden nicht länger und sprang die Stiege hinunter.

Unten in der Hausflur sah man, daß »der junge Herr« auf Reisen war! Es war schon neun Uhr, alle Räume unten waren vom Geschäftsverkehr belebt, Makler kamen und gingen, das rührigste Leben war in den auf den Treckkamp, Aschenkotter und Heiligenpütz hinausgehenden Hinterhöfen hörbar und doch grüßte der Portier noch aus seiner unterirdischen Loge, stand noch nicht mit Dreimaster, Stab und Bandelier, wie Piter seit einem halben Jahr eingeführt und im Modell mit Aquarellfarben selbst vorgemalt hatte, in der Hausflur und wies die Ankommenden mit 53 Inquisitormiene zurecht. Doch auch aus dem Keller heraus ließ sich Trendchen die beste Richtung beschreiben, in der sie zum Waisenhause und von dort zur Kathedrale kommen konnte.

Es war ein Markttag. In den Straßen das Gewühl kaum zum Ausweichen. Dabei die Straßen so eng; die Lastwagen drängten sich. Heute kamen zu ihnen noch die Bauerwagen mit ihrem Stroh, Heu, Holz, Kartoffeln für den Winter – Alles, wie Trendchen aus Kocher am Fall den allgemeinen Gang des Lebens wiedererkannte. Nie war sie in einer großen Stadt gewesen. Anfangs übertrug sie sogar auf den stehenden Charakter einer großen Stadt, man müßte jedes Gesicht auf die Vermuthung hin betrachten, es könnte dem Mörder der Frau Hauptmännin von Buschbeck angehören. An Trotz, Verwegenheit und Rücksichtslosigkeit jeder Art fehlte es auch nirgends.

Bald hatte sie in dem beengenden Eindruck des Ganzen die Spur verloren, die ihr so genau angegeben worden. Rathlos stand sie an einer Ecke, wo mehrere Straßen mündeten. Da sah sie sich plötzlich von jemand begrüßt und angeredet. Es war ein alter Bekannter aus Kocher am Fall! Herr Löb Seligmann, der vielgeliebte Bruder der Hasen-Jette! Er, der seither noch immer nicht daheim gewesen, der noch immer in Gütern schlachtete, noch immer bei Grafen und Baronen hüben und drüben die Vortheile eines ihm geschenkten intimsten Vertrauens genoß! Den Todesfall der Frau Ley wußte Löb Seligmann durch die Briefe David Lippschützens, seines Neveus und Augapfels, für dessen Fortkommen durchs Leben bei »so schwachen Beinen« gerade er sparte, gerade er sich kein Geschäft verdrießen ließ, auch die Lieferungen der Bettfedern und Decken für Kasernen und andere öffentliche Anstalten nicht.

Trendchen konnte im Augenblick kein besseres Geschick haben als diese Begegnung mit dem so artigen, so gefälligen kleinen 54 Herrn Löb Seligmann, der vollkommen vergessen hatte, daß die böse kocherer Jugend hinter ihm her gesungen, wie sie noch jetzt hinter seinem geliebten Adoptivsohn her, in übermüthig christlich-germanischer Nichtanerkennung orientalischer Schönheit, sang:

Hast nicht gesehen Schmulche?
Mit dem scheppe Muulche?
En Aagelche zu,
En schlockrig Händelche dazu,
En wacklig Beinche dazu –?

Löb Seligmann war eine edle, erhabene und schöne Seele. Seine Gefühle glichen seinen Vatermördern, die wie bei Herrn Schnuphase in die höchste Höhe gingen. Sein Blick auf Trendchen, seine Rührung über ihre Freude, sein Andeuten: »er wisse alles« – er meinte den Tod der Mutter – sein Ausweis über die Lage des Waisenhauses – alles das war von einer so stumm-beredten Theilnahme, von einer so erdenleidverklärten Tröstung und allessagenden und nichtsverschweigenden Prophezeiung für jedes, was die kleine Landsmännin, Geld vielleicht ausgenommen, von ihm begehren konnte, daß es nur am Lärm der Straße lag, wenn nicht Gertrud Ley alle ihre Wunden wieder aufs neue aus Seligmann's und ihren eigenen Augen ausbrechen und fließen fühlte. »Trendchen – –!« Das eine Wort nur – Löb Seligmann sprach es aus, wie den vollständigen fünften Act eines Trauerspiels.

Bei alledem aber fühlte jedermann, der in Kocher vom Wasser des Falls getauft oder nicht getauft war, einen Anflug von Heiterkeit, so oft er Herrn Löb Seligmann sah. Der vortreffliche Mann hatte wunderliche Eigenschaften. Ein keineswegs allzu entfernter Verwandter der reichen Fulds (ob er gleich nur unten für das Comptoir derselben existirte und dort wie jeder andere Sensal vierten oder fünften Ranges betrachtet wurde), besaß er eine gewisse Vornehmheit. Von seinem Verkehr mit 55 der großen Welt hatte er die »Manieren der Adeligen« angenommen, soweit diese niemanden beleidigten; wenigstens glaubte er seinerseits an eine ersichtliche Vornehmheit seines Wesens. Im Oberkleide war er zwar einfach, desto gewählter in der Wäsche und vorzugsweise in der Weste. Aus dem manchmal etwas zu hohen Kragen der letztern und den zu steifen Vatermördern sah der kleine Kopf mit der niedern, breiten Stirn und dem kurzgeschnittenen krausen Negerhaar heraus wie eine Kirche, deren Dach höher ist als der Thurm. Löb Seligmann, weitaus vierzigjährig und Garçon, zudem durch Schmeicheleien verwöhnt, die zwar nur von Wenigen, aber von diesen desto enthusiastischer kamen, vorzugsweise von seiner Schwester, deren Einzigster sein Erbe sein sollte, wohnte zu Kocher am Fall im obern Stock des Hauses, wo einst der Mann der Hasen-Jette die Kundschaft der Leys ohne alle Böswilligkeit an sich gezogen hatte und sie leider nicht lange genoß. Löb Seligmann lebte und arbeitete nur für David. Er ließ ihn bilden, ließ ihn »erziehen«. Nur Musik schlug bei David noch nicht ganz nach dem Wunsch des Onkels an, der in diesem Fach ein großer Kenner war. Löb Seligmann glaubte eine Stimme zu haben. Wenn er in Kocher am Fall Toilette machte, sang er dazu am offenen Fenster. Wenn er sich an einem kleinen Spiegel, der sich quer an der Lichtung des Fensters befand, selbst rasirte, intonirte er mit einem Tenor, der nur auf eine vielleicht etwas zu leichte und bequeme Weise in die Fistel überging, eine Opernarie nach der andern. Indessen stand die Schwester in der Hausthür und machte die Leute aufmerksam auf die wunderschönen Melodieen, die Löb wieder aus den großen Städten mitgebracht hätte. Nie hat sich aber auch jemand mit mehr Behagen selbst rasirt, als Löb Seligmann. »So kannst du mich betrüben, Othello kannst du lieben?« Jetzt die Seife eingestrichen. »Treibt der Champagner 56 das Blut in die Kreise, da ist's ein Leben herrlich und frei!« Messer geschärft. »Auf, singt die Barcarole!« Erster Strich über die Oberlippe, während die linke Hand die Nase festgeklemmt hält – jetzt läßt sie die Nase los und »Gnade, Gnade für die arme Seele!« Zweiter Strich, die Nase wiederum festgeklemmt; Luft – »Mein Hüon, mein Gatte, Geliebter, wo weilst du?« Jetzt ein großes Orchestersolo mit Pauken, Trompeten, Summen und Brummen, Pruhsten, Gurgeln, Zungenschnalzen oder – Lied ohne Worte – sanft die Seife wieder aufgestrichen – Adagio – Schlummerarie – erneuter Ansatz zum Rasiren – so fort mit einem auf der Reise allerdings arg verwilderten Barte eine volle Stunde lang. Dazwischen das kunstvollste Talent der musikalischen Reproduction und Paraphrase, sanft das Messer am Streichriemen und die Arien der Kehle in Eins geschliffen. Nach Vollendung der Bartabnahme fällt eine Arie wild in die andere, Desdemona in die Klagen Rodrigo's, die Nachtwandlerin in die Verzweiflung Elwino's; »O welches Glück, Soldat zu sein!« jodelt sich in »Gold ist nur Chimäre!« hinüber – alles das empfindet Löb Seligmann ebenso musikalisch wie moralisch nach, nach Vorschrift des Textes und der Situation. Auch die kritische Mitleidenschaft fehlte nicht, soweit ihm alle größern und kleinern Talente einfielen, die in allen diesen Opern auf verschiedenen Stadttheatern von ihm bewundert wurden.

Löb's seelenvolle Erörterungen über die Vortrefflichkeit der Dahingeschiedenen, über die Bettdecken des Waisenhauses, das erstaunliche Glück, bei den Kattendyks zu dienen, unterbrach Trendchen mit der Mordthat und dem nahen Zusammenhang derselben mit ihrem eigenen Lebensschicksal. Löb Seligmann wußte den Vorfall und konnte schon weitere Details über den Geiz der Ermordeten, nur nicht über den Thäter, geben; er erstaunte über die unschuldige Betheiligung Trendchen's und bat sie, zwei 57 Minuten – »hier an diesem prächtigen Palais« – zu warten – er käme sofort wieder zurück – er würde jedenfalls, das ließe er sich nicht nehmen, sie bis ans Waisenhaus begleiten –

Da Trendchen einen Band- und Zwirnladen bemerkte und bei all ihrem Herzleid dennoch ihrer Nadeln und ihres Fingerhutes eingedenk blieb, so nahm sie auf zwei Minuten um so lieber Abschied, als sie gelegentlich hier nützliche Einkäufe machen konnte.

Statt nach zwei war sie nach zehn Minuten mit ihrem Geschäft fertig und nach zwanzig kam auch Löb Seligmann wieder. Er hatte hier in dem Comptoir seiner »Vettern« Moritz und Bernhard Fuld zwar keinen Zutritt gefunden zu den innern Gemächern, wo die Ritter der Ehrenlegion saßen, aber einige alte Buchhalter aus den Zeiten des seligen »Man weiß schon!« hielten ihm doch Stand, als er sie um eine Prise bat und ihnen mittheilte, daß merkwürdigerweise ein Mädchen aus Kocher am Fall bei der heute Nacht ermordeten alten Dame »beinahe hätte können im Dienst gestanden haben«. Es sind Vettern zu uns! wiederholte er mehrmals von den Fulds und auf das Palais deutend –

Indem Löb Seligmann seine Vatermörder jetzt stolz über die durch beständige Reibung von ihnen starkgerötheten Ohrläppchen hinauszog, ergab sich seltsamerweise, daß ein riesengroßer, wunderbar schöner Bau, in dessen Nähe sie waren, schon die Kathedrale war und daß Trendchen ihre Commission im »steinernen Hause« jetzt hätte ausführen können, wenn nicht gerade auch um zehn Uhr die Sprechstunde im Waisenhause gewesen wäre. Aber der Blumenmarkt war so nahe – derselbe Markt, der Löb Seligmann mit ähnlichen Empfindungen zu erfüllen schien, wie sie jetzt auf Trendchen's von allen diesen mächtigen Eindrücken bestürmtes Herz zuschossen – Einen Augenblick, Mamsell Trendchen! rief er und berechnete schon mit einer Gärtnersfrau, wie 58 viel Orangenblüten und Myrten in einen großen Blumenstrauß kamen, den er mit 7½ Silbergroschen bezahlen wollte. Trendchen wunderte sich nicht über seine poetische Regung. Sie selbst war wie berauscht von dieser Fülle von Eriken, Fuchsien, hochragenden Gummibäumen, buschigen Rhododendren und blühenden Myrten. Auch sie würde sich sofort in ihren Einkauf eingelassen haben, wenn nicht drei mächtige Schläge von der Kathedrale herab den Domplatz, vorzugsweise sie selbst, erschüttert hätten. Schon drei Viertel auf zehn! rief sie, Herr Seligmann, um Gottes willen, bitte! Kommen Sie! – – Sie warf noch einen einzigen Rundblick rings auf die Häuser, wo Herr Maria Schnuphase wohnen konnte, der sie in einen so schlimmen Dienst hatte empfehlen wollen, stellte eine blitzschnelle Musterung der Blumen an, die sie wol hernach zu ihrem Bouquet für den Pfarrer von Asselyn wählen konnte, und nun drängte sie fort nach der Richtung hin, die sie Herrn Löb Seligmann bat durch nichts mehr zu unterbrechen. Ich bitte Sie recht sehr! sagte sie. Ich habe noch so viele Commissionen! Aber jetzt muß ich wissen, wie meine Geschwister die erste Nacht hier geschlafen haben! Dann setzte sie, und fast neckend im Ton der kocherer Christenjugend, hinzu: Für wen ist denn der schöne Blumenstrauß, Herr Seligmann?

Wenn Sie im Waisenhause sind – begann Seligmann, hielt aber sinnend wieder inne und wickelte sein Bouquet in eine Anzahl Theaterzettel, die er aus der Tasche zog, und summte dazu einige Noten aus dem im Spohr'schen »Faust« irgendwo an einem Stadttheater eingelegten »Lied an die Rose« – wenn Sie im Waisenhause sind, geh' ich solange in die Nachbarschaft, auf die Rumpelgasse, wo mein Bruder Nathan Seligmann wohnt – Sie müssen sich sein Geschäft ansehen – alte Kleider, Möbel, Glaswaaren, Bilder, Masken, Theateranzüge – was das Herz 59 begehrt – die ganze Welt hat Nathan zum Verkauf oder zum Verleihen – nur muß sie alt und abgelegt sein!

Ist das die Judengasse? sagte Trendchen unbefangen und eilends dahinschreitend und fast so laufend, daß Löb nicht mitkonnte.

Denken Sie, daß wir hier noch in einer einzigen Gasse wohnen? Nein! Haben Sie nicht das Palais von meinen Vettern gesehen?

Sind das die Vettern, um die David immer sagt, er würde nur eine Prinzessin heirathen?

Das Kind –! betonte Seligmann in dem Entzücken wie seine Schwester und vergaß über David's naive Erklärung eine Antwort auf Trendchen's Frage. Nach dem glückseligsten Sinnen über David's Geist und große Zukunft fuhr er dann fort: Diesen Blumenstrauß will ich in seinem Namen an Tante Veilchen geben, an die er schon seit drei Jahren alle Vierteljahre einen französischen Brief schreibt. Sie werden bei Herrn Delring und bei Madame Kattendyk viele vornehme Damen kennen lernen, aber ich versichere Sie, wenn Sie wollen werden gebildet, liebes Kind, gehen Sie in die Rumpelgasse zu Veilchen Igelsheimer, die meinem Bruder Nathan Seligmann, der ein Witwer und ohne Kinder ist, seit dreißig Jahren das Geschäft und die Wirthschaft führt. Sie ist schon funfzig Jahre alt, aber ich könnte heute um ihre Hand freien – so viel Schönheit hat sie – im Geist – und wenn ich nicht versprochen hätte, für den David zu sorgen – ja, Trendchen, Sie sollten Veilchen Igelsheimer sehen! Sie können viel Bücher lesen und Sie finden nicht drin gedruckt, was aus Veilchen zu lernen ist!

Trendchen ließ ihn so forterzählen und folgte nur immer seinen stumm gegebenen Winken über die Richtung, die sie einzuschlagen hatten.

60 Veilchen, fuhr der von seinen Familienbeziehungen beglückte Mann fort, Veilchen hätte in einem Palais wohnen können, wie die jungen Fulds, wo sich der eine kürzlich verheirathet hat mit einer reichen und wunderschönen Dame aus Wien – ja Veilchen hätte Barone haben können und einen Grafen – aber da sie den nicht bekommen konnte, den sie allein gemocht – ihr Vetter war es – unser Onkel Doctor Leo Perl – da hat sie für ihr ganzes Leben gesagt: Ich entsage –! – Und wäre jetzt Herr Löb Seligmann allein gewesen, etwa daheim, auf seiner Stube in Kocher am Fall und im Rasiren begriffen, so hätte er sich unfehlbar durch die wehmutherweckende Ideenverbindung dieser Mitheilungen bestimmen lassen, aus Bellini's »Die Unbekannte« oder aus dessen »Nachtwandlerin« ein schmelzendes Adagio zu intoniren.

Trendchen sah nur immer auf die Straßennamen an den Ecken, auf die Menschen, die Soldaten, die Fuhrwerke, die hohen Häuser, die alten Kirchen und hörte um so mehr nur halb auf den freundlichen Begleiter, als derselbe seine Mittheilungen auch seinerseits bald durch das Lesen eines Anschlagzettels, bald einer Firma, bald durch ein Stillstehen und Erklären einer städtischen Merkwürdigkeit unterbrach. Den heutigen Theaterzettel ließ er nach kurzem Anblick unbeachtet – »Das letzte Mittel« – »Tanz« – Das war nichts für den Schmelz seiner Gefühle und seine nur im Meer der Töne sich wohlbefindende Seele. Auf Veilchen Igelsheimer, die Entsagende und in der Rumpelgasse das Geschäft seines Bruders Führende, kam er zurück, als er vor einem Zinngießerladen still stand und behauptete, bei Herrn Xaver Klingelpeter»nur eine Minute« zu thun zu haben –

Nein, nein! nein! rief Trendchen; ich kenne Ihre Minuten –

Eine Minute, Trendchen!

Adieu, Herr Seligmann! –

61 Zwei Worte nur! Sehen Sie die wunderschönen Arbeiten am Fenster –

Trendchen zog ihn von dem Schaufenster des Zinngießers weiter –

Herr Xaver Klingelpeter, sagte er, sich ergebend und ihr nacheilend, ist ein ansehnlicher Mann, der sich ein Gütchen kaufen will, das ich ihm empfohlen habe! Haben Sie die Herrlichkeiten in seinem Laden gesehen? Alles nur von Zinn, aber so kunstvoll, wie von Gold und Silber!

Trendchen hatte den Eindruck der silbernen Monstranzen für arme Dorfkirchen, Patenen, Kelche, Crucifixe wohl empfangen, auch durch das Fenster einen Mönch erblickt, der drinnen im Laden mit dem Meister Zinngießer in lebhafter Demonstration begriffen schien, aber es zog sie vorwärts, vorwärts, und Seligmann mußte folgen – Auch solche heilige Gefäße, fuhr er bei alledem fort, kommen im Geschäft meines Bruders vor! Sie werden eingeschmolzen und manchmal mit recht unheiligen Dingen zusammen – Kelche mit Bettwärmern! Veilchen macht das alles wie ein Professor der Chemie. Mein Bruder läßt sogar Münzen schlagen, aus Kupfer – es ist ein Artikel zum Spaß – Sie sollten sehen, wie Veilchen lateinische Inschriften macht und die Bilder dazu zeichnet – römische Könige und türkische Kaiser! Veilchen könnte Bücher schreiben –!

Ihr also bringen Sie den Blumenstrauß? warf Trendchen in der Eile und nur zerstreut dazwischen –

Ja! Aber sie macht sich aus nichts mehr im Leben! Sie liest blos, sie schreibt, sie führt das Geschäft . . . Ihr Kummer war zu groß! Es war das schönste Mädchen – ein Bild – noch jetzt ist sie wie eine Wachskerze so weiß – aber der, den sie liebte, den bekam sie nicht – es war unser Oheim – ihr eigener Vetter – er taufte sich – katholisch – mehr noch – er wurde ein Priester –

62 Trendchen hörte nur halb. Aber sie kannte ja schon dieselben Klagen aus so vielen stillen Abendgesprächen der redseligen Hasen-Jette mit ihrer Mutter. Leo Perl war für diese ganze Familie der verheißene Messias gewesen! Als es dann dazu kam. daß er sich als der Löwe vom Stamm Juda hätte offenbaren sollen, täuschte er alle, wurde zum Verräther, ging zum Feinde über und schien von allem keinen Segen gehabt zu haben. Trendchen wußte sogar, daß regelmäßig zwei Männer genannt wurden, die Leo Perl's Seelenruhe auf dem Gewissen haben sollten, der gute Dechant zu Kocher am Fall und ein anderer vornehmer und großmächtiger Herr auf einem fernen Schloß bei Witoborn. Denen sollte der Doctor Leo Perl mit seinem Uebertritt, ja mit dem Entschluß, Priester zu werden – wider Willen sogar – ein geheimnißvolles und bis zur Stunde wenigstens selbst der Hasen-Jette unenträthselbares Opfer gebracht haben.

Von diesen Erinnerungen jedoch nicht aufgehalten, standen beide endlich vor einem freundlichen, mit einer Inschrift gezierten Hause. Löb Seligmann versprach mit dem holdseligsten Nicken aus den Palissaden seiner Vatermörder und dem schwarzwolligen Wulst seines üppigen Haarwuchses und einem seit einigen Tagen nicht besonders gründlich rasirten Barte heraus, in spätestens einer Viertelstunde hier sich wieder an der Thür einfinden zu wollen und auf Trendchen's Rückkehr zu harren. Er zog die Klingel. Einem öffnenden Knaben trug er das Anliegen Trendchen's vor. Er traf den Ton für alles, was sich hier schickte; er kannte jeden Weg, wie er betreten werden und jede Thür, wie man an sie klopfen mußte. Selbst die deutsche Sprache handhabte er seiner Meinung nach in diesem Augenblick vollkommener als Trendchen, deren Rede er unterbrach und ihre Berechtigung, hier eingelassen zu werden, gleichsam in diejenige 63 Sprache übersetzte, die natürlich der nicht kennen konnte, der noch nie aus Kocher am Fall so herausgekommen, wie er.

Der Knabe führte Trendchen zum Inspector – der Inspector führte sie zu ihren drei Geschwistern – es waren zwei Knaben und ein Mädchen – Alle drei sprangen ihr herzlich und heiter entgegen. Wie rasch entflieht dem Kindersinn ein herbes Leid! Weckten wir es nicht stets durch unser eigenes Bedauern und fragten einen solchen kleinen Nachlaß: Weißt du auch, was du verloren hast und wo nun deine Mutter ist? solche nach Luft und Licht und Wachsthum strebenden Keime vergäßen bald nach unserm Gefühl zu antworten! Wie tummelte sich das schon wieder im Hof und lärmte und regierte die Welt im Soldatenspiel! Und drüben bei den Mädchen – ein munteres Murmeln und Summen und Plaudern beim Stricken – und wie bewährten sich die angebornen Gattungstriebe! Liebe und Abneigung schon nach vierundzwanzig Stunden, Verschwörungen schon und Bundesgenossenschaften. Neckte die, so hatte sie an jener ihren Widerpart und diese wieder ihre Gegnerin an einer andern. Nichts blieb ohne Angriff, nichts ohne Beistand. Ja, Trendchen fand, daß die Geschwister in ihr neues Dasein schon wie eingeboren waren. Läutete es, dann wußte jedes, was es bedeutete. Bald rief die Glocke zum Frühstück, bald zum Mittagessen, bald in die Kapelle, bald auf die Schulbank. Ein geregeltes und in sich begnügtes Leben. Schon Lucinde sagte Trendchen und den Kindern: »Bliebe es euch nur immer so, ihr Armen! Und läge nur der Nachtheil der Waisenhauserziehung nicht eben in der Unmöglichkeit, im Leben künftig dieselbe schöne Regelmäßigkeit zu haben! Dem Dasein gegenüber, wie es ist, ist sogar schon solche Ordnung eurer Jugend – ein vollständiger Luxus! Wer auch nur alle Tage das hat, was er begehrt und bedarf und wär' es 64 Wasser und Brot, wird wie ein Prinz erzogen –!« Lucinde gedachte ihrer verkommenen Brüder.

Schon wollte Trendchen, da die Freistunde vorüber war, und nach herzlichen Mahnungen und Danksagungen an den Herrn Inspector, wieder gehen. Da kam auf sie zu eine der Nonnen, die hier die Erziehung leiten. Es war eine Karmeliterin in braunem Rock und schwarzem Ledergürtel. Sie war in mittlern Jahren, sauber, rührsam. Daß ihr Trendchen die Hand küßte, lehnte sie halb und halb ab. Sie ergriff dagegen theilnehmend die ihrige. Sahen Sie denn auch alles? fragte sie und führte Trendchen in den Räumen auf und nieder und zeigte ihr die Plätze, wo die Kinder ihre mitgebrachten Habseligkeiten untergebracht hatten. Sie versicherte, daß ihr diese Geschwister fast schon die Liebsten wären und daß auch sie »Mutter« Beaten schon in ihre Herzen eingeschlossen hätten. »Mutter Beate« war der Name der Schwester.

Trendchen's Herz klopfte hörbar. Nach den Reden der Frau Delring überkam sie fast eine Furcht, sich offen auszusprechen oder zu lange im Gespräch zu verharren mit dieser so zuthunlichen Klosterjungfrau. Und wahrhaft überrascht war sie, zu hören, daß Schwester Beate schon von ihrem Dienst bei den Kattendyks und ihrer frühern Bestimmung für die Frau Hauptmännin von Buschbeck wußte. Diese Unglückliche, sagte sie, ist auf so ruchlose Weise ums Leben gekommen! Aber gewiß wird die ewige Gerechtigkeit den Mörder schon der zeitlichen überliefern! Sie wird den Elenden auffinden lassen, der zugleich den Armen und Nothleidenden eine Freundin raubte! Ei! Wie können Sie sagen, Kind, daß es ein Glück war, daß der Himmel Ihnen eine andere Bestimmung gab! Vielleicht hätte Ihre Anwesenheit die That ungeschehen gemacht! Verlassen von aller Welt, mußte die Aermste wol ein Opfer der Habsucht und Mordlust werden! 65 Kind, Kind, fürchten Sie sich denn vor einer Gefahr, die im Gefolge einer Pflicht liegt?

Trendchen sah verwirrt zur Erde. Ihre Wangen erglühten. Sie, die schon so viel im Leben erduldet, stand jetzt, wie sie sogleich heute früh geahnt hatte, wie ein Wesen da, das nur an ihre eigene Sicherheit hatte denken können. Es war ein Feuerbrand in ihr Herz geworfen, sich sagen zu müssen: Wärst du weniger furchtsam gewesen, weniger gläubig den Versicherungen deiner Gönnerin Lucinde gefolgt, die unglückliche Frau lebte vielleicht noch!

Als Schwester Beate die Wirkung ihrer harten Worte bemerkte, wurde sie wieder freundlicher. Sie unterhielt sich dann mit Trendchen im Auf- und Niedergehen, fragte nach ihren sonstigen Lebensverhältnissen und vervollständigte diejenigen Thatsachen, die sie sonderbarerweise größtentheils schon wußte. Als dann Trendchen gehen wollte und die Hand der Nonne ergriff, um diese aufs neue zu küssen, wurde sie zum Besuch ihres Klosters aufgefordert – es läge dicht nebenan am Waisenhause, wäre mit ihm durch einen geschlossenen Gang verbunden und sähe mit der Vorderfronte der zum Kloster gehörigen Kirche auf den Römerweg hinaus.

Trendchen gedachte ihrer Herrin, wie diese vorhin den Namen einer gewissen Straße gesucht hatte –

Wir haben gerade morgen einen Geburtstag! sagte die Nonne. Kommen Sie morgen Nachmittag!

Ich weiß nicht – entgegnete Trendchen zögernd –

Ihre Herrin erlaubt es. In ein Kloster läßt eine gläubige Seele jeden gehen!

Einen Geburtstag? fragte Trendchen bebend und ausweichend.

Ein Geburtstag ist ein Einkleidungstag!

Die Nonne blickte auf das Ende eines Corridors, wo eine 66 zweite Nonne erschienen war. Jetzt schwieg sie, bis diese herankam und mit einem freundlichen Gruße vorüberging. Letztere war fast eine vornehme Erscheinung.

Das war das Geburtstagkind! sagte Schwester Beate mit einem Lächeln, bei dem eine ihr Antlitz entstellende Zahnlücke zum Vorschein kam. Schwester Therese ist heute sozusagen drei Jahre alt! Vor drei Jahren nahm sie den Schleier und wurde eine Braut des Himmels! Sie ist vornehmer Abkunft! Ein Freifräulein Therese von Seefelden! Schon hatte sie einen Grafen zum Verlobten, der aber lieber sein ganzes Vermögen zu einem wohlthätigen Zwecke bestimmte und ins Kloster gehen wollte! Er ist im Franciscanerkloster Himmelpfort bei Witoborn; leider wurde er krank. Der Aermste hat, leider, seinen Verstand verloren! Nun nahm auch Fräulein von Seefelden den Schleier und wurde Karmeliterin. Ich bin nicht so hoher Abkunft. Mir ging es wie Ihnen, Kind! Hat man keine Aeltern und Verwandte mehr, keine Freunde und muß sich mühsam durchs Leben schlagen und immer in Gefahr leben, an der Seele beschädigt zu werden, so ist ein Kloster die beste Versorgung. Niemand hat da noch eine Entbehrung, als nur für anderer Wohl! Wir kümmern uns nicht: Was wird aus uns? Was essen, was trinken wir? Unsere Kleidung, unser Unterhalt sind da – so leben wir nur mit unserm Innern beschäftigt. Kommen Sie morgen, liebes Kind! Wir feiern unsere Geburtstage so froh, wie nur irgend erlaubt ist! Es fehlt an Gebacknem nicht, nicht an Blumen, Sie sollen sehen, wir sind ganz guter Dinge und können lachen wie andere auch!

Der Schall einer Glocke rief Schwester Beate ab in die Säle, wo sie die weiblichen Handarbeiten leitete. Trendchen fühlte, daß sie morgen an dem Geburtstag der Schwester Therese nicht fehlen durfte. Ja es war ihr fast, als würden es ihre 67 Geschwister zu entgelten haben, wenn sie einer so ausdrücklichen Einladung nicht Folge leistete.

Dennoch überfiel sie ein unaussprechliches Bangen. Sie verließ das Waisenhaus wie wenn sie in den Lüften schwebte. Ihre Pulse flogen. Es war ihr immer, als sähe sie die Augen der Nonne sie anlächeln, sie durchbohren mit einer Freundlichkeit, die keine natürliche war und dem Blicke der Schlange glich, die erst ihr Opfer erstarren macht. Ach und dazu läuteten Glocken draußen und in ihrem Innern! Allen ihren Leiden, zu denen Beängstigungen kamen, wie sogar solche, die in der Erinnerung an Piter lagen, bot sich eine himmlische Tröstung und ein Ausweg. Auch zu einem Geistlichen flog sie ja jetzt, der ewig entsagen mußte, der sich nur mit Blumen, welche die Verehrung brachte und die nichts dafür begehrende Liebe, grüßen lassen durfte. Als sie sich wieder auf der Straße befand, hätte sie, unter allen Menschen, wie über eine Ahnung aufweinen mögen. Wenn nur Löb Seligmann da war – sein Plaudern, hoffte sie, würde ihr Beruhigung gewähren!

Sie fand ihn aber nicht und sie konnte nun kaum noch auf ihn warten. Er konnte auch vielleicht schon fort sein; sie war fast eine halbe Stunde geblieben. Dennoch suchte sie und suchte und stand und ging – nur Eins konnte ihr Auge nicht fortbannen: Die beiden Nonnen – besonders Schwester Therese und ihr feierlich ernstes Dahinwandeln und das braune wollene Kleid, das beide trugen und den groben Ledergürtel – dann auch die seltsame Vorstellung: Auch der Verlobte dieser Therese wurde Mönch, angethan wie einer, den sie vorhin im Laden des Meisters Zinngießer gesehen!

Fast war sie im Auf- und Niedergehen schon dicht wieder an diesem Laden angekommen. Sie sah ihn in der Ferne, sie sah, daß sie sich auf dem Rückwege zur Kathedrale zurecht finden würde. Doch kehrte sie wieder zum Waisenhause um.

68 Nirgends aber fand sich Löb Seligmann.

Jetzt schlug es von den Thürmen halb elf Uhr. Wie durfte sie noch länger zögern! Frau Delring wird ihre Toilette machen wollen! sagte sie sich. Sie eilte von dannen und geradeswegs der Kathedrale zu. Nach einer Viertelstunde war diese auch erreicht und mit ihr der Blumenmarkt. Rasch erhandelte sie zwei große Bouquets von Georginen, Levkoien, Nelken. Seligmann's Beispiel ermuthigte sie, sich in ihren Einkauf auch solche Blumen noch einbinden zu lassen, die ihr von den andern Vorräthen gefielen, vor allem Orangenblüten. Dann eilte sie hinüber zu dem Laden des Herrn Maria.

Ein Schaufenster mit den auch nach außen sichtbaren innern Herrlichkeiten, die hier verkauft wurden, fehlte. Selbst im innern Laden, so groß und geräumig er war, hatte alles ein Ansehen, als wenn diese Schränke und Kisten und Kasten nur zum Privatgebrauch einer für immer hier wohnenden Familie bestimmt waren. Herrn Maria's feiner »Tökt« bewährte sich auch darin, daß er den Handel mit heiligen Dingen in ein geheimnißvolles Dunkel hüllte. Namentlich ziemte sich nicht, die Lebkuchen so offen neben Hostien und Meßgewändern zu lagern.

Trendchen sah sich nur wenig um. In Eile sagte sie zu einer von einem versteckten Stehpult fragend aufblickenden, nicht mehr in erster Jugendblüte befindlichen, aber durch Haltung und eine gewählte Toilette noch Jugendlichkeit in Anspruch nehmenden Dame: Eine Empfehlung von Madame Delring! Ob nicht bald ihre Ausstattung fertig wäre?

Madame Delring –? Ah –! Die gestrenge Miene der schlanken, dunkeläugigen Dame verklärte sich – Sie sind –? fragte sie hocherröthend und nachfühlend, daß ihr dies Mädchen allenfalls auch hätte sagen dürfen: Allerdings, ich bin die, die 69 von Ihrem Vater für den Dienst bei einer in dieser Nacht Ermordeten bestimmt war.

Aber Trendchen war so in der Hast ihres Auftrags, so im Drang ihrer Rückkehr, so im freudigen Bangen, nach dem Pfarrer von St.-Wolfgang jetzt fragen zu müssen, daß Demoiselle Schnuphase (es war die Aelteste – Eva) über Vorwürfe nicht viel Besorgnisse zu hegen brauchte. Ihre Freundlichkeit, ihr Verweisen auf das Nähinstitut der Schwesterschaft zu den Nothhelfern waren für ihre Verlegenheit bezeichnend genug . . . Diese wunderschönen Bouquets –! sagte Demoiselle Schnuphase dann holdseligst –

Ich wollte sie Herrn von Asselyn bringen –

Herrn von –?

Dem Herrn Pfarrer von St.-Wolfgang –

Der wohnt bei uns –

Treff' ich ihn zu Hause?

Sie kennen ihn –?

Aus meiner Vaterstadt –

Ganz recht! Er ist nicht gegenwärtig!

O –

Er ist im Palais Sr. Eminenz des Kirchenfürsten –

Könnt' ich ihm nicht die Blumen auf sein Zimmer stellen?

Gewiß! Kommen Sie!

Lächelnd nahm Fräulein Schnuphase einen Schlüssel, der über ihrem Stehpult hing, entfernte sich in ein Nebenzimmer, kehrte zurück, ließ Trendchen vorantreten und öffnete eine andere Thür, die nach hinten hinaus ging.

Wie Trendchen den Laden mit ihren Blumen verließ, sah ihr aus der geöffneten Nebenthür eine zweite elegante und wie es schien jüngere Dame nach, ohne Zweifel Demoiselle Apollonia –

In dem alterthümlichen Hause ging es eine dunkle steinerne Treppe hinauf. Die Führerin öffnete im ersten Stock ein 70 geräumiges Zimmer und ließ Trendchen eintreten. Hier wohnt der Pfarrer von St.-Wolfgang! sagte sie.

Aber schon schlug es elf Uhr. Trendchen hörte und sah noch kaum etwas. Sie rief nur: Elf! O Gott –!

Demoiselle Schnuphase verstand vollkommen, wie ein gutes Kammermädchen sich nicht beim ersten Ausgange verspäten durfte. Und doch fehlten für die Blumen die Gläser und sie erbot sich, diese erst zu holen –

Trendchen machte es anders. Sie löste beide Sträuße auseinander und vertheilte die Blumen. Einen Theil warf sie auf ein offen auf dem Tische liegendes großes Buch – vielleicht die lateinische Bibel – einen andern streute sie auf ein großes Schreibzeug, mochten auch einige Nelken in die Tinte fallen. Eine andere Hand voll drückte sie an einem Crucifix, das im Schatten des Spiegelpfeilers stand, zwischen die Arme des Erlösers. Sie ließen an dem obern Querholz des Balkens eine Lücke offen. Den Rest streute sie hierhin und dorthin, sodaß das Zimmer dem Wege des Herrn nach Jerusalem glich, ihre Huldigung einem Hosianna.

Demoiselle Schnuphase lachte. Trendchen aber, über die der Geist Lucindens gekommen schien, sprach kein Wort weiter, sondern sah sich nur noch einmal um und lief von dannen. Auf dem Platze suchte sie die Straße, in die sie einbiegen mußte, als sie gerade auf Löb Seligmann und wie Kopf an Kopf und Nase an Nase gegen ihn stieß. Er war ihrer Spur gefolgt, hatte sich ihr nacherkundigt und nachgefragt und entschuldigte sein Ausbleiben durch ein Abenteuer, das ihn bestimmte, sie in einem wunderlichen und bebenden Tone zu fragen, ob er nicht so blaß und so weiß aussähe wie Kreide?

Im Gegentheil aber; sie fand ihn sehr erröthet. Doch hielt sie sich mit näherer Beweisführung nicht auf, sondern drängte 71 nur ihres sprachlosen Führers Fingerzeigen auf diejenige Straße nach, die sie einschlagen mußten.

Ich bin in meinem Leben ein einziges mal herausgeschmissen worden, keuchte, endlich zu einigem Athem gekommen, Seligmann hinter ihr her und bürstete an seinem Hute, der offenbar eine gewaltsame Beschädigung erlitten hatte; herausgeschmissen aus bloßem Scherz – und jetzt –

Wer hat Ihnen denn etwas gethan? fragte Trendchen in hastiger Eile.

Jetzt, wo kein Gensdarm mehr zu einem mosaischen Glaubensgenossen: Zaruck! sagt, wenn blos die andern gedrängelt haben –

Aber was geschah Ihnen denn?

Ein Mönch, der ein Mann Gottes sein will –!

Trendchen konnte trotz ihrer Eile nicht umhin, eine Secunde still zu stehen und auf ihren kaum nachkommenden Begleiter einen staunenden Blick zu werfen –

Der mich einmal herausgeschmissen hat – das ist ein Student gewesen, fuhr Seligmann fort; Herr Benno von Asselyn war's – den Sie kennen müssen – Neveu vom Herrn Dechanten –

Ja wohl! Ja wohl! Der hat Sie jetzt –

Nein! Vor fünf Jahren! Und blos aus Spaß schmiß mich Herr von Asselyn 'mal heraus im Roland am Hüneneck, eine Stunde von der Universität, wo ich eine Verhandlung mit einer Partie Bauern hatte, die ihre Güter wollten parcelliren! Kam der damalige Student Herr von Asselyn dazu mit fünf andern, machte die Stube auf und hörte, was wir discurirten, und fing an: Seligmann – er kannte mich von Kocher – sind Sie denn das Verderben des Landes! Schlachten Sie Rinder und Kälber mit Ihrem Schwager Lippschütz, aber ruiniren Sie uns hier nicht den Wohlstand der Bauern durch diese verfluchte Parcellirung! 72 Und so faßte mich Herr von Asselyn an dem Rockkragen und führte mich vonsens nonsens in die Nebenstube und alle Bauern lachten dazu. Es war aber blos ein Scherz, die Studenten wollten nur unsere Stube haben, um besser ihren Wein zu trinken von wegen der schönen Aussicht! Aber heute – straf' mich Gott! bin ich herausgeschmissen worden mit einer Grobheit wie von Joseph Zapf, dem Wirth im Roland selbst! Und das von einem Mönch – von einem Priester Gottes! »Jüd«! So hab' ich dieses Wort seit zwanzig Jahren nicht mehr gehört, seitdem die Buben dazumal, wie Deutschland vom Napoleon ist frei und gerettet gewesen, überall gleich »Hepp! Hepp!« geschrieen haben!

Noch mochte Trendchen bis zu ihrer Ankunft an dem in der innern Stadt liegenden Kattendyk'schen Hause fünf Minuten Zeit haben – Herr Seligmann erzählte ein Zusammentreffen, das er im Laden des Herrn Xaver Klingelpeter mit einem Mönche gehabt hätte. Und trotz seiner Aufregung und trotz Trendchen's Eile nahm er sich die Zeit, noch eine Huldigung für Veilchen Igelsheimer einzuflechten und Trendchen zu ermuntern, die »Weiseste ihres Geschlechts« zu besuchen.

Als ich ihr den Blumenstrauß in die Rumpelgasse brachte, sagte er, wollt' ich fort, um Sie nicht warten zu lassen! Ich erzählte Ihre Leiden, Trendchen! Ich erzählte auch Ihre Liebe und Ihre Anhänglichkeit! Wissen Sie, was das Veilchen gesagt hat? Was dankbar! Kinder wären dankbar? hat es gesagt. Die besten Kinder sind gegen ihre Aeltern nur Lumpen! Sie zahlen! Womit zahlen sie? Gerade von dem zahlen sie, was – sie schuldig sind! Frag' ich sie: Veilchen, wie so schuldig? Sind die Kinder, antwortete das Mädchen, ihren Aeltern nicht das Leben schuldig? Und zahlen sie nun wieder mit ihrem Leben, was thun sie? Sie machen's wie die Fürsten mit ihren Völkern und mit ihren Schulden und wie alle, die bankrott sind! Sie zahlen ihre 73 Gläubiger gerade von dem, was sie ihnen– schuldig sind –! Wie finden Sie das? Der Geist –!

Weder Trendchen's Gemüthsstimmung noch ihre Bildung gestattete ihr, diese talmudische Dialektik so überraschend zu finden, wie sie Löb Seligmann anerkannt haben wollte. Aber trotz seiner ihn ganz in Anspruch nehmenden Bewunderung vor dem scharfen Geiste Veilchen's verlor er den Faden seiner Erzählung nicht. Er berichtete, daß er beim vergeblichen Warten auf Trendchen, die noch im Waisenhause war, einen Sprung zu jenem Zinngießer hinein hätte machen wollen. Dort hätte er den Laden verschlossen gefunden und wäre nun als alter Bekannter von hinten durch die Werkstatt und durch ein Nebenzimmerchen gegangen. Dieses wäre leer gewesen. Wohl aber hätte er durch ein Schiebfensterchen in die Stube des Meisters sehen und mit Staunen auf dem Tische an die Tausende von kleinen zinnernen Münzen wahrnehmen können. Es wäre ihm gewesen, als hätte er in eine Falschmünzerei geblickt. Ein Mönch hätte über die Münzen mit dem Meister disputirt und wie ein Advocat wäre er dabei herumgesprungen und hätte dies getadelt und jenes und die Münzen geworfen, daß sie auf den Tisch nur so hinrollten. Und als er dann geklopft und den Kopf durch die Thür gesteckt hätte und hätte hereintreten wollen, da wäre der Mann Gottes auf ihn zugesprungen und hätte ihn in einer Art wieder hinausgeführt, die über alle Zweideutigkeit erhaben gewesen wäre. Zwar müsse er bekennen, daß er, noch von Veilchen's Geist angesteckt, den Scherz gemacht: »Sind das Wundermedaillen?« – aber so dicht an den Scheiterhaufen und an die heilige Inquisition hätt' er sich in seinem Leben nicht herangebracht gefühlt, wie bei dieser Behandlung an einem Orte, wo ihm Meister Klingelpeter schon mit manchem Scherze gesagt hätte, es wäre ihm egal, wo sein Bruder Nathan Seligmann das Zinn herbekäme, das er ihm 74 geschmolzen zum Verkauf bringe, ob von alten Kelchen oder – . . . Die Blasphemie, die auf Löb Seligmann's zornesbleichen Lippen schwebte, hörte Trendchen nicht. Sie war am Portal des Kattendyk'schen Hauses. Nun stand der Portier in voller Gala unter den, während der Geschäftszeit, seit Piter befehligte, weitgeöffneten Thorflügeln. Löb Seligmann warf ihr noch einen letzten Ausdruck der Theilnahme zu auf die herzlichen Dankesbezeigungen für seine Begleitung und heute bewiesene Freundlichkeit. Im Verdruß seines gekränkten Stolzes, im Verdruß seiner nur mit Zerstreuung und halber Theilnahme aufgenommenen Erzählung und doch unfähig, sich zu rächen (und hätte er alle Mittel dazu gehabt, sein Gemüth war nur zum Dulden geneigt), auch unfähig, Trendchen Vorwürfe zu machen und überhaupt anders als gefühlvoll von ihr Abschied zu nehmen, sagte er nichts, als: Leben Sie glücklich, mein Kind! Er sprach diese Worte langsam und sie melodisch betonend. Er sprach sie, wie wenn einmal jemand: Leben Sie glücklich, mein Kind! zu David Lippschütz hätte sagen können, falls diesem plötzlich ebenso seine Mutter oder gar der Onkel selbst mit Tode abgegangen wäre – Eine Mutter liebkost am herzigsten ein fremdes Kind, wenn sie aus dessen Zügen die Züge ihres eigenen herausfindet.

Trendchen war längst in dem stattlichen Hause verschwunden, als Löb Seligmann noch im Gemisch von Zorn und Wehmuth bewegungslos stand. Dann schaute er in die Kattendyk'schen Comptoire und faßte eine Weile den Gedanken: Wer hier Geschäfte machen könnte! Ach, sein Hut hatte eine unvertilgbare Beule erhalten durch die brutale Scene mit dem Mönche, der ohne Zweifel Doctor Klingsohr war.

Aus diesen Träumen weckte »den Störer der Passage« glücklicherweise noch vor dem Portier ein freundlicherer Anruf: Guten Morgen, Seligmann!

75 Diese Worte kamen von einem Manne, dessen Anblick dem Gütermakler im Nu den defecten Hut vom Kopfe riß – Herr Fuld! Ihr gehorsamster Diener! sprach er fast tonlos –

Es war sein vornehmer leiblicher Vetter – es war der Enkel eines Cousins seiner Mutter, der Löb Seligmann gegrüßt hatte; Herr Bernhard Fuld war es, der Besitzer der Villa zu Drusenheim im Enneper Thale.

Und was geschah? Alle Stämme Israels gaben ihre Rangunterschiede auf! Bernhard Fuld blieb zwar nicht stehen, aber er forderte Löb Seligmann auf, ihn zu begleiten – Setzen Sie nur Ihren Hut auf, Seligmann! bedeutete ihn Vetter Fuld, den Weigenand Maus und Alois Effingh heute zum Gegenstand einer Caricatur machten. die vielleicht schon in Arbeit war. Wird es denn nichts mit dem Weinberg hinter meiner Villa –? Fuld fragte dies im Gehen und den Vetter in Bewegung setzend, der vor Verehrung immer zum Stillstand tendirte.

Leider nein, Herr Fuld –!

Aber ich bot doch siebenhundert Thaler!

Ich machte die Offerte –

Das ist ein Heidengeld!

Unerbittlich ist der Mensch –

Versuchen Sie es doch noch einmal –

Sie befehlen –

Meine Frau vermißt diesen Besitz, der in der That meine Villa erst arrondirt! Neunhundert Thaler, wenn Sie's machen!

Bei Gott! Eine ansehnliche Summe! Ich will es noch einmal –

Und kommen Sie dann nächsten Sonntag nach Drusenheim und berichten mir's –

Ganz wohl!

Sie können ja bei uns speisen, Seligmann!

Mit diesem Worte, das Löb Seligmann geradezu versteinerte, 76 war Herr Bernhard Fuld kurzweg um eine Ecke verschwunden und ließ nun den Vetter stehen.

»Sie können ja bei uns speisen, Seligmann!«

War dies Wort wirklich von Menschenlippen gesprochen worden? War es von Bernhard Fuld gesprochen worden, dem Manne dort, den der vierte, fünfte Vorübergehende grüßt? Dem Manne mit dem schwarzen Frack und dem rothen Bändchen im Knopfloch? Dem Manne in dem herbstlich gelben Ueberzieher, mit dem Bart à la mécontent, im weißen Castorhute, mit dem vornehmen Gange, der die Steine, auf welche er trat, immer erst auswählte und des Gehens auf gemeiner Erde gar nicht gewohnt schien?

Ja, jenes Wort war von ihm gesprochen worden. Und so obenhin war es gesprochen worden, wie wenn alle Tage Sabbat wäre und die Erde nie den Winter kennte, sondern ein ewiger Frühling in der Natur und in dem Herzen ihrer Bewohner blühte und wie wenn die gebratenen Gänse mit duftender Aepfelfüllung sammt den Tranchirmessern durch die Lüfte flögen und die Menschen am Tage geputzt gingen mit Veilchen Igelsheimer's Garderobe oder wie die Ballgäste in der neuen Oper »Gustav oder der Maskenball« – Löb Seligmann wuchs in diesem Augenblick bis an die Kuppel einer nahe liegenden echten altbyzantinischen Kirche. Er vergaß die vorahnende Erinnerung an die Todesanzeige: »Gestern starb mein geliebter Onkel –!« Er vergaß die Erinnerung an die Scheiterhaufen der Inquisition und die bürgerliche Gleichstellung der Glaubensbekenntnisse wenigstens vor dem Bagatellhofe wegen Injurien – »Sie können ja Sonntag bei uns speisen, Seligmann!« Ja es gibt noch Wunder und liebliche Märchen – und was wird Veilchen sagen und was Henriette und was David?

Mit diesen, bis in die höchsten Bergeskuppen gipfelnden 77 Empfindungen mußte Löb Seligmann freilich jetzt in einen Keller steigen. Der Besitzer des um keinen Preis käuflichen Weinbergs hinter Drusenheim hieß Stephan Lengenich. Es war dies jener, aus hiesiger Gegend gebürtige, Küfer und ehemalige Freund der Beschließerin Lisabeth auf Schloß Neuhof, der Aermste, der um den Tod des Deichgrafen Klingsohr ein Jahr hatte sitzen müssen, bis ihn die Gerichte aus Mangel an Beweis freisprachen. Stephan Lengenich war in seine Heimat zurückgekehrt und stand als erster Küfer dem großen Weingeschäft von Joseph Moppes vor.

In diese berühmten, sich mit unterirdischen Gängen weit durch die Stadt hinziehenden Keller ging es zwanzig Stufen hinunter. Löb Seligmann stieg sie nieder, als führten sie um das Dreidoppelte höher. »Nächsten Sonntag! – In Drusenheim! – Speisen bei Bernhard Fuld!« Die heitersten Melodieen aus »Fra Diavolo«, mehr aber noch das lustige »Kommt fröhliche Gäste!« aus den »Wienern in Berlin« fielen in sein überraschtes und bereits versöhntes Gemüth wie mit rauschenden Orchesterklängen. Selbst Thiebold de Jonge und die Freunde Piter's konnten nicht mit soviel wonniger Spannung und im voraus schon berauschter Ahnung an die von ihnen beschlossene drusenheimer Partie desselbigen nächsten Sonntags denken, als Löb Seligmann.


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