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Neunundzwanzigstes Kapitel.

Es war eine qualvolle Nacht für den schlaflosen Mann. Der Wind fuhr wie rasend um das Haus herum, das in seinen Grundfesten erbebte; die Gipfel der Bäume bogen sich krachend über das Dach, das hin- und herzuschwanken schien, als wolle es der Sturm aus allen Fugen reißen. Stand Kameron auf und trat ans Fenster, so erblickte er nichts als das wilde Gewirr der durch die Luft kreisenden dichten Schneemassen; legte er sich nieder, um Ruhe zu finden, so tönte ihm ein Aechzen, ein Lärmen und Toben in den Ohren, als sei die ganze Hölle losgelassen.

Der Anblick, der sich Kameron beim Morgengrauen bot, würde den Mutigsten erschreckt haben. Die Gegend war nicht wieder zu erkennen; alles lag unter dem Schnee begraben, der sich an vielen Stellen bergehoch auftürmte. Auch hatte der Sturm noch keineswegs nachgelassen, im Gegenteil, es war, als strebe er seine Wut zu verdoppeln, um das Schneegestöber in immer tolleren Wirbeln vor sich her zu treiben.

Der für den Monat März so ungewöhnlich furchtbare Wintersturm schien Kameron die letzte Aussicht rauben zu wollen, Molesworth noch einzuholen, zumal derselbe schon um einen Zug voraus war. Der Gedanke brachte ihn außer sich, seine ganze Tatkraft erwachte, und dem Unwetter zum Trotz kämpfte er sich glücklich bis zum Bahnhof durch. Hier erfuhr er, der Nachtzug sei erst um sechs Uhr morgens durchgekommen und telegraphierte sofort nach Sinton, ob der Herr, dessen Beschreibung er beifügte, nach Neuyork abgefahren wäre. Die Rückantwort lautete bejahend, und unbekümmert um alle drohenden Fährlichkeiten löste der Doktor sich eine Fahrkarte zum Morgenschnellzug.

Dieser ging zwar ebensowenig fahrplanmäßig ab, als der frühere, aber drei Stunden Verspätung waren von wenig Belang, wie Kameron bald erfahren sollte. Die Hindernisse auf der Bahn wurden immer größer, und die Lokomotive schleppte sich nur mühsam weiter durch die zusammengewehten Schneehaufen. Schwerfällig keuchte und ächzte sie dahin und brauchte Stunden für eine Strecke, die sie sonst in wenigen Minuten zurückzulegen pflegte.

Das Schicksal hat sich gegen mich verschworen, seufzte Kameron, als es Nachmittag wurde und sie noch viele Meilen von Neuyork entfernt waren, nicht nur ist mir der Flüchtling entkommen, sondern ich selbst bin verirrt, wie ein Wanderer in öder Wildnis.

Sein eigenes Mißgeschick nahm ihn so völlig in Anspruch, daß er sich kaum nach den angsterfüllten, verstörten Gesichtern seiner Mitreisenden umsah. Eine Stunde nach der andern verging, der Abend brach herein, und ihre Lage wurde immer hoffnungsloser. Nun erst begann Kameron sich aus dumpfer Erstarrung emporzuraffen; er schüttelte die selbstsüchtigen Gedanken ab, um auch an seine Leidensgefährten zu denken, die er mit dem freundlich teilnehmenden Ausdruck betrachtete, welcher ihm so leicht alle Herzen gewann.

Unter der Zahl der Reisenden befanden sich auch einige Frauen, die sich mit großer Seelenstärke in ihr Geschick zu fügen schienen. Ihre stille Geduld bei so trübseliger Aussicht rührte Kameron, der gleich den übrigen Männern sich nicht länger über den Ernst der Lage täuschen konnte.

Eben machte die Lokomotive mit herkulischer Anstrengung noch einen letzten Versuch, sich durch einen ungeheuren Schneeberg Bahn zu brechen, der ihr den Weg versperrte. Noch eine schwache Bewegung, dann stand der Zug still.

Wir bleiben stecken, rief ein Reisender.

Auf freiem Felde, fiel ein anderer ein, nirgends ein Unterkommen.

Und die Nacht bricht herein, klagte ein dritter.

Her mit den Schneeschaufeln, drängte ein tatkräftiger Mann, wir wollen doch sehen, ob sich die Mauer nicht wegschaffen läßt.

Der Doktor trat auf die Plattform, um die traurige Lage selbst in Augenschein zu nehmen, doch kehrte er bald wieder in das Innere des Wagens zurück; er konnte sich draußen kaum auf den Füßen halten, und der tobende Wind drohte ihm den Atem zu rauben. Ein zweiter Versuch gelang jedoch besser. Sich an der Bremsstange festklammernd blickte Kameron umher: sie befanden sich anscheinend auf einer mit hohen Schneehügeln besetzten Ebene; kein Haus, kein Zaun war sichtbar, und Weg und Steg zugeschneit. Man glaubt in Sibirien zu sein, war das wenig trostreiche Ergebnis seiner Betrachtung.

Bei zwei Schaffnern, die am Wagen standen, erkundigte er sich, ob denn keine menschliche Wohnung in der Nähe sei, wo man hoffen dürfe, warme Decken und Nahrungsmittel zu erhalten. Die Antwort lautete nicht ermutigend; die Gegend, hieß es, sei wenig bewohnt, das nächste Dorf drei Meilen entfernt, und näher keine Wohnstätte anzutreffen, außer der Behausung des alten Harper.

Und wie weit ist's bis dahin?

Nur eine Meile, schrie der Schaffner so laut er konnte, um das Heulen des Windes zu übertönen. Aber der Alte läßt niemand herein. Er ist ein Menschenfeind und lebt als Einsiedler in seiner Mausfalle von einem Haus. Sie tun besser, im Zug zu bleiben.

Kameron sah die Weisheit dieses Rates ein und beschloß ihn zu befolgen. Aber je weiter die Nacht vorrückte, um so empfindlicher ward der Frost, zu dem sich noch ein nagender Hunger gesellte. Voll Mitleid blickte der Doktor auf die zarten, stumm duldenden Frauen, denen er nicht zu helfen vermochte; er sagte sich, es müsse weit erträglicher sein, draußen mit Schnee und Wind zu kämpfen, als hier still zu sitzen und an seinem Kummer zu zehren. Lieber wollte er den Kampf mit den Elementen aufnehmen, als wer weiß wie lang in duldender Untätigkeit verharren.

Im Verein mit drei oder vier Reisenden, die seine Gefühle teilten, beschloß daher Kameron den Versuch zu wagen, Harpers Wohnhaus zu erreichen. Der Mann konnte doch kein solcher Unmensch sein, Leuten, die sich in großer Bedrängnis befanden, seine Hilfe zu verweigern.

Der Schaffner, den sie nach der einzuschlagenden Richtung befragten, gab die gewünschte Auskunft, fügte aber kopfschüttelnd hinzu: »Schließen Sie sich doch lieber den Männern vom vordern Wagen an, welche versuchen wollen, sich bis zum nächsten Dorf durchzuschlagen!«

Dies leuchtete dem Doktor ein, und bald darauf hatten sie sich mit dem kleinen Trupp vereinigt, der entschlossen war, nach dem fernen Dorfe aufzubrechen.

Daß es ein tollkühnes Unternehmen war, erkannten einige der Teilnehmer nur allzubald. Sie vermochten kaum der Gewalt des grimmigen Sturmes zu widerstehen und verloren bei dem dichten Schneefall obendrein die Richtung. Der Mann, welcher ihnen als Führer dienen sollte, war der erste, der die Hilfe seiner Gefährten in Anspruch nahm und sich halb erstarrt von ihnen mit fortschleppen ließ.

Nach einem mehr als halbstündigen verzweifelten Kampf sank den meisten der Mut, und sie wären gewiß wieder umgekehrt, hätten sie nur hoffen können, den Rückweg zu finden. Die dunkle Nacht und der wirbelnde Schnee ließen sie jedoch nichts erkennen, außer von Zeit zu Zeit einen Baumstamm, wenn sie der Wind dagegen trieb.

Doktor Kameron, dem ein solcher Kampf mit den Elementen völlig neu war, bot seine ganze Willenskraft auf, um nicht zu erliegen. Zuerst hatte er sich an zwei der stärksten Männer angeschlossen, deren Mienen ihm besonderes Vertrauen einflößten; er wurde jedoch in der Dunkelheit von ihnen getrennt. Im Weiterschreiten kam er an die Seite eines andern Gefährten, und als er einmal erschöpft stillstand, reichte ihm der Fremde den Arm und zog ihn mit sich fort. Dieser Beweis menschlichen Gefühls und die Berührung selbst schienen Wunder zu wirken. Des Doktors Kraft ward neu belebt; zwar konnte er dem hilfreichen Genossen seine Erkenntlichkeit nicht in Worten aussprechen, aber er drückte doch dankbar den stützenden Arm und hob sein Haupt mutiger empor.

Diese zwei kühnen Männer, welche an der Spitze des Zuges marschierten, während die andern mehr und mehr zurückblieben, fochten unverdrossen weiter gegen alle Hindernisse. Nur einmal machte der Doktor Miene, sich auf einen weichen Schneehaufen zu kurzer Rast niederzulassen, aber sein unbekannter Kamerad ließ ihm keine Zeit; schon fühlte er sich von seinem Arm erfaßt und aufgerüttelt.

O Gott, fuhr es ihm durch die Seele, wenn Genofeva mich jetzt im Traume erblickte!

Ein sanftes, zärtliches Gefühl überschlich ihn, wie es sein Herz seit lange nicht empfunden; sein Tritt ward unsicher, die Knie wankten ihm, und er wäre zu Boden gefallen, hätte ihn nicht der starke Arm gehalten.

Da tauchte in der dunkelsten Nacht auf einmal vor ihnen ein fernes, schwaches Licht auf; ob es aus einem Hause kam, ob ein Wanderer es in der Hand trug, sie wußten es nicht, aber der Anblick gab ihnen neues Leben, und sie folgten dem freundlichen Leitstern, der ihnen eine sichere Zukunft versprach. Schulter an Schulter drangen sie weiter vor, obgleich ihnen der angehäufte Schnee zuweilen bis an die Brust reichte. Plötzlich jedoch erlosch das rettende Licht. Sie schrien nach Hilfe, aber keine Antwort kam zurück, und die Enttäuschung war doppelt groß nach der kurzen Hoffnung.

Selbst wenn uns die Kraft nicht verläßt, ehe wir durch die Schneewüste bis zum Dorf gelangen: zurück kommen wir nicht wieder, dachte Kameron bei sich. Der starre Frost lähmte ihm die Glieder, und er fühlte, er müsse sich gewaltsam aufrecht halten, sonst sei alles verloren. Da fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, daß Molesworth jetzt vielleicht wieder in Neuyork sei, in ein und derselben Stadt mit seiner Frau; das feuerte ihn an und entflammte seinen Eifer von neuem: »Ich will nicht unterliegen,« war sein unbeugsamer Entschluß, und nun war es Kameron, der am energischsten vorwärtsdrang und den Gefährten mit sich fortzog. Von dem scharfen, prickelnden Schnee schmerzten ihn die Augen, er hatte sie seit einigen Minuten geschlossen, als er sich urplötzlich auf der Stelle festgehalten fühlte. Er blickte um sich und gewahrte, daß sie am Rande eines wild schäumenden Flusses standen, in den er blindlings hineingestürzt wäre, hätte ihn nicht der wachsamere Gefährte zurückgehalten.

Schaudernd erkannte er die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage. Das also war das Ende der Wallfahrt. Alles Leiden war vergeblich gewesen, auch der furchtbare Kampf, bei dem sie hundertmal dem Tode getrotzt hatten, um nun doch zu unterliegen. Dem Doktor war der Mut geschwunden; er fühlte, daß er nicht einmal mehr Kraft genug besitze, um dem Fremdling an seiner Seite eine letzte Botschaft an sein Weib anzuvertrauen. Im Geist sah er in diesem Augenblick ihre reinen Züge vor sich auftauchen, es war ihm, als schaue er in ein Engelsangesicht.

Da wandte sich sein Kamerad auf einmal nach rechts und zog ihn mit sich; mechanisch folgte er; es war ja doch alles umsonst, jede Hilfe ausgeschlossen. Er sehnte sich nur nach Ruhe und wäre, sich selbst überlassen, sicherlich zu Boden gesunken, um nicht wieder aufzustehen. Aber er blieb nicht allein, und jetzt vernahm er neben sich ein hohles, dumpfes Krachen, das wieder und wieder erklang und ihm wie Posaunenton in den Ohren dröhnte. Es war der Anprall eines Verzweifelnden gegen eine verschlossene Türe. Wider Willen aus seiner Erstarrung aufgerüttelt, vereinigte er seine Anstrengung mit der des Genossen. Sie stemmten zusammen die Schultern gegen das ungefügige Holz und mit der Anspannung ihrer letzten Kräfte hoben sie die Türe aus den Angeln, daß sie donnernd nach innen auf den Boden stürzte. Vor ihnen gähnte pechschwarze Nacht, allein sie waren unter Dach und fühlten wärmere Luft.

Kamerons Herz durchströmte inniges Dankgefühl; er half dem Kameraden die Oeffnung wieder mit der Tür schließen, dann schwankten sie vorwärts in den dunklen Raum hinein. Nach einem Moment halber Bewußtlosigkeit gewann Kameron so viel Kraft, um mit den erstarrten Fingern nach der Streichholzbüchse in seiner Tasche zu suchen und Licht zu machen.

Ich muß meinen Beschützer von Angesicht sehen, rief er und hielt das brennende Streichholz zwischen sich und den Mann, dessen wunderbare Tatkraft und Ausdauer ihn aufrecht erhalten und bis zu dem rettenden Port geleitet hatte.

Gleichzeitig entrang sich ihren Lippen ein Schrei maßlosen Erstaunens. Doktor Kameron und Julius Molesworth sahen sich Auge in Auge einander gegenüber.


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