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Dritter Brief.

Aachen, den 9. März.

Der kölner Carneval, die »Floressei«, war vorüber. Die Fasten beginnen und nur am letzten Sonntage ist noch das Lätare-Essen erlaubt gewesen, wo der maskirte kölnische »Drikkes« ohne Kappen noch einmal die letzten Kräfte seines Magens und seines Witzes zusammen nimmt, um das diesjährige Fastnachtsspiel würdig zu beschließen. Seit einigen Jahren bin ich Ehrenmitglied des kölner und düsseldorfer Carnevalvereins. Ich muß mir für später einmal meinen Antheil an diesen Freuden vorbehalten. Einstweilen seh' ich, hat auch hier der leidige Parteigeist die schöne Einheit gestört. Der kölner Carneval ist in zwei Parteien zerfallen, die nun jede für sich ausgelassen ist. Wenn dieser Zwiespalt nicht ausgeglichen wird, ist es möglich, daß der »Gürzenich« in künftigen Jahren öde steht und auch diese gesellige Freiheit, dieser gaukelnde Rest des Mittelalters, in sich selbst zerfällt.

Das exclusive Wesen greift in unserer Gesellschaft immer mehr wieder um sich. Nehmen wir mit der englischen Sprache auch die englischen Unsitten an, oder kommen sie wieder, diese von der Bühne aus schon auf immer verbannt geschienenen Standesvorurtheile? Es tritt wieder ein Wählen ein, ein Sichten, ein Ballotiren, das uns mit Besorgnissen für die Zukunft erfüllen muß. Am kühnsten sind die Wagnisse der westphälisch-rheinischen Ritterschaft, die man hier die Autonomen nennt. Bekanntlich sind dreißig dieser Standesherrn ihren König angegangen, daß er ihnen gestatte, einen Bund zu schließen, in welchen jeder Ritter von 16 Ahnen und von jährlichen 5000 Thalern Einkünften aufgenommen werden könne. Das Privilegium dieser Herren sollte die Autonomie der Erbfolge sein, d. h. die Freiheit, nach Belieben, abweichend von den gesetzlichen Bestimmungen, über ihre Erblassenschaft zu verfügen, Söhne zu enterben, Töchter auf Pflichttheile zu setzen, Majorate zu stiften u. s. w. Der König hat diese Autonomie in der That bewilligt, ohne jedoch den Bund der Autonomen als Bund anzuerkennen. Die Begegnung des Fürsten mit den Rittern soll deshalb in Düsseldorf peinlich gewesen sein. Die Autonomen üben eine förmliche, für sich abgeschlossene Gerichtsbarkeit aus. Sie haben eine Art Vehme, eine Art Bann, den sie über die Mitglieder ihrer nun stillschweigend geschlossenen Corporation aussprechen dürfen. Sie haben Strafen, Läuterungen, Verzeihungen und Wiederaufnahmen gebesserter Mitglieder. Die Fehler, für die sich diese Herren strafen, sind nicht etwa Thier- und Menschenquälerei, nicht etwa Spiel und andere »noble Passionen«, sondern die abweichenden Ansichten über die schwebenden Kirchenfragen, über die allzugroßen Annäherungen an das herrschende Regierungssystem, an akatholische Principien u. s. w. Der Chef dieses Bundes ist ein Herr von Mirbach, dessen Visitenkarte also lautet:

Freiherr von Mirbach,
Standeshauptmann der rheinischen
ritterbürtigen Ritterschaft.

Der plötzliche Uebergang des zweiten Justizministeriums von Herrn von Kamptz auf Herrn von Savigny hat in dieser Gegend Freude und Bestürzung erregt. Freude, weil Kamptz ein Gegner des Code war, Bestürzung, weil Savigny unsrer Zeit den Beruf zur Gesetzgebung abgesprochen hat. Einstweilen erwartet man die Zurücknahme der Verfügungen, die Kamptz zur Ergänzung der hierorts üblichen gerichtlichen Prozeduren angeordnet hat, besonders die Zurücknahme jenes Gesetzes, nach welchem Beamte hier nur nach dem unbeliebten und fremden Landrechte gerichtet werden sollen. Die moralische Kraft Savigny's auf Tausende von Beamten, die bei ihm die Rechte studirten, wird übrigens außerordentlich sein.

Das politische Bewußtsein der Rheinlande ist immer mehr im Zunehmen. Die Regierung muß es befördern, ohne daß es ihr vielleicht wünschenswerth ist. Die Beamten sind angewiesen, in ihren Funktionen mit der strengsten Selbstbeherrschung zu verfahren. Ein Regierungspräsident ist zu Köln in dem humanen Herrn von Gerlach zweckmäßig gewählt. Auch die Censur ist hier milder als irgendwo in Deutschland, und gestattet deshalb dem Zeitungswesen einen Aufschwung, der überrascht. Die Kölnische Zeitung, in vielen Tausenden von Exemplaren verbreitet, gilt für eine der besten in Deutschland. Unter ihren zahllosen Ankündigungen fiel mir gestern folgende auf:

Rother Kleesamen bei

Görres und Compagnie,

Hahnenstraße.

Man glaubt aus den Zeiten der Revolution eine Anzeige des »rothen Buchs« mit der gallischen Hahnendevise zu lesen.

Seit einiger Zeit hat sich in Köln um die neue »Rheinische Zeitung« ein Kreis von Talenten zusammen gefunden, die der größten Beachtung würdig sind. Mehr oder minder genannt, haben sich diese jungen Gelehrten, denen sich Kaufleute, Beamte, Offiziere anschließen, die schwierige Aufgabe gestellt, die praktischen Resultate der Ruge'schen Polemik auf die Beurtheilung der laufenden Zeitgeschichte anzuwenden. Die jungen Doctrinaire der Rheinischen Zeitung haben die Sackgasse der Hegel'schen Geschichtsphilosophie durchbrochen und befinden sich in politischer Hinsicht auf demselben Standpuncte, den in theologischer im nahen Bonn Bruno Bauer vertritt. Talent der Darstellung, dialektische Combination, Witz und Enthusiasmus stehen diesen Schriftstellern reichlich zu Gebote, sie haben mit den fähigsten jungen Talenten in Königsberg, Hannover, am Rhein, der Schweiz und Paris Verbindungen eingeleitet, die ihnen erlauben, ihrer Zeitung auch gutgewählte Thatsachen und aus Beobachtungen geschöpfte Sachberichte einzuverleiben. Um ganz verständlich zu werden, dürfte hier die Theorie wohl etwas von ihren Formeln opfern müssen. Das Kölner »Henneschen« ist eben nicht gemacht, Hegelianer zu werden.

Mit der Eisenbahn fährt man in drei Stunden nach Aachen, der alten Kaiserstadt. Victor Hugo hat den ganzen Rhein aufgeregt. Alle Städte, alle Kathedralen fühlen sich verletzt. Er hat die Sehenswürdigkeiten nicht gläubig anerkennen wollen, er hat die Küster und die Fremdenführer für ihre Trinkgelder zittern gemacht. Victor Hugo klagt über die Theorien unsrer Politik und über die Saucen unsrer Küche. Dort suchen ihn die Publicisten, hier die Gastwirthe zu widerlegen. Man schlägt in den Fremdenbüchern nach. »War jemals ein Victor Hugo hier logiert?« »Vor sechs Jahren ein Vicomte Hugo!« »Hat er Hammelfleisch gegessen, wie er behauptet?« »Nein, es war Boeuf à la mode.« Ich lernte deutsche Wirthe kennen, die ihm wirklich diese Ungenauigkeiten im Journal des Debats vorhalten wollten.

Ich war im Aachner Dom. Ein erhabener Bau, dessen tausendjähriger Ursprung aus allen Zuthaten der Zeit und selbst den geschmacklosesten, den Rococo-Stuccaturen der innern Kuppel, unverkennbar hervorleuchtet! Von Karl dem Großen begründet, zweimal durch Feuersbrunst beinahe völlig zerstört, ausgebaut, überbaut, hier schöpferisch, dort geflickt, hat das erhabene Gebäude seinen ursprünglichen byzantinischen Charakter nicht ganz verloren, sondern macht einen Eindruck, mehr maurisch als gothisch. Wären die Springquellen und die Oleander da, man würde sich an die Alhambra erinnert fühlen. Mondschein dazu und Nachtigallen hätten wir in Deutschland schon.

Sonderbar, daß der Teufel mit allen deutschen Domen sein Spiel getrieben hat. Alle unsre großen Münster, vom magdeburger bis zum aachner, sind der Hölle zum Trotz erbaut. An alle diese ehrwürdigen Gebäude knüpft sich die Sage von den Drohungen des Teufels von Wetten, die er mit den Baumeistern eingegangen wäre, von seinen Anerbietungen, an den großen Werken mitzuarbeiten. Sonderbar aber auch, daß ich jedes Mal, wenn ich einen deutschen Dom sehe, mit dem Teufel Mitleiden habe. Die Priester und Bauleute haben den Armen überall mitarbeiten lassen, haben ihm die erste in den Dom gehende Seele versprochen und ihn dann, wenn das Werk fertig war, schmählig getauscht. Steine half er tragen, Berge half er versetzen, er fügte Quadern auf Quadern, der arme Teufel, und wenn ihm beim Bau unserer Gotteshäuser heißer wurde, als in der Hölle, dann betrogen sie den Schelm und schenkten ihm für seine treuen Dienste statt der ersten Menschenseele die Seele eines Hundes, die Unsterblichkeit eines Wolfes. Wer wollte dem Teufel verdenken, daß er sich seitdem an den frommen Betrügern zu rächen sucht, daß er Steine vom Brocken auf den magdeburger Dom wirft, daß er sich an die Eisenringe der Thür am aachner Dom klammert und sie ausreißen will; wer wollte ihm verdenken, daß er noch heute um die Dome schleicht, daß durch ihn es nirgends heftiger stürmt und windiger pfeift, als um die Kirchen, und daß er sich freut, wenn die Philosophen beweisen, wie die Idee des Christenthums, so rein, so göttlichen Ursprungs sie war, doch nicht ohne Lug und Trug in die Wirklichkeit getreten ist.

Uebrigens hätten die aachner Baumeister dem Teufel auch immerhin die erste, in die Kirche gehende Menschenseele schenken können, wenn nämlich der links an der Pforte befindliche Tannenzapfen die geschenkte Seele gewesen ist. Der Tannenzapfen, von Eisen geformt, soll die Seele des rechts stehenden, kläglich blickenden Wolfes gewesen sein. Gibt es doch Menschen genug, deren Seele eher einem hölzernen, ungenießbaren Tannenapfel als dem Odem Gottes ähnelt. Einer der Herren Vorsteher des Kaatzer'schen Leseinstituts, dem ich für seine freundliche und zuvorkommende Begleitung dankbar verpflichtet bin, äußerte indessen mit vielem Grund, daß Tannenzapfen und Wölfin wahrscheinlich zu römischen Wasserkünsten gedient hätten. Die Wölfin ist die Amme des Romulus, und der Pinienapfel ein Attribut des Bachusdienstes, dem die Römer am Rheine überall die Symbole ihrer Götterlehre widmeten.

Im Dome selbst, der durch seine unregelmäßige Bauart, seine spanischen, ungarischen, wallonischen Nebenkapellen ein zwar winkliges Ansehen bekommt, sich aber dadurch förmlich in einen Complex von Begebenheiten, in ein Stück Geschichte verwandelt, sah ich den berühmten Evangelienstuhl in seiner unförmlichen überladenen Kostbarkeit, und dachte beim Grabmale Otto's III. an J. Mosen's Trauerspiel. Wenn die Fakta, auf welche dieser Dichter sein Werk begründete, wahr sind, welch ein erschütternder Abstand zwischen jenen Scenen südlicher Leidenschaft und diesem stillen nordischen, kalten marmornen Grabmale, das des vergifteten Kaisers Reste birgt! Der Schweizer des Doms ist nur Suisse par profession, wie V. Hugo von ihm sagte, aber ich seh's, er könnte es auch par naissance sein. »Ich schicke mich in Alles,« war sein cosmopolitisches Geständniß. Am wenigsten aber scheint er, wie V. Hugo behauptet, den Franzosen geneigt, denn indem wir jenen bronzenen Adler betrachteten, der, ein Geschenk eines alten deutschen Kaisers, den Chorknaben zum Notenpult beim Messesingen dient und wir den französischen Donnerkeil in seinen Klauen etwas wacklig fanden, hört' ich von ihm die Aeußerung: »Die Franzosen haben aus diesem Adler ihren gewöhnlichen Kukkuk gemacht. Ueberall Kukkuks, sehen Sie da, meine Herren, auch da oben am Chor drei französische Kukkuks!« – Es waren drei vergoldete Napoleonsadler am Chor der Kapelle. Ein Gallomae hätte sie nicht Kukkuks genannt.

Wie kann man auch hier französisch gesinnt sein, in Aachen, wo Alles an deutsche Größe erinnert, im aachner Dome, wo man überall die Spuren jenes Vandalismus erblickt, der die Siege der Franzosen begleitete! Frankreichs Avantgarde sind Ideen, die die Brust jedes freien Mannes heben; das gros d'armée sind soldatischer Uebermuth, die Nachzügler sind Beutesucht und Vandalismus. Im Konventgange liegen zerstückt die Granitsäulen, welche die Franzosen im Revolutionskriege aus dem Dome fortnahmen und mit hölzernen ersetzten. 1815 wurden sie wieder zurückgebracht. Der marmorne römische Sarkophag, der dem Kaiser Augustus gehört haben soll, kehrte mit Verstümmlungen gemeinster Art wieder. An dem Hautrelief, das den Raub der Proserpina darstellt, waren dem Pluto und der schönen Tochter Demeter's, allen Dienern der Unterwelt und der Erde, die Nasen abgeschlagen, nur ein einziger kleiner Amor hatte seine Nase vor den Franzosen gerettet. Daß sie Kaiser Karl's marmornen Königsstuhl nicht zertrümmerten, geschah wol nur, weil sie gewohnt sind, Charlemagne ihrer Nationalität zu vindiciren und aus der Geschichte der Franken die Geschichte der Franzosen zu machen.

Zweifelnd und andächtig stand ich vor diesem einfachen Sessel, auf dem Karl der Große im Grabe ruhte und der der Sorgenstuhl aller deutschen Kaiser war, die nicht später in Frankfurt gekrönt wurden. Seit man anfing, unsre wichtigsten politischen Festhandlungen mehr in das Innere Deutschlands zu verlegen, von Aachen nach Frankfurt, von Frankfurt nach Regensburg, von Regensburg nach Wien, ist auch Deutschland äußerlich kleiner, innerlich schwächer geworden. Um den Franzosen alle ihre Rheinträume zu benehmen, sollten die Könige von Preußen ihre Residenz von Berlin nach Köln verlegen. Der Stuhl Karl's des Großen! Wie oft habe ich ihn nennen hören. Da ist er! Die größten deutschen Kaiser, Otto, Friedrich, Heinrich, haben auf ihm gesessen, gewählt von den Fürsten des Reichs, zum ersten Mal betraut mit dem Apfel und dem Schwerte des Reiches. Diese Stufen, wie glatt, dieser Stuhl, wie marmorn, diese Lehne, wie kalt! Napoleon wagte es nicht, sich auf den Stuhl Karl's niederzusetzen, und schalt Josephinen, die so eitel war, es zu thun. Man hatte der Creolin ein rothsammtnes Kissen untergelegt. Man blickt hinüber nach Süden, nach Italien, nach Rom. O wäre der erste Gedanke dieser neu gekrönten Herrscher, wenn sie auf diesem Stuhle saßen, nicht stets dies unglückselige Rom gewesen! Hatten sie doch das Schwert, den Apfel, den Adler; mußten sie alle dem Duft des römischen Salböls erliegen und hin, hin nach Rom, wo die deutsche Kraft und nicht selten das eigne Leben ihr Grab fanden? Otto III. saß auch auf diesem Stuhl, blickte nach Rom und so, wie er drüben liegt in der Kapelle, kehrte er zurück. Der bronzene Adler drüben, von dem die Schüler jetzt die Messe singen, hat seine Füße kümmerlich zusammengeklemmt. Er steht so unsicher, daß sie wol auf den Gedanken kommen konnten, ihm zwischen die Krallen den französischen Donnerkeil zu stecken. Aber groß und gewaltig hat er seine Flügel ausgebreitet. Fliegen, fliegen hin nach Rom, der äußeren, leeren, phantastischen Würde wegen! Das Reich verfällt daheim, der Kern des besten Volkes, das den Kaiser begleitet, entnervt, der Römerzug die einzige Kaiserthat. Ironischer Künstler, der du auf den Rücken des Adlers drüben eine Fledermaus befestigtest! Es war vielleicht nichts, als der Künstlerhumor des Mittelalters, der auf die weitgebreiteten Adlerfittige eine teuflisch grinzende Fledermaus von gleichem Metall ausspannte: aber deuten dürfen wir das Symbol. Ja, die Hierarchie liegt spöttisch grinsend auf dem deutschen Adler, der dunkle häßliche Vogel der Nacht auf dem Rücken des sonnanstrebenden Königs. Armes Vaterland, deine Adler flogen und nicht du, nur die Fledermäuse stiegen empor auf ihnen.

Durchschauert von den erhabenen Erinnerungen dieser heiligen Stätten, floh ich aus dem Dom auf die Höhe, die die Stadt beschirmt, den reizend gelegenen Lousberg. Was sollt' ich mit den »kleinen« und den »großen« Reliquien? Den Betenden dort am Fußboden laß ich dieses Haar Mariens, diese Gebeine der Apostel, diese Nägel vom Kreuze Christi. Glücklicher frommer Wahn! Glücklich durch Das, was du glaubst! Eine zweifelnde Seele sieht diese Knochen nur mit Wehmuth an, mit Wehmuth, daß der Himmel ihr den Gedanken gab und daß es keine andern Reliquien der Ideenwelt, keine Heiligthümer der Gedanken gibt, als die Gedanken selbst! Ihr küßt diese Knochen, ihr frommen Kranken, und ihr seid genesen! Ihr weint in diese heiligen Tücher, ihr Leidtragenden, und ihr seid getröstet! Wir, die wir nichts glauben als den Zweifel, wir Armen, die wir unsichtbar den Gott suchen, den ihr sichtbar an eure Lippen drückt, wir Schmerzzerrissenen und Ungetrösteten, wir haben keine Linnen, keine Gebeine, keine Kreuze. Unsre Reliquie ist Gott, unsre Religion der Schmerz, unser Gottesdienst die Thräne.

Auch den Schädel Karl's des Großen laß ich dem Sakristan. Ich mag nicht sehen, daß ein Lohnbedienter mit dem Finger auf den Schädel Karl's des Großen klopft, um zu zeigen, daß er jetzt so hell klingt, wie der Schädel eines gewöhnlichen Fürsten unsrer Tage. Ich besteige den Lousberg. Ueberall Teufelssagen, überall der Teufel drohend, überall geprellt von den Priestern. Aachen steckt voller Teufel, wie es 1817 voller Diplomaten steckte. Diese brauten und kochten laulichte Protokolle, jene brauen und sieden die heißen Quellen, durch welche Aachen Spaa verdrängt hat. Das ganze Land, das sich vom Lousberg in die Ebene vor uns ausbreitet, ist vulkanisch. Nachts muß es leuchten von blauen Flämmchen. Im alten Thurme am Fuße hausen die Wichtelmännchen, das kleine Volk der Zwerge, das auf seinen kleinen ledernen Höschen überall den Minen und Metalladern nachrutscht. Dort Holland, drüben Belgien. Riesenschornsteine dampfen über die schon grünende Ebene. Tief im Thale das sonnenbeschienene Aachen, etwas zerflossen in seiner Lage, nicht begrenzt genug für uns und eingefriedigt, um sich ganz darin heimisch zu fühlen. Eine Stadt, gleichsam ohne Mauern und Thore, geschaffen nur als Uebergang in neue Regionen, in Länder fremder Zunge, die ich morgen begrüßen werde.

Schon treibt es Frühling in der Brust. Draußen die Hollundersträuche blicken schon mit ihren grünen Erstlingsgrüßen, drinnen wallt und wogt das Herz. Liebe und Freiheit! Ein langentbehrter, hier wiedergefundener Freund liest mir in schönen lyrischen Klängen Frühlingslieder vor, die er in der Zeit der Trennung dichtete. Grüner Wald, Gesang der Vögel, Glück der Seele. Belaube sich Dir, mein guter Wihl, auch Dein Lebensbaum blütenvoll und sangesreich!

Ich sprach L. Lax, den schweigsam gewordenen Erzähler, der es verdient, daß man ihn zum Reden auffordert, W. von Lüdemann, der für das berliner Polizeiministerium die belgische Grenze und für die Blätter der literarischen Unterhaltung noch immer die Literatur überwacht, Oberst von Schepeler, den Kenner Spaniens, Drinhaus, der in seinen »Zeitfragen« sehr fragliche Antworten gegeben hat, Dr. Müller, der sich Verdienste um die aachner Mundart erwirbt, Buchhändler Mayer, der sich freute, daß Bulwer einen neuen Roman geschrieben hat, und dessen Haus durch eine geistreiche Gattin und talentvolle Kinder zu den gesuchtesten Rendezvous der fremden Künstler und Gelehrten gehört. In einer von den Kenntnissen des Redakteurs der »Aachner Zeitung«, von der Gemüthlichkeit Lüdemann's und dem kaustischen Witze des Obersten Schepeler erheiterten Gesellschaft trug Dr. Müller Gedichte in aachner Mundart vor. Diese Sprache ist wol die auffallendste aller unserer Dialekte. Sie hat beinahe aufgehört, deutsch zu sein. Sie hat wallonische, flämische, französische, spanische, englische, ja man behauptet in Folge der Bäder und Congresse selbst türkische Elemente in sich aufgenommen. Sie steht so isolirt, daß sie nur in Aachen gesprochen wird. Selbst die Bauern der Umgegend, die Bewohner des nahen Burdscheid, die Tuchmacher in Eupen sprechen einen abweichenden Dialekt. Dies aachner Deutsch klingt voll und melodisch. Wie Dr. Müller's Gedichte beweisen, eignet es sich besonders zum Launigen. Es liegt im Ton eine Naivität, die unwillkürlich komisch wirkt.

Lebe nun wohl, Deutschland! Kein Abschied, nur ein stiller Händedruck. Der Freund weiß, was dieser feste Blick ins Auge bedeutet.


 


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