Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. III. Buch
Karl Gutzkow

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103 12.

Nun kam von Viertelstunde zu Viertelstunde ein neuer Gast. Zuerst Bruder Moritz. Das war der Aeltere. Er trat gegen seinen repräsentativern Bruder meist zurück. Fast vierzig Jahre alt, mochte er sich nicht mehr verheirathen. Er hatte eine pessimistische Auffassung des Lebens, während Bernhard, Geldsachen ausgenommen, mehr zum Optimismus neigte.

Moritz brachte die ihm gestern Abend anonym zugeschickte Caricatur mit, glücklicherweise auch den guten Humor, der den entrüsteten Unwillen seines Bruders nicht noch vermehrte. Der stille sanfte Alois Effingh hatte sie beide darstellen lassen mit einem Heiligenschein von Dukaten um den Kopf, der eine in der Hand das Modell einer neuen Kirche haltend, der andere eine Kerze und ein Rauchfaß. Darunter die Worte: »Alles fürs Geschäft!«

Für die Kirche, sagte Moritz, tröste uns die neue Eisenbahn in Belgien, deren Actien wir in Deutschland emittiren! Und für die Dukaten um den Kopf tröste uns unsere amsterdamer Berechnung vom letzten Ultimo! Louis Philipp läßt die Curse fallen, weil die Kammern zusammentreten. Um die Debatten über die Thronrede nicht zu grob werden zu lassen, kitzelt er ein bischen den französischen Nationalstolz durch den Schein, als könnt' es Krieg geben.

104 Bernhard versicherte sich dessen, daß Moritz die Caricatur wenigstens vor seiner Frau geheim hielt.

Gott, wie zärtlich! Warum soll sie unsere Lage nicht kennen lernen? erwiderte Moritz. Er mußte dabei gewähren lassen, daß ihm Bernhard sein an Louis Philipp's »ehrliche Leute« und deren Politik erinnerndes rothes Bändchen etwas weiter aus dem Knopfloch zog. In der Stadt drüben, fuhr Moritz fort (und that sogar dem Bruder den Gefallen, sich jetzt im Spiegel zu besehen), müssen wir uns isoliren und unsere Kraft nur in Paris, London und Amsterdam suchen! Dann der mittlere Bürgerstand und der kleine Mann gewonnen und wir lachen diese altfränkischen Buchhalter aus mit ihren großen dicken liniirten Strazzen, die von Jahr zu Jahr mehr leere Seiten zeigen werden.

Beide waren darüber einig, daß diese Verspottung nur von der tonangebenden mercantilen Jugend ihrer wohledeln Stadt, von Piter und dessen Freunden kommen konnte. Sie verließen das Haus und gingen den schattigen Partieen des schönen Gartens zu und sprachen von den Anträgen Wenzel's von Terschka. Es war von einer großen Lotterie die Rede, in welcher vielleicht die Standesherrschaft Dorste-Camphausen verspielt werden könnte. Aus seiner Heimat hatte Terschka selbst eine dort übliche Form für Geldspeculationen großer, selbst fürstlicher Häuser anempfohlen.

Neue Anmeldungen hinderten die Fortsetzung dieses Gesprächs. Bernhard ging, eine kürzlich in Belgien bei Negociirung eines großen Eisenbahnanlehens der Städte Lüttich und Namur gemachte Bekanntschaft aus Spaa, den Baron von Binnenthal zu empfangen.

Die Physiognomie des Barons misfiel Moritz. Sein Pessimismus bekämpfte die Sucht des Bruders nach vornehmen Bekanntschaften, die allerdings zuweilen mit Geldverdrießlichkeiten 105 endeten. Ich weiß nicht, mit was für Leuten du dich ziehst! flüsterte er dem Bruder zu.

Aergerlich wies dieser auf den aus der heißen Küche jetzt zurückgekommenen und an den entferntesten Hecken des Gartens fast auf den Zehen spazieren gehenden Seligmann und sagte: Schnorrer willst du? Da hast du einen! Sich wendend, empfing er dann wieder eine neue Meldung.

Herr von Binnenthal war inzwischen zu Madame Fuld getreten. Ein junger Dandy, der bei seinen vielen Reisen im Ausland seine deutsche Muttersprache verlernt zu haben schien und bei den einfachsten Begriffen stockte, um sie zuletzt englisch oder französisch vorzubringen.

Moritz' Schwägerin machte in der Mitte des Gartens, in der schattigen Rotunde eines mit vier Eingängen durchbrochenen Rebenspaliers, auch hier auf gußeisernen, mit Polstern belegten Stühlen, anmuthsvoll die Honneurs und sah, durch die Strahlen eines von Blumen umzogenen Springquells hindurch betrachtet, in ihrem wassergrünen seidenen Kleide, einem Grandville'schen Naturgeist, einer personificirten Libelle ähnlich. Nach einiger Beobachtung des Herrn von Binnenthal flüsterte Moritz ihr brummend die Bemerkung zu: Ich weiß nicht, dieser Baron hat das Teutsche jedesmal an den Stellen vergessen, wo man eben erwartete von ihm einen Gedanken zu hören!

Doch Frau Bernhard Fuld sprach holdseligst mit dem Baron, ohne sich im mindesten stören zu lassen von des Schwagers grämlicher Kritik.

Wieder klingelte die große Pforte des Eingangs. Wieder folgte eine Anmeldung »aus der Pairskammer«, wie Moritz sagte, der in der That im Geiste mehr in Paris, als in Drusenheim zu leben schien. Diese neuen Ankömmlinge blieben vor Bewunderung der Villa gleich am Eingang gefesselt.

106 Terschka und Binnenthal unterhielten indessen die Wirthin und Moritz horchte und studirte vor sich hin auf dem Gartenboden, wie es schien, nur Botanik, in Wahrheit aber Psychologie. Herr von Binnenthal hatte alle Eigenthümlichkeiten der Weinreisenden. Mitten in einer Phrase über die von Terschka angeregte Schönheit der alten belgischen Bauten konnte er eine Zwischenrede einwerfen und sich der Wendung bedienen: »Meine gnädigste Frau, dieses weniger!« Oder Frau Bettina, wie sie statt Betty dem seit einigen Jahren erschienenen Briefwechsel Goethe's mit dem Kinde zu Liebe genannt wurde, ungeduldig über die draußen gefesselten Gäste, wollte einen Schmetterling haschen; es mislang ihr und Baron Binnenthal nannte die kleine graziöse, der schönen Frau allerliebst stehende Unterbrechung: »Eine verfehlte Speculation!« Als er einige male, mit dem gefallsamen Terschka, der aus dem: »Küss' die Hand!« gegen Frau Bettina nicht herauskam, wetteifernd von »schiefgewickelten« Ideen sprach, erregten allerdings bei beiden diese Ausdrücke großes Gelächter; Moritz jedoch hatte auf den Lippen, seinen Bruder zu fragen, ob dieser in dem Eifer nach Vornehmheit diesmal nicht besser gethan hätte, sich erst den Paß des Herrn von Binnenthal zeigen zu lassen. Und Moritz bekam wahres Mitleid mit dem armen Seligmann, der sich hinter den äußersten Stachelbeerhecken versteckte und je mehr Menschen kamen, ganz gegen das Naturell seines Stammes, desto weiter sich zurückzog.

Immer größer und größer wurde die Zahl der Connexionen. Nun sah man, daß man in Homburg und Baden-Baden die Liebenswürdigkeit selbst gewesen war. Jeder, der auf seiner Rückreise den schönen Strom berührte, war aufmerksam gemacht worden, die Villa im Enneper Thal zu besuchen. So auch ein Herr von Guthmann nebst Gattin. So auch zwei englische Ladies, die mit Ponies anfuhren und gleich mit Mappen kamen, um nach 107 Tisch vielleicht noch die Gegend aufzunehmen. So auch ein großer »Exporteur in Landesproducten« aus Hamburg mit zwei Schwestern. Bernhard gerieth in eine gegen seine sonstige blasirte Haltung immer mehr zunehmende Aufregung. In dieser gab er sogar den Bedienten den Befehl, den so »lauernd schleichenden« Seligmann aus dem Garten zu verweisen.

Moritz machte zu alledem den Beobachter und bemerkte bereits Manches. Als z. B. das von Guthmann'sche Ehepaar in den Garten getreten war, entfaltete gerade Herr von Binnenthal ein Brillantfeuerwerk von »famosen« oder »schaurigen« Thatsachen aus dem Badeleben Ostendes und Scheveningens und hatte auf die Frage des Herrn von Terschka, ob Herr von Binnenthal auch Schwimmer wäre, wiederum die geistreiche Antwort gegeben: »Dieses weniger!« – als seine Blicke des Herrn von Guthmann ansichtig wurden und vom Moment an verstummte Herr von Binnenthal. Moritz konnte diese auffallende Beobachtung um so mehr machen, als ihn Frau von Guthmann interessirte; dies war eine feine graziöse Erscheinung, nicht mehr jung, aber von gefälligem Eindruck und von einem ohne Zweifel im Salon gebildeten Benehmen. Als sie sich mit einem jener Misverständnisse, die in Gesellschaft mit neuen Bekanntschaften vorkommen, in ein längeres Gespräch mit Herrn von Binnenthal eingelassen hatte und erst allmählich erkannte, daß sie sich an Persönlichkeiten hätte wenden müssen, die ihr ebenbürtiger waren, stand Herr von Guthmann lange genug allein, um über den Eindruck, den auch ihm Herr von Binnenthal zu machen schien, von Moritz beobachtet zu werden. Dies schien der Eindruck des höchsten Erstaunens zu sein. Offen sprach Herr von Guthmann zu Moritz seine feste Ueberzeugung aus, in jenem jungen Manne niemand anders, als einen gewissen Oskar Binder wiederzuerkennen, der – Nun freilich nahm er 108 wieder Anstand, die Antecedentien eines Mannes offen darzulegen, der hier so bei Rittern der Ehrenlegion verweilen konnte und von Pferden, Hunden und Güterankäufen sprach. Daß auch ihm der Makel anklebte, auf eine nicht besonders motivirte Weise Bankerott gemacht zu haben und mit der geschiedenen Frau eines angesehenen Mannes, gegen deren Aufführung die sprechendsten Beweise an Ort und Stelle vorlagen, sich von Weib und Kind entfernt, dann diese Frau geheirathet und von ihr als Mitgift den selbstgegebenen Adel empfangen zu haben, um ein speculatives Leben in den Bädern zu führen – das war vorläufig wol der alleinige Anlaß, der Herrn von Guthmann verhinderte, offener mit der Wiedererkennung seines frühern Commis hervorzutreten. Seine Frau führte mit diesem gerade eine liebenswürdige und höchst charmante Causerie, ganz noch als wenn sie in seinem Bazar stünde und unter Scherz und Verwunderung über die vorgelegten Stoffe und sicher nur infolge angeborner Kleptomanie ein Packet Spitzen nach dem andern escamotirte. Moritz bemerkte den Schrecken, der auf den Gesichtszügen des Herrn von Binnenthal immer mehr platzzugreifen anfing.

Diese Bekanntschaften wuchsen indessen noch immer mehr. Bernhard's neue Existenz strahlte im Lichte der edelsten Gastlichkeit. Man hatte im ersten flüggen Drange des Bestrebens, ein Haus zu machen, jeder persönlichen Berührung, selbst einer Frage am Cursaal zu Baden-Baden, ob diese oder jene Pièce nicht von Beethoven wäre? und der Antwort der Nachbarin (zufällig Meta Carstens, die mit Bruder und Schwester ihre zweijährige Ferienreise machte): »Ja wohl! Die C-Moll-Symphonie!« – eine Ausdehnung zur Einladung, auf der Rückreise das Enneper Thal zu besuchen, gegeben. Frau Bettina liebte noch die Natur, die Musik, die schönen Künste und sogar die Freundschaften ebenso, wie Bernhard bereits nur noch die Livreen, die Pferde, die Hunde 109 und die großen Namen liebte. Nach den Honigmonaten klärt sich das. Jetzt ist die Gärung noch etwas bunt. Zu dem Commis mit fünf Jahren Correction, zu dem bankerotten Rentier und seiner neuen Gattin, dem weiblichen Vidocq, zu den Ladies, welche die Töchter eines Porterbierbrauers in London waren, kam Nikolaus Carstens, seinerseits hier höchst unschuldigerweise ein großer Exporteur genannt, theilweise jedoch mit größerm Rechte als Münzenkenner und halber Gelehrter gefeiert. Er bedurfte der ganzen Würde, die ihm seine weiße, große, in der Hitze nicht eben kühlende Halsbinde gab, um die Aeußerungen seiner Schwestern über eine gewisse von ihnen bewohnte »Villa« vor dem Dammthorwall mit Besonnenheit zu unterstützen.

Wir bedauern nicht verweilen zu dürfen bei der Anmuth der Wirthin, die ganz noch wie ein verkörperter Thautropfen von der heutigen Morgenfrüche nachblinkte. Sie einen Diamanten zu nennen, deren sie einige Dutzend auf Hand und Brust trug, könnte die Vorstellung von einem Wesen wecken, das nur durch die Pracht seiner Erscheinung wirken wollte. Sie ist aber das Leben selbst, der Frühling, der lachende, die Sonne, die glühende. Sie ist das im Glück geboren und erzogen! Beim Wandeln, hinaus auf den nun heute zu ihrer kindlichsten Freude erworbenen halbwüsten Acker und Weinberg, dessen Höhe jedoch das schönste Panorama bot, hat sie soeben eines der kostbaren Bänder, die sie auf dem schönsten Arme von der Welt trug, verloren – Moritz tadelte sogleich, daß sie deren zu viel trug und nannte dergleichen ein gefährliches »Unterbinden der Pulsadern« – beim Zeigen und Bewundernlassen dieser Armringe war einer von ihnen verloren gegangen – eben kam der Verlust zur Sprache – eben bei der Debatte über das Verhältniß irgendeines neuen wiener Componisten zu Beethoven, einer Zusammenstellung, über deren Ketzerei Meta Carstens vor Aufregung beinahe plattdeutsch sprach 110 und dabei Brillanten und Rheinkiesel in geistvolle Vergleichung brachte – Nun allgemeine Bewegung! Aber die junge Frau sagt nichts, als: Bitte! bitte! Lassen Sie doch nur! Die Bediente springen. Terschka ist schon überall. Bernhard bittet um alles in der Welt, den Fall leicht zu nehmen. Bettina nimmt ihn schon leicht. Man kehrt unverrichteter Sache zurück, das Armband ist nicht zu finden. Und jetzt kommt es erst heraus, daß es das schönste war, dasselbe, das Frau von Guthmann so lange bewundert hatte. Moritz fixirt Herrn von Binnenthal; aber ein Graf Dammhirsch – wirklich das einer von sechzehn Ahnen, doch nur – Traineur und Besitzer von zwei alten magern, schnellfüßigen, ihn durch Wettrennenpreise ernährenden Stuten – verbürgt die Ehrlichkeit der Gegend. »Doch die Masse der Spazierfahrer und Ueberlandgänger!« Enfin tranchons le mot! ruft Bernhard. Tranchons le roastbeaf! sagt Moritz, anspielend, daß man auch allenfalls Hunger haben könnte. Das Ding kostete mindestens sechzig Friedrichsdor! flüsterte er; aber Bettina sprach bereits wieder von Musik und vertheidigte den neuen Componisten und bewunderte Thalberg's Tremolo. Freilich war die Stimmung ein wenig gedrückter geworden und nur die Naivetät der Engländerinnen belebte sie wieder durch ihr Entzücken über die Gegend.

Bernhard sah sich nach Seligmann um, den er aus dem Garten verwiesen hatte, ja sogar von der Eingangspforte der Villa hinweg, wo der gute Vetter sich nützlich machen zu wollen den Einfall bekam und den Schlag der Wagen öffnete, wenn die Bediente nicht sogleich zugegen waren. Jetzt hätte auch Seligmann nach dem Armband suchen können, dachte Bernhard und bereute, vor einer Viertelstunde zu ihm gesagt zu haben: Seligmann! Ich werde Ihnen doch einen Hut mit Tressen geben, ein Bandelier und einen Stock, wenn Sie durchaus den Portier hier 111 machen wollen! Man konnte nicht leugnen, Seligmann trug die Farbe seines Stammes in seltener Treue. Dazu kam ferne unendliche Glückseligkeit, die unverkennbare, fast verwandtschaftliche Freude, andere im Augenblick gleichfalls so glückliche Menschen hier begrüßen und aus dem Wagen helfen zu können mit seinen, allerdings schon etwas von der Hitze mitgenommenen, gelbseidenen Handschuhen. Indessen hatte er sein Vergehen vollständig eingesehen und da die gute Regine noch ausschließlich mit der Unterstützung des Kochs zu thun hatte und ihm der Duft von Speisen, die ihm noch lange vorenthalten bleiben sollten, ein zu lebhaftes Andringen zu seinen Geruchsorganen verursachte, so zog er vor, noch einstweilen und da ohnehin leichte Wolken die heiße Sonne zu bedecken anfingen, die Villa zu verlassen und ein wenig auf Drusenheim zuzuspazieren, vielleicht um zu sehen, ob Stephan Lengenich bei seinem Bruder Speck, Klöße und Birnen aß.

Eben das eiserne Thorgatter der Besitzung auf das sanfteste zurücklehnend, hörte er Säbelklappern und traute seinen Augen nicht – doch nicht gar den Major Schulzendorf mit seinem Wachtmeister Grützmacher aus Kocher am Fall dahertraben zu sehen? Gewiß, sie waren es! Wie ihre Rosse dampften! Wie die Schnurrbärte vom Kalkstaub der Landstraße so marsch- und manövermäßig gefärbt waren! Der Gruß der Nachbarn aus Kocher am Fall that ihm so wohl, wie wenn sie ihm Grüße von seiner Hasen-Jette und vom David mitgebracht hatten.

Seligmann! Schlag, wie kommen denn Sie hierher? rief ebenso erheitert Major Schulzendorf und ritt etwas langsamer.

Ja, aber Sie, Herr Major? Von drüben? Zwölf Stunden weit?

Dienstgeschäfte –! Eine bedeutungsvolle Pause folgte. Grützmacher spricht natürlich kein Wort, wenn der Chef redet . . . 112 Dieser wollte weiter. Apropos! hielt er plötzlich sein Roß an. Seligmann! Wissen Sie hier keine Pferde?

Herr, Major, wollen Sie wechseln?

Wechseln! Kaufen! Kaufen!

Seligmann besann sich. Vielleicht war ein Geschäft zu machen. Der Major drängte. Sie haben was, Seligmann! Kommen Sie uns doch nach! In den Palmbaum, heißt ja wol hier das Wirthshaus?

Zu Befehl, Herr Major, zu Befehl –!

Wie wir wissen, war Major Schulzendorf ein berühmter Pferdehändler. Seligmann durfte annehmen, diese Aufforderung wäre vollkommen ernst gemeint. Grützmacher, der anfangs dicht neben seinem Chef ritt, jetzt sich aber drei Schritte zurückhielt, bestätigte mit einer eigenthümlichen Ironie in dem sonnenverbrannten, wie mit Speck und Staub überstrichenen Antlitz die Gelegenheit zu einem Geschäft. Sogar sein Brauner schien den Seligmann zu erkennen. Wenigstens machte er einen so gewaltigen Freudensatz, daß diesem Grützmacher's Säbel fast die Vatermörder streifte. Na, na, Landsmann! sagte Grützmacher zum Gaul und beruhigte ihn. Die eigenthümliche Ironie des seinem Chef Nachsprengenden verstand der Nachbar des Wachtmeisters zu Kocher am Fall auf den ersten Blick. Seligmann sagte sich: Ein Pferd ist dienstuntüchtig geworden! Nun wird er eine Reise von zwölf Stunden und sogar über den Strom hinweg unterwärts mit der diessenbacher Fähre machen! Nebenbei werden ein paar Wagenpferde für Herrn von Ingelheim, ein paar Ackerpferde für den Grafen Grafenberg, ein Reitpferd für dessen Herrn Sohn beschafft. Oder wär's noch etwas Anderes? setzte er in sinnendem Selbstgespräch, aber nachfolgend hinzu. Seligmann verstand sich auf die Zeit. Lag ihm doch selbst der Streit der Guelfen und 113 Ghibellinen seit seinem Zusammentreffen mit dem Mönch Sebastus schwer auf dem Herzen.

Im Palmbaum fand er dann den Major, der, wie er erzählte, heute bereits sieben bis acht Pferde behandelt und theilweise erstanden hatte. So aufmerksam Schulzendorf dann zuhörte und sich Namen und Ortschaften notirte, wo Seligmann noch einige junge, tüchtige Pferde wußte, auch eines ganz in der Nähe auf einige hundert Schritt, so fand er den Major doch nicht in der Stimmung, den Duft des Stalles sogleich wieder einzuathmen, sondern vor allen Dingen erst den eines tüchtigen Mahles. Es gab im Palmbaum eine leidliche Table-d'hôte. Aber das Gewühl von Menschen, die sich noch satt essen mußten an der mit jedem neuen Gast mehr verdünnten Suppe und an ausgekochtem Rindfleisch mit Salzgurken, war heute so groß, daß Seligmann plötzlich auf einen ihn selbst überraschenden Gedanken kam. Wie – dachte er; wenn – überlegte er; prächtig! – beschloß er. Der Major war an der Villa vorübergeritten und hatte bei seinem außerordentlich feinen norddeutschen Spürsinn (die Guelfen räumen den Ghibellinen vorzugsweise eine größere Feinheit der Nase ein) Seligmann beneidet, als dieser sich rühmte, dort zu »diniren«. Selbst wenn es nur Kugel-Schalet gab, wußte man ja, daß solchem Geruch der Major selbst bei Jette Lippschütz nicht widerstehen konnte. Selbst unter deren Dach sah man ihn oft eintreten am Freitag Abend mit der feinsten aller Nasen, die je jenseit der Elbe zum spürenden Organ alles Guten und Schönen sich ausgebildet hatten. Ueberhaupt sechsunddreißig Landdragoner standen unter dem Trefflichsten. Jeder von ihnen wußte, daß ein so tüchtiger Chef nur zum Wohl des Vaterlandes geboren sein konnte, und eine dies bezeugende Kleinigkeit, nämlich zu seinem Geburtstage – bezeugte auch an ihnen wieder, so arm sie waren, ein gutes 114 Herz. Schulzendorf nahm jeden Hasen, wenn er geschenkt war. Und wie verstand er sich auf seinen Pferdehandel! Sechzig Thaler kostete so eine tüchtige Mähre, von einem Bauer z. B. hier im Enneper Thale; dann hat man einen guten Freund, Grützmacher z. B.; die gute, treue, brave jüterbogker Seele macht so ein Thier »rittig«, setzt Leib und Leben, Frau und Kinder daran, das wilde Jungblut zuzureiten, und nach sechs Wochen nimmt es dann – der beste aller Könige für achtundachtzig Thaler in die Remonte. Bei sechsunddreißig Pferden, die, wie alle Pferde, nur zu oft nicht einschlagen, kommt der Fall der Erneuerung und ein Gewinn von achtundzwanzig Thalern per Stück sehr häufig vor. Wollte man aber darum den Major anklagen, daß er im Dienste lässig gewesen? Nimmermehr! Er strafte wie einer! Er machte Abzüge wie einer. Er lächelte stets so scharf, so sarkastisch, so liebevoll mephistophelisch, aber zuweilen konnte sein Inneres auflodern, wie wenn seine Väter nicht geborne niederlausitzer Tuchmacher, sondern (nach Shakspeare) »von Deukalion her erbliche Fürstendiener« gewesen wären. Er vergaß keine Titulatur nach oben, aber wehe auch dem, der eine von unten vergaß! Um zu zeigen, wie ein Chef Untergebene behandeln müsse, duldete er nie, daß Grützmacher von den Schreiben, die aus dem Landdragoneramte an untergeordnetes Volk gingen, den Streusand wegblies. Kreuzhimmeltausendsakkerment! fluchte er trotz Niemeyer und Knapp, bei denen er noch in Halle Theologie studirt hatte, wenn Grützmacher von einem Bescheid an einen Dorfrichter oder an eine kleine Stadtgemeinde den Streusand wegblasen wollte. Diese Bagage muß wissen, mit wem sie zu thun hat –! Aber nach oben hin war dann Schulzendorf auch um so mehr die schuldigste Devotion selbst. In dieser Weise zeigte sich jene Gesinnung, die niemand schärfer durchschaute als Procurator Nück, wenn er nachdenklich 115 seinen Frack mit dem goldenen Sporn betrachtete, oder Michahelles, wenn er zum Kirchenfürsten sagte: »Eminenz! Erst nur gewisse Fürsten gewonnen und in dreißig Jahren wird aus dem Schoose des Protestantismus selbst heraus eine Bewegung entstehen, der man getrost commandiren kann, Rom auf halbem Wege entgegenzukommen –!«

Auch Seligmann, der so oft über die Felder und durch die Wälder einsam wanderte, wollte einen starken, kräftigen Staat. Er hielt es aber für politische Weisheit, wenn an Ort und Stelle in manchen Dingen nachgegeben wurde. Vor seinen beiden Vettern glaubte er sich keine größere Genugthuung geben zu können, als wenn er ihnen den Major zu Tische zuführte. Erst lachte dieser laut auf, als er den verwegenen Vorschlag vernahm, dann aber fand er sich wohlgemuth hinein und ließ sich vom Staub der Landstraße reinigen. Seit gestern Mittag unterwegs hatten Uniform und Knöpfe, Degenkoppel, Stiefel und Sporen gelitten. Mit Grützmacher's Hülfe wurde das Werk der Adonisirung glücklich vollendet. Der Major versetzte sich lachend zurück in die Zeiten der Campagne. Mancher viel minder rücksichtsvolle Besuch flandrischer Meierhöfe und burgundischer Edelsitze fiel ihm ein, wo sich seine Schwadron auf diese Art zu Gaste geladen. Er billigte nach Seligmann's Rath als passendste Anknüpfung den Pferdehandel und die Besichtigung einiger stattlichen Mecklenburger, die im Stalle des Besitzers von Drusenheim neu angekauft standen. Man verließ den Palmbaum, wo Grützmacher mit einem seiner loyalsten, aber vielsagendsten Blicke zurückblieb. Den Welfen gelten hier die Ghibellinen bekanntlich für Tellerlecker und Schmarotzer.

Gerade war die Gesellschaft der Villa auf einer erneuten Promenade begriffen, um das Armband zu suchen und zwar auf Veranlassung der »in solchen Dingen pedantischen« Damen Carstens. 116 Nachdem schon lange vor aufsteigenden Nebeln die Sonne verschwunden war, begann es etwas zu tröpfeln. Als die Gesellschaft, von dieser unerwarteten Wendung der Sonntagslust überrascht und auf eiligem Rückzuge begriffen, mit aufgespannten Sonnenschirmen da und dort aus dem Grün auftauchte, ging Schulzendorf, sich einen jugendlichen Schneller gebend, dem Wirthe entgegen und über die Mecklenburger hinweg machte sich alles aufs trefflichste. Es war in der Ordnung, daß man dem Major die herrlichen Thiere, die Stallungen, die kostbaren Futterbehälter, die Porzellankrippen zeigte; es war in der Ordnung, daß man ihn dringend bat fürlieb zu nehmen und zu bleiben. Seligmann, entzückt über ein diesmal sogar ganz freundliches Zunicken seines Vetters Bernhard Fuld, stieg nun seinerseits triumphirend in die Küche.

Jetzt waren alle Gäste mehr als vollzählig beisammen; nur einer fehlte noch. Schleudere deinen Bannstrahl, Pontifex Paul der Vierte! Kanonische Regel, verhänge deine entschiedensten Strafen! Ein Priester im Hause, ja sogar am gedeckten Tische eines Juden! Dennoch öffnete sich die Thür und Pfarrer Engeltraut trat ein, in gewählter Sonntagskleidung, in schwarzer Weste, schwarzen Handschuhen; der praktische Mann war bei seinem Patronatsherrn – die Auslegung des Bullariums hat ihre eigenthümlichen Geheimnisse –

Wir schildern nicht den geschmackvollen Eßsaal mit Fenstern von buntem Glase, das die Gesichter grün, die Suppe roth, die Löffel blau erscheinen ließ. Wir schildern nicht den runden Tisch mit allen seinen Herrlichkeiten. Wir schildern nicht die galonirten Diener, die mit gründlich einstudirter Ruhe serviren, nicht die scheinbar granitne Sicherheit, die Bernhard über die Folge der Gänge, das Abnehmen der Teller und Präsentiren der Weine zur Schau trägt, während sein scharfes Auge stechend auf eine 117 etwas laut niedergesetzte Schüssel oder eine zur Erde fallende Gabel gleitet. Als das Gemüse kam, riefen beide Hamburgerinnen einstimmig ihrem Bruder zu: Nikolaus! Junge Erbsen! Das Gespräch wurde Schmetterlingsflattern, obgleich Engländerinnen, deren welche anwesend waren, immer gründlich sind. Am Lurleyfelsen werden Engländerinnen die Fußtapfen der Lurley suchen. am Mäusethurm die Löcher der Mäuse zählen, die einst dem Hatto von Mainz das Leben nahmen. Was aber auch nur angeregt wurde, alles zündete vorzugsweise bei Meta und Sophia, die, wenn sie auch stets mit den verklärtesten und schönsten Stellen und Excerpten ihrer Tagebücher beschäftigt waren, doch von jeder Speise zweimal nahmen. Wie plastisch und so zu sagen objectiv wurde von ihnen eine jede Lebensäußerung behandelt! Selbst wenn sie nur ein wenig Salz verlangten oder sich vom Nachbar ein Glas Wasser erbaten, geschah es im Vollgenusse dieser höchst merkwürdigen, behaglichen Situation und mit einem Blick, der da sagte: Alle diese Misverständnisse werden uns fürs ganze Leben denkwürdig bleiben!

Pfarrer Engeltraut ist einer jener Urmenschen, die an jeder Stelle das thun, was die Lage der Dinge mit sich bringt. Ebenso gut wird er einen der wohlbereiteten Salmen zu würdigen wissen, wie eine eingestandene Sünde. Das ist die beste Menschenart, die sich bei jedem Dinge auf dem Platze weiß. Schweigsam waren nur geworden Moritz der Pessimist, Binnenthal, Herr von Guthmann, selbst Frau von Guthmann – das fehlende Armband wirkte allmählich drückend. Dagegen war Terschka ein echter Matador. Hufbeschlag mit Schulzendorf, Stangen- oder Kantharenreiten mit Grafen Dammhirsch, Percussionsflinten mit einem Jagdjunker, Zukunft der österreichischen Finanzen mit einem Herrn Bendixen aus Frankfurt, Drainage und alte Münzen mit Herrn Carstens, Rouge et Noir mit Herrn von 118 Guthmann, Caramboliren beim Billard mit Binnenthal, Musik mit Miß Arabella, Malerei mit Miß Julietta, das von Liebig eben entdeckte Conserviren junger Gemüse in Blechbüchsen mit den Damen Carstens – allem und jedem steht dieser Wunderbare Rede. Nur von Wein spricht er mit der Frau vom Hause und lacht dann mit ihr vertraulich über die ganze übrige Welt. Die Wiener und Wienerinnen haben das. In der Fremde gehören sie alle einer geheimen Conspiration an, deren Devise die Unübertrefflichkeit ihrer Heimat ist.

Beim Gespräch über Lindenwerth, die Pensionärinnen, Armgart, mußte man denn auch auf Armgart's Mutter kommen, Monika von Hülleshoven. Sie kennen sie? fragte der Geistliche Terschka. Auch Schulzendorf horchte auf. Einen Namen hörte er, den er von Kocher am Fall kannte.

Sie hat eine Tochter hier in der Erziehungsanstalt auf der Insel! fuhr Terschka fort. Ich hoffe sie heute noch beim Kaffee auf der Terrasse kennen zu lernen! Gnädige Frau hatte die vortreffliche Idee, die Terrasse heute zum Salon der kleinen Zöglinge zu machen!

Engeltraut verhielt sich schweigend zur freudigen allgemeinen Acclamation. Zu vieles wußte er, was auf schmerzliche Weise mit dieser Bemerkung zusammenhing. Erstens, welche Bedenken diese Einladung drüben bei den Englischen Fräulein überhaupt hervorgerufen hatte. Er hatte aber zu Schwester Aloysia gesagt: Unser Herr spricht: »Reinige zum ersten das Innenwendige am Becher!« woran er die Betrachtung knüpfte, daß man von dem Auswendigen nicht zu viel Wesens zu machen brauchte. Dann hatte er vor wenig mehr als einer Stunde erst mit Angelika und Aloysia die Briefe aus Wien und Kocher lesen können (denn sogleich nach der Application hatten ihn zwei Taufen und ein Krankenbesuch in Anspruch genommen); den Rath 119 hatte er gegeben, »abzuwarten« – ein für Armgart nicht minder antipathischer Begriff als das Wort »Geduld«. Den Major fragte er nach dem Obersten, Armgart's Vater.

Von dem Uebergang zu Persönlichkeiten pflegt sonst jedes allgemeine Gespräch gestört zu werden. Hier aber interessirten manchen die Mittheilungen, welche Major Schulzendorf vom Obersten von Hülleshoven machen konnte. Ja als er auf Kocher am Fall überhaupt kam und das neueste nachbarliche Erlebniß erwähnte, das Erbrechen eines Grabes drüben, als er den Antheil schilderte, den daran eine gewisse Lucinde Schwarz zu haben schien, indem sie wenigstens den noch immer nicht aufgefundenen Thäter auf die Idee gebracht hatte, in einem Sarge Schätze zu suchen, da wurde alles plötzlich rege und ging in bunter Rede durcheinander. Selbst der immer stummer und stummer gewordene Herr von Binnenthal fuhr auf und die gerade von möglicherweise losbrechenden Gewittern und von der richtigen Abgangszeit der Dampfschiffe sprechende Frau von Guthmann und beide ganz in Beethoven, Mozart und die köstlichen Früchte des Desserts und die Vergleichung der geographischen Breitengrade des Enneper Thals mit den »Vierlanden« bei Hamburg verlorenen Damen Carstens riefen wie elektrisch berührt: Lucinde Schwarz –?!

Eine ultramontane Emissärin, die in den gegenwärtig schwebenden Zeitläufen – begann der Major –

Der Major würde mit diesem, für die Nähe eines Pfarrers ziemlich scharfen Worte und den naturgemäß zu erwartenden Repliken, dann wieder bei den darauf folgenden nähern Erläuterungen leicht bei dem vortrefflichen Dessertwein sich eine leise Anspielung erlaubt haben können auf den nicht ostensiblen Grund seiner heutigen Anwesenheit in dieser Gegend, wenn nicht in diesem Augenblick der allgemeinsten Spannung und durcheinander 120 fahrenden Fragen: Lucinde? – katholisch? – wo? – wann? – wie? – ein Blitzstrahl das seither immer dunkler gewordene Zimmer erleuchtet hätte. Der erschreckenden Helle folgte in so raschem Aufeinander ein erschütternder Donner, daß alles aufsprang, weil man voraussetzte, es müßte in der Nähe irgendwo eingeschlagen haben. Das Diner war zu Ende.

Rasch lehnte man die bunten Fenster zurück und sah entsetzt ins Freie. Zum Glück wurde nirgends ein Feuer oder ein Rauch ersichtlich; doch war der Himmel eine einzige große graue Wolke; ein Gewitter tobte bereits und der Regen floß. Die Damen Carstens vergaßen alle Gemüse- und Obstzucht der Welt, alle Confessionsunterschiede und bedachten nur ihre Schuhe von Zeug und die mangelnden Regenschirme und die Weiterfahrt auf dem Dampfschiff. Ueberall fanden sie gefährlichen Zugwind, riethen zum Schließen von hundert Fenstern, die sie in der Nähe und dann auch sogleich weit offen stehend witterten. Auch Frau von Guthmann verlor ihre erkünstelte Heiterkeit und flüsterte mit ihrem Gatten. Herr von Binnenthal hatte noch mit dem Dampfboot in die Residenz des Kirchenfürsten zurück wollen! Bereits zum öftern war von ihm die Nothwendigkeit einer Eisenbahn nach Belgien behauptet worden – Aber wirklich war es nun ein Gewitter, als hätte sich wochenlang die Natur darauf vorbereitet. Während man gemüthlich aß und plauderte, hatten Stürme die Wolken immer dichter herausgejagt. Sie entluden sich in Blitzen, die dicht in der Nähe schon in den dunkelwallenden Strom schlugen. Das hatte sich erst von Westen her in einzelnen Vorboten angekündigt. Dann kam ein dunkelblauer Streifen, der sich ausdehnte wie mit Drachenflügeln, Staubwirbel aufriß, die wie in Trichterwindungen sich drehten, die Thüren zuschlugen, Fenster zerklirrten. Jetzt brach ein Regen mit Schloßen aus und mit Blitz und mit Donnergekrach über das 121 ganze, von Besuchern überdeckte Thal! Ueberall in Berg und Flur weißschimmernd die hochaufgenommenen Kleider! Stimmen dazwischen! Hülferufe nach einem Kinde, das fehlte und schwerlich geborgen sein konnte! Die Sonntagsfreude allen dahin! Wohin sollten die Lustgänger sich flüchten! Wo sollte sich alles ducken und verstecken! Arme Jugend auch von drüben, von Lindenwerth, dein Besuch der Villa wird zu Wasser!

Aber nein – ist es denn möglich? Neuer Schrecken! In diesem Tumult der Elemente kommen ja eben wirklich vom Ufer, dort unten ausgestiegen, die neunundzwanzig jungen Mädchen wie eine versprengte Wallfahrt daher! Wie ebenso viele Tauben zeichnen sie sich am grauen Horizonte ab! Man sieht sie im aufgeweichten Boden versinken, kämpfen gegen die Fluten vom Himmel mit ein paar alten Regenschirmen! Sieben unter einem, den dann alle sieben auch halten müssen, wie wenn sie mit Sturmböcken gegen die empörte Natur anliefen!

Schirme! Tücher! Galoschen! Jean! Franz! Den Damen entgegen! So rief Bernhard und niemand war schon eifriger als Terschka, der auf Armgart »zu brennen« erklärt hatte und schon mit Hülfe eines andern eine ganze Garderobe auf dem Arme hatte und hinauseilte. Dieser andere hinter ihm her, einen Regenschirm über ihn haltend, zwei unterm Arm. Moritz und Bernhard blicken befriedigt Terschka und dem andern nach. Wer war der andere, dieser Helfer in der Noth? Waren also doch noch gewisse gelbe Seidenhandschuhe zu Ehren gekommen? Moritz besonders stand voll Bewunderung. Wie ein Garçon auf Rheumatismus zu sprechen ist, wußte er. Und nun bugsirte der kleine schwarze Vetter eines der Mädchen nach dem andern über die in Rinnbäche verwandelten Wege, hatte Nankingbeinkleider naß wie Schwimmhosen an und machte sich nützlich in einer Weise, die ihm jetzt die öffentliche Anerkennung eines gewissen, wenn 122 auch entfernten verwandtschaftlichen Grades eintrug. Niemand war aber bei alledem, sollte man glauben, charmanter als Bettina, die junge Wirthin. In den ersten Honigmonden der Ehe hat man so viel Glück, so viel Wonne im Herzen, daß man damit tausenderlei Plage heiter und lachend ertragen kann.

Als Moritz leise zu Bernhard flüsterte: Aber mit dem Armband ist es doch faul! Willst du nicht die anwesende Gensdarmerie –? brach dieser zornig aus: Nein, wie weh thut mir's für den Ober-Chochem! Ein Haus zu machen muß gelernt werden. Für Bettina ist das Ganze nur eine von mir arrangirt gewesene Uebung –!

Der »Ober-Chochem«Ober-Philosoph. trat, erschreckend über die Heftigkeit des Bruders und sich ergebend, zurück . . . Und sollte nun die Sonntagspartie Thiebold's und der Freunde Piter's zu Stande gekommen sein und sie wären in diesem Augenblick an der Villa vorübergeritten oder gefahren oder jetzt nach Umständen geschwommen, so würden die Brüder die Genugthuung gehabt haben, ihnen ein Schauspiel zu bieten, das nur die Verleumdung hätte unterschreiben können: »Alles fürs Geschäft!« Denn Bernhard führte ehrerbietigst die beiden in Regen und Sonnenschein immer gleich feierlichen Englischen Fräulein dem Pfarrer entgegen, der sich nicht nur für Wenzel von Terschka. sondern für sein eigenes theilnehmendes Herz bemühte, aus dem lachenden jungen Schwarm vor allem Armgart von Hülleshoven herauszuerkennen.

So begann denn – auf dem Zimmer statt auf der Terrasse – der sehnlichst erwartete »Kaffee«.


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