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Zehnter Brief.

Paris, den 26. März 1842.

Eine der schwierigsten Finanzfragen dieses Landes ist die Ausgleichung der einheimischen Rübenfabrikation mit dem Interesse der Colonien. Frankreich kann seine Colonien nicht aufgeben. Es ist in einer argen Klemme, ob es die Fabrikanten des Landes oder die Schwarzen opfern soll. Opfert es die Schwarzen in den Colonien, so opfert es die Plantagenbesitzer und entzieht den Colonien ihren Kern, ihre Bedeutung, die auf Frankreich rückströmende Wohlhabenheit der dortigen Einwohner, die Garantien und Anknüpfungen seiner Flotte. Opfert es die Fabrikanten, so nimmt der Hader, die Anfeindung im Lande, der Haß der Parteien kein Ende. Das jetzige Frankreich ist in seiner Politik auf die materiellen Interessen begründet, wie kann es wagen, eines dieser materiellen Interessen zu verletzen!

Das Ministerium hatte sich anheischig gemacht, in den ersten drei Monaten der diesjährigen Kammersitzung über diese schwierige Frage ein Gesetz einzubringen. Man vermuthet, daß es die Colonien begünstigen und den Zuckerfabrikanten ihre Vorräthe abkaufen würde. Jetzt bittet das Ministerium um Aufschub. Die Frage wäre zu schwierig, die Arbeit der Untersuchung des Thatbestandes noch nicht ganz vollendet. Guizot wünscht Vertagung der Frage bis auf die nächste, neu zu wählende Kammer.

Hier wittert die Opposition eine Falle. Sie griff in der Sitzung am Mittwoch die Minister mit materiellen und theoretischen Gegengründen an. Sie drückte unverschleiert aus, daß das Ministerium mit dieser Vertagung nur beabsichtige, die neuen Wahlen wieder unter den Gesichtspunkt der materiellen Interessen zu stellen und von der Kammer wiederum die unabhängige, freie Intelligenz auszuschließen.

Jedenfalls ist diese Voraussetzung eine Gewissensfrage, über die sich nichts entscheiden läßt. In der Verhandlung schienen mir zwei Dinge besonders bemerkenswerth. Die Opposition verbrüdert sich mit den sogenannten Generalconseils der Hafenstädte, mit Corporationen von einer entschieden illiberalen Tendenz, wie die vor mehreren Jahren an sie gerichteten und von ihnen so auffallend egoistisch beantworteten commerziellen Fragen beweisen. Damals empörte sich die ganze liberale Presse, der National an der Spitze, gegen die Generalconseils. Jetzt fraternisiren sie. Es ist in Frankreich, wie bei allen haltlosen, nicht ganz despotischen und nicht ganz freisinnigen Zwischenzuständen immer so, daß Parteien und Interessen zusammenkommen, sie wissen nicht wie. Das Zweite ist noch auffallender. In Baden sagt das Ministerium zur Kammer, die materiellen Fragen litten unter ihren theoretischen Doctrinen und Formstreitigkeiten. Hier in Paris wirft die Opposition dasselbe den Ministern vor. Hier sind die Minister die Unpraktischen, die Unzeitgemäßen, die Männer der Phrase. Keine Eisenbahnen, keine Canäle, keine Zuckergesetze! ruft hier die Opposition, die sich mit dem materiellen Eigennutz der Masse zu vereinigen sucht. Guizot, als guter Theoretiker, sollte diese Umkehr der Debatte nicht aufkommen lassen, denn in unsrer Zeit ist nichts tödtlicher als der Widerspruch der Materie. Die Herrschaft des Geistes scheint einem andern Jahrhundert aufbehalten zu sein.

Die heilige Woche ist kalt. Ein frostiges Longchamps, ein Longchamps mit rothen Nasen, ein Longchamps im Muff und Pelzmantel. Die Feiertage kommen zu früh. Die Erde hat sich noch nicht schmücken können, sie würdig zu empfangen. Der Schmuck der Menschen sah eben so kahl aus, wie die elyseischen Felder. Man weiß, daß Longchamps die Mode erfindet. Ich habe keine neue gesehen, aber morgen werden alle Follets, alle petits couriers des dames, alle Psyche's in ihren Bülletins von neuen Trachten erzählen, die schon fertig und erfunden waren, ehe Longchamps kam. Manche der Carossen hab' ich sehr in Verdacht, daß ihr Besitzer statt einer Dame, die darin zu sitzen schien, nur eine Modefigur schickte, die tragen mußte, was seinem Interesse an Shawls, seidenen und sammetnen Stoffen entsprechend ist. Vier junge Elegants trugen Hüte von geripptem Zeuge, die sehr häßlich aussehen, aber nun sicher Mode werden. Man kann hier bei einem Modehändler Kleider erstehen, wenn man sich erbietet, sie auf Longchamps in die Mode zu bringen. Gäbe man nur diese häßliche, schwarze Trauertracht auf! Alle Frauen auf den Boulevards trauern und viele doch nur um den Verlust ihrer Schönheit. Man muß sehr schön sein, um über die schmeichelnden Farben des Regenbogens erhaben zu sein.

In den elyseischen Feldern drängten und wogten Tausende. Rechts und links die Zuschauer. In der Mitte zwei Wagenreihen, eine gehende, eine kommende. In der Mitte passiren die entschieden Vornehmen. Ich bemerke, daß der Franzose im Grunde sehr servil ist. Titel und Rang macht bei ihm Alles. Wenn der ganze Ruhm von Freiheit und Gleichheit doch nur eine Einbildung wäre! Die Demokratie kann zwar die Vornehmheit nicht aufheben, aber sie sollte machen, daß der Vornehme sich fürchtet, vornehm zu erscheinen. Wo man hier hinblickt, sieht man gesellschaftliche Anomalien, die für ein Land, das zwei Revolutionen erlebt hat, nicht passen. Es ist beklemmend, wenn man denkt, daß hier noch einmal eine dritte Ausgleichung stattfinden könnte.

Unter den zahllosen Wagen des Longchamps sind die meisten gemiethet. Vielen Kleidern sieht man an, daß sie morgen auf den mont de pieté wandern werden. Die reichsten und schwersten Stoffe tragen meist ältere Damen, die wenigstens heute träumen können, den nächsten Sommer wieder in die Mode zu kommen. Sonderbar, daß jede dieser nachlässig hingelehnten Personen sich einbildet, das ganze Longchamps drehe sich um sie. Armer Tropfen in dem Meere! Hinter den glänzenden Carossen, wenn sie nicht das Privilegium haben, in der Mitte zu fahren, sieht man ambulante Annoncen, Wagen mit gemalten Anpreisungen neuer Erfindungen: ein Reiter mit bunter Fahne und dem Volk das Wunder predigend: »In der Straße Poissonnière Stiefeln für zehn Franken!« – Dahinter Wagen, die die beste englische Stiefelwichse empfehlen, ein ambulanter großer Ofen, Alles schreit und bittet um Zuspruch, auch einige schmachtende Augen, die in ihrem Wagen nicht wissen, daß hinter ihrer poetischen Erscheinung sich gleich die größte Prosa, Stiefelwichse, ankündigt. So wallen und wogen die Massen hinauf bis zum Triumphbogen de l' etoile.

Rechts und links zur Seite das gaffende Volk. Keines ist neugieriger als das pariser. Es fehlt Musik, es fehlt Freude und Lust; freilich, es fehlt noch der Frühling. Nur die Kinder sind glücklich. Sie fahren in langen Omnibus, von drei stattlich gehörnten Ziegenböcken gezogen, mit Schellen und bunten Bändern. Policinell treibt seine Späße. Eigen, daß die Spitze des Volkshumors immer Prügel sind. Napoleon winkt in allen möglichen Stellungen zum Besuch kleiner naturhistorischer Museen, optischer Cabinette, zum Besuch von Flohkünsteleien, Caroussels u. s. w. Auch wiegen kann man sich lassen, was ich thäte, wenn ich die Kilogramme in meine deutschen Pfunde zu übersetzen wüßte. Drüben sind Krokodille, Athleten, Misgeburten zu sehen. Eine Taschenspielergilde lockt durch eine klägliche Musik die kleinen französischen Voltigeurs, junge Recruten, meist unansehnliches, aber kernhaftes Volk, zu seinen Künsten. Die Kinder des Taschenspielers geschminkt, mit bloßem Halse in der Kälte, fröstelnd und mit Waldhörnern lustige Lieder blasend, die ihnen wie Lügen in der kalten Luft erfrieren. All das bunte Elend zieht sich hinauf bis an den Arc de l'e toile, der den Siegen Napoleon's gewidmet ist. Es ist ein schönes Felsengebäude, aber kalt, wie der Wind, der um die Höhe pfeift. In Hautreliefs wird Napoleon gekrönt für Siege über ächzende, verwundete, sterbende Barbaren, in denen wir zum Theil unsre deutschen Brüder erkennen. Im Innern nennt eine Reihenfolge von Namen die Orte, wo Napoleon siegte. Erst folgen sie sich geschwätzig aufeinander, dann rücken Jahre und Meilen dazwischen, Moskau, »Wurschen« sind die letzten – von den übrigen schweigt die Geschichte, nämlich die französische.

Am Charfreitage hofft' ich in Notre-Dame zu jeder Stunde Gesänge, Orgelklänge, singende Priester und betende Gläubige zu finden. Ich täuschte mich. Nur ein kleiner Troß von Bettlern und Armen kniete in einem dunkeln Winkel, in welchem einige Lichter brannten. Es sollte dies das Grab des Heilands sein. »Und den Armen wird das Evangelium gepredigt.« Nur eine einzige vornehme Dame befand sich vor dem Grabe, mitten unter den Bettlern und Armen. Draußen vor der hohen Eingangspforte des uralten Doms zeigte ihr haltender Wagen ein altes, gräfliches Wappen. An einem Pfeiler saß ein Chorknabe mit einem bronzenen Christus, dessen Wunden und Nägelmale die Herantretenden küßten. Wer es konnte, zahlte einen Sou, wer nicht, dem blieben darum doch die Wunden offen, aber der Chorknabe wischte jeden Kuß ab. Und mit Recht; in Paris gibt es sehr sündige Lippen. In einer kleinen Capelle stand auf der einen Seite ein hohes Altarbild des Erlösers, auf der andern war die Wand übertüncht, weil sie zu viel der weltlichen Inschriften trug. Und doch las ich neuerdings: »Ich liebe Dich: wann werd' ich Dich wiedersehen?« – Mit Bleistift stand darunter: »Demain.«

Das Innere der Notre-Dame hat nicht ganz das Ergreifende, das man in andern alten Kathedralen findet. Das innere Schiff ist zu klein gegen die nebenher laufenden Gänge. Die Capellen folgen zu regelmäßig aufeinander. Der Eindruck hat etwas von dem Unheiligen, Weltlichen, beinahe Theatralischen des berliner Doms. Nach außen ist die Front minder erhaben, als der Seitenanblick, doch macht sich das Ganze im Verlauf der Betrachtung ergreifender, als bei der ersten Begrüßung. Neben dem Trost der Armen ist drüben das Hôtel de Dieu, der Trost der Kranken. Und wem kein Arzt mehr helfen konnte, wem die Arznei der Religion und der Balsam der Kunst den Schmerz des Lebens nicht linderte, der findet dort unten Trost in den Armen des Todes und der Verzweiflung. Auf hundert Schritt liegt unter Fischen und Gemüsekräutern, die dort verkauft werden, neben Notre-Dame und dem Hôtel de Dieu die gräßliche Morgue.


 


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