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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Unterdessen ging Gryce ebenfalls auf Entdeckungen aus, jedoch auf einem andern Felde. Frau Kamerons wiederholte Ausflüchte und die erschütternde Wirkung des Verhörs hatten ihn zu der Ueberzeugung geführt, daß damals in Genofeva Gretorex' Zimmer ein Mord begangen worden sei. Ihm lag es daher ob, zu erforschen, was jenes verwöhnte Kind des Reichtums bewogen haben konnte, der armen Näherin nach dem Leben zu trachten, während Kameron damit beschäftigt war, nach den Gründen zu suchen, die Mildred Farley zur Verzweiflung und in den Tod getrieben hatten.

Mit gewohnter Tatkraft und Genauigkeit ging der Detektiv ans Werk. Auch ihm war ein Umstand erinnerlich, den er bisher niemand mitgeteilt hatte: die offenbare Gemütsbewegung nämlich, in welche Frau Gretorex bei der Nachricht geraten war, daß ihre Tochter mit einem Mädchen Namens Farley in Verkehr stehe.

Der Name mußte in ihrer Brust eine geheim gehaltene Erinnerung erweckt haben, von welcher ihre Tochter nichts erfahren sollte. Mochte das Geheimnis Ehre oder Schande, Glück oder Unglück bedeuten, jedenfalls mußte Gryce es sich zu eigen machen. Mit solchen alten Familiengeheimnissen stehen oft die Verbrechen der Gegenwart in Zusammenhang, wie Ringe, die eine verrostete Kette bilden.

Bei der seltsamen Ähnlichkeit der beiden Mädchen hatte Gryce angenommen, es werde sich eine Blutsverwandtschaft nachweisen lassen; dies war jedoch nicht der Fall; denn unter den armen Verwandten des Hauses Gretorex kam der Name Farley nicht vor. Und doch mußte irgendeine Beziehung vorhanden sein, die es zu ermitteln galt. Aber mit wessen Hilfe? – Bei Frau Gretorex Erkundigungen einzuziehen, war völlig nutzlos. An ihrer Weltklugheit wären seine Fragen sämtlich abgeprallt gleich matten Pfeilen. Um zum Ziele zu gelangen, mußte er nach anderen Quellen suchen.

Der erste Mensch, der ihm einfiel, war Herr Gretorex. Er galt zwar in der Gesellschaft nur als Gatte seiner vornehmen Frau, aber in der Geschäftswelt stand er seit mehr als zwanzig Jahren in hohem Ansehen. Die Reichtümer, um derentwillen seine Familie zu den ersten der Stadt zählte, hatte er selber erworben und weise verwaltet, selbst unter den schwierigsten Verhältnissen. Bei ihm beschloß Gryce, einen Versuch zu machen.

Er suchte ihn am Morgen nach seiner Unterredung mit Kameron auf seinem Bureau auf, gab sich als Mitglied der Geheimpolizei zu erkennen und brachte sein Anliegen vor.

Ich bin schon einige Male in Ihrem Hause gewesen, Herr Gretorex, sagte er, mein Zweck war, Näheres über ein Fräulein Farley zu hören, das von Ihrer Tochter großmütig unterstützt worden ist.

Die Züge des Millionärs drückten nur höfliches Staunen aus. Fräulein Farley? fragte er, der Name ist mir unbekannt.

Es ist das Mädchen, welches vor einigen Wochen an Gift gestorben ist. Gewiß haben Sie Ihre Frau Gemahlin davon sprechen hören.

Der vielbeschäftigte Mann schüttelte den Kopf und griff nach den Papieren auf dem Pult. Ich weiß nichts von der Sache, habe auch für dergleichen keine Zeit. Wenden Sie sich an meine Frau, wenn Sie glauben, von ihr etwas erfahren zu können; ich vermag Ihnen keinerlei Mitteilung zu machen.

Es ist mir angenehm, das zu hören, entgegnete Gryce unbeirrt; ich fürchtete schon, Mildred Farley stünde in irgendwelchem Zusammenhang mit Ihrer Familie.

Herr Gretorex sah ihn mit großen Augen an. Das muß wohl auf einem Irrtum beruhen, meinte er, wieder in seine Papiere blickend.

Gryce war ein Menschenkenner; der Mann vor ihm besaß Ehrgeiz, Entschlossenheit und Tatkraft, aber nicht den Willen, ihn zu täuschen. So empfahl er sich denn mit höflicher Entschuldigung, überzeugt, daß Herr Gretorex ebensowenig wie er eine Ahnung davon habe, warum der Name Farley für seine Frau von besonderer Bedeutung sei.

Ohne sich durch den Mißerfolg entmutigen zu lassen, beschloß der Detektiv, die Sache nun am andern Ende anzupacken. Waren auch Frau Farley und ihre Tochter tot, so hatten sie doch ihr Eigentum hinterlassen. Darunter befanden sich sicher alte Briefschaften, aus denen die Auskunft zu holen sein mußte, um die es ihm zu tun war.

Bald saß Gryce in Frau Olneys Hause vor dem Koffer, welcher Mildred Farleys Besitztümer barg, aber nicht lange; die Briefe, die er enthielt, stammten sämtlich aus ihrer Schulzeit; er fand nichts darin, was für ihn von Wert fein konnte. Wenn das Geheimnis, nach dem er forschte, aus früherer Zeit stammte, so war es ja auch weit eher in dem Briefwechsel der Mutter als in dem der Tochter zu entdecken.

Auf sein Befragen führte ihn Frau Olney nach der Bodenkammer, wo er in einer Kiste verschiedene Pakete alter Briefe fand, von denen einige vor zehn, andere vor zwanzig Jahren geschrieben waren. Er trug sie in das Zimmer hinunter, welches die gefällige Wirtin ihm zur Verfügung gestellt hatte, und begab sich mit aller Umsicht und Sorgfalt daran, einen Einblick in die Lebensgeschichte der verstorbenen Frau Farley zu gewinnen.

Aus den verschiedenen Zuschriften, meist von weiblicher Hand, richtete Gryce sein Hauptaugenmerk auf die mit »Anna« unterzeichneten. Sie schlugen den vertraulichsten Ton an und verrieten die genaueste Bekanntschaft mit Frau Farleys Schicksal und Erlebnissen.

Es war kein heiteres Bild, das sich darin entrollte: eine Entführung und heimliche Trauung, ein halbes Jahr voll Seligkeit, dann Krankheit und Armut, und Vernachlässigung von seiten dessen, der das Elend über sie gebracht. Einige Monate später noch schwerere Krankheit und drückendere Armut, dann ein furchtbarer Schlag, auf den sich folgende Zeilen bezogen: »Du armes Herz, bleibe nur standhaft, bis ich komme; Du sollst den entsetzlichen Kummer nicht allein tragen.«

Nun folgte eine Pause im Briefwechsel, und als er einige Monate später wieder aufgenommen wurde, ließ die teilnehmende Erwähnung des Witwenleids der Adressatin erraten, welchen Verlust diese erlitten haben mußte. Aber der Detektiv stieß noch auf andere, weniger verständliche Andeutungen. Sie wiesen auf ein großes Opfer hin, das die junge Witwe gebracht hatte, und er sah sich außer stande, sie zu enträtseln.

Erst als er in einem viel späteren Briefe die Worte las: »Ich hoffe, es geht Deiner süßen kleinen Mildred gut; ob wohl die andere ebenso blühen und gedeihen mag, wie sie?« – da ging ihm auf einmal ein Licht auf über die anscheinend höchst einfache Geschichte; er glaubte den Faden gefunden zu haben, der ihn aus dem Labyrinth führen sollte. Mit erneuter Aufmerksamkeit wandte er sich den übrigen Briefen zu, doch stieß er nur hier und da auf ein Wort des Mitgefühls und der Befriedigung darüber, »daß Frau Farley die Hälfte ihrer Last andern Händen übergeben habe, um den Rest leichter tragen zu können.« Die volle Bestätigung seiner Vermutung brachte ihm erst der Anfang eines Briefes aus Neuyork, welcher lautete: »Denke Dir nur, ich habe sie gesehen. Sie und Mildred gleichen einander so sehr, wie das bei zwei Kindern möglich ist, von denen das eine im Luxus aufwächst und das andere oft kein zweites Paar Schuhe zum Wechseln hat. Ich traf sie auf dem Schulweg, sie kam ganz dicht an mir vorbei; ich hätte sie in die Arme schließen mögen. Warum ich es nicht tat? Daß sie geglaubt hätte, ich sei nicht bei Verstande, würde mir weniger ausgemacht haben, als sie so unbeachtet an mir vorübergehen zu lassen, – das süße Geschöpf, das doch zu mir gehörte. Aber ihr prächtiges Kleid und die hochmütige Miene, mit der sie um sich blickte, flößten mir solche Scheu ein, daß ich ihr nicht einmal die Straße hinunter folgte, und doch zog mich mein ganzes Herz zu ihr hin, als wäre es mein eigenes Kind. Wie magst Du erst um sie trauern und Dich nach ihr sehnen. Erst jetzt begreife ich Deinen ganzen Schmerz, nun ich mit eigenen Augen dies Abbild Deines Lieblings gesehen habe, der Dir allein noch zu Trost und Freude geblieben ist.«

Dieser gleichfalls von »Anna« geschriebene Brief datierte nur zehn Jahre zurück. Von da ab trugen die Briefe eine andere Adresse, was den Detektiv nicht sonderlich überraschte. Sie wanderten nicht mehr nach der kleinen Stadt in Ohio, sondern in ein gewisses Haus der Bleeckerstraße in Neuyork. Die Witwe war mit ihrer Tochter nach der Weltstadt übergesiedelt. In den späteren Briefen war nun häufig von einem schweren Kampf in ihrem Innern die Rede, welcher im Verein mit dem Ringen um das tägliche Brot ihre ohnehin schwache Gesundheit mehr und mehr untergraben müsse.

Endlich war nur noch ihr leidender Zustand erwähnt, und die Worte der Hoffnung verstummten allmählich. Doch ward die Dulderin glücklich gepriesen, daß sie bei aller Schwachheit die Kraft gefunden habe, ihren feierlichen Eid nicht zu brechen. Auch der Tochter ward häufig gedacht, die sich ihr als treue Hilfe und Stütze erweise und ihr Ersatz gewähre für alles, was sie verloren.

Nun schrieb »Anna« nicht mehr; es folgten einige kurze Zeilen von einer ihrer Angehörigen: Erkundigungen nach Frau Farleys Gesundheit und Nachrichten über das Befinden der »teuern Kranken«, mit welcher Anna gemeint war. Von der Hand der letzteren lag nur noch ein kleiner Zettel bei, mit der Ermahnung: »Sei auf Deiner Hut. Mildreds Glück sowohl als das der andern hängt davon ab, daß die Dinge bleiben wie sie sind. Gedenke Deines Eides.«

Damit war das Paket zu Ende. Aber Gryce hatte viel daraus erfahren und brauchte die sichere Fährte nur weiter zu verfolgen.

Er prägte sich das Datum, an dem Mildred zuerst erwähnt wurde und den Namen der Stadt, aus welcher die Briefe der teilnehmenden Anna kamen, ein und verließ mit befriedigtem Gefühl Frau Olneys Wohnung. Freilich gesellte sich dazu in seinem wohlwollenden Gemüt auch die geheime Furcht, daß er einem Verbrechen auf die Spur gekommen sei, welches über ein schönes Weib und ihren edlen Gatten Schmach und Schande bringen könne.


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