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Zwanzigstes Kapitel.

Ein Tag war vergangen, für Doktor Kameron ein furchtbar ernster Tag, an dem seine Gattin am Rande des Grabes geschwebt hatte. Noch jetzt war sie so krank, daß im Hause nur leises Geflüster und unhörbare Tritte gestattet wurden, aber das Schlimmste war doch vorüber.

Sobald Kameron abkommen konnte, begab er sich verabredetermaßen zu Gryce, um der Ungewißheit ein Ende zu machen, welche durch die letzten Worte seiner Frau hervorgerufen worden war. Er wußte, daß dies in seiner Macht stand, denn ihm war noch klar erinnerlich, bei welcher Veranlassung er Genofeva das starke Mittel, das sie nur in der vorgeschriebenen Verdünnung gebrauchen durfte, gegeben hatte, und er rechnete darauf, das Fläschchen wiederzuerkennen, wenn auch die Etikette, auf der das Wort »Gift« nebst einer von ihm geschriebenen Gebrauchsanweisung stand, abgerissen war.

Gryce, welcher Doktor Kameron sehr hoch achtete, fühlte aufrichtiges Bedauern für ihn; er hatte ihn bereits erwartet und empfing ihn freundlich, aber ernst.

Haben Sie die Stücke des zerbrochenen Fläschchens hier, aus dem Mildred Farley das Gift getrunken haben soll? fragte der Doktor ohne weitere Umschweife.

Ja, wollen Sie sie sehen?

Ich möchte Ihnen beweisen, daß es dasselbe Arzneifläschchen war, das ich meiner jetzigen Frau kurz nach unserer Verlobung übergeben habe. Am oberen Rand, dessen erinnere ich mich, befand sich ein Einschnitt, etwa so groß, wie ein Stecknadelknopf; wenn das Stück noch vorhanden ist, kann ich es Ihnen zeigen.

Das wäre allerdings eine wichtige Entdeckung, bemerkte der Detektiv, die Stücke hervorholend. Ist dies das Zeichen?

Ja, bestätigte der andere.

Eine ernste Sache, eine sehr ernste Sache, murmelte Gryce.

Kameron ward unruhig; was wollte der Detektiv damit sagen? Es bestätigte doch nur, daß seine Frau die Wahrheit ausgesagt hatte, und war von Wert als ein noch fehlendes Glied in der Beweiskette. Oder glaubte man seiner Frau nicht? Hatte er vielleicht neuen Argwohn gegen sie erregt, statt ihn zu stillen?

Ich bin in einer höchst peinlichen Lage, sagte er. Sie hegen Verdacht gegen meine Frau, die todkrank darniederliegt; ich aber verlasse mich unbedingt auf ihr Wort. Ich würde ihr glauben, und wenn zehn Zeugen gegen sie aufstünden, um auszusagen, sie hätten gesehen, wie sie Mildred Farley das Gift reichte.

Gryce fühlte sich nicht veranlaßt, eine Unterhaltung fortzusetzen, die doch zu nichts führen konnte. Sind Sie wohl imstande anzugeben, fragte er, wann Ihre Frau soweit hergestellt sein wird, daß weitere Erörterungen stattfinden können?

Das kann Wochen, ja Monate dauern, war die ernste Antwort. Um Auskunft über ihre Gesundheit und Vernehmungsfähigkeit zu erhalten, wenden Sie sich gefälligst an Doktor Weston. Ich habe ihn zu diesem Zweck beigezogen und werde sein Urteil nicht beeinflussen. Meiner Neigung nach – das werden Sie wohl begreiflich finden – würde ich die Sache überhaupt nicht wieder zur Sprache bringen.

Seien Sie überzeugt, daß, wenn meine Pflicht es irgend gestattet, ich Sie und Ihre kranke Gattin gewiß nicht beunruhigen werde, versetzte Gryce teilnehmend.

Halten Sie es denn für ein schlimmes Zeichen, daß es dieselbe Flasche war, welche sich in Fräulein Gretorex' Besitz befand?

Ich bedaure nur, entgegnete jener, daß Ihre Frau Gemahlin uns nicht noch erklären konnte, wie es kam, daß die arme Näherin so gut in ihren Schubladen Bescheid wußte, daß sie beim ersten Griff sich des tödlichen Trankes bemächtigen konnte.

Also dies war der verdächtige Umstand? Schon das zu wissen gewährte dem Doktor Erleichterung; er warf dem Sprecher einen dankbaren Blick zu.

Vielleicht ist meine Frau überhaupt außer stande, es zu erklären; sie sagte ja, es klänge so unglaublich.

Der Detektiv verbeugte sich stumm.

Haben Sie mit Molesworth gesprochen und ihm mitgeteilt, daß meine Frau seinen Angaben widersprochen und eingestanden hat, daß das Mädchen bereits tot war, ehe er das Haus betrat? fragte Kameron.

Hierüber habe ich Ihnen keine Mitteilung zu machen, Herr Doktor; wir müssen erst warten, ob Ihre Frau nicht noch über einige dunkle Punkte Auskunft zu geben vermag; ehe sie ihr Zeugnis nicht abgelegt hat, können wir ihren Gatten nicht in unser Vertrauen ziehen.

Wohl, rief Kameron leidenschaftlich, aber ich will Ihnen mein Vertrauen schenken, Herr Gryce: ich liebe meine Frau – wie tief und innig, das weiß ich erst, seit ich die Schatten des Todes über ihr schweben sah. Ich muß suchen, sie zu retten. Unnennbares Leid, vielleicht unauslöschliche Schande bedroht ihre Zukunft, wenn ich nicht den unumstößlichen Beweis beizubringen vermag, daß ihr Bericht über Mildred Farleys unglückliches Ende die reinste Wahrheit enthält. Was fordern Sie? Welcher Beweis ihrer Unschuld würde Ihnen genügen? Sie haben es zwar nicht ausgesprochen, aber ich weiß doch nur zu gut, daß Sie glauben, sie selbst habe das Fläschchen aus dem Schmuckkasten genommen.

Der stärkste Beweis für die Unschuld Ihrer Frau besteht darin, daß wir bis jetzt von keinem Beweggrund wissen, der sie getrieben haben könnte, dem Mädchen zu schaden, entgegnete Gryce. Wenn wir uns von dem wirklichen Mangel eines solchen überzeugen, so müssen wir ihre Geschichte glauben, wie widersinnig und unwahrscheinlich sie auch klingen mag. – Es handelt sich also darum, das ganze Geheimnis in seinem Zusammenhang zu enträtseln, damit wir erfahren, ob Mildred Farley guten Grund hatte, sich selbst das Leben zu nehmen, und wie sich Julius Molesworths Handlungsweise mit seinem sonstigen Charakter und gesunden Urteil vereinbaren läßt. Gelingt Ihnen das, so ist schon viel gewonnen. Ich will es versuchen, rief Kameron mit bleicher Lippe. Zu welchen Entdeckungen es mich auch führen mag, sie können mir keinen größeren Schmerz bereiten, als Ihr finsterer Argwohn.

Wenn Sie nun aber bei Ihren Nachforschungen Leuten begegnen sollten, die den gleichen Zweck verfolgen?

So muß ich ihnen den Vorrang einräumen. Um mit der Polizei zu wetteifern, fehlt mir die Uebung und erforderliche Gewandtheit. Mich treibt die Liebe ans Werk, Sie gehorchen der Pflicht Ihres Berufes.

Nach diesen Worten entfernte sich Kameron eilig mit höflichem Gruß.


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