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Siebenunddreißigstes Kapitel.

Der Schlag, der schon längst über Kamerons Haupte schwebte, war mit zerschmetternder Gewalt niedergefallen. Aber der Doktor ermannte sich wieder.

Das ist nur eine Vermutung Ihrerseits, sagte er mit unsicherer Stimme, wie wollen Sie die Tatsache beweisen?

Wir haben bis jetzt freilich nur Indizienbeweise, aber sie, sprechen deutlich genug. Ich erwähne nur den Umstand, daß Ihre Frau während Ihrer Hochzeitsreise keine Feder in die Hand genommen hat.

Der Doktor sah bestürzt aus; es ließ sich nicht leugnen, daß sie jeder Gelegenheit, ihre Handschrift zu zeigen, aufs sorgfältigste ausgewichen war.

Sie litt an Rheumatismus, sagte er, deshalb –

Sie hat jede Ausflucht benutzt, um die Entdeckung ihres beispiellosen Betruges zu verhindern. Der Unterschied zwischen der Handschrift der Dame, für welche sie sich ausgab, und der ihrigen hätte sie unfehlbar verraten. Den stärksten Beweis für meine Behauptung haben Sie uns aber durch die Gründe geliefert, mit denen Sie Ihre Gattin verteidigten. Herr Gryce hat Ihre Aeußerungen damals niedergeschrieben, und ich möchte Sie Ihnen wieder ins Gedächtnis zurückrufen. Der Inspektor nahm ein Papier zur Hand und fuhr fort: Wie Sie sich erinnern, haben Sie Ihre Einwendungen gegen den Verdacht, daß Genofeva Gretorex schuldig sei, damit begründet, daß es nach Mildred Farleys Tod an Zeit gemangelt habe, um den nötigen Umtausch der Kleider zu bewerkstelligen. Ihre Worte lauteten etwa folgendermaßen:

»Einen leblosen Körper zu entkleiden und ihm die eigenen Sachen Stück für Stück anzuziehen, dazu hatte die Zeit nicht hingereicht, wäre es selbst in Windeseile geschehen und ohne einen Moment des Zitterns und Zagens.

Schon daß es ihr mit Hilfe der Schwester gelang, den Brautanzug so schnell anzulegen, ist wunderbar genug. Nie Frauen brauchen bei solcher Gelegenheit stets lange Zeit; auch war kein Zeichen von Uebereilung oder Mangel an Sorgfalt bei dem Anzug erkennbar.«

Daraus folgt sonnenklar, ergänzte der Inspektor, daß der Tausch der Kleider überhaupt nicht stattfand. Die Braut, mit der Sie zur Trauung schritten, war dieselbe, die Sie gleich bei Ihrer Ankunft im Hause im Hochzeitsschmuck gesehen hatten. Scheint Ihnen diese Erklärung nicht die einzig vernünftige?

Kameron konnte ihm nicht widersprechen. – Aber ich möchte Sie noch auf eine andere Tatsache aufmerksam machen, fuhr der Inspektor fort. Wieder führe ich Ihre eigenen Aussagen an:

»Genofeva sagt, sie habe sich in ihrer Freundin, Klara Foote, getäuscht; sie will sie weder bei sich empfangen, noch von ihr sprechen«

Eine seltsame Laune für Fräulein Gretorex, aber eine sehr natürliche Vorsicht für Mildred Farley. Weit eher durfte sie hoffen, die Adoptiveltern zu täuschen, mit denen sie ein immerhin etwas förmliches Verhältnis verband, als eine vertraute Jugendfreundin und Schulgefährtin, welche in alle ihre Herzensgeheimnisse eingeweiht sein mußte. –

Dagegen ließ sich ebensowenig etwas einwenden –

Ferner paßte die Empfänglichkeit für die Weltfreuden, die Ihre Gattin an den Tag legte, ganz und gar nicht für die vornehme Dame, die an Luxus und gesellschaftliche Triumphe aller Art gewöhnt war. Hören Sie nur:

»Sie hat eine Zeitlang in Washington größeres Vergnügen an Festen und Gesellschaften bekundet, als jemals, seit ich sie kenne. Wie hätte sie so von Lust und Heiterkeit übersprudeln können« –

wenn sie Genofeva Gretorex gewesen wäre, füge ich hinzu, die in ihrer Liebe getäuscht und aller Lustbarkeiten und Aufregungen des Gesellschaftslebens herzlich müde war. –

Im Geist sah der Doktor die strahlende Gestalt seines Weibes in jenen ersten Tagen ihres jungen Glücks; er schwieg und fragte sich, ob denn dies alles nicht ein Traum sei, aus dem er nächstens erwachen werde? –

Noch eins bitte ich Sie zu erwägen, fuhr der unerbittliche Beamte fort; es hat auf Doktor Molesworth Bezug und scheint mir von großer Bedeutung. Auf die Frage, ob sie um seinetwillen keine Besorgnis verraten habe, erwiderten Sie:

»Welche Frau hätte sich nicht geängstigt, wenn durch ihre Schuld ein unschuldiger Mann in eine verdächtige Lage geraten wäre, aus der sie ihn nicht wieder befreien kann, ohne ihre eigene Sicherheit zu gefährden?«

Für das Weib, das ihn geliebt hat, wäre dies ein unnatürlich kühler Gemütszustand, der dagegen bei einer bloßen Bekannten wie Mildred Farley ganz begreiflich ist.

Aber – wandte Kameron ein.

Lassen Sie mich nur noch eine Ihrer Aeußerungen anführen, unterbrach ihn der Inspektor:

»Seit Fräulein Gretorex meine Frau wurde, hat sie mir weder durch Worte noch Blicke die leiseste Veranlassung zur Eifersucht gegeben. Wenn in ihrem Innern noch ein Funke der alten Leidenschaft glüht, so ist er mir unsichtbar geblieben.«

Sie sehen wohl nun selbst, Herr Doktor, auf wie natürliche Weise Ihre Aussagen in uns den Argwohn geweckt und bestätigt haben, daß das Mädchen, über dessen Leiche die Totenschau gehalten wurde, Ihre eigentliche Braut war, während die, welche jetzt der Welt gegenüber Ihren Namen trägt, niemand anders ist, als deren Zwillingsschwester Mildred. Von dieser wissen wir aus Fräulein Gretorex' eigenen Aufzeichnungen, daß sie sich ebenso bereitwillig als fähig erwiesen hat, an ihre Stelle zu treten. – Glauben Sie trotz alledem noch, daß wir im Irrtum sind, so können Sie uns vielleicht durch ein Beispiel beweisen, daß Ihre Gattin wirklich die Talente und Gaben besitzt, durch welche Fräulein Gretorex in der Gesellschaft geglänzt hat.

Bei dem Wort »Talente« erinnerte sich Kameron plötzlich, wie oft Genofeva (so nannte er sie noch immer) sich geweigert hatte, ihren Gesang oder ihr Spiel hören zu lassen, jedesmal den leidigen Rheumatismus oder sonst etwas vorschützend. Er dachte daran, daß ihr der Trauring zu weit gewesen war, daß sie ihren Eltern oftmals wie eine Fremde gegenüber gestanden hatte, und an hundert große und kleine Vorkommnisse, die er früher nicht so genau beachtet. Und zu alledem kam noch die Ueberzeugung, daß das Herz seiner Gattin ihm angehört habe mit aller Glut und Innigkeit einer ersten, einzigen Liebe. Wie war das bei Genofeva möglich, die eben noch das Bild eines anderen Mannes in der Seele getragen? Und doch – ihm schwindelte bei dem Gedanken, daß er wirklich ein Weib zu seiner Gattin gemacht haben solle, das ihm ganz unbekannt war, dem er nie gehuldigt, um das er sich nie beworben hatte. –

Es wird Ihnen schwer, meine Frage zu beantworten? fragte der Inspektor mit aufrichtiger Teilnahme.

Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, ich will es nicht versuchen. Wenn Genofeva – meine Frau – sich so weit erholt hat, daß es ohne Gefahr geschehen kann, werde ich ihr die Frage vorlegen, und sie wird mir die Wahrheit sagen.

Glauben Sie? – Ja, das möchte vielleicht genügen, wenn es sich allein darum handelte, Sie persönlich zufriedenzustellen. Aber die Polizei wird schwerlich damit einverstanden sein, die Sache auf diese Weise zu erledigen.

Auch nicht, wenn sie eingesteht, daß sie Mildred Farley ist?

Auch dann nicht. Es könnte eine List sein, welche Genofeva Gretorex anwendet, um sich aus einer zweideutigen Stellung zu befreien. Durch das, was diese Frau getan und gewagt hat – sei sie nun Genofeva oder Mildred –, hat sie die Grenze überschritten, innerhalb welcher ihr eigenes Wort als Bürgschaft gelten kann.

Kameron sah dies ein. Und was gedenken Sie zu tun? fragte er in ratloser Angst.

Sie haben vergessen, war des Inspektors ernste Antwort, daß Doktor Molesworth gewußt haben muß, wessen Leiche er in seinem Wagen davonführte.

Ja, rief Kameron, leidenschaftlich aufspringend, Molesworth soll es mir sagen; gehen wir zu ihm! – Doch plötzlich stutzte er und wurde bleich. Molesworth hat für diejenige, welche jetzt mein Weib ist, große Opfer gebracht – bemerkte er zweifelnd, sollten sie wirklich Mildred Farley gegolten haben? Ist es nicht wahrscheinlicher, daß er aus Mitleid für Genofeva Gretorex der Gefahr trotzte und um ihretwillen die eigene Ruhe und Sicherheit aufs Spiel setzte?

Der Inspektor schüttelte den Kopf. Das ist keineswegs ausgemacht. Bedenken Sie doch, daß sie ihn um seine Hoffnungen betrogen hatte, daß sie vor ihm geflohen war, um sich mit einem andern zu vermählen! Und wenn auch – man bringt oft der Freundschaft größere Opfer als der Liebe.

Sie haben ihn gesehen, haben mit ihm gesprochen – gewiß hat er Ihnen gestanden –

Nein; Doktor Molesworth gab gestern abend keine Antwort auf unsere Fragen. Er war allem Anschein nach krank – sehr krank.

Kameron dachte daran, wie tiefschmerzlich der letzte Blick seines Freundes gewesen war. Gewiß hatte er aus Rücksicht für ihn die bedrohlichen Anzeichen einer nahenden Krankheit soviel wie möglich unterdrückt.

Der Sturz ins Wasser an jenem eiskalten Tage, fuhr der Inspektor fort, nebst den mancherlei Beschwerden und Entbehrungen, denen Sie beide ausgesetzt waren, hat wohl den Grund zu dem Uebel gelegt. Ich möchte mich jedoch überzeugen, ob er sich nicht kränker stellt, als er ist, um dem Verhör zu entgehen. Sind Sie bereit, mich zu ihm zu begleiten?

Kamerons sehnlichster Wunsch war es, dies zu tun. Auf Molesworth ruhte seine ganze Hoffnung; von ihm allein konnte er die Gewißheit erhalten, von der jetzt alles abhing. So folgte er denn dem Inspektor bereitwillig nach Frau Olneys Wohnung.

Die Kunde, welche dort auf die Ankommenden wartete, traf sie jedoch wie ein Donnerschlag.

Sein Befinden hat sich heute früh bedeutend verschlimmert, hieß es, der Arzt, den man eiligst herbeigerufen hat, sagt, er werde den Tag nicht überleben.

Vom heftigsten Schmerz ergriffen, vermochte Kameron sich im ersten Augenblick kaum aufrecht zu halten; er wankte nach Molesworths Zimmertüre. An der Schwelle trat ihm Frau Olney entgegen.

Kommen Sie, rief sie, er hat nach Ihnen verlangt und die Nacht hindurch fortwährend Ihren Namen gerufen. Jetzt ist er so krank, daß er niemand erkennt. Wer hätte gedacht, daß er nur heimkehren würde, um zu sterben!

In stummer Verzweiflung trat Kameron an das Bett des Kranken. Großer Gott! Konnte dies derselbe Mann sein, von dem er erst vor kurzem geschieden war? Er traute seinen Augen kaum; es ging über sein Verständnis. Stumm starrte er auf den todkranken Freund, mit dem alle seine Hoffnungen ins Grab sanken.

Ein schwerer Fall von Lungenentzündung, flüsterte eine leise Stimme neben ihm. Das Bewußtsein kehrt vielleicht noch zurück, aber höchstens auf einige Minuten. Selbst seine eigene Kunst vermöchte ihn kaum zu retten, und die wird er nie wieder ausüben. Sie teilen gewiß meine Ansicht, Herr Kollege. Der Puls – die Temperatur –

Kameron sah und hörte nichts, er wußte nicht einmal, wer mit ihm sprach.

Julius, flüsterte er, kennst du mich nicht? Walter Kameron ist bei dir.

Aber der Kranke vernahm den flehenden Ruf nicht; die fieberglühenden Augen rollten unstät umher, er erkannte seine Umgebung nicht.

Er verläßt uns auf immer, rief Kameron in bitterem Weh zu dem Inspektor gewandt, das Geheimnis, das er im Innern verbirgt, ist für uns verloren. So lange noch Atem in ihm ist, weiche ich nicht von seiner Seite. Wollen Sie mit mir hier bleiben oder gestatten, daß ich allein bei ihm wache?

Gryce ist hier, entgegnete der Inspektor. Er hat den Kranken seit gestern abend nicht verlassen und wird mit Ihnen hier bleiben.

Der Doktor eilte nach dem Telephon, um Nachricht von Hause zu erhalten, und erfuhr, daß der Zustand seiner Frau unverändert sei. Nachdem er befohlen, man solle ihn sofort unterrichten, falls sie zum Bewußtsein erwache, kehrte er an Molesworths Lager zurück.

Er kennt Sie nicht, flüsterte Frau Olney, und doch scheint er ruhiger, wenn Sie bei ihm sind, hören Sie, er ruft Sie wieder bei Namen.

»Walter – Walter Kameron,« kam es von des Kranken Lippen. Der klagende Laut schnitt dem starken Mann ins Herz, und seine Augen füllten sich mit Tränen, die sein eigenes schweres Leid ihm nicht hatte auspressen können.

So vergingen bange Stunden, bis plötzlich eine Veränderung eintrat. Der Sterbende blickte empor, erkannte Kameron und stieß einen tiefen Seufzer aus. Der Doktor beugte sich über ihn:

Du hast mir etwas zu sagen, Julius, flüsterte er, sprich nur ein Wort, ich will dir's ewig danken. Welche von den Schwestern habe ich geheiratet? Antworte mir, teurer Freund, dann frage ich dich nichts mehr.

Der Kranke öffnete die Lippen; es war, als wolle er reden, aber er brachte keinen Laut heraus.

O Gott, stöhnte Kameron in Verzweiflung, muß ich ihn sterben sehen, ohne das rettende Wort zu vernehmen? Julius, du hast Kraft genug, dich zu bewegen. Wenn Genofeva Gretorex mein Weib ist, hebe die rechte Hand empor.

Die Hand blieb regungslos.

Wenn es Mildred Farley ist, erhebe die linke.

Auch diese bewegte sich nicht.

Kannst du es mir nicht sagen? rief Kameron in wildem Schmerz, oder willst du es nicht tun? Du sagst, du hast mich lieb, beweise es jetzt!

Aber der Sterbende bewegte sich nicht mehr; nur aus seinen Augen brach ein rührend sehnsuchtsvoller Blick. Da gab der Doktor sein vergebliches Trachten auf; alle selbstsüchtigen Gedanken von sich weisend, beugte er sich nieder und küßte mit heiliger Scheu und Zärtlichkeit die Stirn, die schon vom kalten Todesschweiß bedeckt war.

Ein Strahl unaussprechlicher Freude ergoß sich über das verklärte Antlitz; die Hand, die sich nicht hatte regen wollen, streckte sich nach Walter aus und ruhte einen Moment mit innigem Druck in der seinen.

Kameron kniete neben Molesworth und flüsterte ihm ins Ohr: Heute früh ist Brigitte Halloran zum erstenmal eine Strecke weit ganz allein gegangen. Den Ruhm dafür erntest du allein.

Da trat ein glückseliges Lächeln auf die bleichen Lippen, noch ein dankbarer Blick, und die tiefen unergründlichen Augen schlossen sich für immer.

Es ist vorüber, sagte eine wohlbekannte Stimme neben Kameron in feierlichem Ton. Wir müssen ein anderes Mittel suchen, um die Wahrheit zu ergründen.

Ein anderes Mittel? Aber welches?

Kameron stand einige Zeit nachher allein mit Gryce im Wohnzimmer.

Der Detektiv überlegte. Blieb er nicht immer noch der große Gryce, wenn auch seine Jugend und Blütezeit vorbei war? Es mußte ihm gelingen, der Schwierigkeit Herr zu werden.

Das langsame Forschen und Erwägen bringt mich um, brach Kameron das Schweigen. Der Zweifel ist nicht länger zu ertragen; ich muß wissen, wen ich an meinem Herzen gehegt und gehalten habe.

Auch wir müssen uns Klarheit verschaffen, fiel Gryce ein. Was war Ihre letzte Nachricht von zu Hause? fügte er in kurzem geschäftsmäßigem Ton hinzu.

Meine Frau hatte sich abermals bewegt, aber nur schwach.

Des Detektivs Züge nahmen einen seltsamen Ausdruck an. Wer Gryce kannte, hätte ihn nicht ohne Neugier und Interesse betrachtet, denn so sah er nur aus, wenn er eine wunderbare Entdeckung gemacht oder einen scharfsinnigen Plan ausgeklügelt hatte.

Sie möchten wissen, rief er, wie wir uns untrüglich davon überzeugen können, welche von den Schwestern Sie als Gattin in Ihr Haus geführt haben? – Gut, es gibt ein Mittel, und ich hoffe, daß es mir damit gelingt. Bei diesen Worten trat er dicht an den Doktor heran und flüsterte ihm voll Eifer und Nachdruck einige Worte ins Ohr.


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