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Neunzehnter Brief.

Paris, den 8. April 1842.

Frankreich schöpft seine Kraft aus seiner Einheit. Bei allen Schwankungen seiner Dynastieen, bei aller Kurzlebigkeit seiner Ministerien bleibt eine gewisse Grundlage der Verwaltung sich gleich, die noch von Napoleon's administrativem Talente herrührt. Paris ist das Herz eines Körpers, der in allen seinen Functionen gehorsam den Eingebungen des Herzens folgt. Alle Gesetze sind zum Vortheil dieser Einheit gegeben. Der Instinct des Franzosen, Partei, Masse, ein großes Ganzes zu bilden, ein gewisser Instinct der Ordnung bei aller Beweglichkeit des Charakters kommt jenen Institutionen entgegen, die aus Frankreich ein leicht, schnell und im Allgemeinen gut regiertes Land gemacht haben. Alle Springfedern des öffentlichen Lebens in Frankreich schaffen jene moralische Kraft, welche die Folge der Einheit eines Staates ist. Der Unterricht, die Religion, die Sprache, die Presse, das Heer, die Nationalgarde, der einzige Orden der Ehrenlegion, die Steuern, die Schuld, die gleiche Vertheilung der Repräsentation nach Kopfzahl und Steuerlast, die Eintheilung in Departemente, die Departementalräthe, die Unterpräfecten, die Oberpräfecten, die Telegraphen und jetzt sogar die Eisenbahnen, alle diese Institutionen sind erfunden im Sinne der Einheit, eingeführt im Sinne der Centralisation. In ganz Frankreich herrscht nur ein Gesetz. Ueberall dieselbe Regierung, dieselbe Controle, dieselbe Freiheit, dieselbe Abhängigkeit. Leben und Tod nach den gleichen Gesetzen vor dem Maire geregelt, überall dieselbe Verpflichtung zum Kriegsdienst und dieselbe Art der Aushebung, dieselbe Besteuerung, die gleiche Vertheilung der Lasten nach dem Einkommen, dieselbe Wahlmethode bei allen politischen Acten, dieselbe Gerichtsverfassung, dasselbe Gesetzbuch. Man kann in Frankreich viel zerstören, ohne noch auf jene Grundlagen zu kommen, die es den Franzosen so leicht gemacht haben, sich nach den heftigsten Schlägen des Geschicks wieder so schnell zu erholen.

Könnte man von irgend einem erhabenen Punkte in Paris aus das ganze Leben Frankreichs mit einem Male übersehen, so würde man über diese geschäftige, summende Gleichförmigkeit erstaunen, die an die Tätigkeit eines Bienenkorbes erinnert. In 36 000 Gemeinden, heißt es in einem hübschen Gemälde dieser Einheit, 36 000 Glocken, die mit Sonnenaufgang die Landleute zur Arbeit und zum Gebet rufen. Die einen klingen in den strahlenden Pyrenäenhimmel, die andern in die Nebel des Oceans! Mit ihren kleinen Taschen sieht man auf Holzschuhen oder barfuß die braunen südlichen Kinder und die blonden des Nordens in die Schule gehen. 432 000 Gemeinderäthe wandern, ihre Einberufungsschreiben in der Hand, durch Wald und Feld, über Berg und Thal nach dem Gemeindehaus, um unter 36 000 Maires das Beste ihrer Gemeinde zu berathen. Dort wandert der Alpenbewohner, die Flinte auf der Schulter, nach Havre zu, um sich einzuschiffen in eine Garnison von Martinique oder Guadeloupe, während der Normann die Seeklippen von Ingouville verläßt und Briançon gegen Savoyen vertheidigt. – Dies Geld, das der Einnehmer in dem Haidedistrict der Landes als Steuer vom Betrieb der Harzbäume gewinnt, dies selbe Geld baut eine Militairstraße im Elsaß, trocknet die Sümpfe von Rochefort aus, erweitert die Seinequais in Paris. Die Bankbillets, die der reiche Eigenthümer vom Boulevard des Italiens in Paris dem Steuereinnehmer des zweiten Arrondissements an Zahlungsstatt übergibt, werden jene Mauthbeamte besolden, die der Schutz der Tuchmacher in Sedan, der Spitzenfabrikanten von Lille und der Branntweinbrenner von Montpellier und Pezenas sind. Da sind ein baskischer Hirt, dessen Hütte hundert Fuß über den Bergwassern der Pyrenäen liegt, und ein Fischer aus Boulogne, dessen Hütte von der Flut des Meeres bespült wird. Beide haben sich über ihre Dorfschulzen zu beklagen. Ihre Eingaben kommen an demselben Tage in Paris an, man entsiegelt sie zusammen und zusammen geht an Beide die Antwort ab, an einem Tage nach Norden und Süden Prüfung und Entscheid von Seiten der Oberbehörde.

Von Dem, was Frankreich durch seine moralische Einheit besitzt, hat Deutschland so gut wie Nichts. Sogar unser einziges Bindemittel, die Sprache, ist bei uns so verschiedenartig, daß den norddeutschen Marsch-Bauer der Anwohner des Bodensees nicht verstehen würde. Frankreich hatte einst seine Picardie, sein Burgund, seine Tourraine, seine Bretagne, sein Anjou, wie wir unser Schwaben, Franken, Sachsen, unsre Pfalz und unser Sauerland haben. Provinz gegen Provinz, Stamm gegen Stamm ist bei uns selbst in der Sprache verschieden und verfolgt sich mit Bitterkeit und Spott. Verhöhnend spricht der Süddeutsche von der Sprache des Berliners, der Berliner macht den Sachsen lächerlich, Provinz ist gegen Provinz eifersüchtig. Auch in Frankreich herrschte einst der Cantongeist. Aber schon Richelieu legte die Grundlage zur jetzigen Einheit. Richelieu hob die Macht der Vasallen, Ludwig XIV. die Macht der Parlamenter auf. Durch den Despotismus kam Frankreich zur Freiheit, durch die Revolution zur Gleichheit. Die Revolution zerstörte das Mittelalter, hob alle Localrechte, alle Provinzialgesetzgebungen auf, die Revolution schuf jene glatte Tafel, auf welche das jetzige Frankreich die Kraft seines politischen Daseins begründen konnte, die Centralisation.

Man kann Erhebliches gegen diese Centralisation einwenden, aber man wird ihre Vortheile nicht verschweigen dürfen. Sie sichert Frankreich eine übersichtliche und kräftige Regierung, sie sichert dem Lande bei allen Schwankungen der Systeme jenes materielle Gedeihen, das bei dem sparsamen Sinne der Franzosen schon jetzt wieder große Reichthümer in allen Theilen des Landes aufgespeichert hat. Der Centralisation verdankt Frankreich die Möglichkeit, sich in sich selbst zu sammeln. Es bildet sich der Stoff für künftige Erschöpfungen, der Ersatz für die möglichen großen Verluste. Die Centralisation ist das einzige Mittel gegen jenen Localegoismus, an welchem in Deutschland Alles kränkelt, ja, an dem auch in England Alles kränkeln würde, wenn England nicht gegen den Egoismus der Gemeinden den gewaltigen Gegendruck des Egoismus der Nation hätte, wenn das wuchernde Schlinggewächs der Privilegien dort nicht von dem Baume der Freiheit wieder überragt würde. Es mag lächerlich erscheinen, über jeden Stein, der aus einer Kirchhofmauer fällt, erst an die Centralstelle des Departements zu berichten, über jeden Brückenbau erst an das Ministerium der öffentlichen Arbeiten zu Paris, aber wer sichert der Ordnung des Ganzen, daß die Gemeinde die Lücke der Kirchhofmauer wieder ausfüllt, daß die Provinz aus eignem Entschluß dort eine Brücke baut, wo Jahrhunderte lang ein Weg aus Steinen und Bretern oder ein langer Umweg genügte? Ja, gesetzt man baute in Marseille mit ungeheuern Kosten einen Quai, die Ausgaben brächten das Budget der Stadt in Unordnung, man schlüge die Accise des Brotes, die Taxe des Fleisches auf, man ließe um einen glänzenden Quai die Masse der ärmeren Bevölkerung darben, würde man in diesem Falle die ausgleichende Controle einer Centralbehörde nicht der Autonomie der Gemeinden vorziehen?

Allerdings trifft man in Frankreich nicht jene kräftige Selbständigkeit, jenes poetische Colorit des Provinzlebens, das uns an Deutschland so werth, an Belgien so überraschend ist. Paris absorbirt alle höhern Lebensfunctionen Frankreichs. Paris ist die Blume im Reiche der Mitte, der duftende, betäubende Auszug aller Kräfte der Nation. Nichts macht sich ohne Paris, keine Unternehmung, kein Streben, kein Ruhm, keine Belohnung, nicht einmal ein Erfolg. Die Provinz ist der Docht, nur Paris die Flamme. Die Provinz frägt, und Paris gibt die Antwort. Paris macht Könige und setzt sie ab. Die Provinz ist ein Dorf, nur Paris eine Stadt. Von Paris entspringt Alles und von Paris kehrt es wieder zurück. Es gibt Alles und es nimmt Alles. Die Provinz ist nur Werkzeug, nur Organ, nur Proceß. In der Provinz kann man eine Wahrheit erfinden, sie bleibt ein Traum, bis Paris sie anerkennt. In der Provinz gibt es Künstler, nur in Paris ist die Kunst. Was man in der Provinz schreibt, wird nur in Paris ein Buch. Man darf geboren werden und sterben in der Provinz, leben aber kann man nur in Paris.

Ja, es ist wahr, Alles, was in Frankreich nicht Paris ist, ist ohne Leben, ohne Farbe, ohne Blüte. Es gibt reizende Gegenden, aber es fehlt die Gesellschaft, die sie belebt. Kein Thal, keine Gebirgskette, kein Wildbad wird in Frankreich bedeutend werden, da nichts mit Paris wetteifern kann. Glückliche Pyrenäenquelle, glückliches Provencethal, wenn du gewürdigt wirst, gemalt im pariser Salon zu hängen! Die Berge haben Burgen, die Städte alte Thürme, um die sich Epheu schlingt, man besucht sie nicht, man pflegt sie nicht: kein Schloßtrümmer, keine tausendjährige Eiche, kein altes Verließ ragt in Frankreich so frisch, so jung noch in die Zeit herein, wie unsre Burgen am Rhein, unsre Warten, unsre Rathhäuser, unsre Münster und Dome. Es gibt herrliche Bauten in Frankreichs Provinz, aber es fehlt ihnen die pariser Beleuchtung; die Städte haben Alleen, haben blumenbepflanzte Wälle, haben Theater, Plätze, herrliche Statüen, aber Allem fehlt die Seele, das Relief, der überzeugende Glaube, die Anerkennung, die einschmeichelnde Sicherheit und selbstgetragene Würde. Ich war in Lyon. Eine Stadt, die schon an Italien mahnen könnte und die sich quält, an Paris zu erinnern. Die Damen könnten schon den weißen italienischen Schleier tragen, aber sie tragen die pariser Moden. Man spricht in Lyon französisch, ohne es zu wissen. Das Französisch der Provinz ist nicht mehr die Sprache, in der Racine und Molière geschrieben haben, sondern eine Sprache des Bedürfnisses, eine Sprache, die auch die Pferde verstehen, eine Sprache, die, wie jede andre, nicht der Geist, sondern der Magen erfunden hat.

Die Nachtheile der Centralisation sind aber noch größer. Die Zurückführung aller der Quellen, die das politische Leben Frankreichs bewässern, auf einen einzigen pariser Ursprung, läßt von der Beschaffenheit dieses Ursprungs das Leben des ganzen Landes abhängig werden. Hier ist in der That möglich, was jener Ungar in Donaueschingen für möglich hielt, durch ein Zuhalten der Donauquelle den Wienern die Donau abzusperren. Trübt man hier die Quelle, so trübt man alle Ströme. Die Administration wird abhängig von der Tagespolitik. Die Minister benutzen die Centralisation zur Erreichung ihrer Wahlzwecke. Die Ministerien entscheiden über das Wohl des kleinsten Fleckens in der Normandie und dieser Flecken wird für die Minister wählen. Die Centralisation ist das weite Tummelfeld der Bestechungen. Eine Reise nach Paris, Besuch bei eitlen Beamten, Bestechung der höhern Instanzen, die Franzosen sagen es selbst, daß dies die täglichen Vorkommnisse in der Staatsmaschine sind, warum es ihnen nicht nachsprechen? Man besticht nicht gut den nächsten Beamten, der in unserm Orte wohnt, täglich mit uns verkehrt, leicht aber den, der in weiter Ferne keine Entdeckung zu befürchten hat. Man besticht auch nicht mit Geld, man besticht durch Einladungen an industriellen Unternehmungen, durch Verwendung für die Interessen Dessen, der sich für uns verwendet, man besticht durch seinen Einfluß in der Provinz, durch seine Wahlstimme, durch Huldigungen, ja nicht selten durch ein angenehmes Aeußre und Odry würde sagen, zuweilen auch durch eine hübsche junge Frau.

Und doch überwiegen die Vortheile der Centralisation unendlich. Was hat Deutschland von seiner bunten Mannichfaltigkeit? Pittoreske Reisen, größere Bildung, aber auch den Fluch der Uneinigkeit. Hätten wir Spaniens Verhältnisse, auch bei uns würde sich Saragossa gegen Bilbao, Bilbao gegen Madrid empören. Wir haben kein gemeinschaftliches Recht, keine gemeinschaftliche Verfassung, keine gleiche Religion, Frankreich ist trotz aller seiner neusten Demüthigungen doch so wunderbar elastisch nur durch seine Centralisation. Es ist wahr, sie dient zu gleicher Zeit dem Despotismus und der Freiheit, sie macht Alles möglich. Aber in Paris ist nicht Alles möglich, Paris wacht, Paris ist ein Land für sich, seine Faubourgs, seine Arrondissements, seine Gesellschaftsklassen, seine Staatsgewalten kämpfen gegeneinander, halten sich Schach und was die Mehrzahl in Paris gibt, kann das Land selbst schon getrost hinnehmen. Es ist vielleicht ein Unglück, wenn eine Million über dreißig entscheidet, aber das Unglück wäre noch größer, wenn die Vendée, wenn das südliche Frankreich, wenn irgend ein Flecken Frankreichs sich dem Ganzen widersetzen dürfte.

Die Centralisation mildern, ist leicht gesagt. Wie es beginnen? Gegen die Einführung von regierenden Oberpräsidenten der Provinzen sprechen alle Erfahrungen. Selbst Preußen erlebte, daß ein freisinniger Oberpräsident sich gegen Berlin anstemmen konnte. Dem Franzosen muß man so wenig wie möglich Macht in die Hände geben. Er wird sie immer misbrauchen. Den Städten Frankreichs ist ihre historische Bedeutung entfallen, alles Eigenthümliche ist an ihnen erloschen. Ihre Geltung erhalten sie nur noch durch ihre Besatzung, ihre Regierungscollegien, ihre Gerichtshöfe und durch ihre Industrie. Die Industrie aber wird ihnen durch das pariser Finanzsystem gesichert. Den Städten eine Art Selbstregierung lassen, wozu? In Deutschland hat man diesen Weg eingeschlagen, weil er seit Jahrhunderten von selbst bestand und viele unsrer Städte früher reichsunmittelbar waren. Man hat sie sich selbst regieren lassen, weil sie größtentheils so verschuldet sind, daß der Staat wünschen muß, mit ihren innern Angelegenheiten verschont zu bleiben. Auch vergißt der Deutsche, wenn er eine Art Freiheit für sich hat, für die Freiheit der Andern zu sorgen. Gesetzgeber für die Straßenlaternen seines kleinen Ortes, kümmert ihn das Licht seines Vaterlandes wenig. Der Deutsche ist concret, der Franzose abstract. Seine Gedanken genügen ihm nicht als Begriffe, sondern er muß sie auf dem Papier malen können. Die Centralisation läßt sich zeichnen. Es ist ein großes, kunstvoll gearbeitetes Netz, wo jede Masche, jeder kleine Zirkel in den andern greift. Diesen Schematismus zum Gesetz zu machen, die Centralisation in die Wirklichkeit einzuführen, bedurfte es nur einer Tugend, die wir Deutsche gar nicht, der Franzose aber im höchsten Grade besitzt. Man wird erstaunen, wenn ich diese Tugend nenne. Es ist der Gehorsam.

Im Widerspruch mit der Hochachtung, die ich vor der französischen Centralisation aussprechen muß, hat mir doch die kleine so eben erschienene Schrift von Cormenin: »De la Centralisation. Par Timon.« gar nicht gefallen. Man ist bei Timon's, des neuen P. L. Courier, Veröffentlichungen gewohnt, daß sie irgend eine schwebende Tagesfrage beleuchten. Weshalb aber diese enthusiastische Vertheidigung der Centralisation grade jetzt erscheint, begreift hier Niemand. Man hat allen Grund zu fürchten, daß Cormenin durch solche luftige Büchelchen seinen immer in der höchsten Reife der politischen Fragen entscheidenden Vortheil verliert. Was an dieser kleinen Brochüre sich als Niederschlag und bleibender Bodensatz ergibt, kann Niemand anders, als grade der Regierung zu gute kommen. Die Muse der Volksschriftsteller heißt die Gelegenheit.

Cormenin schreibt über die Centralisation, als wenn sie in Gefahr wäre. Er empfiehlt sie den Franzosen, als sollte sie ihnen genommen werden. Wer denkt daran? Cormenin hat gehört, daß das Ausland sich in die französische Centralisation nicht finden kann. Er warnt die Franzosen vor den Rathschlägen der Fremden, die Frankreich nur deshalb decentralisiren wollen, um es zu schwächen. Der Gewinn des Büchleins ist kein andrer, als eine unwürdige Anschürung der Nationaleitelkeit. Lange hat man keine so prahlerischen Schmeicheleien gelesen, wie hier ein Schriftsteller sie über seine Landsleute häuft. Nach Cormenin sind die Franzosen durch ihre Centralisation nicht nur das freieste, sondern auch das erste Volk der Erde. Statt ihre Einheit als eine Frucht ihrer Vergangenheit und eine Bedingung ihrer Zukunft darzustellen, macht er aus der französischen Regierungsmethode ein Arcanum, ein Lebenselixir, das er mit den größten Uebertreibungen auf dem Markte ausruft. Zu einer Zeit, wo die Gebildeten in ihren Vorurtheilen leidenschaftlicher sind, als das Volk selbst, erschrickt man, wenn man das Volk zu solchen Vorurtheilen aufreizen sieht. Wozu dieser Fremdenhaß? Cormenin's Brochüre könnte die Jahreszahl 1815 an der Stirn tragen.

Nachdem Cormenin bewiesen zu haben glaubt, warum und wodurch die Franzosen das erste Volk der Erde sind, fährt er fort: »Kaum haben wir die Grenze überschritten und den ersten Fuß auf den eroberten Boden gesetzt, so verändern wir am nächsten Morgen gleich seine innere Verfassung, seine Politik, seine Verwaltung, seinen Kriegszustand, sein Gemeindewesen, seine Rechtsverfassung, seine Schulen, seine Feste, seine Theater, seine Moden bis in die kleinste Züge seiner häuslichen und Privatsitten. Wir mischen uns in Alles und übernehmen Alles, wir machen Brüderschaft mit den Fremden, leben von und mit ihnen, wie sie von und mit uns, wir machen sie uns in Allem ähnlich, so gut und vollständig, als gehörten sie mit zum alten Frankreich.« Cormenin setzt nicht hinzu, daß grade diesem Nivellirungssystem Frankreich auch den schnellen Verlust seiner Eroberungen zu verdanken hat. Statt seinem Volke eine Unsitte als Tugend anzurechnen, sollte der wahrhaft aufgeklärte Schriftsteller ihm das Unrecht, oder wenigstens die Gefahren derselben vorhalten.

Cormenin und Lamennais, welch ein Widerspruch! In Lamennais Alles aufrichtig, wahr, menschlich. In Cormenin Alles versteckt, berechnet, parteiisch. Cormenin wendet die Thatsachen je nach dem Gebrauche, den er von ihnen machen will. Er stempelt sich offen zum Jesuiten, wenn er sagt (S. 89): »Es ist nicht immer nöthig, das Recht für sich zu haben, wenn man davon nur den Schein hat.« Um seinen Zweck zu erreichen, verschmäht er selbst den Unsinn nicht. Er scheint vorauszusetzen, man müsse die Volkslogik nehmen, wie sie ist, als die Vermittelung des Ungereimten, als den Aberglauben in seiner weltlichen Gestalt. Hat es Sinn, wenn er sagt: »Als einst der Engländer in Paris thronte, die Normandie beherrschte, die Guienne überschwemmte und Karl VII. von Stadt zu Stadt verjagte, weckte die Centralisation die Jungfrau von Orleans.« Warum nicht gar? Wenn der Engländer schon in Paris war, war es mit der Centralisation aus, und die Jungfrau von Orleans konnte wol durch den eignen Heldenmuth, die Liebe zum Vaterlande und zu ihrem König geweckt werden, aber nicht durch eine Idee, die Richelieu nicht erfunden hätte, wenn sie Frankreich schon unter Karl VII. gehabt hätte. Ferner: »Als Louis XIV., von der europäischen Coalition bedroht, heroisch erklärte, er würde von Versailles nach Paris zu Pferde kommen und Villars eine Armee von 100 000 Mann bringen, beseelte ihn die Idee der Centralisation.« Man sollte meinen, die Idee, sein Land zu behalten, hätte schon hingereicht, ihn zu jenem Entschlusse zu beseelen. Aber nach Cormenin ist die Centralisation eben ein Wunderbalsam, der für Alles gut ist.

Ich glaube, daß Cormenin durch das große Glück, welches seine Brochüren machen, verleitet wird, deren mehr zu schreiben, als die Umstände verlangen. Je kleiner und wohlfeiler die Bücher sind, desto schneller werden sie gelesen, desto stärker verkauft. Die kleine Schrift über die Aussteuer hat 17 Auflagen erlebt, das Buch über die Redner zwölf. Cormenin wird, wenn ihn dieser Gewinn reizt, sich in seinen Gedanken erschöpfen und in seinem Styl verflachen. Der Popularschriftsteller von Geist ist übel daran. Er soll allgemein verständlich schreiben und doch auch dem Gebildeten nicht gewöhnlich erscheinen. Jenes zu erreichen und dies zu vermeiden, ist nur möglich bei einer angebornen Naivetät des Ausdrucks, bei einem Bilderreichthum, der selbst bekannten Wahrheiten eine hübsche Einrahmung gibt, bei natürlichem Witz und großer Kürze des Ausdrucks. Man muß aber gestehen, daß Cormenin in einem so geschmacklosen Satze, wie dem nachfolgenden, den Volkston nicht getroffen hat.

Er sagt S. 102: »Paris ißt und trinkt, spielt Komödie und amüsirt sich für Nantes, Straßburg, Lille, Rouen, Amiens, Orleans, Bordeaux, Lyon und Marseille. Paris administrirt, reglementirt und gouvernirt für Nantes, Straßburg, Lille, Rouen, Lyon, Marseille und Bordeaux. Paris gibt Gesetze für Nantes, Straßburg, Lille, Rouen, Toulouse, Bordeaux, Lyon und Marseille. Paris denkt, schreibt, druckt, singt, malt, verlegt, kannegießert, philosophirt, schwärmt für Marseille, Nantes, Lyon, Bordeaux, Rouen, Lille« u. s. w. Wer so schreibt, klärt seinen Stoff nicht auf, sondern verdünnt ihn. Daß Cormenin um Geld schreibt, sah' ich aus der Vorrede, die er zu Börne's gesammelten französischen Artikeln geliefert hat. Er hatte nicht drei dieser Artikel gründlich durchgelesen.

Timon-Cormenin wohnt hinter der noch immer nicht vollendeten Madeleine. Ich traf einen Fünfziger mit wohlwollenden Zügen, freundlichem Entgegenkommen, mit einem Kopfe, der etwas Wolfs- oder Hofhundartiges hat. Das Auge ist gut und doch wieder zu schlau. Treu wie ein Hund gegen Freunde, schlau wie ein Fuchs gegen Feinde, sei es erlaubt! Cormenin saß mitten unter Büchern am Kamine und beschäftigte sich, während er sprach, das Feuer zu schüren, das nach pariser Art mehr rauchte, als brannte. Er spricht gewählt, bedächtig, in Bildern, die meist von einfachen Begegnissen des Lebens hergenommen sind, zutraulich, stets mit freundlicher Miene und hell glänzenden Augen.

»Ich sehe an Ihrem Wohlwollen,« sagt' ich, »daß der Menschenhaß des Timon nicht Ihr Ernst ist.«

»Um die Franzosen zu amüsiren,« antwortete Cormenin, »muß man nicht immer derselbe sein. Besser Namen wechseln, als Grundsätze. Ich nenne mich heute so, morgen so, weil das Publicum denselben Schriftsteller nicht zu oft haben will. War Börne in Deutschland sehr geschätzt?«

»Von seiner Partei, so lange er lebte, von seinen Gegnern auch nach dem Tode. Kannten Sie ihn persönlich?«

»Nein,« antwortete Cormenin. »Ich wurde aufgefordert, eine Vorrede zu einigen seiner französischen Artikel zu schreiben. Die Biographie, die man mir gab, ließ ich unverändert abdrucken. Die Ansichten aber, die mir auch für meine Vorrede zugemuthet wurden, mußt' ich zurückweisen. Ich kenne nur, was er französisch geschrieben hat. Börne hat etwas von Voltaire. Nie wird er so nebelhaft und abstract, wie sonst wol die deutschen Schriftsteller. Ehe man auf die Geister wirkt, muß man auf die Herzen wirken. Börne verstand es, die Phantasie anzuregen. Seine Manier ist eine Mischung von Ode, Elegie und Satyre, wie ich schon gesagt habe. Man vermißt zuweilen den Publicisten und sieht zu sehr den Poeten.«

»Auch die beiden ersten Bände seiner Briefe sind ins Französische übersetzt.«

»Hier grade,« bemerkte Cormenin, »vermißt man zu sehr den Publicisten. Wenn man von Politik spricht, soll man Politiker und nicht Dichter sein. Dies Buch konnte in Frankreich kein Glück machen, weil es nicht französisch gedacht ist. Es wimmelt von Anspielungen, die nur ein Deutscher kennen kann. Es ist so desultorisch abgefaßt, daß man des Verfassers eben so wenig wie des Gegenstandes habhaft wird. Durch eine solche Art von Literatur werden die Deutschen in der politischen Aufklärung keine Fortschritte machen. Was erwarten Sie von Deutschland?«

Diese Frage, die ich in Paris hundert Mal beantworten mußte, hatte ich mir angewöhnt, immer mit einer Art von wichtigthuenden Eitelkeit zu beantworten. Ich versprach für Deutschland Dinge, an die ich in Deutschland selbst nicht glaube. Ich versprach überall, wo ich gefragt wurde, où marche l'Allemagne? noch weit mehr, als Frankreich besitzt. Ich versprach Preußen eine Verfassung, sagte für alle Könige und Großherzöge der lieben Heimat gut, fingirte eine große militairische Kraftentwickelung, garantirte für Oesterreich und dekretirte die Preßfreiheit. Man machte mir regelmäßig dieselben Gegeneinwände, les quatre questions, Bruno Bauer, les Hallischen Jahrbuck etc. etc., aber ich meinte, das wären kleine bedenkliche Blasen, die bald wieder zerplatzen würden. Ich wiederhole nochmals, daß man in Paris immer besser thut, die Miene anzunehmen, als ginge Deutschland einer großen und glänzenden Zukunft entgegen.

Dies hinderte aber den schlauen Cormenin nicht, zu sagen: »Wir glauben nicht daran, wir glauben nicht an die Einheit von dreißig Terrains, wo sich die Sitten des Volks und die Ansprüche der Fürsten fortwährend widersprechen. Indessen wäre uns diese Einheit sehr erwünscht. Sie würde aus Deutschland einen starken Wall gegen Rußland machen: das Unglück ist nur, die Deutschen werden von ihren Schriftstellern nicht gut berathen. Sie haben Dichter und Philosophen, aber keine Publicisten und keine Logiker. Sie lassen sich Balladen vorsingen, statt sich aufklären zu lassen über Das, was dem Ganzen und dem Einzelnen noth ist. Sehen Sie da, wie man in Deutschland und in Frankreich Politik treibt.«

Cormenin ergriff ein großes Buch und ein ganz kleines. Das erste war von Lamennais, das zweite von ihm.

»Sehen Sie,« sagte er, »ein solches Buch ist viel zu groß. Das Buch ist gewiß vortrefflich, aber wer liest es? Wer kauft es? Wer hat Zeit und Geld dazu? Man muß aufs Volk wirken. Sehen Sie dies kleine schlanke Büchlein. Es ist wohlfeil und liest sich schnell. Viele tausende von Exemplaren überschwemmen Frankreich. Heute erscheint das kleine Ding in Paris. Morgen ist es in der Provinz. Man muß Brochüren schreiben, die der Akademiker und der Weinbauer versteht, Bücher, die man auf einen Bourdoirtisch und auf den Rand eines ärmlichen Kamins legt, Bücher, die man in der Tasche trägt, auf einem Spaziergang im Walde durchlesen kann, Bücher, die uns nicht zu viel zu behalten und darum nicht zu viel zu vergessen geben. Fordern Sie doch alle deutschen Schriftsteller auf, in dieser Art fürs Volk zu wirken. C'est la propagande la plus sûre, la plus sincère.«

Ich thu' es hiermit feierlich!

Eines hatte aber der gute Cormenin vergessen. In Frankreich muß man die Bücher schon deshalb so dünn wie möglich einrichten, weil es den untern Volksklassen so schwer wird, sie zu lesen. Das kleine Büchlein von der Centralisation zu lesen, kostet dem Weinbauer der Bourgogne einen Monat Zeit. In einem Dorfe können vielleicht drei Leute lesen und diese verstehen unter lesen eigentlich buchstabiren! Welche Anstrengung, ein solches Riesenwerk, wie eine Brochüre von sechs Bogen, zu dechiffriren! Wie viel Winterabende gehören dazu, wie viel Lampen brennen nieder, bis ein solches Geisteswerk in den Kopf eines vierschrötigen Bretagners eingedrungen ist. Jener communistische Schneider, der mir keine Beinkleider machen wollte, weil er mich für fähig hielt, über Philosophen und große Gesellschaftsreformer, die nicht lesen und schreiben können, zu lachen, Monsieur Blondin, hält sich in seiner Werkstatt eine Nätherin, die ihm und seinen eben so gründlich gebildeten Gesellen jeden Morgen die Zeitung vorlesen muß. In Deutschland, wo jeder Bauer wenigstens schon drei Mal die Familienbibel und vier Mal die alte Sonntagspostille durchgelesen hat, kann man den Brochüren schon ein wenig Bogenzahl mehr geben. Auch nähern wir uns bekanntlich erst mit 20 Druckbogen per Band einer Preßfreiheit, bei der wir uns wenigstens so lange einbilden können, ohne Censur geschrieben zu haben, bis das Buch confiscirt ist.


 


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