Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. III. Buch
Karl Gutzkow

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78 4.

Seit jenem verhängnißvollen Augenblick, wo die wenigen Zeilen, welche Eduard Michahelles, Secretär des Kirchenfürsten Grafen von Truchseß-Gallenberg, an Bonaventura geschrieben, in dessen Händen wie glühende Kohlen brannten, sprach es ihm mahnend und zur Eile drängend aus jedem Baumeswipfel, aus jedem Windeswehen, aus jedem Menschenauge und rief mit den Worten des Herrn: »Siehe, ich habe dich gerufen und du hast dein Ohr verstopfet?«

Von dem Dechanten, den Bonaventura für einen verlorenen Sohn der Kirche halten mußte, hatte er sich losgerissen wie von einer jener Versuchungen, die zu unterdrücken nun schon so manches Jahr seine tägliche Uebung war. Er hatte die Aufträge an den Obersten überbracht, ohne diesen strengen und ernsten Mann vermögen zu können, Armgart's Wünschen zu folgen und sich sofort mit seiner Gattin Monika auszusöhnen. Wie er als Bote des Dechanten Gründe der Billigkeit geltend machte, wie er sagte: Die meisten Ehen haben ihren wahren Grund erst dann noch zu legen, wenn sie schon längst geschlossen sind! wie er die Tugenden der Gattin des Obersten schilderte, den starren Sinn der gemeinschaftlichen Heimat, die Härte der Verwandten, die ihr das einzige geliebte Kind rauben konnten, wie er rühmte, daß sich die verbitterte, ermüdete junge Frau, um allen Schein einer 79 weltlichen und eitlen Gesinnung zu vermeiden, in ein Kloster geflüchtet hatte, wurde seine Beredsamkeit wieder gelähmt durch das soeben noch schmerzlichst lebendig heraufbeschworene Andenken an seine eigenen Aeltern. Er schied vom Obersten unverrichteter Sache und reiste nach St.-Wolfgang zurück, sogar ohne von Lucindens Bruch mit der Dechanei vernommen zu haben. Die Freundin des Dechanten, der, als er abfuhr, in der Stadt war, verbot förmlich, ihn damit bekannt zu machen; sie fürchtete von ihm einen Versuch zur Vermittelung und Aussöhnung.

Erst in seinem Pfarrhause, wo die alte Dienerin seiner Aeltern, die zu ihm gehalten hatte wie Joseph Mevissen, nicht wenig erschrocken war vor der Mittheilung, ihr Pflegling müßte sofort in die Residenz des Kirchenfürsten, erfuhr er gelegentlich von dem durchreitenden und immer noch vergebens nach dem Knecht aus dem Weißen Roß umsuchenden, in seinem damaligen Verdacht so glänzend gerechtfertigten Grützmacher, wie die Dinge in der Dechanei Hals über Kopf gegangen. Bonaventura hörte diesen schnellen Bruch voll Mitleid, er vertheidigte Lucinden gegen die Anklagen Renatens und nur die Besorgniß, dieser peinlichen Neigung nun gar in der Residenz des Kirchenfürsten wieder zu begegnen, ließ ihn verstummen in seiner aufrichtig theilnehmenden Anwaltschaft.

Der Kirchenfürst hatte ihn innerhalb so kurzer Frist zu sprechen begehrt! Und doch fesselte ihn in seiner Gemeinde so vieles, was zu erledigen war. Es kam ihm vor, als gliche er denen, die im Evangelium zur Hochzeit geladen werden und die dem göttlichen Gastgeber soviel geringfügige und alltägliche Dinge vorzuschützen wissen. Es bildet sich auch im katholischen Leben eine Gemeinsamkeit des Geistlichen mit dem Leben seiner Gemeinde, die eine beinahe persönliche und dies in Liebe sowol wie im Hasse werden kann. Denn auch der Haß findet in diesem Pfarrleben 80 seine Nahrung. Zu eng ist fast der Verkehr der Kirchenaufsicht, Kirchenbuße, Kirchenzucht. Und eben deshalb, weil sich der Geistliche in alles mischen darf, unterliegt auch er einer strengen Kritik. Vom Gutsherrn bis zur untersten Magd herab beurtheilt alles seine Art. Dem einen sieht der Pfarrer zu traurig, dem andern zu heiter aus; den grüßt er zu stolz, jenen zu herablassend; diese alte Frau wirft ihm vor, daß er den Kindern nicht oft genug die Hand gebe und Heiligenbilder an sie austheile; jenem Bauer ist er zu freigebig und spendet aus dem kleinen ledernen Beutel, den er immer bei sich tragen soll, zu viel an die Bettler, die sich so durch ihn in den Ort gezogen fühlen. Ganz altmodisch mögen sie auch keinen haben und doch beurtheilen sie den Schnitt des Rockes, ob er auch nicht zu kurz, die Stiefel, ob sie auch geziemendermaßen in den Schäften nach außen sichtbar sind, den Hut, ob dieser, wenn er auch billigerweise die Form des Dreiecks bei uns abgelegt hat, doch nicht zu modern und stadtmäßig wäre. Die Beurtheilung der Gemeinde sieht ihrem Seelsorger bis in das Innerste des Hauses, bis in den Topf, der für ihn am Feuer siedet, bis in das Polster seines Sitzes, ob es nicht zu weich wäre, bis auf die Farbe der Decken, die auf seinem Tische liegen, ob sie nicht zu bunt. Und daran gewöhnt sich denn auch der Geistliche selbst. Das Beaufsichtigtwerden wird ihm Bedürfniß. Die Gemeinde ersetzt ihm die Familie. Er lebt mit allen, lebt für alle. Jedes Vorkommniß des innern und äußern Lebens seiner Ortsangehörigen will er kennen und was er nicht sieht mit eigenen Augen, erfährt sein Ohr im Beichtstuhl. Dort, in diesem räthselhaften Flüsterstübchen, wandeln diese Menschen um ihn her wie aufgedeckt und durchsichtig und wie mit gläsernen Fenstern vor ihren Herzen. Niemand kann nun noch an ihm vorübergehen und unbefangen grüßen. So mancher schlägt die Augen nieder, so mancher Knecht, der allen 81 trotzig ist, ihm ist er demüthig, so manche Magd erröthet und athmet erst auf, wenn sie an ihm vorüber ist. Wären es nur immer die rechten Warner und Richter, wer hatte Bonaventura nicht Recht gegeben, wenn er auf die Feindschaft des Dechanten gegen die Beichte gewöhnlich erwiderte: Unsere Kirche ist eben eine Heilsanstalt! Aber leider nicht alle wissen den Beichtstuhl so zu behandeln, wie Bonaventura seit seiner ersten Sitzung in dem »Holz der Buße«. Nur zu sehr nimmt die meist aus dem Bauernstande hervorgegangene niedere Geistlichkeit die Art und die Bildung der Scholle an, von wo sie herstammt und auf die sie zurückkehrt. Heftige Naturen toben sich sogar noch im Meßgewande aus und will man wahr sein, so gefällt es dem Landmann ganz gut, wenn sein geistlicher Führer Fleisch von seinem Fleisch, Bein von seinem Bein ist. Der Dechant, in seiner Gletscherbildungstheorie, sagte oft: »Darin etwas ändern ist auf theoretischem und discutirendem oder befehlendem Wege rein unmöglich! Nur große Geschichtsepochen, die den ganzen Menschen ergreifen, reformiren! Geschichtsepochen, denen wir hoffen dürfen auf irgendeine Art wieder entgegenzugehen und ganz nahe zu sein, Geschichtsepochen, die wir 1815, als das deutsche Vaterland in seiner Einheit wiederhergestellt wurde, leider so unbenutzt für die katholische Kirche haben vorüberziehen lassen!« Bonaventura kannte vollkommen den Landmann und seine Bedürfnisse. Sein unglücklicher Vater hatte dem höhern Beamtenstande, zuletzt als Regierungsrath, angehört; seine beiden Oheime aber lebten auf dem Lande, der Dechant wenigstens in einer kleinen Stadt; er selbst war in Borkenhagen geboren, einem Gütchen, das der Familie gehörte und vor des Onkels Max Rückkehr aus dem spanischen Kriege verpachtet war, ohne daß seine junge Mutter sich behindern ließ, dann und wann das kleine, der Familie gebliebene Herrenhaus zu besuchen und auf dem Lande die 82 Sommerfrische zu halten. Bonaventura war keine zerflossene Natur oder von übermäßiger Milde; er konnte streng und in manchem vielleicht zu entschieden sein. Aber immer umgab ihn eine gewisse Vornehmheit, eine edle, sagen wir immerhin: adelige Besonderheit. Der längliche Schnitt seines Antlitzes, die braunen Augen in dunkelschattigen Höhlen, die Feinheit derjenigen Organe, welche die Kennzeichen der höhern geistigen Natur tragen, Mund, Nase, weiße längliche Hände, alles das hob seine Erscheinung. Dazu kam der schlanke Wuchs, das schwarze Haar, dessen Tonsur nur wie die natürliche Folge der Anstrengung des Denkers aussah und vollkommen mit dem lichtern Haarwuchse an den Schläfen und Stirnecken zusammenzugehören schien. Beseelt war dies Aeußerliche von einer weichen, in mittlerer Tonlage sich haltenden und zur Höhe und Tiefe gleich klangvoll sich erhebenden und senkenden Stimme. Bonaventura besaß den ganzen Eifer, den wir stets finden bei einem selbstgewählten Beruf. Damals, als ihn seines Vaters schauervoller Tod und die Verheirathung seiner Mutter in eine tiefe Betrübniß, die an Schwermuth grenzte, versetzte, ging ihm die Mahnung zum geistlichen Beruf wie eine Vision auf. Schon studirte er auf der Universität, um nach einiger Zeit und mit dem gesetzlichen Alter als Freiwilliger in die Armee zu treten und bei ihr auf Avancement zu dienen. Der Fall trat auch ein; er verblieb in den Reihen des Militärs bis zur Vollendung seines Offizierexamens. Dann trat er als Fähnrich aus. Es ergriff ihn da plötzlich mit dem Schicksal seines Vaters ein solcher Ueberdruß an weltlichen Dingen, daß er nicht fassen konnte, wie er sich dem Waffendienste mit ganzer Hingebung hätte widmen können. Das Vaterland lag im Frieden, eine Lockung des Ehrgeizes oder des Pflichtgefühls, sich dem Allgemeinen zu opfern, sprach nirgends aus der todten oder doch nur träumerisch schlummernden Zeit; was hätte 83 ihn hindern können, dem Zuge zu folgen, der ihn so mächtig ergriff und der ihn aus einer Art geistiger Erstarrung wieder emporzuheben versprach? Es gibt eine Schwarmzeit im Gemüth des Jünglings, eine heilige Zeit der Dämmerung und des sehnsüchtigen Träumens. Nicht immer zieht es dann den jugendlichen Trieb in die Nähe eines weiblichen Wesens, das man allerdings in den meisten Fällen dann unter Athemzügen wie von Feuergluten lieben wird: oft auch zieht es ihn zu einem Freunde. Diese Stunden sind die der Geburt unsers geistigen Menschen. In diesen Stunden werden die Bücher unsers Schicksals angelegt. In ihnen öffnen sich feierlich und schwer die großen leeren Blätter, auf welche unser Schutzgeist das Größte, Erhabenste, Glücklichste schreiben möchte, wenn nicht die stärkern Dämonen der Weltregierung, vor allem die noch stärkern unserer eigenen Leidenschaft ihn von dem Buche hinwegdrängten, ihm die Feder aus der Hand rissen, thörichte Hieroglyphen, Fratzen oft hineinzeichneten, von denen wir in unsern spätern Tagen mit verhülltem Angesicht uns abwenden, mögen sie auch in einem einzigen großen, uns unbekannten Weltenplane irgendwie wol ihre eigene Schönheit haben und diese Schönheit schon durch die Leiden, mit denen wir sie haben büßen müssen! In einer solchen Dämmerstunde, wo wir dann nichts sind als Gefühl, nichts wollen als die liebende Umarmung des Alls, nichts auf Erden fürchten, selbst nicht die eigene Vernichtung, ergriff es auch den zwanzigjährigen Jüngling, der über ein Jahr schon auf der Hochschule gewesen, dann schon die Liebe militärischer Kameraden, die Achtung der Vorgesetzten gewonnen hatte, sich loszureißen von der Welt, vom Staat, von der Gesellschaft und ein Priester zu werden. Es winkte ihm das Bild des im Alpenschnee versunkenen Vaters; er fühlte sich aufgefordert, gleichsam ein Dankopfer darzubringen an die Augustinermönche, die den Vater gefunden und begraben hatten. Die 84 plötzliche Heirath der Mutter mit einem Manne, über dessen Stellung zu seinem väterlichen Hause er erst nach und nach die volle Wahrheit ahnte, diese vollends erfüllte ihn so mit Wehmuth und Schmerz und Opferfreudigkeit an das Höchste. daß er ein Kloster aufgesucht haben würde, wenn nicht der Dechant ihn davon mit der ernstesten Rüge abgehalten hätte. Mehrere Jahre verbrachte Bonaventura im Convict einer mitteldeutschen Universität. Er erhielt hier nach und nach die mehreren Weihen des Priesters. Er war ein Jahr Kaplan zu Kocher am Fall; dann seit einiger Zeit Pfarrer zu St.-Wolfgang, Nachfolger eines wenig rühmenswerthen Priesters, Cajetan Rother. Bonaventura fühlte und füllte die Lücken seines Wissens. Die Ausdehnung auf dem Gebiet aller je gehegten Meinungen und Irrthümer über jenseitige Dinge ist so groß, die Zahl der Schriften, die gelesen zu haben zur Beruhigung, wenn nicht des Herzens, doch der Bildung gehört, mehrte sich ihm von Tage zu Tage, wie sie sich dem größten Gelehrten mehrt, je länger er forscht. Da hatte er denn daheim selbst in dem Oertchen St.-Wolfgang so viel Angefangenes, so viel zog ihn in seine kleine Bibliothek und an seinen Studirtisch zurück, daß er nicht sofort zum Aufbruch kam, als er jetzt in die große Stadt hinunterkommen sollte – hin zu jenem Kirchenfürsten, mit dem er schon einmal in seinem Leben unter schmerzlichen Umständen zusammengetroffen war.

Immer hatte diese Residenz des Kirchenfürsten für Bonaventura etwas Beklemmendes gehabt, theils weil sie unschön, wirr und wild in der Anlage, hier und da sogar wüst im Zurückgebliebensein gegen frühere Macht und Bildung war, theils weil sie neugeboren werden sollte aus einem für ihn nicht sympathischen Geist, dem protestantischen; aber am unheimlichsten erschien sie Bonaventura durch die Erinnerung an eine Abschiedsscene, die 85 er vor sieben Jahren hier erlebt, eben durch die Trennung von seiner Mutter.

Schon seit seinem zwölften Jahre lebte er von seiner Mutter entfernt, theils in Kocher, theils auf der lateinischen Schule der Universität. Er hatte von ihr stets nur die Erinnerung einer Frau gehabt, die er wol mit dem Vater in ruhiger Einigkeit gesehen, die ihm aber nie ganz mit demselben und in ihm aufgegangen erschien. Es war eine große Regierungsstadt mehr nach dem Westen zu, wo Vater und Mutter gelebt hatten. Der Vater hatte einen Freund, der erst der Assessor, dann der Rath von Wittekind-Neuhof hieß; jetzt war er schon seit lange Präsident. Der älteste Sohn des Kronsyndikus war der unzertrennliche Gefährte aller Erinnerungen, die ihm aus seiner ersten Knabenzeit geblieben, ein lebhafter, feuriger Weltmann. beweglich, anschlägig, geistvoll, selbst noch vor dem Tode seines Bruders Jérôme ein künftiger Erbe großer Güter, die Seele der Gesellschaft und, sonderbar genug, auch der Freund seines Vaters. Bonaventura kannte das Leben jetzt genug, um sich zu erklären, wie drei Menschen, von denen einer, sein Vater, ein edler, jedoch unpraktischer und in seiner bürgerlichen Existenz wenig geordneter Charakter war, der Freund dagegen ein an allen Gütern gesegneter Weltmann, und zwischen beiden ein junges Weib, seine Mutter, in Conflicte gerathen konnten, unter denen alle drei litten und alle drei scheitern mußten. Im Geiste sah er seinen Vater immer nur langsam dahinschreiten, das Haupt nachdenklich gesenkt – er erinnerte sich der abgeschlossenen Thüren – der verweinten Augen – vieles Murmelns und Flüsterns – später der väterlichen Todesnachricht – mit ihren seltsam besprochenen Folgerungen – damals lebte er nicht mehr im Hause – zu seinem Bruder, dem Dechanten, hatte ihn lange schon vorher der Vater entfernt, als sollte er nicht Zeuge der Vorgänge des 86 älterlichen Hauses sein – nicht einmal von ihm Abschied hatte er genommen, als er nach der Schweiz reiste – alles traf ihn wie aus wolkenloser Höhe. Die Bewilligung zur neuen Heirath der Mutter hing von dem damaligen Generalvicar, dem jetzigen Kirchenfürsten, ab. Ein Zusammentreffen wurde veranstaltet in dieser Stadt. Sein Stiefvater war zugegen. Die Freundlichkeit desselben wirkte noch jetzt in der Erinnerung für Bonaventura beängstigend. Die Mutter und der Präsident kamen erhitzt und erregt vom Generalvicar. Man hatte lange Anstand genommen, eine Ehe zu gestatten, die zwar gleiche Religionsverwandte schlossen – wer aber durfte die Todesnachrichten über den Regierungsrath Friedrich von Asselyn für völlig verbürgt halten? Wer mußte nicht von der Schweiz und vom St.-Bernhard aus erst die gründlichsten Ausweise der Register und der Erkennungsprotokolle verlangen? Auch das erfuhr Bonaventura später, daß Graf Truchseß seinen neuen Vater nicht mochte, ihn haßte als einen in das jenseitige Lager Uebergegangenen, als eine »Bureaukratenseele«, einen Abtrünnigen vom alten Adel des Landes und dazu aus einem Geschlechte, aus dessen Vorfahren mancher schon die höchsten geistlichen Würden bekleidet hatte. Der Kronsyndikus hatte seinen Sohn ja schon Lucinden einen »neuen Segestes« genannt. Damals, wiederkehrend aus dem Domcapitel, warf sich die Mutter dem Sohn an die Brust und schilderte ihm den Charakter seines neuen Vaters als eines der edelsten und besten Menschen, eines Mannes, der dem Sohn schon um deswillen lieb und werth sein müsse, weil er der innigste, wärmste und wahrste Freund seines Vaters gewesen. Die Thränen einer Mutter hätten vielleicht jeden in dieser Lage gerührt; Bonaventura's Augen feuchteten sich nicht. Das Wort des Erlösers, das schroffe, unenträthselte Wort: »Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen?« kam ihm wie mit einem plötzlichen Begreifen zu Gemüthe. Hatte 87 er je eine weltstürmende Regung in seinem Innern empfunden, es war in diesem Augenblicke. Eine prophetische, apostolische Glut durchloderte ihn. Die Mutter hätte er von sich drängen mögen, sprechend: »Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen?« Dabei gedachte er in der That des Sündenfalls, gedachte Eva's, der Schlange, des Apfels, der geistigen Wiedergeburt, der Erlösung, der Erlösung aus den Banden des Natürlichen, Sinnlichen, Angebornen, wenn auch noch so Theuren. Erstarken fühlte er sich zum Helden. Als ihm keine Thräne über diese weinende Mutter kam, fühlte er sich zum ersten mal – als Priester.

Er zitterte wohl, als er die Hand der Mutter in der seinen hielt, aber nur aus Mitleid. Die Mutter hatte noch eine Confrontation mit dem Sohne vor dem Generalvicar gehabt, zugleich mit dem künftigen Stiefvater; es handelte sich schon um dessen Zustimmung zu dem Entschlusse Bonaventura's, in den geistlichen Stand zu treten, die natürlich sofort von Friedrich von Wittekind ertheilt wurde. Das Nichtaussterben des Namens Asselyn war durch die Adoption Benno's verbürgt. Nun stand die Mutter wie eine Schuldige vor dem künftigen Geistlichen. Sie bat ihn, ihrer oft im künftigen Altargebet zu gedenken; sie bat ihn, auch dem neuen Vater Heil zu erflehen. Sie konnte versichern, daß auch den neuen Gatten genugsam geheimer Kummer drückte – obgleich die Zeit, wo sein Vater für den Mörder des Deichgrafen gelten durfte, noch nicht da war und nur die ältere, nicht minder trübe Vergangenheit des Kronsyndikus schwer auf den Lebensbeziehungen des Sohnes lag. Dennoch ließ damals Herr von Wittekind, nach den Thränen der Mutter, im Hôtel beim Diner Champagner bringen, fuhr in bequemer Equipage in scheinbar heiterstem Gespräche mit ihnen beiden spazieren, worauf sie, nach dem Hôtel zurückgekehrt, eine Botschaft von Schloß Neuhof empfingen, der Bruder des Herrn von Wittekind würde demnächst 88 zu einer Heirath schreiten mit einem Fräulein Portiuncula von Tüngel-Appelhülsen. Sofort reisten die nun unzertrennlich Verbundenen ab und seither lebten jene in ihren, durch den dann folgenden Tod des Deichgrafen, Jérôme's und die über den Kronsyndikus ausgesprochene Curatel sich immer mehr verwirrenden, Verhältnissen, Bonaventura in den seinigen. Oft schon hatte er sich bei spätern Kunden über die nur äußerlich glänzenden Lebensverhältnisse seiner Mutter Vorwürfe gemacht, daß sein Herz damals so lieblos gewesen. Dann aber auch durfte er sich sagen: Ist nicht dein ganzes Leben ein Kampf gegen die Regungen deines Herzens? Die Kirche ist deine Mutter, der Glaube deine Liebe – »Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen!«

Von St.-Wolfgang nahm Bonaventura endlich in einer Morgenfrühe Abschied. Er ging über die Maximinuskapelle auf eines der vielen vorüberrauschenden Dampfboote. Im Weißen Roß besuchte er den Wirth, der mit Bedauern sich selbst und »eine durchreisende Fremde« als Ursache des an dem Kirchhof zu St.-Wolfgang begangenen Frevels angab, indem er von der Vermuthung jener Dame seinem Knechte gesprochen, einem ihm als pferdekundig gut Empfohlenen, von dem er keine Ahnung gehabt, daß er ein schon bestrafter Verbrecher und Angehöriger der noch immer nicht ganz ausgerotteten hierländischen alten Gaunerfamilien der Picard, der Bosbeck, der Schinderhannes wäre. Noch war der Flüchtling, der sich statt Picard Bickert genannt und mit falschen Zeugnissen versehen war, nirgends wieder aufgefunden. Bonaventura's erste Regung war, sich zu sagen: Also alles Unheil wieder von Lucinden! Er veränderte mit der Zeit diese Vorstellung dahin, ob nicht hier das erste Unheil in seinem Schoose eine Reihe guter Folgen tragen könnte?

Auf dem Dampfboot erfreute ihn dann nichts Besonderes mehr, selbst nicht Lindenwerth, wo die »so katholisch fühlende« 89 Armgart wohnte. Er hielt nur die Vorstellung fest: Wie wirst du dem Kirchenfürsten begegnen? Wie jetzt, nach der Warnung des Oheims? Jetzt, wo in der That das Vorschreiten des vielleicht bald mit dem Purpur eines Cardinals bekleideten Priesters das ganze deutsche Vaterland in Erregung gebracht hatte?

Sind die katholischen Priester entweder Söhne von Landleuten oder Söhne von Adeligen, so vertrat Graf Truchseß von Gallenberg gleichsam beide Ursprünge zu gleicher Zeit. Die Tage der großen geistlichen Pfründen sind in den Staaten, über welche die eiserne Pflugschar der großen Revolutionskriege ging, vorüber; nur wenige solcher Stellen mag es auf diesem Boden noch geben, in denen man sich, wie zu St.-Zeno in Kocher am Fall, die »feisten« Aebte und »Pfaffen« alter Zeit auch auf unsere Tage überkommen denken darf; die Mittel sind geringer, die Verpflichtungen größer geworden. Graf Truchseß war ein Angehöriger jenes Adels auf dem jenseitigen Ufer, den man einen Bauernadel nennen möchte. Wenn er sich nicht in pontificalibus zeigte, trug er grobe Stiefel mit starken Absätzen, waschlederne Handschuhe, die ein halbes Jahr lang vorhalten mußten, eine hoch hinaufgehende grobe Tuchweste mit großen Knöpfen, einen Hut, der nur deshalb nicht zu sehr abgegriffen war, weil er mit ihm beim Spazierengehen um die Alleen der Stadt und am Ufer des Stromes niemanden grüßte, sondern nur kurzweg nickte. Seine Wäsche war von Hausleinen und nicht besonders reinlich; er rauchte und schnupfte. Er schnupfte nicht etwa wie ein Abbé mit zierlicher Fingerhaltung; er schnupfte wie ein ungeduldiger Advocat, der seinen Eifer, zu Worte zu kommen, durch ein häufiges Handhaben seiner goldenen Dose unterdrücken muß. Der Graf freilich führte eine gewöhnliche Holzdose, ganz wie ein alter Waldhüter, der sich aus herbstlichen, duftenden Buchenblättern seinen eigenen Lotzbeck schrotet. Des Grafen Mittagsmahl bestand aus Linsen, 90 Bohnen, Erbsen, gelben Rüben; seine Erholung war das Billardspiel. Denke man sich dazu seine starkknochigen Züge, diese hellblauen, tiefliegenden Augen, dies jetzt noch gelblich rothe, bei vierundsechzig Jahren nirgends gebleichte Haar, diese markigen Schultern auf einer ebenso langen hagern, wie doch wieder stämmigen Gestalt, dieses wuchtige Auftreten, diese kurze, befehlende Sprechweise aus einem an sich wohlgeformten Munde, dessen Lippen jedoch nie in unbedachter Ruhe, sondern immer wie ein Geheimniß bewahrend fest zusammengepreßt lagen, und man wird in ihm eine bedeutende Erscheinung erkannt haben. Die Farbe des Antlitzes war beinahe nur grau, sie konnte sich aber bei geringster Erregung röthen bis in die Zipfel des Ohrs. Das Geistliche am Grafen lag nur in dem schwarzen langen Oberrock, in der von einem Sammetkäppchen bedeckten Tonsur und in einem gewissen Etwas von Unstetigkeit und allzu sichtlich beherrschter Reserve, diesem allgemeinen katholischen Priestertypus mangelnder Ruhe und Harmlosigkeit, einem Typus, den auch Graf Truchseß, ein so fester Charakter er sonst war, nie ganz hatte überwinden können.

Schon dämmerte der Abend, als das Dampfschiff landete. Bonaventura fuhr mit seinem Koffer bei Herrn Maria vor und trat in den Laden desselben ganz unter den von Gebhard Schmitz geschilderten Umständen, nur daß er von Moritz Fuld weder eine Visitenkarte noch eine Einladung nach Drusenheim erhalten hatte. Eva Schnuphase zeigte ihm das schon vorgerichtete Zimmer und entschuldigte den Vater, der in Geschäften schon wieder auf dem Lande reiste.

Sofort begab sich Bonaventura in das Palais des Kirchenfürsten und meldete seine Ankunft. Er erfuhr, daß Se. Eminenz unpäßlich wären und ihn auf morgen bescheiden ließen. Auch sein Secretär war im Augenblick nicht anwesend. Nun suchte 91 Bonaventura Benno auf und fand den Freund hinterm Schreibtisch. Er hatte Rückstände aufzuarbeiten, die durch die Militärübungen entstanden waren.

Bonaventura's Herbescheidung hatte er schon in der Dechanei erfahren. Der Kirchenfürst unpäßlich? sagte Benno. Ein seltener Fall, daß dieser Hünennatur einmal etwas vom allgemeinen Menschenloose beikommen kann!

Die Spannung, welche Veranlassung es sein konnte, die Bonaventura von einer Landpfarre unmittelbar und persönlich zum Kirchenfürsten beschied, war bei Benno nicht minder groß als bei Bonaventura. Ohnehin konnte Benno von der gegenwärtigen Lage des Kirchenfürsten die lebhafteste Schilderung geben, von seinem Kampf gegen die gemischten Ehen, von seinem Kampf gegen eine auf der benachbarten Universität gelehrte Philosophie, gegen innere Einrichtungen der Priesterseminare. Er versicherte, alles das müsse zu einem gewaltigen Conflicte führen, weil sich bei seiner Inthronisation auf dem hohen Erzstuhle der Kirchenfürst gegen die Regierung sollte verpflichtet haben, keinen Erlaß von Rom unmittelbar entgegenzunehmen, sondern in so hochwichtigen, mit den Einrichtungen des Staates, mit den Lebensformen der Gesellschaft, mit den Bedingungen der Zeit und der Sitte in Berührung kommenden Verhältnissen erst das »Placet« oder »Transeat« der landesherrlichen Genehmigung abzuwarten. Aber die Mahnung, daß man »Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen«, wäre dem Kirchenfürsten mit einer so flammenden Ueberredung – ob nun von außen oder von innen, ließ Benno unentschieden – gekommen, daß, wenn nicht ein offener Bruch seiner Versprechungen, doch eine gefährliche Deutung derselben seinerseits zu erwarten stand und man zunächst nur hoffen mußte, daß der in Aussicht gestellte Vermittler dieser Streitigkeiten, der in außerordentlicher Sendung angekündigte Regierungspräsident 92 von Wittekind-Neuhof durch seine Gewandtheit und seinen Takt den Frieden wiederherstellte.

Mein – Vater –? rief Bonaventura heftig erschreckend.

Benno bestätigte, davon gehört zu haben. Ja, er vermuthete sogar, daß Bonaventura's Berufung mit dem Wunsche des Kirchenfürsten zusammenhängen konnte, in seiner schwierigen Lage einen zur jenseitigen Partei in näherer Beziehung stehenden Beistand zu haben.

Das wäre ein bitterer Kelch! sagte Bonaventura und bezweifelte diese Deutung. Der Kirchenfürst wird handeln, wie sein Gewissen ihm räth! sagte er.

In den streitigen Punkten des Tages empfanden beide Freunde ziemlich gleich, nur daß Benno mehr die politischen Gesichtspunkte seines Principals, des Procurators Nück, theilte, ohne diesem in der Anhänglichkeit an das alte Napoleonische Regiment zu folgen. Benno haßte das herrschende Regierungssystem, das sich damals dem Geiste der Zeit durchaus abgewandt und feindlich zeigte. Vernunft und Aufklärung wollte man vertreten, aber in Formen, die schon selbst wieder etwas Verbindliches hatten. Ein großer, den besten Kern des deutschen Volkes einschließender Staat mußte unter dem Aushängeschilde patriarchalischer Beglückung, die alle befriedige, die Erfüllung der Verheißungen entbehren, die erst mit dem Jahre 1840 in langsamem Fortschritt und wie versuchsweise gewährt wurden. Unter solchen Umständen erlebte man die für alle Zeiten lehrreiche und immer wiederkehrende Erfahrung, daß man dem Besten mistraut, wenn es nicht in dem Geist gegeben wird, der unser ganzes Vertrauen für sich hat. Friedrich's II. Aufklärung, die anzunehmen möglichenfalls von Stockschlägen geboten wurde, Kaiser Joseph's Reformen, die aus dem Hörsaal der Theorieen kamen und wie die blanke Pflugschar so scharf in ein Erdreich schnitten, wo eine schonende 93 Hand das Unkraut der Vorurtheile zuvor nicht ausgejätet hatte, die Schulverbesserungen späterer Regierungen. die Unionsversuche auf kirchlichem Gebiete, ja die geordnetste Verwaltung. die musterhafteste Gerechtigkeitspflege. nichts, nichts entschädigt für die Misachtung persönlicher Freiheit, für die Unterdrückung des unerschrockenen Wortes, für die Ablehnung derjenigen Institutionen, die jeder Individualität Gelegenheit geben, mit ihrer Meinung, wäre es auch die verkehrteste, mit ihren Interessen, wären es auch die einseitigsten, mit ihren Ansprüchen auf Kraft und thatsächliche Bewährung, auch den haltlosesten, sich in dieser uns nun einmal zur Freiheit des Denkens und Handelns geschenkten Gotteswelt gesund und mannhaft auszuleben.

Der schöne gestrige Abend hatte beide Freunde noch zu einem Spaziergange verlockt. Sie gingen in den Hafen, wo jetzt Dampfschiff auf Dampfschiff vor Anker legte, auch das, auf welchem Thiebold de Jonge angekommen. Sie beide zog es in eine stillere Gegend. Seit dem Morgen auf dem Friedhof von St.-Wolfgang hatten sie sich nicht ausgesprochen. Bonaventura erzählte Benno, was zwischen ihm und dem Onkel besprochen worden über die im Sarge vorgefundenen Reliquien. Benno benutzte die ihm von seinem Freunde gegebene volle Erlaubniß der freien Meinungsäußerung, wenn er sagte: Sicher lebt noch dein Vater! Die Recognition des Onkels in dem Leichenhause des St.-Bernhard genügte mir niemals. Bei des Onkels Weichlichkeit kam ihm schon beim Betreten der grauenhaften Schwelle ein Schrecken; er sah sofort seinen Bruder in einer fremden Leiche und untersuchte nichts mehr! Mevissen war mit deinem Vater im Einverständniß. Dein Vater wollte annehmen lassen, daß er in den Alpen umgekommen wäre. Einen zerschmetterten Leichnam, den man mit seinen Kleidern und Habseligkeiten behängen konnte, die sich später im Leichenhause fanden, erwarb 94 man sich durch Zufall oder durch Bestechung. Das, was allenfalls noch nicht geborgen war, bewahrte Mevissen und nahm's mit sich ins Grab. Daß er es nicht zerstörte, ist allerdings überraschend. Vielleicht, daß dein Vater es so wollte und dabei an dich dachte. Er verließ dich ohne Abschied – er hoffte vielleicht auf eine Zeit, wo deine Mutter nicht mehr lebte und er sich dir vielleicht noch einmal entdecken konnte – wer weiß, ob nicht in dem Sarg mehr gelegen, als du gefunden –!

Diese Gedanken unterwühlen die Ruhe meines Lebens! sagte Bonaventura auf diese aufrichtige Deutung und blickte in den Strom, an dessen Ufer sie hingingen.

Benno's Empfindungen waren die nämlichen. Auch ihm floß ja das Leben hin wie die Welle, von fernher kommend, in die Ferne gehend, einmal gesehen, verschwunden dann für immer, räthselhaft und wie ein Traum.

Bonaventura verstand diese Stimmung und fragte nach des Freundes jetzigem Leben, seiner Thätigkeit, seinen Hoffnungen für die Zukunft.

Ich bin, erwiderte Benno, in Verhältnissen, die mir wie der sausende Webstuhl der Zeit erscheinen! Ich höre täglich in zehn Zimmern dreißig Federn kritzeln! Allen dictirt Dominicus Nück seine Finten, seine Quarten, seine Terzen! Das ist bei St.-Peter und Paul wirklich ein ganzer Kerl! Wenn man ihn sieht, im schlechten grauen Ueberrock, schmuzig, falls nicht einmal seine Gattin Generalrevision mit ihm gehalten hat, oder wenn er in der Beichte sich schämt, zu viel Schnupftaback auf dem Vorhemd liegen zu haben und das Beichttuch des Priesters zu verunreinigen – wer möchte dann glauben, daß diesseit und jenseit dieses Wassers alle Ritterbürtigen mit ihm verkehren, alle Domstifte, alle Ordensgesellschaften und Gotteskastenpfleger! Er hat gelobt, nicht früher wieder einen schwarzen Frack anzuziehen, bis er 95 den Orden vom goldenen Sporn, den er vor Jahren aus Rom erhielt, wirklich im Knopfloch befestigen kann! Sie haben's ihm abgeschlagen, ihn tragen zu dürfen! Nun liegt ein ganz neuer schwarzer Frack, im Knopfloch ein rothes Band mit einem goldenen, weiß emaillirten Malteserkreuz, an dessen beiden Spitzen des untern Flügels ein goldener Sporn hängt, immer an seinem Pult auf der Sophalehne neben ihm ausgebreitet, sodaß jeder Graf, jeder Bischof, jeder Regierungspräsident, mit dem er Conferenz hält, die Geschichte zu hören bekommt und Entschuldigung gewähren muß, wenn Se. Excellenz oder Se. Erlaucht nicht anständiger von ihm empfangen würden – er hätte zwar einen neuen schönen Frack, da läge er; aber da er ihn so, wie er ihm und dem Stellvertreter Christi gefalle, nicht tragen dürfe. so müsse man schon hier mit ihm in diesem grauen Alltagskittel vorlieb nehmen. Und diese Komödie spielt er mit einer Gewandtheit, die Ludwig Devrient nicht besser getroffen haben könnte! Nück ist ein seltener Mensch, dem man nur leider nicht so nahe kommen kann, wie man möchte, um von ihm alles zu lernen. Nicht nur, daß er sich mit einem eigenen, fast mystischen Dunkel umgibt, sich öfters einschließt und auf seine nächsten Vertrauten beschränkt – auch wir alle, die wir mit ihm arbeiten, bekommen nur immer einen kleinen Theil des großen Ganzen zu sehen, in dem er die belebende Seele ist. Es scheint, mir schenkt er Vertrauen. Beinahe hätte er mich schon bei meinem ersten Eintritt in seine Praxis beauftragt, im Camphausen'schen Verlassenschaftsproceß zu arbeiten und nach Schloß Westerhof zu reisen –

Zu Paula! sprach es still im Herzen des Priesters und Benno fühlte dies Wort nach und hielt die Neigung zurück, etwa von Lucinden zu beginnen, von ihrem Eindruck an jenem Abend im Pfarrhause, von dem völlig andern und günstigern auf der Reise nach Kocher und von ihrer jetzigen Nähe in dieser Stadt, wo 96 Benno schon seit einigen Tagen wünschte ihr irgendwie und irgendwo zu begegnen. Denn sie aufzusuchen hielt ihn die Rücksicht auf die Dechanei und sein stiller Cultus für Armgart zurück.

Bonaventura erkundigte sich nach der Lage der immer mehr sich verwickelnden Erbschaftsangelegenheiten der Dorstes.

Das gibt einen neuen spanischen Erbfolgekrieg! sagte Benno. Zwei Grafen von Camphausen sind im sechzehnten Jahrhundert, wie damals so viele andere Städte und Herren um Münster und Osnabrück herum, lutherisch geworden; ja als die Greuel der Wiedertäufer mit gleichen Greueln ausgerottet, bestraft und die Bedingungen des dortigen Lebens wieder katholische wurden, blieben einige ihrer neuen Ueberzeugung treu und die Bischöfe sogar, welche die Wiedertäufer bändigten, waren theilweise halb und halb bereits Lutheraner und blieben es auch. Der jüngere der beiden Brüder Camphausen, vom ältern, der schon damals ein großes Besitzthum verwaltete, nicht rechtlich abgefunden, sondern nach gerade vorhandenen Mitteln unterstützt, zog abenteuerlustig, wie damals die ganze Welt, gen Oesterreich, um, wie gleichfalls damals so viele jener Geschlechter gethan, in dem an der Donau, in Italien und Ungarn nicht ruhenden Waffentanz dem fehdelustigen Sinne aufspielen zu lassen und vielleicht sogar gleich manchen in der Hoffnung, Maximilian II. würde Oesterreich vom Papste trennen. Viele der ersten Geschlechter der österreichischen Monarchie entstammen diesen Einwanderungen von einfachen Reitern an, wie Martin Spork, bis zu Grafen und Fürstensöhnen. Die meisten wurden indessen mit der Zeit wieder katholisch, entweder aus Ueberzeugung oder Zwang. Aber Martin Graf Camphausen blieb bei seinem Patron Martin Luther und erwarb außer ungarischen Besitzungen das Schloß Salem bei Wien. Seine Nachkommen bewährten die Tapferkeit ihres Ahnen und zu glänzend waren 97 die Verdienste der Camphausen im Türkenkrieg und auf dem italienischen Boden, ihr Glaube stand ihrem Glück nicht hindernd im Wege. Die ältere Linie aber, die des Grafen Philipp, wurde allerdings mit der Zeit ihrem Patron Philipp Melanchthon untreu. In jenen Zeiten, wo bis in das Herz Sachsens hinein sich wieder katholische Neigung geregt hatte und kein Fürst Italien bereisen konnte, ohne in seine Lande zurückzukehren mit dem Verdacht, seine Confession geändert zu haben, war auch die Linie der Dorste-Camphausen – die Dorstes fügten dem Reichthum Philipp Camphausen's mannichfach neuen Besitz durch Verheirathung hinzu – in den Schoos der katholischen Kirche zurückgekehrt. Aber ein Statut, das einst Philipp und Martin dahin lautend geschlossen hatten, daß nach Aussterben des Mannsstamms einer Linie die andere in die Besitzthümer derselben eintreten sollte, vorausgesetzt, daß die Erben von gleicher Religion mit der der Stifter des Fideicommisses wären – bestand schon seit langen Jahren; eine etwa vorhandene weibliche Nachfolge sollte entweder nur durch Verheirathung mit der andern Linie im Besitz bleiben oder standesmäßig abgefunden werden. Nach fast drei Jahrhunderten tritt nun dieser vorausgesehene Fall ein und unter Umständen, welche die Ausführung des Statuts zum Gegenstande eines Streites machen. Paula's Vater kanntest du?

Bonaventura verneinte es.

Ich entsinne mich nur dunkel des vornehmen Herrn, sagte Benno, von seiner vierspännigen Kutsche bei feierlichen Gelegenheiten her. Dieser Graf Joseph, der letzte des ältern Stammes, war schon früh Witwer geworden. Da derselbe von einer Wittekind, der Tante deines Stiefvaters, einer Schwester des Kronsyndikus von Wittekind auf Neuhof, nur eine Tochter besaß, so bestürmte ihn das ganze Land, wieder zu heirathen. So fromm sein Sinn, so gern er die Gefahr, fünfzehn Quadratmeilen Landes mit 60000 98 katholischen Seelen künftighin lutherischen Gebietern übergeben zu sollen, abgewandt hätte, so konnte er sich doch nicht entschließen, seine Erinnerung an eine Frau zu trüben, die unter der Herrschaft ihres Bruders, des Kronsyndikus, qualvoll gelitten haben soll, ja von diesem eigentlich so zu sagen ums Leben gebracht wurde.

Bonaventura kannte den schauerlichen Ruf des Kronsyndikus. Er kannte auch Paula's Geburtsstunde. Dieser schrieb man die Folgen ihres gestörten Nervenlebens zu. Jakobe von Wittekind wurde von ihrem leidenschaftlichen ältern Bruder bis zum zwanzigsten Jahre erzogen. Als sie dann den Grafen Joseph heirathete, zerfiel dieser mit dem Bruder, was jedoch letztern nicht hinderte, dann und wann, begleitet von seinen gewaltigen Jagdhunden, in hohen Stiefeln und Sporen, die Reitpeitsche in der Hand, auf Schloß Westerhof zu erscheinen und in irgendeinem Anlaß, wie er auch dort sagte, »Ordnung zu stiften« oder »den Nagel auf den Kopf zu treffen«. An den Folgen einer der dann entstandenen Scenen erkrankte die hochschwangere Frau, kam zu früh nieder und starb. Oft schon hatte Bonaventura erklärt, daß auf dem Hause der Wittekinds der Geist des Unsegens ruhe.

Nun aber eure wunderliche Heimat! fuhr Benno, die trüben Gedanken vermeidend, fort und zeigte über den breiten Strom hinüber in die jetzt dunkelnde Ferne. Liegt es nicht fast wie ein Geheimniß über allem, was die Sitte und der Sinn der Menschen dort hervorbringt? Nicht fester sitzt das Horn an der Stirn des Pflugstiers, als ein Vorurtheil oder eine Uebereinkunft in diesen Köpfen! Graf Joseph heirathete nicht, sah nicht mehr den Kronsyndikus, seinen Schwager; seine Güter verwaltete Onkel Levinus, des Obersten von Hülleshoven Bruder, die Wirthschaft die Tante Benigna, des Obersten Schwägerin, die Schwester Monika's von Ubbelohde, der Mutter Armgart's in Lindenwerth 99 dort oben; aber daß der Kronsyndikus als Oheim Paula's gewisse Rechte auf sie behielt, daß er nach des Grafen Joseph Tode ihr rechtmäßiger Vormund werden mußte, daran änderten die Jagdhunde, die Sporen und die Reitpeitsche des gewaltthätigen Mannes nichts. Ebenso wenig, wie die Frömmigkeit des Grafen Joseph diesen hinderte, das Familienstatut zu Gunsten der österreichischen Lutheraner in Ehren zu halten.

Nun? erwiderte Bonaventura und lenkte durch seine Entgegnung auf manchen Streit zwischen den Freunden hinüber. Ist es denn nicht schön, wenn sich die Zeiten so einander Wort halten? Ist es nicht erhebend, wenn so sich die Hände durch die Jahrhunderte hindurch ergreifen, festhalten und in allem, was welken und vergehen muß, ein ewig Bleibendes stiften und wär es nur das Gemeingefühl wenigstens eines Stammes, wenigstens einer Familie und besäße sie kein andres Wappen und keinen andern Stammbaum, als nur ein altes Gebetbuch, das vom Großvater auf den Enkel erbt und die Geburten der Söhne und Enkel, die Pathen und die Priester verzeichnet, die sie einst tauften? – – Bonaventura sprach diese Worte in seiner Begeisterung und überlegte erst, als sie gesprochen und Benno schwieg, daß gerade sie an dasjenige streiften, was Benno tief unmuthig an seinem dunkeln Dasein sein Zigeunerthum nannte.

Beide Freunde schwiegen. An einer einsamen Stelle, schon ziemlich entlegen von den Thoren der Stadt, auf einer Bank am Ufer des Stromes hatten sie sich niedergelassen. Ein stilles nächtliches Landschaftsbild lag vor ihnen. Ueber jener fernen Bergkette, an deren Fuß Lindenwerth wie in den Wellen schwamm, stand der Mond. Die mächtigen Holzflöße, die wie kleine Niederlassungen so wohnlich angethan sind, wenn sie hinuntergleiten zu den Niederlanden, lagen jetzt still am Ufer – im blauen, wie 100 Phosphor um die alten Eichenstämme leuchtenden Mondlicht glühte das Feuer einer Küche; rings saßen im Kreise die Passagiere, Handwerksbursche, Auswanderer, ihr Nachtmahl haltend, ehe sie sich, den Ranzen als Kopfkissen benutzend, unterm freien Himmel zur Ruhe streckten; ein Hund bellte auf dem Floß, wie nur daheim ein Nachbarhund in St.-Wolfgang bellen mochte, wo eben jetzt Frau Renate schon zur Ruhe ging. Es war ein Stillleben von den Sternen an bis zu den im Grase auffliegenden Insekten, vom fernen Brausen einer sich zur Ruhe begebenden Dampfesse bis zu den Knaben, die hochaufgeschürzt am Ufer noch im Schilfe schlichen und mit der Angelruthe den Fischen im Abenddunkel sicherer beizukommen hofften als am Tage. Einer Welle gleich, die gerade der Mond in seinen ganzen Goldglanz taucht, blitzte ein gefangener weißleuchtender Fisch auf, den die Knaben vom Hamen lösten und in ihren Sack warfen, sich umschauend, ob dem verbotenen Fange noch ein anderer lauschte, als da oben unter der einsamen Pappel am Muttergottesbild ein junger Priester und sein plaudernder Freund. Nun huschte mit schaukelndem, schnellem Fluge auch eine Fledermaus dem Licht eines nahegelegenen einsamen Häuschens zu. In der leichten, weichen Luft war alles wie verklärt und jeder Schatten barg Ahnungsvolleres, als vielleicht die Wirklichkeit wahr gemacht hätte –

Wie so ruhig die Wellen dahinziehen! hatte Benno gesagt. Möchte man nicht glauben, eine solche Abendstille spottete aller menschlichen Entwürfe, aller Anstrengungen, alles ohnmächtigen Verstandes!

Bonaventura erwiderte lächelnd: Denkst du an die Weisheit deines Sporenritters in partibus? Welches sind denn nun die Anschläge, um 60000 Seelen unserm Glauben zu erhalten?

Paula, sagte Benno, steht wie Helena da, ein Preis, um den die Parteien sich bekämpfen! Und es sind ihrer mehr, als nur die der 101 Trojaner und Griechen. Der Kronsyndikus sammelte seit Jahren Kämpfer um die Parole: Zwischen beiden Linien eine Heirath! Onkel Levinus und Tante Benigna, die Paula regieren, wie sie Armgart regierten, wollen Paula's Freiheit, die standesmäßige Abfindung, stören aber sonst den Antritt der Erbschaft nicht – das alte Fiat justitia der rothen Erde! Eine dritte Partei ist die Regierung. Sie ließe am liebsten den fremden, wenn auch protestantischen Grafen in dessen ferner Heimat, kaufte ihm vielleicht die Verlassenschaft ab und zerschlüge sie, wie sie schon oft gethan, in einzelne Theile an diejenigen Adeligen, die der Centralisation geneigt sind. Die vierte Partei ist die der Landschaft. Sie bestreitet die Gültigkeit des Familienstatuts und will Gräfin Paula die volle Freiheit erhalten, ihre Hand zu vergeben, wem sie wolle, und ihm außerdem auch noch die guten 60000 Seelen ganz so zuzubringen, wie diese in Abraham's Schoose zu sitzen hoffen. Denn – nun kommen die Spitzfindigkeiten unsers Sporenritters – die in dem Familienstatut vorgesehene Bedingung erfülle sich nicht; die ältere Linie hätte, als sie katholisch wurde, die Bedingung dahin abgeändert, daß die verlangte Religion auch der andern Linie die katholische sein müßte. Obgleich nun erstens der Beweis für diese Aenderung schwer zu führen ist, im Gegentheil von der jüngern Linie nur ein den Verhältnissen sich fügendes stilles Geschehenlassen und Dulden des Religionswechsels, d. h. Zurückkehrens zur katholischen Kirche behauptet wird, zweitens der Staat Religionsbedingungen überhaupt bei Testamentsvollstreckungen für unzulässig erklärt, so will die fünfte Partei, die der Geistlichkeit, noch weiter gehen. Sie will nicht nur jene 60000 Seelen, sondern auch noch Paula dazu gewinnen. Sie hofft, Paula würde den Schleier nehmen, vielleicht ein Kloster stiften und den Rest ihrer Güter der Kirche vermachen.

102 Das wollte die Geistlichkeit? Wie kommt man zu dieser Voraussetzung? loderte Bonaventura unwillig auf.

Benno, ohne auf die Parteinahme des Priesters für seine fälschlich angeschuldigten Mitleviten zu hören, fuhr fort. Ja, auch der Kirchenfürst ist betheiligt! Die Erzdiöcese hat in ihrer geistlichen Obhut hier und da versprengte Stifte; zu ihnen gehört in jener Gegend das Stift Heiligenkreuz, ursprünglich eine Jesuitenbesitzung. Als die Jesuiten aufgehoben wurden, verblieb Heiligenkreuz dem Staat zu provinziellen Zwecken. Man begründete ein adeliges Fräuleinstift, das dem Lande sehr willkommen wäre, wenn nur die Verleihung der Stellen in den Händen des Adels geblieben wäre. Es ist nicht so gekommen. Sogar die Confessionen werden nicht mehr berücksichtigt. Die Schwester eines Erzbischofs kann dort ruhig neben der Tochter eines lutherischen Pfarrers sitzen, wenn dieser, wie jetzt schon drüben in den Fabrikgegenden vorkommt, zufällig von Adel ist. Rings um Heiligenkreuz ist Feld und Wald camphausisch. Um diese Einfriedigung von Heiligenkreuz wird der Kampf entbrennen und wer weiß, ob ich nicht nächstens dort auf dem Schauplatz mit Nück'schen Vollmachten erscheinen muß! Um sein Recht zu zeigen, hat der in Wien lebende Graf Hugo von Salem-Camphausen vorläufig schon den Verkauf der Güter um Heiligenkreuz angeordnet; der Kronsyndikus und dessen Sohn, dein Stiefvater, haben die Berechtigung dazu ebenso wenig beanstandet wie die Regierung, die selbst darauf bietet zum Wiederverkauf an ihre Angehörigen oder zu Staatszwecken. Adel und Geistlichkeit sind außer sich. Graf Hugo hat aus Wien einen gewissen Wenzel von Terschka angekündigt, seinen Chargé d'affaires. Paula erklärt Graf Hugo schon um deswillen für erbunberechtigt, weil sie katholisch wäre, und Nück wieder bekämpft den Grafen, weil dieser Lutheraner. Die Urkunde, nach welcher der katholisch gewordene 103 Graf Franz Dorste-Camphausen Anno 1648 die Urkunde des Familienstatuts zu Gunsten nur der katholischen Religion geändert haben soll, fehlt bisjetzt, doch behauptet Nück, daß sie sich finden würde. Auf Schloß Westerhof soll sie nicht sein. Nück versichert, sie wäre auf Schloß Salem bei Wien oder auf Schloß Castellungo im Piemontesischen. Ich wünschte einigen Italienern zu begegnen, die aus letzterer Gegend gebürtig sind und mir vielleicht die Gelegenheit angeben, wie wir jene Urkunde ins gräfliche Archiv – einschmuggeln könnten – Ja, ja! Lache nicht! Die Kunst, in alten Lettern auf Pergament zu schreiben, ist in unserer Stadt vortrefflich im Gange!

Welch feindseliges Chaos! rief Bonaventura aus nach dieser scherzenden Wendung, die dennoch wiederum so viel Ernst enthielt, daß Benno tief aufseufzend hinzufügen konnte: Es ist wahr, daß man am Guten keine reine Freude haben kann, wenn die Vermittler und Förderer desselben mehr List als Kraft einsetzen müssen, um ihm den Sieg zu verschaffen! Und doch – geht's allen menschlichen Bestrebungen nicht ebenso? Nicht auch eurer Kirche?

»Eurer« Kirche? sprach Bonaventura vorwurfsvoll.

Der Hierarchie mein' ich! verbesserte Benno. Ist sie nicht recht eigentlich – vielleicht! – ein reiner Gedanke, aber in oft – recht unreiner Form?

Bonaventura bestritt diese Auffassung. Nein! sagte er, die große Thorheit unserer Gegner besteht nur darin, daß sie für unser Ziel unser schwaches Streben verantwortlich machen. Daß wir genug unwürdige Priester haben, sollten wir täglich getrost bekennen dürfen. Schon daß ein Frommer wieder zuweilen in die Sünde zurückfällt, entscheidet ja an und für sich nichts gegen seinen bessern Sinn. Wie wir die Begriffe von ihrer äußern Erscheinung trennen müssen, das sah ich ja recht, als ich in 104 St.-Wolfgang mein Amt antrat. In dem Patron meiner Kirche, in dem heiligen Wolfgang, hatt' ich einen Spiegel der Nacheiferung für die Kraft und Würde des Priesterthums. Der heilige Wolfgang ist ein Deutscher, ein Graf von Pfullingen-Waltenburg gewesen. Mit einem innig geliebten Freunde, dem Bruder des Bischofs von Würzburg, studirte er in Würzburg, schlug alle geistlichen Aemter aus, folgte nur diesem Freunde, ward Mönch und wurde zuletzt, nahezu gewaltsam, gezwungen, das Erzbisthum Regensburg anzunehmen. Wie aber hat er dann den Tempel von den Wechslern gereinigt! Ihm sonst in allem unähnlich, hatte ich einen Vorgänger, der noch jetzt, hierher in diese Stadt versetzt, mehr dem Spiel und Vergnügen, als seinem Beruf ergeben sein mag. Wie der Herr, so der Diener. Den Meßner fand ich bei meinem Antritt von derselben Nachlässigkeit. Als ich zum ersten male die Messe lesen wollte und gewöhnt war an die schöne Ordnung der St.-Zenokirche zu Kocher am Fall und mich verlasse auf die Sauberkeit der Geräthschaften des Sakraments, wie entsetzte ich mich über die Unsauberkeit der Corporalien, Pallen, Purificatorien! Nicht nur, daß sie, dem Gebote zuwider, von Baumwolle statt von Leinen waren, wie lange waren sie nicht gewaschen! Die Ciborien, Patenen völlig ungeputzt und der Vergoldung beraubt, ja das Entsetzlichste – ich öffne die Monstranz und finde den Leib des Herrn geschändet, finde das Brot – zernagt von Würmern! Dies Bild: Das heilige Brot wimmelnd von Würmern! wurde mir zum Symbol meines ganzen Lebens. Seitdem ich damals die heilige Handlung unterbrechen und das Opfer unvollzogen lassen mußte, mußt' ich im Geist und in der äußern Erscheinung alles ursprünglich als göttlich Gedachten und in der Wirklichkeit doch nur Menschlichen immer vor mir jenes Brot voll Würmer sehen! Immer mußt' ich eingedenk bleiben, daß selbst das Grauenvollste des 105 Misverstandes uns doch an sich nichts von dem entweihen kann, was seinem Ursprunge nach von Gott ist!

Cajetan Rother lebt hier in der Stadt?

An der Kirche vom Berge Karmel und als Beichtvater der Karmeliterinnen!

Da verdank' ich dem allwissenden Nück noch eine andere Bekanntschaft mit der irdischen Schale eines heiligen Kerns und eine, die dich näher angeht! Du hast von dem hier außer Clausur lebenden Pater Sebastus gehört?

Ein Convertit! Er schreibt eine Feder, die wie in Feuergluten getaucht ist! Aber noch ist er nicht Pater – Er soll die Weihen noch nicht haben.

Mit der Fackel der Eumeniden schreibt dieser Mönch!

Bonaventura kannte das frühere Leben des Mönches Sebastus theilweise aus den Mittheilungen Grützmacher's, der ihm Aufklärungen über Lucinden gegeben – Aufklärungen, die ihn für diese mehr mit Mitleid, als mit Abscheu erfüllten –

In der Erörterung dieser Lebensbeziehungen fuhr Benno fort: Als damals Jérôme von Wittekind, von Klingsohr's Kugel getroffen, zusammenbrach, minderte sich vielleicht in der Wagschale des ewigen Gerichts eines der schweren Gewichte, die gegen diesen Mönch, gegen den Verräther seines Vaters, einst zeugen müssen! Ich sehe ihn zuweilen in unsern Straßen daherrennen! Wie der Derwische einer, wie ein Schamane des Orients hat er den stieren Blick des Auges, die krampfhafte Beweglichkeit der Glieder, den Trotz und die Sicherheit des Benehmens, verbunden wieder mit einer gemachten Demuth, die sich an jeder Kirchenthür verbeugt! O wie oft ich erbeben muß vor den nächtlichen Schauern, die über unserm Geistesleben wie mit dem Gefieder des Fürsten der Unterwelt dahinrauschen! An meinem eigenen Leben erfahr' ich es ja. Mich bringt in einer Zeit, die keine 106 Nachforschung hat lichten können, dein Oheim Max von Asselyn aus Spanien, wie man sagte, als die Frucht einer Verbindung mit einer Spanierin, die er geliebt haben sollte und die ihm gestorben. Ein Märchen, das wissen wir alle! Aber irgendeinen Kern hat die Erfindung! Nie jedoch konnte dieser von einer Menge Einhüllungen befreit werden, die mit den uns theuersten Personen auf eine Weise zusammenhängen, deren oberflächliche Besprechung schon Mismuth und düstere Erinnerungen bei ihnen allen heraufbeschwört. Nun hab' ich für ganz gewiß die Ueberzeugung, daß das, was mir so dunkel ist, in den Beichtstühlen licht und hell und deutlich aufgedeckt lebt. Priester, Klostergeistliche kannten meinen Ursprung und nahmen ihn mit sich ins Grab. Jener Geistliche in Borkenhagen, Leo Perl, ein getaufter Jude, soll eine Schrift hinterlassen haben, die von ihm in seinen letzten Lebenstagen an die bischöfliche Curie von Witoborn geschickt wurde. Sie ist so spurlos verschwunden wie jene andere, die Dominicus Nück sucht. Schließ' ich von dem einzelnen Fall, der mich selbst betrifft und der vielleicht nur von meinem unerlaubten Stolz so empfindlich geschürt wird, schließ' ich aber von jenem Mönche: wie ist nicht unser ganzes Leben innerhalb unserer Kirche durch den Beichtstuhl so vermessen geheimnißvoll eingeengt! Wir suchen einen Mörder, einen Dieb – der Priester kennt ihn schon, läßt jedoch die Gerechtigkeit ihr Haupt verhüllen und beutet das Geheimniß nur aus – zum Besten seiner priesterlichen, das heißt persönlichen Würde!

Zum Besten des Gottesreiches! unterbrach Bonaventura.

Ich will den alten Streit nicht erneuen, entgegnete Benno, ich will nur von den Schauern sprechen, welche die Schritte dieses Mönches begleiten. Ihm ermordet der Kronsyndikus seinen Vater! Das steht jetzt fest und ist nur durch die Erklärung, der Kronsyndikus hätte den Verstand verloren, ohne Bestrafung geblieben. 107 Es war nach unserer Definition ein Todtschlag, kein berechneter Mord. Einem langgenährten Hasse bietet sich die Gelegenheit einsamer Begegnung; es entsteht ein Wortkampf, es kommt zu einem Angriff, zur Gegenwehr, der gezogene Hirschfänger fährt aus der Scheide und trifft eine Stelle, die sogleich tödtlich ist. Schrecken und Reue jagen den Thäter von dannen. Die Gerichte, in jener Gegend auf verschiedene Souveränetäten vertheilt, halten sich an einen muthmaßlichen Schuldigen, einen Küfer Stephan Lengenich; der Proceß verschleppt sich, der Kronsyndikus findet, wie man sagt, mit Hülfe eines ihm nahe stehenden Freundes, der die Beweisaufnahme in Händen hatte, des Landraths von Enckefuß, Mittel, die Gerüchte zu zerstreuen, das Verfahren stockt; der Kronsyndikus, unmittelbar darauf seinen Sohn verlierend, bricht in der Rolle eines Gewaltthätigen, die er bis in sein siebzigstes Jahr durchführte, zusammen, wird nach langem Geiz plötzlich als Verschwender unter Curatel gestellt und wer möchte den hinfälligen Schatten aus der Nacht aufstören, die ihn seit der Reise zum Begräbniß seines Sohnes wirklich umgeben soll! Einer aber hätte es thun müssen, nach allen Gesetzen alter und ewiger Zeit! Einer hätte das Blut eines Vaters nicht in den Sand sollen rinnen sehen, ohne durch alle Lande um Vergeltung zu rufen! Ein Sohn, ein Sohn opfert seinen Vater! Bestochen von dem Mörder, nimmt er dessen Wohlthaten an, unterschlägt ein vom Jagdrock des Kronsyndikus abgerissenes Stück Tuch, das diesen hätte sofort überführen müssen, reitet, fährt, bechert mit ihm, feiert Bacchanalien mit jungen Mädchen, die durch Zufall auf Schloß Neuhof leben und mit denen ihn der Mörder gleichsam umstrickt – Fast möchte ich glauben, daß Fräulein Schwarz dazu gehörte – Grützmacher wußte mir diese Vermuthung nicht zu bestätigen – Kurz, so umgaukelt der Wahn die verlorne Seele dieses Mannes, daß er den Kammerherrn mit allen Anzeichen der tiefsten Verzweiflung 108 eines schuldbedeckten Gewissens niederschießt, von Tage zu Tage dahintaumelt im wüsten Ersticken seiner mahnenden innern Stimmen, bis ihn nur noch der Becher, zuletzt das Opium heilt! Dann brach er freilich ganz zusammen – –!

Aber er erhebt sich wunderbar! fiel Bonaventura, über die Erwähnung Lucindens in dieser Verbindung aufhorchend, ein. Wie kannst du den Lebensgang dieses Mannes beurtheilen, ohne die Geheimnisse seiner physischen und geistigen Wiedergeburt zu kennen – –?

Ihm kann nur wohl sein in der Flamme! entgegnete Benno ablehnend. Frieden und Betäubung kann er nur finden im Kriege! Wenn ich ihn sehe, wie er auf den Straßen dahinschreitet mit dem Korbe oder mit dem Topf oder mit einem Buch in der Hand, dann ist's mir doch, als sollt' ich das Leben seines Vaters von ihm fordern! Denn der Kronsyndikus ist nun entlastet. Wer eine solche Schuld auf die Schultern eines Sohnes werfen kann, der geht auch vor Gott frei aus. In jeder Zeile, die ich vom Frater Sebastus lese, find' ich – ich bin ein Fremdling eurem Volke und doch wurde mir Deutschland zur Mutter – Muttermord – und Rom segnet die Thaten – so liebevoller Söhne – –!

Beide waren erregt schon lange aufgestanden, wandelten schon lange den Thoren zu. Bonaventura, in den Abschied vom Dechanten zurückversetzt, verfiel in ein ernstes Schweigen. Selbst sein gewöhnliches Wort zu Benno: Was ist denn dir das alles, dir, dem jede Offenbarung Täuschung, jeder Glaube, das Wissen selbst eine bloße Befangenheit der Sinne, eine Tradition ist von den Blinden an die Blinden über die Farbe, von den Tauben an die Tauben über den Ton? selbst das behielt er heute zurück – In dem engen Gewirr der Straßen wurde es dunkler und dunkler. Die Menschen strömten heimwärts von manchem 109 Ausflug, zu dem der schöne Abend verlockt hatte. Schon lange wollte Bonaventura, der aus seinen Träumen früher erwachte als der seltsam ergriffene Benno, diesen aufmerksam machen, daß ihn seit dem Vorübergehen an dem einsamen Häuschen oben am Strome jemand umkreiste, der offenbar darauf aus schien ihn anzureden und schon mehrere male gegrüßt hatte, ohne daß Benno davon Notiz nahm. Wie der Zudringliche sich immer wieder hinter ihnen hielt, dann wieder etwas schneller ging, um nur grüßen und sich bemerkbar machen zu können, machte Bonaventura den Freund zuletzt auf eine vielleicht ihm willkommene Bekanntschaft aufmerksam.

Ich sah ihn schon! sagte Benno halblaut. Ich mag ihn nicht grüßen –

Jetzt aber war der Begleiter zu dicht herangekommen und seinem tiefgezogenen Hute und der Anrede: Guten Abend, Herr von Asselyn! mußte ein Wort der Berücksichtigung folgen.

Guten Abend, Herr Hammaker! sagte Benno kalt.

Nach dem Gedränge an einer der innern Thorpforten kam eine ruhigere Straße. Gerade hier schritt der durch Ton und Geberde von Benno kurz Abgewiesene vor ihnen noch lange dahin. Es war eine kurze, dicke, breitschulterige Gestalt mit einem weißen Sommerhut und grauem kurzen Rocke. Jetzt, wo er endlich bemerkt worden war, ging er schlotternden, langsamen Ganges und die Hände hinten in den Rocktaschen zusammengehalten, während sie zugleich, wie von der Tasche heraus, einen zu seiner nicht ungewählten Kleidung im Widerspruch stehenden groben Knotenstock auf dem Pflaster nachklappern ließen. Das ganze Wesen des vielleicht den Fünfzigen nahen Mannes war eine gemachte Festigkeit und bewußte Sicherheit, die an Frechheit streifte. Noch einige male grüßte er – dahin und dorthin – gewöhnlich ohne eine besonders freundliche Erwiderung zu 110 erhalten. Mancher dankte gar nicht, wie dies fast auch Benno gethan. Noch wurde am falben Schein des Mondlichts und dem fortwährenden Umblick nach Benno hin ersichtlich, daß breite wulstige Gesichtsformen dem Wuchse entsprachen; des Mannes Haar war weißer, als mit seinen scheinbar noch nicht zu weit vorgeschrittenen Jahren im Einklang stand.

Als diese Persönlichkeit endlich in eine enge Gasse eingebogen, sagte Benno: Wieder einer von deinen Würmern, die man in heiligen Dingen ertragen und gar nicht sehen soll! Wenigstens, wenn ich mir über ihn die Unbefangenheit der Beurtheilung meines Procurators erhalten soll –! Benno schilderte den Mann, den er Jodocus Hammaker genannt, als einen Agenten, der mit Nück, wie man sagte, in engster Verbindung stand. Was dieser nicht auf eigene Hand vollführe, übernähme Hammaker. Selbst Advocat, hätte er früher in seiner Heimat, drüben in der Kette der Sieben Berge, Wuchergeschäfte getrieben. Diese hätten ihn zum Verbot der eigenen Praxis geführt. Dennoch hätte er sich nach mancherlei Irrfahrten wieder aufschwingen können, da ihn Nück, jedenfalls anfangs nur aus Mitleid, hier in der Stadt beschäftigte. Allmählich wäre er Nück's Vertrauter geworden, in solchem Grade, daß sie selbst jetzt noch, wo sie sich weit eher zu hassen schienen, zusammenhalten müßten. Ihr Haß sollte auf dunkeln Dingen beruhen. Man spräche sogar von einem Mordanfall Hammaker's auf Nück. Eines Tages, so erzählte Benno, hatte sich Nück eingeschlossen. Sonst bei ihm nichts Seltenes, aber es kam nur vor, wenn Hammaker in der Nähe war. Eilenden Schrittes hatte man an jenem Tage in dem Garten, in den das Arbeitszimmer des Procurators hinausgeht, Hammaker gesehen. Man pochte an Nück's von innen verschlossene Thür. Hut und Stock, die im Vorzimmer lagen, bewiesen, daß er sich drinnen befand. Man pochte; niemand öffnete. Nun ließ 111 man einen Schlosser kommen. Als man gewaltsam geöffnet hatte, fand man den erschreckendsten Anblick. Nück lag bewußtlos am Boden – in einiger Entfernung von ihm lag – das eben ist die Streitfrage – entweder ein Klingelzug oder ein Strick, sonderbarerweise ein grünseidener, aus dreißig kleinen Schnuren verfertigter. An dem einen Ende war, sagt man, ein vergoldeter Haken angebracht, mit dem die Hängemaschine oben am Haken eines nicht anwesenden Kronleuchters befestigt gewesen sein mußte; am andern Ende befand sich eine reichwattirte seidene Binde über einem halsbreiten Gurte. Anfangs mußte man von dieser eleganten Form des Mordmaterials annehmen, Nück hätte sich, nur mit einer gewissen capriciösen Grazie und Eleganz, selbst erdrosseln wollen. An den ringsum aufgeschlossenen Geld- und Documentenschränken sah man aber bald den Diebstahl. Das Fenster stand auf. Ein ungeheures Schlüsselbund, das zu allen unter Nück's Verschluß befindlichen Repositorien gehörte, lag auf einem beweglichen eleganten Rollsopha von rothem Saffian. Nück kam langsam zum Bewußtsein zurück, blieb jedoch jede nähere Bezeichnung über den Vorfall schuldig. Die einen glauben, daß Nück von Hammaker erst gehängt, dann beraubt wurde; andere sagen: Wozu die grünseidene Schnur, die Halsbinde, der vergoldete Haken? Noch mehr: Wie konnte Nück wieder ins Leben zurückkehren, wenn er so lange aufgehängt blieb, bis der Mörder die Schränke aufgeschlossen, sie beraubt hatte und dann entflohen war? Man schloß vorläufig, da sich kein Ausweg aus diesem Labyrinth von Deutungen fand und Nück nicht klagte, auf einen Ueberfall im Schlafe. Hammaker wurde verhaftet, als er eben im Begriff war mit Extrapost und 30000 Thalern in Werthpapieren zu entfliehen; Nück lachte dazu und fragte, ob die Welt toll wäre? Von ihm selbst wäre ja Hammaker in Commissionen versandt, ihn selbst hätte 112 nur eine Ohnmacht angewandelt, er hätte nach dem Klingelzuge gegriffen, ihn abgerissen und ähnliche Erläuterungen mehr – Was sollte man einwenden? Ein Kläger, ein Beschädigter, ein – Gehängter fehlte. Hammaker wurde freigelassen und machte plötzlich Geschäfte, die es bewiesen, daß er einen Theil der 30000 Thaler hatte behalten dürfen! Es ist unerklärlich –! Eines Tages kam Hammaker zu Nück zurück, beide schlossen sich ein, schlossen sogar die Vorthüren ab, hielten eine lange Conferenz und seitdem sind zwar beide auf einem etwas kältern Fuße und gegeneinander ceremoniell, aber sie machen dieselben Geschäfte wie sonst, verstehen sich ebenso wie sonst. Die Gesichtszüge dieses Menschen lassen sich nur mit einer Blumenlese von Physiognomieen einer ganzen Spitzbubenbande vergleichen und doch hab' ich manche Beweisaufnahme oder Terminabhaltung in der Umgegend, besonders in den gründlich von ihm gekannten Sieben Bergen drüben, in seinem Beisein machen und dabei beklagen müssen, wie ein bedeutender Geist so sinken konnte.

Unter diesen Mittheilungen, die nicht wenig schwer ein Vorstellungsvermögen bedrückten, das gewohnt war, in Nück einen siegreichen Streiter für die Interessen der Kirche zu bewundern, waren Bonaventura und Benno angekommen an des letztern Wohnung, in deren Gegenüber nun in der Nacht eine That vollbracht werden sollte, die Benno's erste Ahnung sofort mit diesem übelberufenen Hammaker in Verbindung brachte; noch vor wenig Tagen hatte er den Unheimlichen, wie schon öfter, in später Abendstunde aus dem Hause der Ermordeten kommen sehen. Während Thiebold und Enckefuß bei ihm frühstückten, kam ihm sofort der Gedanke: War der aufdringliche gestrige Gruß nicht gerade wie ein: Betrachte mich ja und überzeuge dich von meinem – Alibi!?

Als Bonaventura dann im »steinernen Hause« zur Ruhe 113 gehen wollte und bei seiner Rückkehr nicht wenig Noth hatte, sich einer allzu großen Sorgfalt seiner Damen Schnuphase und ihrer Mägde zu erwehren, erhielt er noch ein Billet von der Hand des Kaplans Eduard Michahelles. Es lautete. »Mein hochwürdiger Herr Pfarrer! Obgleich das Befinden Sr. Eminenz auf dem Wege der Besserung ist, so nehmen ihn doch die dringendsten Geschäfte für den Augenblick so in Anspruch, daß er sich auch wahrscheinlich morgen noch das Vergnügen versagen muß, sich Ihnen so ausführlich, als er gern möchte, mitzutheilen. Ich bin daher beauftragt, Sie aufzufordern, noch einige Tage länger zu verweilen. Bis dahin ist der Wunsch Sr. Eminenz, daß Sie sich zu Erholungen oder bei etwaiger Absicht, sich über die kirchlichen Einrichtungen der Stadt durch den Augenschein unterrichten zu wollen, des Fraters Sebastus, eines Franciscaners, als Gesellschafters und Begleiters bedienen mögen. Der Ruf des ebenso geistvollen wie frommen Convertiten, der von seinem Provinzial die Erlaubniß hat, vor seinen Weihen noch eine Zeit lang außer Clausur zu leben, wird Ihnen bekannt sein. Ich habe die Ehre, mich zu nennen Ew. Hochwürden ganz gehorsamster Michahelles. Alles zur größern Ehre Gottes.«

Die Empfindungen, von denen Bonaventura beim Lesen dieser Zeilen bestürmt werden mußte, raubten ihm die Nachtruhe. Wie vortheilhaft er auch von dem Mönche, dem Lucinde ohne Zweifel ihre erste Bildung verdankte, und von seiner gegenwärtigen glorreichen Erhebung aus einem tiefen Jammer der Seele dachte, er wurde vor Erwartung über dies Zusammentreffen von den aufregendsten Träumen erschreckt.


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