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Sechszehntes Capitel.

Ein Zauberspiegel.

Gnäd'ge Frau, begann Fürst Egon von Hohenberg und erhob sich von dem Sessel, auf dem er Platz genommen hatte; ich hörte, daß Sie wie Jeder, der seine Tagesstunden besser zu verwenden weiß, Abends empfangen! Irr' ich mich?

Pauline bedeutete Egon zuvörderst Platz zu nehmen, setzte sich selbst, nicht ohne einige Befangenheit, in einen der Sessel, die schon für die bald zu erwartende Feuerung am noch geschlossenen Kamine aufgestellt waren... Die beiden gemalten Sphinxe auf dem bunten Kaminschirme drückten vollkommen ihre Spannung über das Räthsel dieses Besuches aus.

Für Ew. Durchlaucht würd' ich zu jeder Stunde zu sprechen sein. Ein Endlich! Endlich! Ihnen auszusprechen, mußt' es mich wohl drängen.

Endlich? Hatten Sie mich jemals erwarten können, gnäd'ge Frau? fragte Egon voll Bitterkeit.

Den Freund meiner geliebten Helene? Den Erklärten meiner d'Azimont? fiel Pauline mit künstlichem Erstaunen ein.

Ha! Aber den Sohn der gehaßten Amanda? setzte Egon hinzu und ohne Paulinen's Erwiderung abzuwarten, rückte er mit seinem Sessel ihr etwas näher und sagte:

Gnädige Frau, es sollte mir lieb sein, wenn ich Ursache fände, mich Ihnen enger anzuschließen und die großen Eigenschaften in der Nähe zu bewundern, von deren Lobe die Gräfin d'Azimont überfließt. Einstweilen stell' ich diese Annäherung freilich auf eine starke Probe. Ich stehe vor Ihnen, gnäd'ge Frau, mit dem Ersuchen, mir die Denkwürdigkeiten meiner Mutter auszuliefern.

Pauline war auf diese kalte, kategorische Forderung gefaßt, erstaunte aber über die Hast und das entschlossene Vermeiden aller Präliminarien.

Sie war darauf vorbereitet, daß sie Gegner hatte, die ihren so vorsichtig berechneten Schritten gefolgt waren, der Ablieferung des entleerten Bildes an den Oberkommissair Pax auf der Spur waren und sie entlarven wollten.

Dennoch sagte sie zitternd:

Welche Denkwürdigkeiten, Durchlaucht?

Die Denkwürdigkeiten, gnäd'ge Frau, antwortete Egon mit steigernder Erregung und jene heftigste Wallung nicht mehr verbergend, mit der er hergekommen war; die Denkwürdigkeiten der Fürstin Amanda von Hohenberg, die sie auf ihrem Sterbebette ihrem Sohne bestimmt und unfähig, in ihrer letzten Lebensstunde weitläufige gerichtliche Dispositionen zu treffen, später in einem Bilde verborgen hat, das dem sonderbaren Schicksale verfiel, Ihnen früher in die Hände zu kommen als mir.

Welches Bild? fragte Pauline nun mit scheinbarer Ruhe, um nur Zeit zu gewinnen.

Egon trug in aller ihm kaum noch möglichen künstlichen Ruhe die Geschichte jenes Bildes vor, wie sie durch übereinstimmende Aussagen Dankmar's, Rudhard's, des Oberkommissairs Pax, der Agenten Mullrich und Kümmerlein sich ergeben hatte. Es war darin mancher Umstand mehr errathen als bewiesen. Allein die Überzeugung, daß Pauline von Harder schon durch die ganze Agitation über den Nachlaß seiner Mutter, die Reise des Intendanten nach Hohenberg und was sich Alles später daran knüpfte, ihm ein Eigenthum entzogen hatte, das ihm von Werth sein durfte und sollte, stand bei ihm fest. Er erzählte auch, wie er durch Stromer's Äußerung über den Thomas a Kempis mistrauisch geworden und Rudhard seinen Verdacht ausgesprochen hätte. Rudhard hätte dann gestockt. Er aber hätte seinem noch zögernden alten Erzieher die Angelegenheit aus der Hand gewunden und führe sie nun gegen dessen Willen, gegen die Ansprüche, die Rudhard selbst auf dies Testament seiner Mutter machen wolle, mit kurzem Processe durch.

Lassen wir, schloß er seine Auseinandersetzung, jede weitere Erörterung und geben Sie mir die Denkwürdigkeiten meiner Mutter, deren Raub ich Ihnen verzeihen will!

Pauline schwieg eine Weile, dann schlug sie die Arme zusammen, legte die Füße übereinander und sagte:

Ich habe Sie ausreden lassen, Prinz Egon. Erlauben Sie, daß ich erwidere. Aber versprechen Sie mir, jeden kleinlichen Gesichtspunkt aufzugeben! Ich sage Ihnen, daß ich die Denkwürdigkeiten besitze –

In der That!

Sie müssen mir aber ein aufmerksames Ohr leihen.

Wozu? Weshalb ist Das nöthig? Warum soll ich... Sie achten? rief Egon voll Zorn und voll geheimer Freude, die fast die Miene des bittersten Übermuthes annahm.

Übermuth war aber für Paulinen zuviel. Sie erhob sich und schleuderte einen durchbohrenden Blick auf den jungen Mann, der jetzt das Recht zu haben glaubte, sie verächtlich zu behandeln.

Ich kenne diese Denkwürdigkeiten, wiederholte sie mit stolzer Miene, aber wie? wenn ich sie vernichtet hätte?

Wenn Sie mit dieser Möglichkeit nur drohen, Madame... so existiren sie noch! sagte Egon, und ich schwöre Ihnen, ich verlasse Ihr Haus nicht, bis ich nicht weiß, was meine Mutter mir in ihrer letzten Stunde hat berichten, auf meinen Lebensweg zurufen wollen!

Pauline lächelte jetzt verächtlich.

Ich denke nicht an Drohungen, sagte sie, und ich denke nicht an Rechtfertigungen, aber ich will, daß Sie von dieser Frage jeden niedrigen Standpunkt ausschließen. Deshalb beding' ich, daß Sie mich hören!

So reden Sie! sagte Egon und nahm, ihr gegenüber an dem gemalten Kaminvorsetzer, Platz.

Auch Pauline kehrte in ihre frühere Stellung auf dem Sessel zurück. Nach einigen Augenblicken begann sie:

Amanda von Bury, Anna und Pauline von Marschalk waren drei Freundinnen, innigst verbunden seit ihrer frühesten Kinderzeit. Fast gemeinschaftlich war ihre Erziehung; gemeinschaftlich waren ihre Erholungen. Ich, die Mittlere unter den drei Freundinnen, wurde von Anna und Amanda nur noch inniger geliebt, weil ich plötzlich kränkelte und kein langes Leben versprach. Dennoch gelang es einer guten Kur, mich von oft schrecklichen Anfällen eines Brustkrampfes zu befreien und mich bis in mein achtundzwanzigstes Jahr wiederherzustellen, wo ich auf's neue die Anfälle jener Krämpfe bekam, von denen man damals glaubte, daß ich sie nicht mehr ein Jahr würde aushalten können. Amanda und Anna verheiratheten sich, später als ich, die früher einen Baron von Ried ehelichte. Gerade als Baron von Ried starb, wurde Amanda die Gemahlin jenes berühmten Kriegers, dem unser Fürstenhaus zu ewigem Danke verpflichtet ist. Anna heirathete einen jungen Offizier, der seinen Abschied nahm und eine Landrathsstelle bekleidete, den Sohn des Obertribunalspräsidenten, meinen künftigen Schwager. Durch diese Heirathen statt uns zu einen, trennten wir uns. Es ist so der Gang aller Jugendfreundschaften. Ich begab mich, als Witwe, wieder leidend, wieder meiner Gesundheit wegen, auf Reisen, meine Begleitung und treue Pflege war der Obhut meiner älteren Dienerin anvertraut, die noch jetzt die Führung meines Hauswesens besorgt. Ich war in der Schweiz, in Frankreich, in Italien. Ich habe ein bewegtes Leben in meine Erinnerungen eingeschlossen und vielfach versucht, das Glück der Erde, das mir nur für kurze Zeit zugemessen schien, wahr und an der Quelle rein zu genießen. Ich reiste selbstständig und war, wenn man mich nach jetzigem Sprachgebrauch und damaliger Sitte nennen will, halb und halb emancipirt. Der Liebe dürstete mein ganzes krampfhaft bewegtes Herz entgegen: ich suchte, ich wurde gesucht, fand aber nur ein Band, das mich ganz fesseln konnte, einen, den ich liebte. Der, den ich anbetete, hieß Heinrich Rodewald, ein junger Mann von seltener Prädestination. Zu jeder Kunst besaß er die Anlage, zu jeder Wissenschaft die Vorkenntnisse. Genial war seine Auffassung des Lebens. Es kommt so etwas nicht wieder in Eurer jüngeren zerstreuten, oberflächlichen Generation! Er hatte erst dem Studium der Rechte obgelegen, war dann in den damaligen heiligen Krieg gezogen, kehrte mit Ehrenzeichen geschmückt heim und wollte zu den Studien zurück. Durch einen Glücksfall erwarb er eine kleine Summe, die er auf eine italienische Reise verwenden wollte. Er bedurfte dieser Anregung, um sein durch die Abenteuer des Krieges in Gährung gerathenes Blut, das nicht am Studirtische ausdauern wollte, einigermaßen zu beruhigen, den Tumult seiner Adern einigermaßen zu bändigen. Er wollte zur Rechtskunde als Lehrer dieser Wissenschaft zurückkehren und gedachte in Italien den alten und manchen eben erst entdeckten Quellen der römischen und mittelalterlichen Rechtssatzungen nachzuforschen. Dabei liebte er Malerei und Plastik und schwärmte wie damals Alle... Ach, Ihr kennt in Eurem politischen Hader und Eurer Zeitungsbildung die majestätischen Klänge nicht, die damals durch die Herzen der Jugend tönten – Das war ein Ahnen, ein Sehnen, ein Suchen, ein Erfassen! Das war ein Cultus der Musen, ein Forschen nach Wahrheit... Heinrich Rodewald lebte nur in Goethe, in Dante, Rafael, in Schelling. Er kannte die Alten, studirte die mittlere Epoche und lebte fast in derselben Entwickelung wie Byron. Er dichtete nicht, aber sein Leben war ein Gedicht. O was preis' ich ihn, da ich ihn doch hassen sollte! Ich begegnete Heinrich Rodewald in dem ahnungsreichen, jugendlichen Rheinthale, das zwischen dem Bodensee und Chur den Anfang der Straße bildet, die durch die Via mala nach Italien hinüber führt. In Ragaz braucht' ich die von Pfäffers an der wilden Tamina hin herabgeleiteten Bäder. O mein Prinz, ich schildere Ihnen diese Erinnerungen nicht, weil ich weiß, daß eine Zeit kommen wird, wo sie Ihnen Werth haben dürften, ich schildere sie Ihnen, um Ihnen zu zeigen, daß zwischen Ihrem Zorn, Ihrem Mistrauen, Ihrem Haß Herzen, Erinnerungen, vergangene Seligkeiten und überwundene Qualen zittern und zu schonen sind. Ich will Sie vom Standpunkte der gemeinen Neugier, der Sie mich vielleicht zeihen, auf einen höheren führen. Denken Sie an die Stunde, wo Sie einst Helenen d'Azimont am See von Enghien zum ersten Male entgegentraten oder der Tage, da Louison Armand an den Ufern der Rhone Sie zum ersten Male sah!

Egon machte eine Bewegung... nicht der Rührung, sondern des Unmuthes. Er mochte von Paulinen an Verhältnisse nicht erinnert werden, zu deren Kenntnißnahme sie ihm nicht würdig schien: von Jedem vielleicht, von Paulinen nicht.

Pauline, seine Kälte wohl bemerkend, fuhr fort:

Mein Prinz, seit dem Tage, als ich in dem kleinen Abteigarten von Ragaz mit meiner Führerin, Charlotte Ludmer, lustwandelte und der Blumen mich erfreute, die dem steinigen Boden an einem kleinen Springbrunnen entsprossen, als mir Heinrich Rodewald da zum ersten Male entgegentrat, in seiner hohen, männlichen Schöne, in braunen Locken, in edler, freier Stirn, halb noch etwas Militairisches in seinem Wesen, halb der sinnende Gelehrte... und ein Ton aus seinem Munde drang, ein Organ, ein Klang, ein Hauch, würdig, die Worte eines Geistes zu tragen, der immer tief, immer lieblich und eigenthümlich in seinen Wendungen war... werden Sie nicht ungeduldig, Prinz! O, es wird eine Stunde kommen, wo jedes Atom der Erinnerung an Heinrich Rodewald Sie erschüttern wird...

Ich höre ja! Ich höre ja! sagte Egon ungeduldig; aber was soll mir Heinrich Rodewald?...

Rodewald, fuhr Pauline scharf und den Ton jetzt desto schärfer auf diesen Namen legend, fort, Rodewald war jünger als ich. Unser Verhältniß war erst Werthschätzung, dann Liebe und als ich Elende von meinen Leiden gefoltert wurde, war ich selbst von der Freundschaft beseligt, die einer Liebe folgte, deren Band durch eine neue Ehe zu heiligen von manchen Vorurtheilen der Welt verhindert wurde. Ich muß mir leider versagen, Ihnen zu schildern, wie ich mit Rodewald stand, als ich nach neun Jahren des innigsten Zusammenhanges mit ihm, der sich auch nach der Rückkehr aus Italien von Weltvorurtheilen nicht stören ließ, in einem tirolischen Badeorte Landeck, die Freude hatte, mit meiner geliebten Amanda, damaligen Gräfin Hohenberg, zusammenzutreffen. Welche Frau! Wie sanft und gut! Wie weich und zart! Prinz... werden Sie nicht ungeduldig, es ist Ihre Mutter... ich darf wohl hinzufügen, daß die Gräfin Hohenberg sehr unglücklich verheirathet war. Ich lasse über diese Saison von Landeck, über die Folgen derselben einen Schleier fallen...

Warum? Erzählen Sie! Ich kenne das unglückliche Loos meiner Mutter –

Mein Prinz, ich schweige. Sie wissen nichts von dem Allen. Ich will Ihnen nur sagen, daß die Freundschaft zwischen mir und der plötzlich zur Fürstin erhobenen Amanda sich nicht erhalten hat. Ich war von meinen Brustkrämpfen dem Tode oft nahe und glaubte zu sterben. In Ems erwartete ich mein Ende. Meine Schwester Anna kam, sie kam mit ihrer Tochter, einem Engel von sechszehn Jahren, einer halben Waise (der Vater war soeben gestorben) Rodewald stand mir zur Seite... man erwartete meine Auflösung. Anna hatte sich nur losgerissen, um mich noch einmal zu sehen. Sie mußte zurück zur Ordnung ihrer Erbschaft. Ich bat sie, mir ihr Kind Selma zur Seite zu lassen. Sie willigte ein. Die Ludmer bedurfte einer Unterstützung in meiner Pflege. Ich starb aber nicht... ein Jahr lang glaubt' ich, daß jeden Tag mein Ende nahe. Rodewald und Selma sollten, Das war noch mein letzter Wille, noch meine heiligste Lebensaufgabe, sich dauernd vereinigen... Selma und Rodewald sollten...

Egon hob sein Haupt und erstaunte über die Verwirrung, die sich Paulinen's plötzlich bemächtigte. Sie war schon längst aufgestanden, athmete laut, machte einen Gang durch's Zimmer, rückte an den Sesseln, warf sich auf ein Canapé, drückte den Kopf auf ein Kissen und bat um eine Minute Zeit, sich zu erholen.

Ist Ihnen nicht wohl, gnäd'ge Frau? fragte er und wollte klingeln.

Nein, nein, stöhnte sie. Ich erhole mich...

Nach einer Weile fuhr sie fort:

Ich gestehe Ihnen, Fürst, daß ich mir damals einbildete, eine Heroine, ein Engel an Kraft und Entsagung zu sein. Ich wollte Selma und Rodewald verbinden, ich wollte, daß sie einig würden, ich lenkte das Herz des Kindes meiner Nichte mit Gewalt, ich zwang sie, in Heinrich das Alles schon zu finden, was sie vielleicht noch nicht suchte. Ich kann, ich darf Ihnen nicht sagen – Ihnen nicht, Prinz – was mich bestimmte, von der Welt scheidend die Beruhigung mitzunehmen, daß Rodewald und nur Selma sich liebten, keine Andere, keine Andere...

Warum mir nicht? Warum Ihr Zorn? Ihr neu entflammter Haß? Wen sollte Rodewald nicht lieben..?

Dringen Sie nicht in mich, Prinz! Ich will nichts erzählen, nichts aufklären, ich will Sie nur auf Wege führen, wo Sie Achtung und Schonung für mich lernen sollen, Prinz! Ja, es mag Rache gewesen sein, daß ich Rodewald und Selma wie die Schlange am Baume des Paradieses verband. Aber der Himmel strafte mich! Strafte mich durch seine Gnade! Ich genas, Prinz! Ich genas! Ein kluger und kundiger Arzt lehrte mich eine Diät, die ich nie gekannt hatte. Die Bäder von Ems linderten den Reiz meiner Nerven. Ich genas, Prinz! Völlig! Völlig! Die Natur hatte sich gefunden. Und als ich froh in's Leben zurückkehrte, nun wieder nach Rodewald dem Geliebten suche, ist er entflohen, mir entflohen. Selma war ein Kind. Sie, dacht' ich, wird von ihrer Leidenschaft bald geheilt sein. Aber mein Freund? Wo ist Rodewald? Er war verschollen. Nicht die Liebe zu Selma, die ihn wohl nie innerlichst ergriffen hatte, hatte ihn fortgetrieben von unsern Wohnungen; Überdruß am ganzen Leben, Ekel, schrieb er mir einst, an Allem, Ekel aber am meisten an dem Weibe, Ekel am Weibe! Vielleicht der Kummer und Unmuth über Erfahrungen, die Sie einst noch entdecken werden... aber Selma liebte ihn. Ich Thörin hatte die Knospe ja selbst entblättert! Das Kind lebte nur für Den, den ich es gelehrt hatte, als einen menschgewordenen Gott zu verehren. Rodewald, aus Motiven, die ich nur ahnen kann, floh mich, floh alle Welt, er war sich selbst zur Last, zur Qual geworden und mit den Worten: Läuterung! Läuterung! nahm er schriftlichen Abschied nach einer Gegend, wo ich ihn nicht mehr sehen sollte und wohin er mit Selma, die nicht mehr von ihm lassen wollte, auf immer verschwunden ist.

Aber meine Mutter? bemerkte Egon und verrieth auf's neue die Ungeduld, auf die Bahn ihrer Denkwürdigkeiten einzulenken.

Ihre Mutter? sagte Pauline vor sich hin und machte eine Miene voll Bitterkeit...

Daß Ihre Schwester Anna von Harder Sie hassen mußte, tödtlich hassen muß, erkenn' ich, sagte Egon. Sie haben die Blüte des jungen Gefühls ihrer Tochter vergiftet – haben, wie Sie, mir unbegreiflich, sagen, aus Rache die Genugthuung haben wollen, daß Rodewald, durch den Tod von Ihnen getrennt, nur Selma liebt... Sie haben einer Mutter ihr Kind geraubt... Selma von Harder? Selma... Wer erinnerte mich einst an eine Selma...

Egon konnte sich nicht besinnen, daß man ihm von einer Selma Ackermann gesprochen hatte...

Pauline fuhr fort:

Meine Schwester haßt mich nicht. Sie gehört zu Denen, die überwunden haben. Weiß sie doch, daß unter dem Raube ihres Kindes Niemand furchtbarer litt als ich. Ich hatte das Leben wieder und das Licht meines Lebens war ausgelöscht. Was war mir die Welt ohne Rodewald? Er war dahin, für ewig! Das Gefühl, das mich ergriff, war nicht das der innern Vernichtung, der zerschmetterten Ohnmacht. Wie konnt' ich auch? Ich war ja gesund! War ja dem Leben wiedergegeben! Ich raste. Ich hatte keine Besinnung mehr. Ich glaubte, im Strudel der Welt meinen innern Schmerz betäuben zu können. Ich warf mich in diesen Strudel und beging Thorheit über Thorheit; denn die Menschen sollten sehen, daß ich lachen konnte. Alle Welt kannte den Vorfall mit Selma, meiner Nichte, die ich zu meiner eigenen Mörderin erzogen hatte. Anna, Witwe, ihres Kindes beraubt, vermied mich und trauert bis diesen Augenblick. Zehn Jahr mocht' ich so gegen mich selbst gewüthet und die Freude gesucht haben, um nur nicht zu hören, daß man lachte und meine Thränen sah... als ich endlich ermattet niedersank und Einkehr halten wollte. Amanda, Anna, alle meine Freundinnen hatten schon seit Jahren diese Einkehr begonnen. Ach, sie hatten sich Alle Irrthümer vorzuwerfen, Alle waren sie von der damaligen großen wogenden Frühlingszeit ergriffen und das Blut hatte ihnen in den Adern gerollt, wie aus Sympathie mit dem großen Wachsthum der Zeit und der Geister... Prinz, ich gestehe Ihnen, daß ich die Art von Läuterungen, die damals Sitte waren, nicht begreifen konnte. Beten, hinter gemalten Glasfenstern knieen, das Orgelspielen lernen, das dies irae vierstimmig singen helfen... diese Läuterungen waren die Wiederkehr der alten Eitelkeit, nur in andern Formen. Ich wurde bitter über die Vergangenheit, über mich, über Andre. Ich heirathete zum zweiten male. Ich schrieb... Ich schrieb »Amarantha«.

Eine Satyre gegen meine Mutter...

Sagen Sie nicht, gegen Ihre Mutter! Sagen Sie, eine Satyre – nein, auch Das ist nicht das Wort – eine Anklageschrift, ein Zorngericht über die Seelen, die Alle, Alle gesündigt haben und durch Heuchelei die Vergebung des Himmels antizipirten...

Meine Mutter war schwach, aber sie heuchelte nicht! antwortete Egon.

Sie war schwach, Das ist das Wort, Prinz! Schwach – Sie meinen doch wol an Charakter? Aber diese Schwäche an Geist gaben diese Büßerinnen, diese Cantatensängerinnen für Stärke aus; Das forderte mich heraus. Ich warf ihnen den Handschuh hin, »Amarantha«, die Allen galt, nicht nur Ihrer Mutter, auch meiner Schwester, Allen, die empfindsam wurden, weil sie nicht mehr empfinden konnten...

Egon war zu scharfsichtig, dachte zu klar über seine Mutter, zu klar über Das, was er Alles in Genf erlebt hatte, um Paulinen von Harder nicht im Grunde der Seele Recht zu geben. Er sah da eine leichtsinnige, aber starkbegabte, sehr merkwürdige Frau vor sich, die ihm in dieser aufrichtigen Buße, die sie sich durch ihre Geständnisse auferlegte, sogar schon eine gewisse Achtung abgewann...

Mein Prinz, fuhr Pauline fort, ich bin zu Ende. Eine andere Zeit ist gekommen, neue Anschauungen haben den Thron der alten umgestürzt. Wer glücklich noch sein will, schließt sich ab und sehnt sich nach Ruhe. Alle Welt sprach von den hinterlassenen Denkwürdigkeiten Ihrer Mutter... ich wußte, daß sie mich haßte. Ich mochte nicht, daß der letzte Rest meines Lebens, der an Reue und Verdruß überreich ist, noch verbittert werde durch die Enthüllung und Entweihung des Begrabenen. Zehn Jahre nach Rodewald's Flucht heirathete ich Herrn von Harder, meinen eigenen Schwager. Ich war damals schon vierzig Jahre. Sie sehen, Prinz, wie aufrichtig ich in meiner Biographie bin. Mein Gemahl steht dem Hofe nahe... es gibt der Rücksichten mancherlei... ich will Ruhe haben und hasse alle gewaltsamen Erschütterungen... die Denkwürdigkeiten Ihrer Mutter mußt' ich besitzen. Zeitlebens hab' ich immer dienende Hände gefunden, die gern für mich eintraten... man hat viel aus Liebe zu mir gethan... mehr, als ich wollte, mehr, als ich oft mochte, guthieß... o Gott, es knüpft sich viel an meinen Namen, was nicht ganz aus meiner Seele floß!

Pauline wollte das Haupt senken, aber sie mußte aufhorchen. Es war ihr, als hustete im Nebenzimmer die Ludmer...

Wir werden gestört, sagte Egon und faßte sich kurz. Ich bin vollkommen auf dem Standpunkt, gnädige Frau, den Sie mir bezeichnet haben. Ich denke nicht kleinlich von Ihnen. Ich bin nicht befugt, der Richter Ihres Lebens zu sein. Einen schlimmen Gebrauch von diesen Denkwürdigkeiten werd' ich nie machen. Besorgen Sie Das nicht! Nie! Ich verspreche Ihnen...

Sie glauben also, Amanda hätte mich angeklagt... unterbrach ihn Pauline erschüttert von dem Wort, das ihr so gekommen war: »Es knüpft sich Vieles an meinen Namen, was nicht ganz aus meiner Seele floß!«

O ich ahne es, Frau von Harder, rief Egon mit aufwallender leichter Rührung. Sie waren tief beschämt, als Sie diese Blätter lasen und nichts, nichts von einem rachedürstenden Herzen fanden...

Pauline schwieg...

Räumen Sie Ihrer Feindin die Gerechtigkeit ein! Sagen Sie, daß meine Mutter großmüthig war!

Sie war großmüthig!

Egon wurde ergriffener und sprach still für sich:

Gute Mutter! Vergib deinem Sohne!

Dann wandt' er sich an Pauline:

Geben Sie die Blätter! Noch diese Nacht will ich sie auf meinem Lager mit Thränen netzen.

Prinz, sagte Pauline jetzt mit entschiedener Wendung, diese Blätter! Ich gebe sie Ihnen nicht.

Wie? Das wäre das Ende Ihrer Mittheilungen? rief Egon.

Wenn ich diese Denkwürdigkeiten vernichtet hätte?

Das haben Sie nicht! Nein, nein! Oder doch? Doch? Die großherzige Liebe meiner Mutter beschämte Sie? Sie vernichteten ein Denkmal Ihrer Scham, Ihres Neides? Sprechen Sie!

Die Blätter existiren. Aber sie sollen, Sie dürfen sie nicht lesen!

Welche Ausflüchte!

Überstürzen Sie sich nicht! Ich meine es gut mit Ihnen, Feuerkopf! Die Blätter lesen Sie nicht!

Geben Sie mir das Testament meiner Mutter!

Sie sind ein Ungestüm!

Endigen Sie diese Ausflüchte, diese Verstellungen... ha, diese Lügen, Madame! rief Egon jetzt knirschend vor Ärger über solche Weitläuftigkeiten. Sie haben mich zähmen, rühren wollen...

O mein Gott! stöhnte Pauline. Noch denken Sie niedrig von mir! Ich flehe Sie an! Begehren Sie diese Geständnisse einer Frau nicht, die die Welt verachtete, nur Gott liebte und Niemanden, Niemanden sonst... nicht einmal Sie!

Nicht ihren Sohn? Nicht mich? Madame! Lüge!

Prinz!

In dem Augenblicke ertönte die Glocke des Hauses.

Ha! athmete Pauline auf. Es war ihr, als wäre sie ganz verlassen gewesen, ganz der Wildheit dieses jungen Mannes, der keine Rücksichten kannte, überlassen.

Ich weiche nicht von dieser Stelle, rief Egon, bis ich diesen Spuk, diesen ewigen Eingriff in mein Leben nicht endlich beseitigt habe. Ich bin vor Ihnen gewarnt. Der Vater, die Mutter bezeichneten mir Ihren Namen als den einer Schlange, die sich um mein Leben ringeln wird, um mir das Herzblut auszusaugen.

Pauline horchte eine Weile, wer kam.

Man hörte die Thüre öffnen.

Vielleicht ist es Franz! dachte sie erleichtert. Es war so still, so dunkel draußen. Sie hörte die Ludmer nicht. Ihre Diener waren nicht alle zugegen. Es regnete draußen in Strömen. Sie war diesem Ungestümen so preisgegeben...

Noch sagte sie fest und entschieden zu Egon:

Prinz, wenn Sie diese Blätter lesen, droht Ihnen etwas, was Ihnen nach einem solchen Glauben über mich wirklich die Hölle sein müßte...

Das wäre?

Die Qual... mein Freund zu werden!

Egon lachte bitter auf und bat um Aufklärung einer solchen Möglichkeit, die allerdings, wie er grausam hinzufügte, ihr... Bedenkliches hätte.

Erlassen Sie mir, sagte Pauline tiefverletzt, aber mit immer mehr sich beherrschender Ruhe, die nähere Auseinandersetzung. Genug, Sie würden mein Freund werden, ja vielleicht, setzte sie scharf betonend hinzu – mein Sklave. Also, wohlan! Prinz! Ich verbrenne die Blätter. Gute Nacht!

Damit erhob sie sich, um zu gehen. Egon aber hielt sie mit gewaltsamem Entschluß an der Hand zurück, führte sie an's Fenster und riß dies Fenster auf... es stürmte, es regnete... die Bäume krachten... Pauline bebte... sie wollte sich losreißen, sie wollte schreien... da intonirte vor dem Garten eine jugendliche Männerstimme ein kurzes Lied.

Hören Sie diesen Gesang? rief Egon in wilder Aufregung.

Pauline, von der Kälte der Nacht durchschauert, sah ihn mit Entsetzen an und rang sich von seinen Händen los.

Es ist das Zeichen eines Wächters! sprach Egon, indem er das Fenster schloß. Meine Freunde, drei an der Zahl, sind entschlossen, in dieser Stunde mit mir die Fäden gewaltsam zu zerreißen, die mein Leben umspinnen!

Was bezwecken Sie, Prinz? Um's Himmelswillen! rief Pauline und wollte mit einer raschen Wendung entfliehen.

Egon aber warf sie mit einer Armbewegung zurück und behielt die Thür im Rücken.

Ich dringe mit meinen Freunden, die hier in dies Fenster steigen, in Ihr Arbeitszimmer und verlasse es nicht früher, bis wir besitzen, was mein ist. Ein Wink von mir und ich habe die Freunde, die mich unterstützen, hier zur Seite. In Ihrem geheimsten Zimmer, das ich mir bezeichnen ließ, bleiben wir so lange, bis wir diesen unerträglichen Intriguen ein Ende gemacht haben.

Das war fast zuviel. Ein Attentat auf ihre Häuslichkeit. Wer hätte hier die Untersuchung aller ihrer Schränke hindern sollen? Die feigen Bedienten? Wer hätte beispringen sollen in diesen einsamen Gartenhäusern?

Aber Pauline lächelte jetzt ruhig und sagte:

Wohlan, mein Prinz, so kommen Sie! Wir können es auch anders beschließen. Ich gebe Ihnen die letzten Geständnisse Ihrer Mutter.

Damit gab sie Egon das Zeichen voranzugehen.

Als er öffnen wollte, war die Thür verriegelt.

Aha! sagte Pauline. Ihr Überfall stößt doch schon auf Vorsichtsmaßregeln. Eine Horcherin hat die Gefahr abwenden wollen und ich bin nicht so verlassen, wie Sie denken! Kommen Sie von dieser Seite, Durchlaucht!

Pauline nahm einen Armleuchter und ging durch eine zweite Thür, durch finstere Zimmer, durch einen Gang... Egon folgte. Die Ludmer stand auf dem Gange mit Franz und einem Gärtner im Dunkeln wie Gespenster, aber rathlose und selbst furchtsame. Doch erschien ihm diese Ludmer wie eine der Dienerinnen Hekate's bei ihren Zauberkünsten, wie eine der Hexen Macbeth's. Es war ihm, als sollte er in seine Zukunft sehen und jenen Zauberspiegel in die Hand nehmen, der ihm die Geschichte seines Hauses offenbarte.

Pauline ignorirte die zu Tode geängstigte Freundin und führte Egon in ihr zweites Boudoir, das geheime. Sie schloß einen Schrank auf und übergab nach mehrfacher Zögerung und erneuertem Andringen Egon's dem Prinzen endlich die Blätter. Dieser erkannte die Handschrift seiner Mutter, küßte sie und sagte zur Geheimräthin:

Also auf die Gefahr hin... Ihr Freund zu werden! Gute Nacht!

Die Geheimräthin wiederholte lächelnd:

Auf die für mich angenehmere Gefahr hin... sogar mein Sklave zu sein! Gute Nacht!

Der Prinz verschwand. Bald hörte man Flüstern von Stimmen vor dem Stacket, das Übersteigen seiner ungeduldigen Freunde, das Bellen angeketteter Hunde, das Sprechen, sich Verständigen Egon's mit den Freunden, Lachen, Spotten, zuletzt das Rollen seines Wagens im feuchten, knirschenden Kieselsande...

O, sagte die Ludmer, die erst eintrat, als der Wagen nicht mehr hörbar war, welche Scene! Welche Verblendung, Pauline! Welche Geständnisse! Welche Gefahren! Das Haus war umringt! Wir müssen in die Stadt ziehen. Man könnte uns hier ermorden...

Laß mich, antwortete Pauline und sank erschöpft auf eine Ottomane.

Nach einer Weile fügte sie hinzu:

Nie traf es sich, daß ich Egon sah. Als ich den ersten Blick auf ihn geworfen hatte... o Gott! Welche Erinnerungen!

Mehr vermochte sie nicht hervorzubringen. Die Ludmer verstand, was sie sagen wollte und versuchte sie auf andre Gedanken zu bringen.

Ich riegelte zu, als ich Franz kommen hörte, sagte sie. Er war bei Augusten und hat mir Schreckliches erzählt. Er kam dort gerade zur rechten Zeit...

Ehe das Mädchen am gebrochenen Herzen starb, aus Verzweiflung, sich von einem Ehrenmanne verschmäht zu sehen? sagte Pauline mit einem Ausdruck, der die ganze Schwere der Gedanken bezeichnete, die auf ihrer Brust lasteten und ihr jetzt wirklich etwas Prophetisches gab.

Ehe sie in's Narrenhaus gebracht wurde! sagte die Ludmer ruhig.

Großer Gott! rief Pauline theilnehmend. Charlotte, Charlotte! Wie ruhig du Das sagen kannst!

Die Ludmer erzählte, wie Franz gekommen wäre, hätte er schon im Hause gehört, daß vorgestern Abend der Fremde, mit dem Auguste seitdem oft ausgegangen wäre, sehr laut und heftig gezankt und dann sich entfernt hätte. Oben hätte Franz den sogenannten Engländer mit der schwarzen Binde gefunden, um Augusten, die auf dem Bette lag, beschäftigt. Der Engländer wäre sehr ergrimmt gegen Franz gewesen. Auguste hätte aber Franzen nicht gekannt. Franz wäre so gescheut gewesen, sich für einen Andern als Den auszugeben, der sie mit Mangold bekannt gemacht hätte. Als Mangold vorgestern gegangen wäre, erfuhr Franz, hätte Auguste nicht ein Wort gesagt, sondern in einem todähnlichen Starrkrampfe dagelegen, bis nächsten Morgen. Murray wäre nicht von ihrem Bett gewichen. Am Morgen wäre sie etwas aufgestanden und hätte in aller Stille das Fenster geöffnet, um sich, ohne einen Laut von sich zu geben, auf den Hof zu werfen. Murray, von dem plötzlichen Gedanken, den Niemand geahnt hätte, überrascht, hätte sie mit Riesenkraft ergriffen und zurückgehalten. Dann lag sie, erzählte Franz, bis zum Abend wieder im Starrkrampfe. Endlich hätte sie Speisen genommen und einige Worte, aber verworren, gesprochen; sie hätte fortgewollt, man hätte sie gehalten. Murray verließ sie keinen Augenblick. Man hätte den Arzt gerufen und dieser eine Beruhigung verschrieben, nach der sie einschlief. Seit heute früh spräche sie still, aber verwirrt, dann hätte sie geweint, sich gesammelt, aber den ganzen Abend wäre sie so gefährlich irr gewesen, daß man sich hätte entschließen müssen, sie in das Narrenhaus zu schaffen. Franz wäre gerade angekommen, als man einen Wagen holte und Murray sie mit schönen kostbaren Kleidern, die er irgendwo hätte holen lassen, mit Gold und Silber putzte, in einen Fiaker schaffte und sie selbst begleitete. Er hätte ihr gesagt: Es ginge auf den Fortunaball! Da hätte sie gelacht und mit der Zunge geschnalzt, als ging' es zum Tanze. Ihre Kleider musterte sie lachend im Spiegel, alle die Ringe, die Brochen, die Armbänder, die sie plötzlich vor Wochen trug, wären zum Vorschein gekommen und so wäre sie lachend und als ging' es zum Ball oder zu einer Hochzeit mit Murray in's Irrenhaus gefahren. Franz, schloß die Ludmer, hat mir die Geschichte so erzählt, daß es mich selbst kalt überlief... und nun hier diese Scene noch, dieser Überfall wie von Räubern und Mördern!

Du bist schauerlich, Charlotte, sagte Pauline entsetzt... Gute Nacht, Charlotte!

Es ist erst neun Uhr, bemerkte die Ludmer.

Ich gehe zu Bett! Gute Nacht, Charlotte!

Die Ludmer kannte gewisse determinirte Stimmungen ihrer Herrin. Sie versparte alle Erörterungen auf morgen und fragte, ob sie das Kammermädchen rufen sollte.

Pauline schüttelte den Kopf.

Die Ludmer, die jetzt mit einem male die lästige Nichte losgeworden war, mit einem male auch die Spannung zu dem Prinzen Egon sich lösen sah, ging ziemlich erleichtert zu Franz zurück, der ihr das Vorgefallene wiederholt erzählen sollte...

Pauline riegelte sich ein, entkleidete sich rasch und warf sich erschöpft auf ihr Lager.

Als sie im Dunkeln war, trat ihr im Halbschlafe Egon's Gestalt entgegen. Sie seufzte auf und hätte ihn an's Herz ziehen mögen, weil er ihr Erinnerungen wachrief, die zu ihren theuersten und schmerzlichsten gehörten. Ihr unruhiges Blut ließ sie nicht schlafen. Sie mußte aufstehen, wieder Licht machen. Zuviel, zuviel der Vergangenheit trat ihr gespenstisch entgegen! Es war ihr, als wenn die alten Brustkrämpfe wiederkämen. Röchelnd erhob sie sich, als läge ein Alp auf ihr. Sie wollte klingeln... unterließ es aber, da sie hörte, daß man noch im Hause wachte. Der Geheimrath kam aus dem Theater. Sie hörte sogar die Schüsseln seines Nachtessens klappern, das man in sein Zimmer oben hinauftrug. Das beruhigte sie wieder. Sie dachte an Schlaf. Aber er floh sie. Bilder aus Italien, aus der Schweiz traten ihr entgegen. Eben lieblich und schön, dann verzerrt und beängstigend. Eine Gestalt schien sie besonders zu ängstigen. Sie erinnerte sie durch eine seltsame Gedankenreihe an Wasser, an einen übergetretenen, hohen Fluß. Hülfe! Hülfe! glaubte sie gerufen zu haben. Dann fuhr sie auf und sah sich um, fand Alles ruhig und legte sich auf eine andere Seite. Aber nun kam ihr Auguste Ludmer vor die Augen. Sie sah sie im Ballstaate mit geschminkten Wangen – sie sah Kerzen – Kronenleuchter – alle Tanzenden waren wahnsinnig – der Mann mit der schwarzen Binde, den sie so oft hatte nennen hören, führte Augusten in ihre Nähe, und diese knixte vor ihr und sagte ihr in wahnwitziger Rede: Schöne Dame, gib doch meinem Baron seinen Sohn! Es war dann wieder, als wäre Mangold Der, der dies Mädchen führte... und ebenso rasch gaukelte ihr ein Bild vor die Augen, wo Auguste zerschmettert auf dem Straßenpflaster lag und Franz mit einem Lichte drüber her leuchtete, und als sie nachsahen, war es eine edle reine Gestalt, die wie ein Engel schlummerte, ganz verklärt, ganz verändert, und sie sagte sich: Das ist ja Selma, aber mit Engelsflügeln! Ach! Sie schläft still und ruht sich von einem Leben aus, das ein ewiges Opfer war!

Dazwischen dann hörte es Pauline deutlich von den Stadtthürmen herüber zehn, elf schlagen. Aber es schlug schon halb zwölf und sie schlief noch nicht... Sie stand ungeduldig auf, machte wieder Licht, nahm Brausepulver, wollte lesen und kleidete sich an.

Kaum hatte sie eine Weile in das erste naheliegende Buch geblickt, als es heftig an der Thür schellte, die von der Straße in den Vorgarten führte. Die Glocke war groß und es schellte mächtig. Pauline ging an das Fenster und sah einen Mann an der Thür, der eben zum zweiten Male schellte.

Um zu sehen, ob noch ihre Bedienung wach war, zog sie ihre Glocke.

Lange dumpfe Stille...

Der Mann, den sie durch eine Ritze ihres halbgeöffneten inneren Fensterladens unterscheiden konnte, schellte zum dritten Male.

Sie zog wieder ihre Glocke.

Endlich regte sich etwas im Hause. Man ging und fragte vom Fenster, was es noch so spät gäbe?

Sie hörte, daß eine fremdartig klingende, das Deutsche etwas gebrochen mit polnischem Accent sprechende Stimme sagte, hier wäre ein Billet vom Prinzen Egon, das man der gnäd'gen Frau morgen ganz in der Frühe beim Erwachen geben sollte.

Wie schlug Paulinen das Herz, als sie diese Worte hörte!

Man nahm das Billet durch das Gitter. Der Fremde, der kein Bedienter war, ging...

Es wird Louis Armand sein! dachte sie... Sie kannte von Helenen die Umgebungen Egon's. Es wird der Sänger sein, der dem Prinzen durch seinen Gesang verrieth, daß die Freunde wachten!

Sie schellte wiederholt...

Franz kam.

Eben wurde ein Brief vom Prinzen Egon abgegeben, sagte sie. Ich will ihn sogleich lesen.

Franz kehrte um und nahm Ernsten erstaunt das eben empfangene Billet ab.

Sie erbrach es hastig, wandte sich von den verschlafenen, zurücktretenden Dienern ab und las:

»Gnädige Frau, erst eine Stunde lang hab' ich in den Blättern meiner Mutter gelesen und den Rest überflogen. Dennoch bin ich schon zu der Überzeugung gekommen, daß ich Sie morgen in aller Frühe, um neun Uhr, wenn ich darum bitten darf, sprechen muß. Ich erkenne, was Sie sagten: Die Selige liebte nur Gott und sich. Vergeben Sie mir, daß ich so stürmisch, so wahnsinnig war! Ich fühle, daß ich des Rathes einer weisen, vom Schicksal geprüften Frau bedarf, einer Frau, die über den gewöhnlichen Standpunkten des Lebens erhaben ist!«

Pauline nickte, als sie geendet hatte, einige Male voll tiefster Genugthuung mit dem Kopfe.

Fühlst du's nun, Prinz Egon Waldemar von Hohenberg! rief sie, die Bedienten nichtachtend, triumphirend aus. Krümmst du dich nun vor Paulinen von Harder, stolzer Jüngling, den die Schönheit Helenen's nicht so fesseln wird wie hinfort der alten Pauline Geisteskraft? Zittere nicht, Egon! Ich bedarf deiner, so wie du meiner bedarfst, und wenn du weise bist und mir deine starke Hand zur Stütze für den Rest meines Lebens leihst, so will ich dir zeigen, daß ich dich mehr liebe, als Helene d'Azimont, mehr, mehr als selbst Amanda, deine eigne Mutter!

Franz stand in der Ferne und harrte noch auf einen Befehl.

Um sieben Uhr wecken! sagte Pauline, erschreckend, daß sie nicht allein war.

Franz ging.

Pauline aber verriegelte die Thür, las das rasch hingeworfene Billet beseligt noch einmal und noch einmal, entkleidete sich und warf sich heiter, beruhigt, ja lachend auf ihr Lager. Sie entschlief unter der süßen, reizenden Vorstellung eines neu für sie beginnenden Lebens.

Im Bunde mit Egon und seinen geisteskräftigen Freunden... was hoffte sie nicht Alles! Was konnte sie nicht Alles wagen und noch vom Schicksal erwarten!

Ende des fünften Buches.


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