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Siebzehntes Kapitel.

Doktor Kamerons freundliches Sprechzimmer war reich möbliert und mit kostbaren Kunstgegenständen geschmackvoll ausgestattet; es bildete den stärksten Gegensatz zu der kahlen düstern Stube, die Molesworth bewohnte. Zudem besaß er, bei gleichem Ernst und Eifer für seinen Beruf, in hohem Grade die Gabe, die Wurzel einer Krankheit auf den ersten Blick zu entdecken, während Molesworth jeden Fortschritt in der Erkenntnis nur durch geistige Anstrengung und schrittweise zu erringen vermochte.

Kameron hatte den Abend mit seiner Frau in einer Gesellschaft zugebracht, war aber wegen eines dringenden Falles früher abgerufen worden. Jetzt saß er, auf Genofevas Heimkehr wartend, in tiefem Sinnen da. Er dachte nur an sie, an ihr reizendes berückendes Bild, das ihm stets vor der Seele schwebte. In ihrer Stimme lag der süßeste Wohllaut, die innigste Liebe in ihren Augen. Nie hätte er geglaubt, daß Wort und Blick einer Frau ihn so entzücken könnten. Die Liebe hatte sein Herz bezwungen, ehe er es selber ahnte. Und sein Weib war es, das dieses Wunder vollbrachte, sie, die gelobt hatte, sein eigen zu sein bis an das Ende des Lebens.

Er horchte jetzt ungeduldig auf das Rollen des Wagens, das ihre Rückkunft aus der Gesellschaft verkünden sollte. Er sah nach der Uhr. Es war dreiviertel auf zwölf, und um elf wollte sie zurück sein. Er klingelte und erfuhr zu seiner Ueberraschung von dem schlaftrunkenen Diener, die Frau Doktor sei schon vor ihm wieder nach Hause gekommen.

Beruhigt löschte er seine Studierlampe und begab sich in das Wohnzimmer hinauf; aber er fand Genofeva weder hier noch in dem anstoßenden Schlafgemach. Wo konnte sie sein? – Schon öfters, wenn er sie bei der Heimkehr vergebens gesucht hatte, war ihm der Bescheid geworden, die gnädige Frau sei vielleicht in dem kleinen Zimmer oben. Er hatte ihre Vorliebe für den engen, schlecht möblierten Raum, während ihr doch die bequemen prächtigen Gemächer unten zur Verfügung standen, nicht begreifen können. Warum zog sie sich dort in die Einsamkeit zurück? Wollte sie ihm entfliehen oder etwas vor ihm verbergen? Es war töricht, dergleichen zu denken, und doch wäre er am liebsten sofort hinaufgeeilt, um das Rätsel zu ergründen, hätte ihn nicht sein Stolz zurückgehalten. Er saß wartend da, nahm ein Buch zur Hand und blätterte darin.

Plötzlich blickte er empor – Genofeva stand auf der Schwelle. Sie war in ein schlichtes, weißwollenes Gewand gekleidet, dessen weiche Falten ihr bis zu den Füßen niederfielen; Trauer und Sehnsucht, Zärtlichkeit und fester Entschluß sprachen aus ihren Blicken. Er öffnete die Arme, und sie eilte zu ihm hin. Wie bleich waren ihre Wangen, wie feierlich ihr ganzes Wesen!

Walter, murmelte sie, noch ehe er das Wort ergreifen konnte, ich habe heute dein Mißfallen erregt, oder vielmehr, ich bin in deiner Achtung gesunken; das nagt mir am Herzen. Ich kann es nicht ertragen, wenn du meinem Reden und Tun mißtrauest. Lieber gleich sterben und von all meinem Glück scheiden, als in steter Angst schweben, du möchtest irre werden in deinem Glauben an mich, deiner Liebe zu mir. Deshalb komme ich jetzt in dieser feierlichen Stunde nach ernster Reue, um dir zu sagen, daß keine Lüge je wieder über meine Lippen kommen soll, im großen wie im kleinen. Was auch geschieht – ein krampfhaftes Zucken flog durch ihre Glieder – ich werde stets die Wahrheit lieben, das gelobe ich dir bei dem, was mir das Teuerste auf Erden ist – meines Gatten Liebe.

Wie zum heiligen Schwur legte sie ihm beide Hände auf die weiße Stirn, er aber zog sie an sich, ohne ein Wort zu sprechen, doch im Innersten bewegt; sie lag an seinem Herzen, ihre Augen schlossen sich, und süßer Friede ruhte einen Augenblick auf ihren Zügen. Dann richtete sie sich mutig in die Höhe, preßte beide Hände zusammen und blickte ihn an, als wolle sie sagen: Was begehrst du zu wissen? Frage mich – du sollst die Wahrheit hören. Doch er rief beglückt: Jetzt habe ich meinen fleckenlosen Demant und will mich seines Besitzes freuen. Zum erstenmal im Leben fühle ich mich vollkommen glücklich. Und voll Leidenschaft schloß er sie in die Arme.

Dies geschah um Mitternacht. Am andern Morgen fragte Frau Kameron ihren Mann, ob er auch im Osten der Stadt Krankenbesuche zu machen habe. Er erwiderte, er fahre hauptsächlich in diese Gegend, um nach Molesworths Patientin im Hospital zu sehen, mit deren Befinden er recht zufrieden sei.

Würdest du mich wohl manchmal mitnehmen, fragte sie schüchtern, wenn du Armenbesuche machst? Ich möchte dich gern zu den Leuten begleiten, denen du Hilfe bringst.

Möchtest du das? Ein Freudenschein erhellte seine Züge. Ein Weib zu besitzen, das Anteil an seiner Arbeit nahm, das hatte er nicht zu hoffen gewagt. Du kannst gleich heute mitkommen, rief er, und sie eilte hinauf, sich anzukleiden.

Zuerst fuhren sie nach dem Hospital. In der Abteilung, wo Brigitte Halloran lag, schritten sie durch zwei Reihen von Krankenbetten voller Leidensgestalten. In der Nähe von Kamerons neuer Patientin angekommen, standen sie überrascht still, denn am Bett des armen Weibes, ihnen den Rücken zukehrend, saß ein Mann, den sie hier nicht erwartet hatten. Jetzt wandte er sich um – es war wirklich Doktor Molesworth, – Kameron trat schnell auf ihn zu.

Welche unverhoffte Freude! sagte er. Wie lange – er hielt inne und besann sich – können Sie schon wieder ausgehen?

Seit gestern, war die kurze Antwort; dann verbeugte er sich gegen Frau Kameron. Auch Sie interessieren sich für unsere Patientin?

Ich bin zum erstenmal hier, versetzte sie; ich hoffe, Sie finden eine Besserung im Befinden Ihrer Patientin. Moleswurth sah die schöne Sprecherin einen Augenblick bedeutungsvoll an, dann versetzte er:

Der Fall ist rätselhaft und die geheimen Vorgänge zum Teil unverständlich, doch hoffe ich, es wird alles gut gehen. Wenn nur hinter meinem Rücken kein Irrtum begangen wird. Man kann sich auf die Frauen nur schwer verlassen. Ich werde streng bei meinem Verfahren beharren und hoffe, Sie geben mir auch jetzt noch recht, Doktor Kameron, daß es seine Wirkung nicht verfehlt.

Er blickte seinen Vertreter fragend an; dieser verbeugte sich zustimmend: Die Kur nimmt einen erfreulichen Fortgang, sagte er, mehr läßt sich noch nicht erwarten.

Molesworth lächelte. Reden Sie doch einen Augenblick mit der Kranken. Sie sagt, Ihr freundliches Gesicht tue ihr wohl.

Während Kameron und seine Frau mit Brigitte sprachen, trat er an ein anderes Krankenbett, war aber bald wieder bei ihnen. Genofeva die Hand reichend, sagte er: Obgleich Ihr Herr Gemahl in meiner Abwesenheit so gut für die Kranke gesorgt hat, bin ich doch froh, ihre Pflege jetzt wieder selbst übernehmen zu können; auch die Selbstverleugnung hat ihre Grenzen.

Sie starrte verwirrt auf seine Hand und wechselte die Farbe. Ja – nein, stammelte sie bestürzt; dann wandte sie sich an ihren Mann: Bleibst du noch länger? Wollen wir nicht gehen?

Molesworth schien ihre offenbare Unfreundlichkeit nicht zu bemerken und wandte sich an Kameron. Gönnen Sie mir Ihre Gesellschaft noch einen Augenblick! sagte er, ich möchte Ihnen einen andern Fall zeigen, der Sie vielleicht interessiert.

Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, rief sein Kollege voll Eifer.

Lassen Sie mich zuvor diese lästigen Dinger los werden! bemerkte Molesworth; sie sind mir nur im Wege bei den Kranken. Damit zog der seltsame Mann seine Manschetten aus und steckte sie in die Tasche seines Ueberziehers, der an der Wand hing. Dann schritten sie zusammen vertraulich plaudernd durch den Krankensaal.

Genofeva war nicht wohl zumute; sie hatte sich den Besuch anders vorgestellt und war froh, daß sie still nebenher gehen durfte, ohne sich in die Unterhaltung zu mischen. Als die Runde endlich zu Ende war und sie eben den Saal verlassen wollten, hörten sie Molesworth einen Ruf der Ueberraschung ausstoßen. Kameron wandte sich fragend zurück.

Es ist nichts, lachte Molesworth; meine Manschetten sind nur aus dem Ueberzieher verschwunden. Der Verlust ist nicht groß, aber doch ärgerlich.

Der kleine schmächtige Mensch wird sie genommen haben, hörte er eine Stimme neben sich sagen, er kam herein, gerade als –

Aber Kameron wollte seine Frau nicht noch länger warten lassen; der Vorfall war ja gar zu unbedeutend. Er würde ihm wohl wichtiger erschienen sein, hätte er gewußt, daß auf Molesworths Manschette in großen Buchstaben folgende Worte mit Bleistift geschrieben waren, die Genofeva in dem Augenblick, als er ihr die Hand reichte, erblicken mußte:

»Seien Sie auf der Hut; meine plötzliche Freilassung ist verdächtig.«


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