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Drittes Kapitel.

Die Fahrt nach dem ziemlich abgelegenen Hotel wurde schweigend zurückgelegt. Gryce sah zum Wagenfenster hinaus, und Doktor Kameron fühlte sich durchaus zu keiner Unterhaltung aufgelegt; er war beunruhigt und voll düsterer Gedanken. Der unerwartete Schlag, den er erlitten, hatte seinen Stolz schwer getroffen – nicht sein Herz, das erkannte er jetzt deutlich. Er dachte nur an die Demütigung, die man ihm bereitete und die einen dunkeln Schatten auf seine ganze Zukunft zu werfen drohte. Es war entsetzlich, war völlig unerträglich! Sollte er wirklich hinters Licht geführt, schändlich betrogen worden sein und nun als verschmähter Liebhaber und Bräutigam vor der Welt dastehen! –

Hundert Einzelheiten stiegen in seiner Erinnerung auf und bezeugten, daß dies stolze, kalte Weib zwar seine Werbung angenommen, aber ihn nie geliebt, noch seine Gegenliebe begehrt habe. Es wurde ihm schrecklich klar, daß nicht er der Gegenstand ihres Denkens und Fühlens gewesen. Was er für vornehme Zurückhaltung, edle Selbstherrschung und weibliche Würde gehalten hatte, war im Grunde nichts als kühle Berechnung, hinter welcher sich innere Gleichgültigkeit, ja Abneigung verbarg. Mit bitterem Hohnlachen gestand er sich, daß er von alledem keine Ahnung gehabt, bis heute an seinem Hochzeitstage. Er hatte ihr kostbare Geschenke gespendet und sein Haus geschmückt, um eine Braut zu empfangen, und diese verließ unter der elendesten Ausflucht heimlich ihr Elternhaus, um ihm zu entrinnen! Mußte das nicht den sanftmütigsten Menschen empören, mußte es nicht einen edlen, angesehenen Mann in einen Menschenverächter umwandeln? Die furchtbare Erregung stand ihm im Gesicht geschrieben, krampfhaft ballte er die Hand – sein Entschluß war gefaßt: befand sich, wie er fürchtete, Fräulein Gretorex hier im Versteck und nicht in ihres Vaters Haus bei der Vorbereitung für die Feier, zu welcher sich Hunderte von Gästen versammeln sollten, dann war auch seines Bleibens hier nicht länger. Er wollte die Stadt verlassen, wollte aus seinem Vaterlande fliehen, um nicht dem Hohn seiner Feinde und dem ihm gleichermaßen verhaßten Mitleid seiner Freunde zu begegnen. Schon sah er sich im Geist mitten auf dem Ozean – da hielt der Wagen. Vor ihm lag das Hotel, und seine Gedanken nahmen eine andere Richtung.

Wie viel Uhr ist es? fragte er schnell.

Gerade fünf Minuten vor sechs, antwortete der Detektiv.

So spät! Wenn mir nun das Schicksal günstig ist, und Ihre Vermutung sich als falsch erweist, so werde ich nicht mehr vor acht Uhr auf dem St. Nikolaus-Platz sein können.

Doch, entgegnete sein Begleiter; wir haben genau achtzig Minuten zur Herfahrt gebraucht, in achtzig Minuten gelangen wir zurück. Rechnen wir zehn Minuten auf unser Geschäft hier, so behalten Sie noch eine volle halbe Stunde, um den Hochzeitsfrack anzulegen und rechtzeitig Ihre Rolle bei der bevorstehenden Feierlichkeit zu übernehmen.

Im Begriff, das Hotel zu betreten, stand Doktor Kameron plötzlich still.

Ich erinnere Sie an Ihr Versprechen, sagte er, sie darf mich nicht sehen!

Ich werde Wort halten.

Suchen Sie überhaupt soviel wie möglich jedes Aufsehen zu vermeiden.

Gryce zuckte mit den Achseln. Verlassen Sie sich darauf! erwiderte er kurz.

Sie stiegen die Treppe hinauf, durchschritten den Vorsaal und blieben in einem dunklen Gange stehen.

Warten Sie! flüsterte der Detektiv und trat auf ein Zimmermädchen zu, das sich in der Nähe befand.

Er wechselte einige wenige Worte mit ihr, worauf sie schnell an dem Doktor vorbei auf eine Türe zuschritt, einen Schlüssel aus der Tasche zog und öffnete.

Das Zimmer 153 ist besonders für unsern Zweck geeignet, flüsterte Gryce, während das Mädchen eintrat, und sie beide einen Augenblick allein blieben. Es hat außer der Haupttür noch diese andere, die selten benützt wird. Sie führt in einen mit Vorhängen versehenen Alkoven. Das Mädchen ist hineingegangen, um nach den Befehlen der Dame zu fragen. Beim Herauskommen wird sie die Türe angelehnt lassen.

Doktor Kameron wurde dunkelrot und trat einen Schritt zurück.

Das sind elende Schleichwege, murmelte er.

Es bleibt uns keine Wahl, versetzte der andere, und als das Mädchen wieder herauskam, fügte er hinzu, so daß diese es hören mußte: Wenn es die Kranke ist, die Sie suchen, werden die Eltern Ihnen für Ihren Beistand aufrichtigen Dank wissen.

Doktor Kameron bezwang sein natürliches Widerstreben und folgte finstern Blickes dem Detektiv, der schon die Zimmerschwelle überschritten hatte.

Der Alkoven, den sie betraten, war ein düsteres Gemach, in welchem neben dem Bett und dem Kleiderschrank nur noch wenig Platz blieb. Zwischen den schweren Vorhängen, die den Raum von dem dahinter befindlichen Zimmer trennten, bemerkte der Doktor einen schmalen Lichtstreifen; rasch schritt er nach der Oeffnung und blickte hindurch.

Es war ein erschütternder Anblick, der sich ihm bot. Ein Weib kniete vor dem Feuer, den hoffnungslosen Blick starr auf ein Papier gerichtet, das soeben im Kamin zu Asche verzehrt ward. Die flammende Glut verlieh ihren bleichen Wangen keine Farbe, sie sah aus, als ob es für ihr verzweifeltes Herz keinen Trost, keine Hoffnung gäbe, weder in dieser Welt noch in einer zukünftigen. Des Doktors schneller Blick haftete auf den Zügen und der Gestalt der Knienden. Augenblicklich wußte er, daß es niemand anders war als Genofeva Gretorex.

Als er zurücktrat, stand ihm die Wahrheit deutlich auf dem Gesicht zu lesen. Der Detektiv nahm ihn beim Arm und zog ihn, ohne ein Wort zu sagen, nach dem Ausgang hin. Aber ein Gefühl des Erbarmens mit dem Jammer, den er geschaut, trieb den Doktor noch einmal an den Vorhang zurück. Sein Blick war milder, während er hindurchsah, und schon hob er, wie in unbezwingbarem Drang, die Hand, um den Vorhang zurückzuschlagen und einzutreten, als ihn sein Gefährte fest am Arm ergriff. Er gab diesem wohlgemeinten und entschiedenen Winke nach, wandte sich und folgte Gryce auf den Gang hinaus.

Also kein Irrtum? fragte der Detektiv.

Kameron schüttelte den Kopf.

Leise schloß Gryce die Tür, durch welche sie gekommen waren. Es ist nicht die Person, welche wir suchen, sagte er zu dem in der Nähe wartenden Mädchen, dem er den Schlüssel übergab. Dann wandte er sich ruhig der Treppe zu, aber der Doktor hielt ihn zurück.

Was werden Sie nun tun? fragte er. So schnell wie möglich nach dem St. Nikolaus-Platz fahren.

Und ich? – was meinen Sie?

Der Detektiv sagte mit einer kurzen Handbewegung: Ich möchte Ihre weiteren Schritte nicht beeinflussen.

Allein Kameron ließ ihn noch nicht los.

Herr Gryce, sagte er, haben Sie die junge Dame selbst gesehen?

Freilich, war die Antwort, kurz ehe ich Sie aufsuchte.

Ist Ihnen aufgefallen, wie bleich, wie unglücklich sie aussieht?

Nicht daß ich wüßte.

Sie ist ein wahres Bild der Verzweiflung.

Gryce zog die Hand vom Treppengeländer zurück.

Ihre eigene Gemütsbewegung muß Sie täuschen, sagte er. Noch vor drei Stunden sah sie blühend und hoffnungsvoll aus.

Ueberzeugen Sie sich selbst, sagte der Doktor, wenn mich nicht alles trügt, ist es ein elendes, verzweifeltes Weib, das wir da drinnen zurücklassen.

Der Detektiv zögerte nicht länger. Leise schlich er zurück, verschaffte sich den Schlüssel zum zweitenmal, sah mit eigenen Augen und trat ganz verstört wieder heraus.

Unbegreiflich! schien der Blick zu sagen, mit dem er dem gefälligen Dienstmädchen den Schlüssel abermals einhändigte. Dieses mußte sein Staunen wohl bemerken und ließ einige Worte fallen, bei welchen Gryce in seltsame Aufregung geriet. Er stellte noch mehrere kurze Fragen und eilte dann schnell ins Bureauzimmer hinunter, aber nicht auf der Treppe, an welcher Doktor Kameron wartete. Fünf Minuten vergingen, ohne daß er zurückkam; der Doktor wollte eben die Geduld verlieren, als der Detektiv unten an der Treppe erschien und ihn zu sich herabwinkte. Kameron eilte hinunter und bemerkte sofort, daß mit Gryce etwas Besonderes vorgegangen sein müsse.

Nun, fragte er, haben Sie sich überzeugt?

Gryce lachte – er tat das nur zuweilen – und eilte dem Ausgang zu. Kommen Sie, rief er, wir haben keine Zeit zu verlieren.

Sie vielleicht nicht, sagte der Doktor entschlossen; aber mein Platz ist hier. Fräulein Gretorex sah aus, als bedürfe sie eines Freundes, und wenn sie in der Tat gemütskrank ist, so –

Hören Sie, erwiderte der andere in kurzem, scharfem Ton, vor fünf Minuten noch hätte ich Ihnen vielleicht beigestimmt, aber ich habe etwas erfahren, was meine Ansicht von der Sache ändert. Seit ich vor drei Stunden die Dame sah, hat sie den Besuch eines Herrn empfangen. Er ist eine volle Stunde bei ihr im Zimmer gewesen und beim Herausgehen – nehmen Sie alle Ihre Kraft zusammen, wenn Sie das Fräulein wirklich geliebt haben – hat er dem Dienstmädchen, das wir oben sahen, hinterlassen, er werde wieder kommen und einen Geistlichen mitbringen; man möge das Zimmer, in welchem er die Dame soeben gesprochen, in Bereitschaft halten, da er sich am Abend dort mit ihr trauen lassen wolle. Unten im Bureau hat er seinen Auftrag wiederholt, und –

Sein Name? Wie heißt der Elende? Oder hat er sich nicht genannt? Reden Sie schnell, damit ich meine ganze Schmach auf einmal erfahre.

Er hat eine Karte dagelassen. Der Name ist Ihnen vielleicht bekannt, erwiderte der Detektiv, indem er dem Doktor eine Visitenkarte überreichte, auf welcher die Worte standen:

Dr. Julius Molesworth.

Molesworth, wiederholte er im Tone ungläubigen Staunens. Unmöglich. Ein Fremder hat sich seiner Karte bedient.

Meinen Sie?

Ganz bestimmt! Die zwei können keinesfalls etwas miteinander zu schaffen haben, das muß jedem einleuchten. Molesworth hat mit mir dieselbe Hochschule besucht, ist ein tüchtiger Arzt und beim Gesundheitsamte angestellt. Seine Privatpraxis beschränkt sich auf bedürftige Kranke. Wie in aller Welt sollen sie sich kennen gelernt haben?

Es liegt immerhin im Bereich der Möglichkeit.

Und wenn auch, er hätte sie schwerlich für sich eingenommen. Er ist einer der überspanntesten Menschen, die mir je vorgekommen sind. Dabei richtete Doktor Kameron seine schöne männliche Gestalt zu ihrer vollen Höhe auf. Die Bewegung ließ sich nicht mißverstehen.

Gryce schüttelte lächelnd den Kopf und entgegnete: Wir können darüber leicht ins Klare kommen. In das Bureau eintretend, begehrte er eine nähere Beschreibung des Herrn, welcher die Karte abgegeben.

Eine ganz eigentümliche Erscheinung, war die Antwort. Ein Mann, der weiß, was er will. Er ist von mittlerem Wuchs, hat dunkles Haar und trägt keinen Bart. Sein Lächeln ist angenehm, aber wenn er finster blickt, könnte man sich vor ihm fürchten. Was seinen Anzug betrifft, so –.

Aber Doktor Kameron hatte genug gehört.

Schnell fort von hier! rief er und eilte seinem Begleiter voran.


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