Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. III. Buch
Karl Gutzkow

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43 10.

Hinter einer lieblichen Gruppe von Birken und Hängeweiden und von einer weiblichen Stimme, rein, metallen, wie Silberton, erscholl der Ruf: Hoiho! Hoiho!

Die Ruferin war ein junges Mädchen in blauem Kleide, einem leichten runden Strohhut auf dem einfach gescheitelten Haare – Ein Ruder in der Hand, stand sie in einem leichtgebauten Kahn, ihn hin- und herwiegend mit herausforderndem Muthe. Noch lag der Kahn an einer Kette, die ihn am Ufer festhielt; noch stieß und rauschte sein Vordertheil an den Sand und an die Steine des Strandes der Insel Lindenwerth. Ein Schifferknabe saß an der entgegengesetzten Seite, das Steuerruder schon in der einen Hand und auf den erwarteten Befehl bereit, die Kette mit der andern zu lösen.

Die Ruferin winkte jetzt durch die Hängeweiden und Birken hindurch einem alten, von Linden umstandenen Gebäude zu, das klosterähnlich dicht in der Nähe, in der Mitte der kleinen Insel lag. Sie schien es auf ein Fenster abgesehen zu haben, wo auch eben eine andere, ältere weibliche Gestalt sichtbar wurde.

Der Seemannsruf Hoiho! schien aber dort nicht die beabsichtigte Wirkung hervorzubringen und Armgart von Hülleshoven – sie nur kann es sein – befahl mit einem kurzen vertraulichen Winke dem Schifferknaben, weiter ins Wasser hinauszustechen. 44 Sie lehnte sich selbst über Bord, um vom Pflocke, der sie festhielt, die Kette abzunehmen. Als zu dem Ende der Knabe sein zweites Ruder ergriffen hatte, nahm sie ihren Hut ab und setzte sich statt seiner ans Steuer. Der Knabe wußte schon, sie wollte, um von der Dame am Fenster gesehen zu werden, mehr die Höhe gewinnen in der kleinen Hafenbucht. Nun mußte doch gewiß das Winken mit dem großen Hute sichtbar werden an dem Fenster des Klostergebäudes!

Aber jetzt war die vorher ersichtliche Dame wieder verschwunden. Armgart harrte erst, ob die Gerufene vielleicht herabkäme. Da sie jedoch ausblieb, forderte Armgart den Knaben auf, einige hörbare und kräftige Zeichen von sich zu geben. Hast ja dem geistlichen Herrn neulich um deine Stimme so gefallen, sagte sie, und sprichst als Ministrant dein »Saecla Saeclum« so prächtig laut, daß sie dich hören muß, Tönneschen! Ruf' einmal recht Juhu!

Und Antonius, genannt Tönneschen, rief denn auch, immer auf ihr Auge sehend, ein Juhu um das andere lautschallend in die Weite hinaus. Freilich mußte er dazu von Armgart erst wieder aufs neue ermuthigt werden, denn es ging gar still und bedächtig her um die Insel und wirklich war er von jenem geistlichen Herrn um seines schönen Aussehens und seiner sanften Augenwimpern willen in allem Ernst zur Verfolgung einer kirchlichen Laufbahn ermuntert worden, als er ihn eines Tages beim Ueberfahren zu den Englischen Fräulein schon vor Wochen in einem Büchlein auf den Thuriferar studiren sah, den er am morgenden Sonntag drüben in der Kirche zu Drusenheim – noch nicht in der byzantinischen des Herrn Bernhard Fuld, sondern in der alten – beim Hochamt übernehmen sollte. Ei, Tönneschen! Lauter! Lauter! Was schadt's! rief Armgart.

Nun ließ Tönneschen ganz den Schifferknaben los und wagte 45 einen Naturlaut von einer solchen Kraft, daß man das Echo vom jenseitigen Ufer drüben im Enneper Thale, wie hüben vom vielbesungenen Hüneneck zurückschallen hören konnte. Dann sah er Armgart an, als wollt' er sagen: Nun, war's so recht? Aber dir überlass' ich die Verantwortung!

Die Dame erschien denn auch wieder am Fenster. Doch machte sie die entschiedensten Zeichen der Ablehnung der ihr offenbar zum Mitfahren gestellten Aufforderung.

Mit zärtlich winkender Geberde wiederholte Armgart ihr Anliegen. Sie zeigte ringsum in die Gegend, deutete mit dem Hute schwenkend auf die wundervolle Luft und beschrieb mit dem einen Arm, den sie frei hatte, einen Kreis, als wollte sie sagen: Gibt es denn etwas Schöneres in der Welt, als so auf dem schönsten Strome der Erde an einem Sonnabend Nachmittag im Kahn durch die Wellen zu kreuzen! Gibt es denn etwas Vernünftigeres, da du doch die Vernunft immer im Munde hast, als die Erlaubniß zu benutzen, welche die gestrengen Englischen Fräulein mir Unverbesserlichen ein für allemal zugestanden haben! Ist denn der Antonius Hilgers hier, trotz seiner unverkennbaren Bestimmung zum Priester, nicht der beste und kundigste Ruderer der Insel? Meiden wir denn nicht sorglichst die Dampfschiffe, obgleich, im Vertrauen gesagt, nichts über das Schaukeln geht, wenn sie vorüber sind und der Nachen in ihre zurückgelassenen Furchen geräth? Hüten wir uns denn nicht vor des Herrn Thiebold de Jonge großen Holzflößen, wenn die aus Schwaben kommen und mit denen freilich nicht zu spaßen ist? Ist denn nicht jetzt die Stunde, wo wir möglicherweise drüben – – Alles das sagte ihre Geberdensprache und ihr Blick; aber die grausame Dame zeigte auf eine Näharbeit, die sie emporhielt.

Ach was! war Armgart's Geberdenantwort. Sonnabend Nachmittag! Die seligste Zeit im Leben der lernensgeplagten 46 Jugend! O du herrlicher Sonnabend Nachmittag, mit deinem Stillstand aller theoretischen und praktischen Lehrcurse, mit deinem Wonnegefühl vollbrachter geographischer und linguistischer Anstrengungen, mit deinem erhebenden Rückblick auf wenig Lob und viel Tadel, mit deiner zurecht gelegten Sonntagswäsche, deinem erquickendsten Reinigungsbehagen, auch dem geistigen, dem abgelegten Sündenbekenntniß in der Beichte! Sonnabend, Sonnabend, mit deinen Ahnungen und Hoffnungen auf Sonntag, auf die Extramehlspeise, Nachmittags auf die Landpartieen der Philister, denen diese schöne Natur Feiertagskuchen ist, uns das tägliche Brot –! Alles das oder wenigstens Aehnliches wurde durch Deuten auf Himmel, Wasser, Erde, Luft, Ohr, Auge. Herz und durch ähnliche erfinderische Mimoplastik ausgedrückt. Und zuletzt stand sie sogar ganz still, bat nur mit den Augen und ließ die, seit dem Abend bei Piter Kattendyk jetzt sogar an ihr stadt- und landbekannten, zwei weißen Zahnperlen unter den vor Ungeduld und Schmerz halbgeöffneten Lippen sichtbar werden. Die Dame oben – es war Angelika Müller – sollte daraus entnehmen: Meine drei Ave's, die ich für meine heute gebeichtete, bekannte Ungeduld und Verzweiflung um das lange Schweigen des Dechanten und meiner angebeteten Paula und für mein Herzpochen um die Antworten auf die Briefe nach Kocher am Fall und nach Wien zur Buße zu beten vom Pfarrer Engeltraut drüben aufbekam, hab' ich bereits hinter den ausgenaschten Brombeerhecken und beim Auflesen der auf den Boden gefallenen ersten reifen Mirabellen in aller Stille hinter mir – also so komm' doch, so komm' doch, so komm' doch!

Da nun aber bei alledem die Grausame lächelnd und hartnäckig ablehnend verblieb, da es sogar schon über den Lärm des sonst so still sittsamen Tönneschen auf der Insel lebendig wurde, da die Mitbewohnerinnen der Pension sich aus den Fenstern, ja 47 sogar schon im Gemüsegarten meldeten und zwei davon, die kein Deutsch konnten, in französischer Sprache sich vom Ufer aus über Nautik und den Atlantischen Ocean mit Armgart zu unterhalten anfingen, was nicht unmöglich damit enden konnte, daß ihrer mehrere mitfahren wollten, und als vollends von dem Ufer am Hüneneck her schon ein Kahn voll natur- und romantiktrunkener Engländer und Engländerinnen angefahren kam, so wandte Armgart endlich ihr letztes und stärkstes Beschwörungsmittel an. Tönneschen riß die Augen auf über die Geberden, die plötzlich das Fräulein von Hülleshoven machte. Sie ließ das Steuer aus der Hand, hob noch einmal das zweite schwere Ruder in die Luft und beschrieb mit ihm allerlei wunderliche Zeichen. Erst einen großen Kreis, dem sie gleichsam zuletzt in der Mitte einen Punkt gab. Dann ein Dreieck, in das sie wieder ein Dreieck hineinzeichnete. Dann ein Viereck, durch dessen vier Winkel sie einen Kreis beschrieb. So eine mathematische Figur nach der andern, und wie die Hand müde wurde, legte sie das Ruder nieder und drehte mit dem Finger Spirallinien und Wellenlinien und machte Schnörkel über Schnörkel in die Luft.

Da schüttelte denn endlich Angelika Müller am Fenster doch den Kopf. Sie schüttelte ihn wie über ein Wesen, mit dem man die unsäglichste Geduld haben müßte. Daß dies jene Zeichen waren, auf welche Dr. Laurenz Püttmeyer, Angelika's Freund und funfzehnjähriger Verlobter (Hegel lebte nicht mehr, aber sein vom Staate respectirtes Testament duldete keinen neuen Lehrstuhl neben dem von ihm selbst bestimmten Nachfolger) seine rechtgläubige Philosophie begründet hatte – errathen wir wol schon. Jetzt kam Angelika. Rasch war Armgart bei der Hand, setzte ihr Ruder wieder ein und wies auf den Punkt, wo Angelika gewöhnlich vorzog zu einer Stromfahrt einzusteigen. Auch war es die höchste Zeit. Junge Mitpensionärinnen machten schon 48 Miene, mitfahren zu wollen »nach Amerika«, wie es hieß, »nach Canada«. Alle hatten seit einiger Zeit nur Amerika und Canada im Kopf; Thiebold de Jonge hatte zwar keine Verwandte im Stift und durfte es deshalb nicht betreten, trug aber doch die Verehrung für die Tochter seines Lebensretters nicht wenig sichtbar zur Schau. Stundenlang in einem gelben Nankinghabit, das ihm mit rothseidenem Sacktuch auf der Brust und gelbem Strohhut allerliebst stand, in der Gegend der Insel allein herumzusteuern war seiner Schwärmerei »eine Kleinigkeit«. Ja, alle wußten schon, daß morgen im Enneper Thale Thiebold de Jonge und seine Freunde, Piter Kattendyk ausgenommen, zu den Hunderten von Gästen gehören würden, die sich hier regelmäßig Sonntags drängten, ja sie wußten durch Briefe aus der Stadt von Gebhard Schmitz, daß es dabei ganz ausdrücklich auch auf eine Begegnung mit den »Stiftlerinnen« abgesehen war.

Angelika Müller kam, einen mächtig großen runden Hut auf dem Kopf, mit einem Shawl in Reserve für etwaige Zugluft, mit einem Regenschirm in Reserve für etwaiges Gewitter, mit einem Sonnenschirm in Reserve für etwaige zu stechende Sonnenhitze, mit einem Proviantbeutel in Reserve für etwaigen Schiffbruch und eintretende Hungersnoth. Trotz der nicht erfüllten äußerlichen Erwartungen, die einst Frau von Gülpen auf eine uns nicht bekannte Dame setzte, die ihr diese »Nichte« anempfahl, hatte sie ein überströmendes Herz voll Güte und Antheil. Sie lehrte in der Anstalt Rechnen und Mathematik, ohne jedoch irgendwie geistig so abstract zu sein, wie sie es allerdings zum damaligen Schrecken des Dechanten äußerlich war.

Als die allverehrte Docentin der Mathematik, nicht ohne ein leises Kichern der Aengstlichkeit, über einige große Steine, unterstützt von dem hülfreichen Beistand der mürrisch zurückbleibenden Pensionärinnen, eingestiegen war, rief Armgart ein im Grunde 49 des Herzens tief vorwurfsvolles: Gott sei Dank! und war über die Sprödigkeit ihrer besondern Freundin und Gönnerin dem Weinen nahe. Du weißt doch, sagte sie und setzte sich wieder ans Steuerbord, während am Backbord Tönneschen jetzt mit kräftig ausholenden Armen beide Ruder zugleich in Bewegung setzte, du weißt doch, wie mein Herz bekümmert ist und wie ich ohne Beistand geradezu verzweifeln muß.

Angelika breitete erst im Kahn ihre sieben Sachen aus und prüfte vor allem des Fahrzeugs Gleichgewicht. Da sie Armgart's unruhige Bewegungen, ihr Aufstehen und Aehnliches voraussah, legte sie sich alles, was sie bei sich führte, gegenüber, um zunächst, so leicht sie war, Gegengewicht zu haben. Dann spähte sie rundum. Gefahr von größern Schiffen war nicht vorhanden. Die große Strömung des Flusses geht auf der entgegengesetzten Seite der Insel nach dem Enneper Thale zu. Tönneschen wußte schon, er hatte nach dem Hüneneck zu fahren. Prächtig ging's mit dem Strome; nur laviren mußte man, um nicht zu sehr nach unten zu landen, sondern mehr oben, womöglich an des Herrn Joseph Zapf stattlichem Wirthshause »Zum Roland«.

Das Kummervollste bleibt immer unsere baldige Trennung! sagte Angelika. Tante Benigna und Onkel Levinus machen jetzt mit Heiligenkreuz Ernst!

Armgart's Ausdruck war ein einziger Schmerz. Er ergriff alles, den Blick, den Mund, die Bewegung der Arme. Man glaubte eine jener leidenden Heiligen zu sehen, die Murillo und Carlo Dolce gemalt haben. Angelika! Was soll ich in Heiligenkreuz! sagte sie.

Erst nur die Stelle einnehmen; das Uebrige findet sich. Hunderte beneiden dich um das Glück, eine Stiftsdame zu werden!

50 Ein Jahr zur Probe, wie eine Nonne! Wie werden die alten Fräulein mich zurechtsetzen in dem düstern Hause! Jetzt, wo ich Flügel haben möchte, um bis ans Ende der Welt zu kommen!

Angelika vermied es auf diese ihr bekannten excentrischen Wünsche und Klagen zustimmend einzugehen. Liebes Kind, sagte sie, eine Stiftsdame zu Heiligenkreuz schon in seinem sechzehnten Jahre zu werden, ist eine Auszeichnung, die man nur Familien vom ältesten Adel und von besonderer Distinction zuwendet. Nach einem Jahre kannst du dann mit deiner Pension wohnen, wo du willst, vorausgesetzt, daß du alle zwei Jahre einige Monate unter den Damen zubringst, die es vorziehen sich für immer im Stift anzusiedeln. Und ist denn Westerhof so entfernt von Heiligenkreuz? Ein schöner Waldspaziergang und du hörst schon die großen Hunde bellen von dem Kamp her, aus dem euer Westerhof herausguckt wie eine alte Gluckhenne –! Angelika lachte, scheinbar über ihren eigenen Einfall, eigentlich aber vor Behagen, weil sich Armgart so ruhig verhielt. Die kleine Träumerin sah auch in ihrem Leid gar komisch aus.

Das ist noch mein Trost! sagte Armgart, setzte aber seufzend hinzu: Wer weiß, was bald genug aus Paula wird!

Das kann noch lange währen, liebes Kind! Rechnet man z. B.

Nur nicht rechnen! sagte Armgart.

Nicht rechnen? Als Stiftsdame wirst du den ganzen Tag rechnen müssen! fuhr Angelika fort. Die Einkünfte bestehen in Naturalien und die vornehmen Fräulein müssen ihre Butter, ihre Eier, ihre Hühner, ihr Korn und ihr Stroh selbst verkaufen!

Also ewig – dividiren! sagte Armgart träumerisch seufzend. 16 Jahre in 1111 – so viel Jahre mögen im Stift beisammen sein – wie viel kommt da auf mich? Wie viel Jahre muß ich auf mein Theil übernehmen?

51 Du meinst, die Einkünfte werden insgesammt verkauft und jedem wird dann je nach seinem Alter sein Antheil gegeben? sagte Angelika, die sich diese träumerische Klage und Frage nur vom praktischen Standpunkt aus gesagt sein ließ. Bewahre, Kind! Das war wol früher so! Da kamen aber einige alte Fräulein, die sehr geizig waren, andere trauten sich viel Kenntnisse von Handel und Wandel zu, jede hoffte für sich allein bessere Preise zu gewinnen, als sie der Verwalter machte, und nun verkauft jede ihre Einkünfte apart auf ihrem Zimmer für sich und hält alle vier Wochen bei sich Markt.

Nun gut! ergab sich Armgart. Wenn ich also auch Fische bekommen sollte aus unserm berühmten Lago Maggiore, unserm Ententeich, so soll sie immer durch die neue Eisenbahn hier unser Tönneschen kriegen und sie verkaufen auf die Tables-d'hôte am Hüneneck! Nicht wahr, Tönneschen? Bis du nach Belgien gehst?

Tönneschen lachte über die schmachtend elegische Huldigung und lachte nicht ohne Pfiffigkeit. Er gehörte ja zu den Knaben, die Kaplan Michahelles vorhatte auswärts von den Jesuiten erziehen zu lassen.

Dem kleinen Kahne begegneten andere mit Fremden, die diesen schönen Punkt nach allen Richtungen hin genießen wollten. Zur Belohnung für das heute von Armgart so ruhig eingehaltene Gleichgewicht zog Angelika aus ihrer Provianttasche einen Brief. Da rief Armgart: Wie? und sprang nun auf. Jesus Marie! entsetzte sich Angelika; das hatte sie nicht bedacht; der Anblick eines Briefes ließ Armgart sofort alle Schrecken eines umstürzenden Kahnes heraufbeschwören. Vom Dechanten! jubelte Armgart und wollte sich den Brief aneignen. Aber Angelika hörte diese Worte kaum, so mühte sie sich mit praktischer Anwendung der von ihr so oft vorgetragenen Theorie des Gleichgewichts. 52 Als die Bewegungen Armgart's und des Kahnes sich beruhigt hatten, sagte sie: Nein, wie du bist, Armgart! Es ist ein Brief aus Eschede! Der Herr Doctor ist mit deinem Vorschlage, die Seelen der Abgeschiedenen mit einem kurzen Symbol zu bezeichnen, überraschend einverstanden –

Armgart setzte sich mit einem tiefgeseufzten: So? Das! Sie empfand die bitterste Enttäuschung.

Angelika jedoch, der offenbaren Geringschätzung des »Herrn Doctors« nicht achtend, rückte ihr zärtlich und mit einer seit funfzehn Jahren auf die Sparkasse bräutlicher Hoffnung gelegten Herzensinnigkeit näher und las. »Ja, meine theure Freundin, daß Sie –« (die Liebenden nannten sich seit funfzehn Jahren noch immer »Sie«) »auch in den Ihrer geistigen Pflege anvertrauten Gemüthern Bekenner für meine Wissenschaft gewinnen, verpflichtet mich zum wärmsten Danke! Wie sehr Ihre Empfehlung meiner schwachen, von Gott sicher noch mit größern Erfolgen als bisher bedachten Bemühungen um das ewig Eine, ewig Viele und ewig Besondere in Ihrer Nähe Wurzel faßt, ersehe ich allerdings aus dem Gedanken der holden Armgart, den abgeschiedenen Seelen, wenn sie zunächst dem Fegfeuer zufliegen, tiefbedeutungsvolle Abkürzungszeichen zu geben. Ja gewiß, es gibt Semikolon-Seelen, die ihr Dasein auf Erden fast zweifelhaft und unbeendet gelassen haben und dem Himmel nur ganz unfertig, vollkommen noch weltlich und fast leichtsinnig zufliegen:

Es gibt Fragezeichen-Seelen, die im Jenseits ganz nur von der Gnade Gottes abhängig sein werden und etwas ordentlich sich 53 noch Aufbäumendes, Eulen-, ja Fledermaus- und Drachenartiges im Aufflug haben:

Und daß dann gar auch bereits Fräulein von Hülleshoven, geängstigt von ihrer Furcht, ihre Freundin Comtesse Paula könnte ihrem wieder recht nervenkrank gewordenen Zustande erliegen, die Seele derselben innerhalb des großen Gottesherzens, das die Welt bedeutet, dem Fegfeuer zufliegen sieht in dieser Gestalt:

das hat bei allen Bewohnern von Eschede, denen dies Symbol von mir mitgetheilt wurde, bei Frau Steuerinspectorin Emminghaus, bei Frau Geometer Schmedding, bei Frau Hofräthin Tübbecke und allen meinen treuen Anhängern und Anhängerinnen den Wunsch erweckt, einst doch auch nur so in dieser Gestalt das Zeitliche segnen zu können. Aufwärts die Flamme der Läuterung, das große Herz die das Universum zusammenhaltende göttliche Liebe und drinnen die Seele in Gestalt des geflügelten Kreuzes feierlich senkrecht emporsteigend –« . . .

Was schreibt er von Paula? unterbrach Armgart, geängstigt durch das Wort »recht nervenkrank« –

Angelika hörte aber nicht, sie wollte nur fortfahren. Mit ihrer Phantasie tief versunken in die kleine escheder Gemeinde ihres Freundes, die sie ihm ohne alle Eifersucht als Ersatz für 54 den Lehrstuhl in Berlin oder München gönnte, wollte sie weiterlesen: »Frau Emminghaus« –

Nein, nein! unterbrach Armgart. Schreibe deinem Freunde, daß die alle nicht so ins Fegfeuer auffliegen werden, wie Paula! Frau Emminghaus muß als geflügelte Kaffeekanne hinauf! Frau Tübbecke als geflügelter Strickstrumpf und dein Doctor, der auch – als ein großes schwarzes geflügeltes Dintenfaß –!

Armgart! verwies Angelika mit äußerster Entrüstung und wäre fast selbst jetzt aufgestanden.

Armgart suchte jedoch sofort ihre Unart durch eine Umarmung wieder gut zu machen und nun hätte selbst die ruhige Nachhülfe Tönneschen's nichts gefruchtet, ein Unglück zu verhüten, wäre nicht glücklicherweise schon der Kahn dicht an dem Uferschilf angekommen gewesen. Der ausgestoßene Schrei der Lehrerin erstickte in einem: Vergib mir! das Armgart schmeichelnd mit einem ihrer süßesten Blicke sprach.

Von der gewaltigen Flut fortgetrieben, landete der Kahn weit unterhalb des Roland und mitten im Schilf. Für Tönneschen war dieser Landungsplatz gerade recht; er wollte im Kahn verbleiben, um noch zu morgen sein Latein zu lernen, das keineswegs blos aus Spiritu tuo und Saecula saeculorum bestand. Pfarrer Engeltraut ließ diejenigen Knaben seiner Gemeinde, die sich durch Bravheit auszeichneten und zugleich Aeltern hatten, die ein glattgekämmtes Haar, ein sonntägliches gründliches Gewaschensein von Kopf bis zu Fuß, Schuhe und ein weißes, sauberes »Röchel« über den rothen Talar, den die Kirche gab, verbürgten, nacheinander dem heiligen Meßdienst administriren. Tönneschen war zum ersten mal zum Schwingen des Weihrauchfasses bestimmt und beide Mädchen lobten ihn und versprachen ihm, an dieser Stelle sich wieder einzufinden, und bestiegen nun das Ufer.

Armgart wollte Angelika helfen. Diese lehnte es ab. In 55 ihrem, wenn auch in allen Literaturzeitungen verspotteten, doch von ihr und seiner Stadt und seiner Provinz so hochverehrten Freunde war sie aufs schmerzlichste gekränkt worden. Ernstlich schmollend erwehrte sie sich eine Weile jeder Annäherung an ihr schwerverletztes Herz. Aber Armgart's Anmuth trug den Sieg davon. Während Angelika erst die Lehre von den Curven zu befragen schien, bis sie den Ansatz machte, diesen oder jenen Weg einzuschlagen, sprang jene schon voraus und machte den von Angelika endlich gewählten Weg zweimal hin und zurück. Da gab's denn bald wieder Heiterkeit, Lachen, Kuß und Umarmung.

Das gewohnte Ziel ihrer stillbeschaulichen Wanderungen lag auf der Anhöhe. Angelika wäre lieber heute in die schönen, eleganten Wirthschaften und Gasthöfe gegangen, die am Fuße des Hüneneck liegen oder in den, dem Wasser näheren, wenn auch weniger comfortablen, »Roland«. Dahin brachte aber Armgart heute nichts. Sie wies zu Hecken und Obstgärten hinauf und umschmeichelte die Freundin so lange, bis diese zuletzt zu den bekannten drei Birnbäumen folgte. Das waren drei einsame Bäume auf einem terrassenartigen Vorsprung der hohen Berglehne am Fuß des Hüneneck mit einer kleinen Bank und einer ganz himmlischen Aussicht. Hier oben pflegte sich Armgart, wenn sie etwas athemlos vom Ersteigen der Anhöhe angekommen war, sogleich in das rings wachsende üppige Gras zu werfen und sich manchmal ganz noch wie ein fünfjähriges Kind zu kugeln, manchmal aber auch von hundert Sorgen, von denen sie bedrückt zu sein vorgab, sich auszuklagen und auszuweinen. So heute. Und heute nicht einmal allein vor Sorgen, sondern vor Ungeduld und Unruhe. Sie wußte, Benno war in der Nähe. Durch Tönneschen's Vater, der ihn gestern oberhalb der Insel übergesetzt hatte, ließ er ihr sagen, er hätte zwar ringsum bald in diesem, bald in jenem Dorfe zu thun, aber auch am Hüneneck, und 56 vielleicht konnte er sie am Sonnabend Nachmittag irgendwo flüchtig begrüßen, am liebsten dort, wo nicht die ganze Pension zugegen wäre und jedenfalls nicht auf der Insel. Nun denke man sich die Unruhe, als die Beichte und das Mittagessen vorüber waren! Und sagen wollte sie es doch Angelika nicht, was sie von Tönneschen's Vater wußte, den sie mit ganzen fünf Silbergroschen für seine Mittheilung belohnt hatte.

Kind! sprach Angelika, die noch immer nicht die Kränkung ihres funfzehnjährigen Geliebten vergessen konnte, mit ernstem Verweise. Ich bewundere die Nachsicht, die der gute Pfarrer Engeltraut mit dir hat!

Er kennt mich noch immer besser als du! antwortete mit klagender Stimme Armgart.

Weil er so nachsichtig ist, dir alles zu glauben! Freilich, wo soll der gute Mann auch all die Geduld herbekommen, von so vielen jungen, zur Hälfte erst gefirmelten Mädchen sich ihre Unarten erzählen zu lassen! Sprach heute der Pfarrer von deinen abgeschickten beiden Briefen?

Wovon nur sonst!

Und was sagte er?

Ich würde die Mutter nicht sehen können, ohne ihr gleich ans Herz zu fliegen!

Das denk' ich gerade auch! Und du gelobtest es?

Nein!

Armgart!

Ich werde die Mutter dann nur umarmen, wenn ich auch die Hand des Vaters zu gleicher Zeit halte! Bisjetzt war Onkel Levinus mein Vater; Tante Benigna war meine Mutter! Ich will Aeltern haben, ja; aber Aeltern, die sich lieben! Lieben sie sich nicht, so will ich sie nicht. Ich will sie nicht hassen, aber –

Der Hufschlag eines Reiters aus der Gegend von der 57 Universitätsstadt her unterbrach sie. Nun merkte Angelika an dem Aufblicken und dem Abbrechen und Vergessen der Rede etwas und wurde ängstlich. Sie schlug vor, am Gelände des Berges weiter zu wandern und dann in den Garten der »Vier Jahreszeiten« niederzusteigen. Dort hätte sie, wenn, wie sie ahnte, Benno oder Thiebold kommen sollte, den lebhaften Verkehr vorschützen können. Sie sagte: In den »Vier Jahreszeiten« ist immer so auserlesene Gesellschaft! Und ihr jungen Mädchen könnt euch nicht früh genug abschleifen! Komm, Armgart! Damit ging sie denn auch schon.

Armgart lachte hinter ihr her. »Abschleifen!« rief sie. Es war ein Lieblingsausdruck Angelika's – eines von den klugen Lebensworten, zu denen auch das »Sichherausreißen« der Madame Serlo-Leonhardi gehört hatte. Schon manche der Pensionärinnen hatte die boshafte Bemerkung gemacht: Fräulein Angelika Müller allerdings ist schon so vom Leben abgeschliffen, daß nichts mehr an ihr übrig geblieben ist! – eine böse Anspielung auf die allerdings nicht unbedeutende Abstraction ihrer äußern Erscheinung.

Als Angelika nach Armgart's Ausdruck »consequent wie eine gerade Linie« weiter ging, um durch die Baumwege von hinten her in den Garten der »Vier Jahreszeiten« zu kommen, folgte ihr erst Armgart leise auf den Zehen und wollte sie mit der Schleife ihres Strohhutes rasch an einen Baum festbinden. Hier ist »unsere Jahreszeit«! sagte sie. Siehst du! Trauriger, düsterer Herbst! Wie die Blätter schon fallen! Und die Birnen sind noch nicht einmal reif – Damit hatte sie aber auch mit einem Sprung eine gepflückt und versuchte sie trotz alles Weinens und aller Ungeduld des Herzens.

Die Erzieherin zankte jetzt wieder in allem Ernst, band sich mit Mühe vom Baume frei, behauptete ihre Autorität und ging. 58 Es ängstigte sie wahrhaft, daß Benno von Asselyn oder der dreiste Thiebold de Jonge hier plötzlich hinter einem Busch hervortreten und ihnen beiden im Stift Unannehmlichkeiten bereiten könnte.

Armgart folgte und sagte. Ich habe keine Kraft! Ihr könnt mich biegen wie eine Binse!

Als dann aber Angelika immer mehr eilte, erhob sie die Stimme zu feierlichem Ernst und rief hinter ihr her. Das aber sag' ich euch, wenn ich vor mir selbst Furcht bekomme und gegen euch alle nicht mehr aufkommen kann, dann flieg' ich davon und sollt' es in die Flamme des großen Gottesherzens selbst sein.

Um all ihr Heiligen! wandte sich jetzt Angelika höchlichst bestürzt und sagte mit ängstlich schmeichelnder Geberde: Aber Kind, so beruhige dich doch! Der Dechant ist ja nur so lässig! Er wird ja schreiben! Auch hört man ja aus der Stadt, daß die dort kürzlich ermordete Frau eine Schwester der Frau von Gülpen gewesen ist! Das alles wird die Antwort gehindert haben! Und dein Vater wird wol selbst kommen!

Nein! rief Armgart, wild mit dem Fuß aufstampfend. Und wie über sich selbst erschreckend entfloh sie und schoß den Weg hinunter. Künstlich angelegte und wohlunterhaltene Wege führten niederwärts und zuletzt in den erwähnten Garten, in welchem Durchreisende unter einer langen Veranda die hochberühmte Aussicht genossen. Armgart war bereits lange unten, als Angelika ihr nachkam –

Die Menschen hier! jammerte Armgart ihr entgegen und sah doch dabei forschend über alle Tische hinweg, über Engländer, Maler, Studenten, berliner Hofräthe und Hofräthinnen und wer in Naturandacht hier alles versunken saß. Sie suchte Benno, der nicht zu sehen war.

Angelika bestellte zwei Gläser Milch. Wenn das da deine 59 Mutter wäre! flüsterte sie neckend und zeigte auf eine junge, die Gegend und die beiden Ankömmlinge mit ihrer Lorgnette musternde Dame. Sie wollte durch den Scherz nur Armgart beruhigen.

Rasch blickte Armgart hinüber, dann wandte sie sich ab.

Du zweifelst wol, schmeichelte Angelika, weil die Dame so jung ist? Ei, deine Mutter ist eine ganz junge Frau, die nur zu lebendig, zu rührsam sein soll! Dein Vater mag ein vortrefflicher Jäger und Schwimmer und was sonst noch alles sein, aber mürrisch und kalt ist er! Das hast du doch schon an dem einsilbigen Hedemann gesehen!

Armgart sagte, Hedemann gefiele ihr ganz wohl.

Eines nur hat deine Mutter, fuhr Angelika flüsternd fort, was nur dem Alter sonst gehört – ganz silbergraue Haare hat sie.

Armgart wandte hocherstaunend den Kopf –

Sie ist nicht vierunddreißig Jahre, hab' ich gehört, versicherte Angelika, und doch hat sie ganz silbergraue Haare! Sie trägt sie vorn in langen Locken und soll bei ihrer Jugendlichkeit und Schönheit damit so auffallen, daß alles still steht und ihr nachsieht!

Armgart gerieth in die größte Aufregung. Sie fand den Ursprung dieser Locken nur im Kummer – Wie wenn ihnen Thränen zuströmen wollten, so umflorten sich ihr die Augen.

Nun aber ertönte in nächster Nähe ein Posthorn. Armgart lehnte sich rasch über die Brüstung des Gartens. Von der Universität her kam eben die Post. Hüben schon seit fünf Tagen konnte Armgart das Posthorn nicht hören, ohne sich aus Kocher, und drüben seit gestern nicht, ohne sich aus Wien eine Antwort zu denken. Der gelbe große »Rumpelkasten« (Pensionsausdruck) hielt am Roland und heraus sprang – seligster Lohn der stillen 60 Erwartung! – in der That Benno. Die Post selbst fuhr weiter. Aber Benno war sogleich in den Roland getreten und nun hielt die Post vor den Vier Jahreszeiten. Hier sprang dann noch ein zweiter Passagier heraus.

Alles das sah noch Angelika, aber nicht Armgart mehr. Armgart zog die Freundin mit sich fort – ohne daß die Milch bezahlt war! So leicht hätte ja Benno zu den drei Birnbäumen hinaufgehen können – »unnützerweise«, sagte sie – sie müßten also zu ihm. Der Weg ging durch das Haus; nun – »schliff sie sich ab«, in ihrer Art, an jedem, der ihr in den Weg kam, an Kellnern, die Kaffeegeschirr trugen, am Wirth, der dem neuangekommenen Fremden die besten Zimmer seines Hotels zeigen wollte, an diesem Fremden selbst, der sie mit neugieriger Theilnahme musterte. Sie flog voraus zum Roland und nicht etwa in dem Ueberwallen eines durch das Wiedersehen beglückten liebenden Herzens, sondern – weil der »gute Mensch und Vetter sie ja möglicherweise irgendwo suchen könnte, wo sie nicht war –«. Alles das sah Angelika mit Entsetzen, bezahlte die Milch, ließ gegen ihre Gewohnheit einige herauszubekommende Pfennige im Stich und kam nur eilends nach und gerade noch zur rechten Zeit, um die schon über die ersten freudigen Begrüßungen Hinausgekommenen zu trennen mit den Worten: Halt Armgart! Was soll das? Der Brief ist an mich –!

Die Adresse eines von Armgart schon halb erbrochenen Briefes war allerdings an »Demoiselle Angelika Müller« . . .

Aber vom Onkel Dechanten ist doch der Brief! rief Armgart und mit wiederholtem: Was schreibt er denn? folgte sie Angelika, die schon mitten auf der Landstraße, zur Seite abgewandt, zu lesen begann. Und im Grunde besaß Angelika ganz die Spannung wie Armgart, wenn sie es auch nicht eingestand.

Benno stand inzwischen in bestäubten Reisekleidern vor dem 61 Wirthshause zum Roland und verständigte sich mit dem Wirth, der ganz besonders erwartungsvoll seinem Eintritt entgegengeharrt zu haben schien. Als sogleich Armgart mit ihrem Taschentuch ihn abzustäuben begann, hatte Herr Zapf mit mächtiger Stimme dem Hausknecht gerufen. In kurzem war Benno befähigt, die Damen begleiten zu können.

Im Lesen vertieft und sogar des Chausseegrabens nicht achtend, schob sich Angelika querwärts die Anhöhen hinauf. Armgart mit der Linken zurückdrängend, hielt sie mit der Rechten den Brief versteckt und lehnte ab, jetzt schon eine Mittheilung zu machen. Müßte sie doch selbst erst ganz orientirt sein, sagte sie, und dann noch hinge jede Entscheidung vom Pfarrer Engeltraut ab und von den Englischen Fräulein und sie wisse ja das alles, was Anstand und Hausregel in Lindenwerth mit sich brächten!

Armgart faltete die Hände gen Himmel –

Inzwischen suchte Benno vom Wirthe loszukommen, der ihn in emsigem Gespräch begleitete –

Das wußte Armgart schon von der ersten Begrüßung her, auf ihr laut gerufenes: Hier! Hier! – der Brief war an Benno aus der Residenz des Kirchenfürsten nachgesandt worden, der Dechant hatte ihm diese Zeilen als Einschluß einer umgehenden Antwort auf die Mittheilung über den Tod der der Dechanei seit Jahren fremd gewordenen Hauptmännin von Buschbeck beigelegt. Er hatte geschrieben, daß er einige Tage lang suchen würde die Zeitungen zu verbergen, um die »Tante« nur allmählich mit einer Begebenheit bekannt zu machen, die bei ihrem »zartfühlenden Herzen« eine gewaltige Erschütterung und »allerlei Hausjammer« in Aussicht stellte. Den Brief an »Demoiselle Angelika Müller« hatte er ihm zu zweckmäßigster Besorgung beigelegt, weil er zu wissen erklärte, es wäre bei solchen 62 Pensionen wol Regel, daß die Vorsteherinnen alle Briefe, die kämen und gingen, erst selbst zu lesen begehrten. Daß er dabei die Lage einer Lehrerin mit derjenigen einer Schülerin verwechselte, bewies die Aufregung, in der sich der alte Herr wirklich befinden mußte.

Armgart bat und bat: Was schreibt der Dechant? Reist der Vater nach Wien? Wenn er mir verspricht, mich mit nach Wien zu nehmen – Dabei suchte sie mit plötzlicher List den Brief zu erhaschen – Armgart, nun kein Wort weiter! entgegnete Angelika und verbarg den Brief mit Sorgfalt. Ich habe geloben müssen, dich von keinem Schritt der Deinigen einseitig in Kenntniß zu setzen! Deine ganze Familie ist betheiligt! Alle sind sie es, die dich lieben! Morgen das Weitere nach der Messe. Und nun genug davon!

Jetzt war es doch für Armgart ein Gefühl, als hätte sie sich auf die abschüssige Anhöhe werfen müssen und sagen: Nun, guter Gott, so laß mich sinken, sinken immer abwärts – bis in die Tiefe des Meers!

Benno hatte Mitleid mit dem lieblichen Kinde, dessen Natürlichkeit sich in keiner Regung ihres Gemüthes verleugnete. Sie sah jetzt wie eine von den bittersten Leiden der Seele Gefolterte und sich nun wirklich Ergebende und so verklärt aus, so durchgeistigt, daß ihm der von ihr mit einem unbewußten Aufschlag der schönen Augen auf ihn gerichtete wehmüthige Bitteblick das Herz mit Schmerz und Wonne zugleich erfüllte.

Um den Ton zur Heiterkeit zurückzuführen, hätte er von diesen und jenen Dingen beginnen dürfen. Er war jedoch zartfühlend und Menschenkenner genug, die Richtung der Gedanken, die in Armgart's Seele lebten, nicht zu verlassen. Von Wien sprechen Sie? sagte er. Vielleicht ist der fremde Herr da, mit dem ich fuhr, schon der Kurier Ihrer lieben Mutter!

63 Armgart blickte mit lächelnder Ergebung auf die Vier Jahreszeiten.

Wirklich! Wirklich! Er wollte nach Drusenheim zu Herrn Bernhard Fuld hinüber! Wo eine Dame in den Gasthöfen da am besten aufgehoben wäre, fragte er. Sein Accent war wienerisch.

Angelika flüsterte schmeichelnd: Beruhige dich! Es wird alles gut werden, Armgart! Morgen, nach der Messe in Drusenheim, da sprech' ich mit dem Pfarrer und dann sollst du sehen, du bist zufrieden – Gedulde dich!

Geduld! seufzte Armgart, sich ergebend. Sie überwand sich, nicht dem Fremden nachzueilen, der in der That behend in einen Nachen sprang, um zum jenseitigen Ufer überzusetzen.

Benno's Ruhe, Angelika's Festigkeit mußten zuletzt Armgart zur Besinnung bringen. Man stieg höher und wieder in die Anlagen hinauf. Benno mußte erzählen, was ihm alles seit dem Abschied an der Maximinuskapelle – dort weithin in blauer Ferne schimmerten ihre schlanken Thürme – und seit dem Zusammentreffen mit jener Lucinde Schwarz begegnet wäre? Wo diese hingewollt hätte? Wie die Manöver abgelaufen wären? Wie dem Thiebold de Jonge die Uniform gestanden hätte? Ob Hedemann nach Witoborn zöge? Was der Vater überhaupt beginnen würde? Und nur Angelika's Jammer um die Ermordung einer Schwester der Frau von Gülpen unterbrach diese Redseligkeit und Neugier.

Benno, der trotz Armgart's Schmerzes seine Cigarre von ihr selbst ausgesucht und sogar angeraucht bekam – sie lernte allerlei »Unarten« von den Mitpensionärinnen, wenn diese den Besuch ihrer Brüder empfingen, und wenigstens die Spitze der von ihr ausgewählten biß sie dem »Vetter« in mechanischer 64 Anschmiegsamkeit an all sein Thun und Lassen ab –, Benno erzählte von dem Ersteigen des St.-Wolfgangberges, vom wirklich erfolgten Anknüpfen einer Bekanntschaft mit Lucinden, vom Zusammentreffen im Pfarrhause zu St.-Wolfgang, vom Begräbniß des alten Mevissen, von der Entweihung des Friedhofs, Lucindens Abenteuer in Kocher u. s. w. Alle diese noch nicht auf die Insel Lindenwerth gedrungenen und doch so überraschenden Thatsachen hörte Angelika voll Staunen, Armgart, da sie den Pfarrer von St.-Wolfgang betrafen, mit dem Gefühl, wie wenn sie nicht Armgart, sondern Paula wäre. Benno mußte unausgesetzt erzählen. Einen so langen, so inhaltreichen Brief hatte sie noch nie nach Westerhof geschrieben als diesen, den sie jetzt schon im Geiste couvertirt und adressirt vor sich liegen sah; sie betrübte sich bereits um die Vorsteherin Schwester Aloysia, die bei ihrer Censur – alle wenn auch nicht ankommenden, doch aus dem Pensionat abgehenden Briefe las in der That erst Schwester Aloysia – gewiß wieder das Schönste davon für sich genoß, dann aber eine nochmalige Abschrift zu verlangen pflegte, lorsque vous aurez supprimé les choses inconvenantes –!

Aber auch für Angelika waren die Mittheilungen, die Benno in glückseliger Behaglichkeit gab, überraschend. Diese ihr wohlbekannte Lucinde Schwarz, von welcher sie seit Hamburg nichts mehr gehört hatte, sie war also, ganz wie sie, bei Frau von Gülpen eine »Nichte« gewesen! Einen einzigen Tag und länger nicht! Wie konnte das anders sein, nach dem Wenigen, das sie von dieser »Abenteurerin« wußte und das sie dem Pensionat an der Maximinuskapelle wohlweislich verschwiegen hatte! Man müßte die Menschen wenig kennen, wollte man Angelika's eigenthümlich gezogenem und erstaunendem: Ist's denn möglich –? nicht eine gewisse Genugthuung anmerken, die ihr durch die Thatsache zu Theil wurde, daß auch diese Gesellschafterin, wie so viele andere 65 und vorzugsweise sie selbst, den Anforderungen der Dechanei nicht entsprochen hatte. Sie lag in den Worten: Der Dechant ist ein so lieber guter Mann! Zugleich sollte dies Zeugniß von Frau von Gülpen das Gegentheil ausdrücken. Und so gutherzig auch Angelika war, dennoch verbreitete die Verbindung, in welche Benno die neueste Zeitungskunde von dem Morde mit dem Stolz der Frau von Gülpen brachte, selbst über ihre von Staunen und Schreck überschauerten Gesichtszüge zu gleicher Zeit ein gewisses Aufleuchten schadenfrohen Behagens.

Alledem hörte Armgart nur sinnend zu. Benno hatte in seinem Wesen etwas Milderndes und Beruhigendes. Sie hätte seine Hand ergreifen und diese wie die eines Bruders halten können. Seine Mittheilungen über Bonaventura's Anwesenheit in der Residenz des Kirchenfürsten, die wahrscheinliche Beförderung und Ansiedelung desselben in dieser Stadt, alles das brachte Thatsachen, die ihr Ohr wie buchstabenweise aufnahm, nur um die für Paula bestimmte Depesche so inhaltreich wie möglich zu machen. Erzählen Sie mir jetzt von meinem Vater! sagte sie, als Angelika etwas zurückblieb. Wie fanden Sie ihn? Ist er so, wie ihn Hedemann schilderte?

Ohne Zweifel –! antwortete Benno zerstreut – Mit Armgart allein zu sein, ließ ihn den Reiz ihrer Erscheinung in erhöhterm Grade fühlen.

Ist er groß, so etwa wie – wie Hedemann –? – – Hedemann war untersetzt, Armgart hatte sagen wollen »wie Sie«.

Um einen halben Kopf höher, antwortete Benno; aber ebenso wetterbraun, ebenso breitschultrig und – wie soll ich sagen – ganz so englisch! Ist Hedemann ein Schiffssteuermann, so ist Ihr Vater ein Kapitän oder nennen wir ihn lieber gleich Commodore! Unsere vaterländische Art von drüben hat die passendste Anwendung gefunden.

66 Wie so?

Unser Land drüben ist ja fast wie ein Meer! Die unermeßliche Heide, das Ackerfeld. das Torfmoor – alles ist nur ein Meer des Landes. Auf dem schwimmen wir mit unsern Höfen wüst und einsam. Nicht einmal ordentliche Städte haben wir. Nicht einmal ordentliche Dörfer. Ein Fahrzeug segelt auf gut Glück am andern vorüber. Unser Volk ist ein seefahrend Volk der Heide –

So! So! . . . sagte Armgart. Seltsam! Ich hasse aber alles Englische –

Benno erwiderte lachend: Ja die englische Aussprache ist schwer –! – Die Asche seiner Cigarre drückte er jetzt schon an einem der drei Birnbäume ab.

Nein – darum nicht –! fuhr Armgart ohne alle Reizbarkeit fort . . .

Aber das Englische hassen? Bei – Englischen Fräulein?

Die verließen schon vor hundert Jahren England, um Gott in unserm Deutschland besser dienen zu können! Sehen Sie, alle diese Engländerinnen hier ringsum jetzt, die blieben am liebsten auch wie Mary Ward in Rom und bei uns, um katholisch zu sein! Ich weiß das genau!

So! So! Sie wissen das genau? . . . Benno verließ den verfänglichen Gegenstand und regte die Phantasie seiner Begleiterin lieber mit den Abenteuern an, die ihm ihr Vater und sein Freund oder Diener erzählt hatten. Sie hätten Seltenes erlebt, Tapferes geleistet, auch Pensionen dafür gewonnen und stünden unter dem kleinen, beschränkten Volk in Kocher am Fall wie zwei Riesen da, die man auf Jahrmärkten zeigte. Vielleicht wollte Benno bei diesen Berichten nur hören, ob Armgart nicht nach Thiebold de Jonge fragen würde.

67 Inzwischen kam Angelika näher. Sie hatte auf ein Ausruhen gerechnet und fand nun bereits die Wandelnden schon wieder über die Birnbäume hinaus . . .

Ei, was ist denn das da unten? Sehen Sie! Im Fluß! Da taucht's auf! Nun ist's wieder fort! Geben Sie Acht, da unten kommt's wieder . . .! Mit jener Sorglosigkeit, die der Jugend auch eben nur dann eigen ist, wenn sie ahnt, daß es zu den Geständnissen des Herzens noch lange, lange Zeit bleibt und daß ihm durch ein Versäumniß nichts von seinen Hoffnungen und Berechtigungen verloren geht, verlangte Armgart plötzlich die Anerkennung ihrer Sehkraft – Unten im Kahne hatte sich auch Tönneschen aus dem Schilf aufgerafft und warf mit Steinen vom Uferrande über den Wasserspiegel hinweg.

Das seh' ich wol! Der wirft Butterstollen! sagte Benno und erinnerte Armgart an den Ententeich zwischen Schloß Westerhof und Borkenhagen.

Den kennen Sie noch? Das ist ja aber eine wilde Ente! – Unsern Ententeich? – Sehen Sie doch nur, wie sie den Kopf aufwirft! Rasch duckt sie ihn nieder und unterm Wasser geht's fort! Sassa! Da ist sie! Im Nu hundert Schritte! Wieder blickt sie auf, dreht den Kopf! Da, da! Guten Tag! – Adieu! Glückliche Reise –! – Nein, auf unserm Ententeich gibt's keine solche Passagiere! – Mit dem Verfolgen der wilden Wasserente, die sich Tönneschen zu treffen vergeblich bemühte und die Benno jetzt erst erkannte, waren beide bei Angelika wieder vorübergekommen, die sich nachdenklich gesetzt hatte und nun ernstlich zum Aufbruch und zur Rückkehr auf die Insel mahnte. Schon sank die Sonne über die westliche Bergwand.

Wie wenn Himmel und Erde in bester Ordnung und nichts auf dem Herzen centnerschwer lastend läge, weder bei ihm noch bei Armgart, durfte Benno scherzen: Ja, so gehen die Lügen 68 durch die Welt! Von so einer Wasserente kommen die Zeitungsenten . . .

Angelika, die durch Benno's Erscheinen überhaupt an ihre vielgeprüfte, treue Liebe erinnert wurde, gedachte der vielen Angriffe, die Doctor Püttmeyer erleiden mußte, gedachte der Gewalt der Lüge in so vielen Literaturzeitungen und fiel mit Seufzen ein: O wohl! O wohl! O wohl! Dann stellte sie einige Erkundigungen nach Büchern an, wollte von den Ereignissen der Politik hören, von den burschenschaftlichen Verbindungen, um die auch Dr. Püttmeyer ein Jahr »Köpenick« erduldet hatte, von Benno's bekannten freisinnigen Meinungen und vom Kirchenstreit, bis Armgart, beide unterbrechend, ausrief: Laßt doch das alles! Kann man denn jetzt von anderer Aufklärung reden als von der des Himmels und von dessen Licht! Seht doch nur! Wie der Abend kommt! Ist's nicht, als leuchtete alles in Verklärung! Diese gerippten Wölkchen da oben! Diese leichten Federbüschelchen! Fächer sind's wie von Eiderdunen! Nein, wie von großen Perlmuttermuscheln! Wer solchen Staat hätte, wie die Himmelskönigin!

Alles das kam von ihren Lippen unbefangen und kindlich. Daß sie sich keiner gefallsüchtigen Nebenabsicht dabei bewußt war, bewies die leise Oeffnung der Lippen und der Schmelz der hervorschimmernden kleinen Zähne, »cette grimace«, die sie sich nach Anweisung der Englischen Fräulein durchaus abzugewöhnen hatte.

Ja, man möchte hier predigen! fiel auch Angelika, heute in merkwürdig freigesinnter und gefühlvoller Zustimmung, ein. Diese Berge sind wie Kanzeln –! Ihr neues Herz dachte an Püttmeyer's fehlenden Lehrstuhl –

Kanzeln? rief jedoch Armgart, bei der sich jenes Fliegen zur Flamme des großen Gottesherzens zu regen anfing. Die Berge 69 sind ja selbst wie Prediger! Wie Redner stehen sie da! Nein, Angelika, wie klein müßte das sein, wenn drüben da einer auf dem Geierfelsen stünde und so zu allen Lügnern der Erde sprechen wollte! Der Geierfels und hinter ihm die sechs andern Riesen – die, die sind die Propheten! Ich höre alles, was die Berge sprechen!

Was sprechen sie denn? fragte Benno und hatte eben die Cigarre weggeworfen. Im Tone seiner Frage, im Leuchten seines blauen Auges lag eine so ausdrucksvolle Schwere, daß es Armgart war, als senkte sich aus ihnen etwas Unsichtbares auf sie nieder – Wie konnte auch Benno nur in das einfache »Was sprechen sie denn?« so viel Ausdruck legen? Was konnte diese Wendung seines Hauptes, diese Glut seiner Augen bedeuten? So wenig Worte und so viel seltsamer Ton in ihnen!

Es ist doch wol Zeit, zu gehen! sagte sie zaghaft. Es war ihr, als hätte sie plötzlich vor irgendetwas entfliehen müssen.

Benno lüftete seinen Hut. Sein kurzes, lockiges, schwarzes Haar war festgedrückt von dem »garstigen Cylinder«, wie es sonst bei Armgart hieß. Und sonst hätte Armgart gar keinen Anstand genommen, ihm in sein Haar zu fahren, um es zu lockern, wie sie so oft den grauen Locken des Onkel Levinus gethan. Heute hätte sie dergleichen um alles in der Welt nicht mehr wagen können. Gleichwol löste Angelika's Geplauder über all den vernommenen und zu verarbeitenden Thatsachenreichthum die gedrückte Stimmung. Zuerst fand Benno sich wieder; dann auch Armgart. Ja sie schien heiterer und ausgelassener, als sie hörte, was hier alles Benno in der Gegend zu thun hätte und daß er auch mindestens noch morgen da wäre. Und doch – an seinen Handschuhen sah sie eine aufgesprungene Naht und sonst hatte Angelika für dergleichen Unglücksfälle Seide, Zwirn, Nadelbüchse und Schere in ihrem Beutel bei sich, heute griff sie nicht, was sie sonst hätte 70 thun können. nach seiner Hand, wagte nicht, ihm den Handschuh abzuziehen. Es trieb sie wie im Wirbel, sie mußte fliehen vor sich selbst. Die Berglehne endete mit einem schroffen Abhang. Den schoß sie hinunter. Die Kanten waren hier eckig; an andern Stellen gerundet, von uralten Moosrunen beschrieben; hier und da stand eine verkümmerte Zwergbirke, dort schwankte eine Distel, hier eine hohe Doldenstaude mit braunrothen, schweren Samenkolben. Ein schwacher Halt hier, ein nachgebender dort. So jählings schoß Armgart hinunter, daß sie an einem Gebüsch niedersank.

Nun war aber auch Benno schon gefolgt. Als er da ankam, wo sie niedergeglitten, hatte sie einige Kamillen mit weißem Blätterrande gepflückt und fing an, einer die Blätter abzuzupfen.

Was fragen Sie die Blume? rief Benno.

Und in dieser Frage lag wieder eine solche Glut, in dem Nachfolgen, als sie sich erhob und jetzt ruhiger niederwärts stieg, eine solche Hast und ein so ganz persönlich auf sie gerichteter Entschluß, daß sie's überrieselte zu denken: Was glaubt er denn? – Den Faust, den kannte sie nicht (wo wird in solcher Erziehung Goethe zugelassen!), aber doch schob blitzschnell ein geheimer Zauber in ihrem Innern der Frage: »Vater oder Mutter« (sie wollte nur sehen, welchem Namen das Blumenorakel sein letztes Blättchen ließe) nicht etwa die Frage unter: »Liebt er mich, liebt er mich nicht?« sondern die: »Kommt auch Benno morgen nach Drusenheim, kommt er nicht?« und als sie sah, wie nun Benno ihren Arm ergreifen, ihre Schulter berührend, den Ausschlag ihres Zählens so ganz dringend wissen wollte, da unterbrach sie ihn, als wenn er sie nur im Zählen irre machte, mit einem fortgesetzten St! St! Sie bekam aber den plötzlichen Einfall – und welcher innere Schalk des Gemüths hatte ihr das wol 71 zugeraunt! – schadenfroh und übermüthig laut zu rufen: Kommt morgen Thiebold de Jonge nach Lindenwerth oder kommt Thiebold de Jonge nicht? Kommt Thiebold de Jonge? Kommt Thiebold de Jonge nicht –? So schoß sie wieder bergab.

Sie können ja die nachgemachten Engländer nicht leiden! rief Benno hinter ihr her voll Eifersucht und, wie Thiebold gesagt haben würde – Freundesverrath.

Sie aber glitt bald an einem Steine aus, ließ bald eine Pflanze mitgehen, schoß dahin und rannte und war endlich unten, aber – aufgefangen von Benno's Armen. Ein junges weibliches Leben, dessen Athemzüge vergangen sind, dessen Brust hämmert, so im Arme zu halten! Kennt ihr das Gefühl, wenn ein junger Vogel in unserer verschlossenen Hand gefangen sitzt, sich duckt, auffliegen will und nicht kann und jetzt ganz nur zu einem einzigen zagen, warmen Herzchen geworden zu sein scheint, das unter den weichen Federchen klopft und sich wie in den Pulsschlag unserer eigenen Hand verwandelt? So fühlte es Benno eine Weile, vielleicht den fünften Theil einer Minute nur und doch eine Ewigkeit.

Inzwischen kam Angelika den geebneten Weg daher, schalt und rief und machte allen beiden die bittersten Vorwürfe. Armgart aber umarmte sie und erstickte ihre Rede mit Küssen. Das Thema des Anstandes brachte den Neckkampf aller auf die Würde, auf die Pflichten, die Haltung einer baldigen Stiftsdame von Heiligenkreuz. Diese »Predigt« währte so lange, bis Tönneschen erreicht war am Schilfrohr im sanftgeborgenen Nachen.

Sind Sie denn morgen wirklich noch in der Gegend? fragte Armgart beim Abschied den halb besinnungslosen Benno.

Benno wollte beiden noch in den Kahn helfen, that es auch erst, wie sich geziemte, mit Angelika; als er dann aber hoffte, Armgart's Hand zu erfassen und sie aus voller Seele zur Antwort 72 wie mit einem Ja! zu drücken, war diese schon in den Kahn gesprungen.

Deshalb schmollte er und rief: O! O! Angelika verstand diesen Schmerzensruf sehr wohl und lächelte bedeutungsvoll. Armgart saß aber schon da, glühend wie das Abendroth. Angelika, die gerade so viel erst zu »ahnen« sich die Miene gab, als sie schon wußte, war trotz aller Angst liebevoll genug und sagte vor dem Abfahren: Richtig! Richtig! Sind Sie denn morgen auch im Enneper Thale? Es ist ja Sonntag! Alle Welt hat sich ankündigen lassen –

Thiebold de Jonge –! seufzte Benno und Angelika fiel ganz so, als müßte sie nun für die verstummende Armgart auch in deren Art sprechen, ein: Ja! Alle nachgemachten Engländer! Und wenn Sie etwa auch kommen, Herr von Asselyn, so kneifen Sie nur ja nicht auch so eine Lorgnette ein!

Ehe noch Benno antworten konnte – zum Scherz fehlte ihm jeder Uebergang – rauschte es im Schilfe dahin und der Kahn war im Entschwinden. Eine Weile noch stand Benno, lüftete den Hut, sah lange den Entgleitenden nach und ging landein dem Roland zu. Das Ufer ist hügelig. Zuweilen verschwindet, zuweilen taucht Benno den Mädchen wieder auf. Und je höher sie auf den Spiegel kommen, desto länger noch können sie ihn sehen. Gern hätte Armgart gewinkt mit ihrem Hute und mit ihrem Taschentuch. Dies verbot Angelika, die »heute schon so viel erlaubt hatte«. Bekam die Gute auch nicht Angst, Armgart würde am Ende noch »tiefsinnig« werden und wol gar sich für unwürdig erklären, morgen in Drusenheim zur Communion zu gehen – dergleichen war vorgekommen – bekam sie auch nicht Angst, daß dann noch obenein die Gutmüthigkeit und Toleranz einer Lehrerin compromittirt werden könnte, die gegen die Englischen Fräulein als Hülfsarbeiterin nur einen zweiten Rang einnahm, 73 so lächelte sie doch und sagte: Armgart, Armgart! Sprüche Salomonis 14, 29! Diese Bibelstelle hatte Armgart einst von Tante Benigna in Westerhof aufbekommen, auf ein Weihtüchlein zum Kirchendienst zu sticken. »Wer aber ungeduldig ist, der offenbaret seine Thorheit!« lautete der Spruch. Die Ungeduld galt für Armgart's Erbfehler.

Ueber diese einzige Partie in der Religion, wo sie ketzerisch, ja ganz ungläubig fühlte, wäre Armgart sonst aufgefahren, aber wir sehen sie still, ergeben und schweigsam. Sie frägt selbst von dem Briefe aus Kocher nichts mehr, sondern sieht nur auf die Welle, gegen deren ganze Macht Tönneschen anrudern muß. So kamen sie – Benno war dann endlich auch verschwunden – am nördlichen Ende der Insel an.

Eine ältliche Dame, in schwarzem Kleide, mit einer weißen, mit Bandschleifen am Halse und über die Brust herab besetzten Halbtunica, ein weißes geflügeltes Häubchen auf dem Haupte, begrüßte sie – Schwester Aloysia, die Vorsteherin. Unter ihrem »Mozzeto« zog auch sie einen Brief hervor.

Auch dieser war an Angelika gerichtet, kam aber aus Wien und von Armgart's Mutter! Ein Herr hatte ihn abgegeben, in der That jener Fremde, der, vollkommen Benno's Vermuthung entsprechend, drüben in den »Vier Jahreszeiten« für eine Dame Zimmer bestellt hatte und von hier, wo ihn, bei ihrer Zerstreutheit, die Wanderer am Hüneneck nicht hatten landen sehen, hinübergefahren war nach Drusenheim –

Armgart erbebte. Es war ihr, als zitterte um sie her die ganze Welt.

Angelika, nun von dem scharfen Blicke der Vorsteherin selbst beobachtet, nahm den Brief und ging in scheinbar kalter Ruhe damit aus ihr Zimmer.

Armgart folgte, drängte aber nicht mehr und fragte auch 74 nicht mehr. Es war ihr nun wirklich wie einer Sünderin zu Muthe, als sie sich über die düstern Gänge in ihren Wohnsaal geschlichen hatte, als sie mit einem tiefen Seufzer dort ihren Hut, ihren Shawl ablegte, als alle Mädchen jetzt zum einfachen nächtlichen Mahle gingen und dann erst Angelika kam – so lange hatte sie gelesen! – und als Schwester Aloysia schon vorbetete. Die nachgiebige Erzieherin richtete einen forschenden Blick auf sie und bekam wirklich Angst, Armgart wäre im Stande, alles das, was heute vorgekommen, morgen noch in erster Frühe und vor der Communion dem Pastor Engeltraut zu beichten! Schwester Aloysia betete französisch. Sie war aus Strasburg und verband mit allem Guten und Frommen, dem hier fürs Leben der Grund gelegt werden sollte. eine leidliche Aussprache und einen ziemlich richtigen Accent. Man hatte alles hier auf Gott, auf die heilige Jungfrau, den heiligen Joseph und die Engel und Erzengel gebaut, sogar den Subjonctif und die schweren Beugungen der Verbes irrégulaires, den delicaten Gebrauch der Formen que vous parlassiez und que nous parlassions und die Participialconstructionen, die an dieser schönen Sprache für jeden, der nicht wie Tönneschen Latein kann, recht fremdartig schwierig sind. Wenn dann aber Schwester Aloysia vom besten pariser Französisch in das beste strasburger Deutsch übersprang, so war's wie der Uebergang vom Rauschen eines seidenen Kleides zum Klappern von Holzpantoffeln, vom Gesange eines Canarienvogels zum Gekoller eines Truthahns, denn ihre strasburgisch-deutsche Muttersprache sprach sie, als wäre sie hier eigens dafür angestellt, einige in der Anstalt befindliche Irländerinnen und Französinnen vom Erlernen des Deutschen abzuschrecken. Und das zweite, vom Muttersitz der Soeurs angélques hierher beurlaubte Englische Fräulein (dieser der Erziehung sich widmende Orden ist nicht an strenge Clausur gebunden), 75 Schwester Gertrudis, sorgte für Eintheilung der Speisen und rühmte das Wetter für den morgenden Sonntag, an den sich allgesammt die schönsten Hoffnungen knüpften.

Immer mehr brach zuletzt ein stillverhaltener Jubel aus. Das Pensionat wußte schon von den zu erwartenden »nachgemachten Engländern« – doch durfte es darüber nur ein Flüstern geben, ein leises Necken und Kichern; laut wurde nur besprochen eine besonders anregende Einladung der jungen Madame Bernhard Fuld. Diese hatte die Nachbarinnen aufgefordert, morgen Nachmittag die berühmte Villa und den Garten drüben in Augenschein zu nehmen – Pastor Engeltraut hatte den jungen Christinnen zum Besuch eines jüdischen Hauses die Erlaubniß gegeben.

Alles das hörte Armgart nur halb. Erst als sich auch bei einem Theile dieser Jugend der germanische Uebermuth über die Besitzer von Drusenheim in allerlei Spott erging und ganz wie die Freunde Piter Kattendyk's, mit denen einige bis zur unmittelbaren Geschwisterschaft verwandt waren, für den einst von den Juden Gekreuzigten die bekannte christliche Rache nahm, thaute auch sie auf und erklärte, daß sie als Stiftsdame von Heiligenkreuz den Herrn Bernhard Fuld zum Generaleinnehmer und Finanzminister ihrer Einkünfte ernennen wollte.

Armgart'sche Einfälle elektrisirten gewohntermaßen alles. Jetzt wurde es so laut, so ausgelassen unter dem jungen Volk, daß die vier Erzieherinnen (die vierte lehrte nur Musik) dafür waren, lieber jetzt von der Tafel sich zu erheben »pour se promener encore dix minutes sous les tilleuls et dans le jardin«. Aber auch dies der himmlischen Gegend und dem wonnevollen Abend gebrachte Opfer erfolgte so wild – es ist Sonnabend! – daß die Schwestern Aloysia und Gertrudis Ruhe gebieten mußten und das ganze Personal ins Haus, in die Corridore und auf die Schlafsäle schickten.

76 Auch Angelika war, sie wußte selbst nicht worüber, in ein endloses Lachen gerathen – Die Gute sagte: Aus Nervenschwäche und Ansteckung! – raunte aber beim Gutenachtsagen ihrer geliebten Armgart, ihrer besondern Schutzbefohlenen (die indessen nicht mit ihr, sondern in einem Saale mit fünf andern zusammenschlief) neckisch zu. »Wer aber ungeduldig ist, offenbaret seine Thorheit!« Armgart nickte stillergeben und schien sich plötzlich in der That zur Anerkennung dieses Spruchs bekehrt zu haben.


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