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XI. Mater.

Die Leiche Mater Renées ruhte noch auf ihrem Schmerzenslager, als Erminia zum zweitenmal erschien; mit ihr zugleich der Gärtner des Hauses Chietti, um im Auftrage der Fürstin den Hochaltar des Klosters für die Osterfeiertage zu schmücken. Ein ganzer Wagen voll seltener Blumen und Blattpflanzen hielt vor der Pforte des Klosters und ein großer, flacher Korb barg den Stolz der fürstlichen Gewächshäuser: ihre Orchideen, deren Blüten- und Farbenpracht nur noch von der Auserlesenheit der Spielart übertroffen wurde, die bei Ankauf und Zucht oft ein kleines Vermögen gekostet. Weil die Fürstin den Altar, an dem ihr Kind zum erstenmal im Kleid der Novize die österliche Kommunion empfangen sollte, so reich als möglich geschmückt sehen wollte, hatte sie jeden Topf in eine der kostbaren Majoliken stellen lassen, die zu Hause ihre prunkvollen Gemächer schmückten, und eigenhändig die getriebenen Goldreifen mit dem edelsteinbesetzten Wappen der Chietti darum gelegt. Es war ein Vermögen, das sie diesmal dem Herrn zu Füßen legte ... zu den wunden Füßen, die sie so oft mit ihren Tränen benetzt, ganz wie jene andere Magdalena. Aber gab sie ihm nicht auch ihr Kind hin? Dieses Kind, das sie an den einzigen Sonnentag ihres Lebens erinnerte, trotz alledem? Gott sollte sehen, wie ernst es ihr war mit ihrer Reue.

Während die Präfektin fast sprachlos zwischen der Kirche und der kostbaren Sendung der Fürstin hin und herlief, nur von der Angst besessen, daß irgend ein »Ragazzo« draußen einen der schweren goldenen Reisen entwenden könnte – fand Erminia Gelegenheit, der jungen Novize ein Briefchen zuzustecken, dessen Handschrift das Rot der Freude in Albas blasse Wangen jagte. Kam es doch von ihrem Onkel; dem einzigen Menschen, auf dessen Hilfe sie jetzt rechnen durfte.

»Gelt du?« lachte die Amme unter Tränen – »sie ist nicht so dumm, deine Alte, wie die andern sie immer machen wollen. Darum bin ich ja mitgelaufen, wie ein Esel; mit dieser ganzen Fuhr Grünzeug. Die Mama will zwar den Altar damit schmücken, aber Gott verzeih' mir, wenn ich diesen › Campo dei fiori‹ lieber im Tiber sähe, als hier. Und diese kostbaren Töpfe und Reifen! Wenn aber wir in ›unserem Zimmerchen‹ etwas Neues wollten!«

»Wie bist du denn zu diesem Brief gekommen?« unterbrach Alba den Redestrom Erminias.

»Wie werd' ich dazu gekommen sein?« gab die Gute vergnügt zurück. »So etwas holt man sich, wenn man alle Fünf beisammen hat, denn ich kann dir sagen, es war nicht leicht, diesmal zu deinem Onkel zu kommen. Denn er hat wieder diesen Signore tedesco bei sich ... diesen ... weiß der Teufel wie er heißt! Aber lange Beine hat er und einen blonden Bart und wenn er lacht, muß man ihm gut sein.«

»Du meinst doch nicht Signore Miller?« stammelte Alba erregt.

»Meiner Seel', so heißt er! Aber ich hab' mir auch vor ihm keine Binde über das Maul genommen und alles gesagt, alles! Wie man dich hereingekriegt hat in dieses unselige Haus mit lauter Weinen und Seufzen. Und daß du wieder hinaus willst und mußt, wenn man dich nicht eines Tages hier hinaustragen soll, wie morgen die Ziani. Ja, siehst du ... zur Leiche der Ziani kommt die Mama nicht. Und warum? O, sie wird es schon wissen ...! Das hab' ich gesagt und die Herren haben die Köpfe zusammengesteckt und dann ist Onkel Bartolo in sein Gabinetto gegangen und ... Madonna, sie hat den Brief noch immer nicht gelesen!«

»Wie kann ich denn, wenn du so viel schwatzest?«

»Ich schwatze?«

Alba mußte unwillkürlich lächeln. Es war eine der vielen kleinen Schwächen Erminias, sich auf ihr »Schweigenkönnen« etwas zugute zu tun. Und schweigen konnte sie ja auch, wenn es durchaus sein mußte. Nur daß sie sich bei nächster Gelegenheit doppelt schadlos hielt. Wer konnte sie hier stören? Alba mußte doch alles wissen und dort lag eine Tote und schwieg.

»Die Arme!« sagte Erminia, sich plötzlich besinnend, daß sie auch noch kein Vater-Unser für die Tote gebetet, und während sie mit einem scheuen Gemurmel am Fußende des Bettes ins Knie sank, trat Alba ans Fenster, um Bartolos Brief zu lesen. »Den Brief dieses guten Bartolo Chietti!« wie sie sich mit einem herben Wehgefühl sagte. Wußte sie jetzt doch, daß Bartolo so wenig ihr Onkel war, wie jener andere Chietti ihr Vater.

Nur daß sie eine »della Gioja« war, wußte sie bestimmt und das trotzige Blut der Venezianerin in sich hatte, von Mutters Seite her ... »della Gioja«, wie hell, wie kühn und lebensicher das klang! Wie goldig und rein! Und sie hatte dieses schwarze Gewand tragen wollen? Alba mußte die Augen schließen, um nicht von der Lichtflut geblendet zu werden, die mit der Erinnerung an die stolze Vergangenheit ihrer Mutterstadt vor ihrer Seele aufleuchtete. Als funkelten den Canal Grande entlang die Paläste auf, in denen die Geschichte der della Gioja gespielt ... Ca d'oro und die weiße Säulenreihe des Hauses, in dem einmal die schöne Catalina Cornaro geherrscht.

So viel Alba aus den Erzählungen ihrer Mutter wußte, hatten sie weder Furcht noch Reue gekannt, diese »della Giojas«. Als einfache Kaufleute hatten sie begonnen, wie so viele andere Familien Venedigs; im » Codex marciana« befand sich noch heute ihr Geschlechtswappen. Sie hatten dem Meere abgetrotzt, was ihm abzutrotzen war: Beute und Reichtum – zuletzt den Ruhm. Ein »Gioja« hatte sich in der Schlacht von Chioggia besonders hervorgetan und den Adel als köstlichste Beute aus dem blutigen Kampf herausgetragen. Seitdem standen sie im »goldenen Buch von Venedig«. Krieger und Feldherrn und Konsulen und schlaue Staatsmänner hatten sie der Republik geschenkt. Daneben auch stille Gelehrte und Priester, die in den Chroniken berühmter Klöster fortlebten, als Zierden ihres Standes und kunstsinnige Erbauer leuchtender Kirchen, an deren Marmortreppen noch heute die leis aufseufzende Woge der Lagunen anschlug. So weit die Macht und Herrlichkeit Venedigs gereicht hatte, so weit waren auch die della Giojas gekommen. Alba hatte Ahnen, die in Ägypten, in Cypern, in Smyrna und Österreich und im – Meere begraben lagen. Und zwischen diesen schlauen Kaufherren, findigen Staatsmännern und unerschrockenen Soldaten wuchsen schöne, kluge, heißblütige Frauen auf, die ihre seidenen Schleppen mit lässiger Anmut über die goldigen Marmortreppen der väterlichen Paläste nachzogen und mehr als einmal den kleinen Fuß über den lapislazuliblauen Rand des »Buccentauro« hinwegsetzten – am Arm des »Dogen von Venedig«.

Aber Reue und Furcht und Höllenangst oder fruchtlose Grübelei hatten sie nie gekannt und wenn sie einmal einen Priester oder Gelehrten aus sich herausgebaren, mochten sie selbst gestaunt haben.

Aber nun – ihre Mutter!

Einmal, ein einziges Mal hatte sich das Blut der »della Gioja« auch in der Fürstin Chietti geregt: in jener heißen Stunde besinnungsloser Hingebung, der Alba das Leben dankte. Allmählich aber waren ihre Sinne erstarrt, in diesem Weiten, hallenden Palast der Chietti, in dem es so viele Schatten gab und die Bilder unfroher Geschlechter oder schuldbelasteter Ahnen streng und blaß auf die Lebenden herabstarrten. Eine Chietti war sie geworden und eine Römerin, fromm und abergläubisch und finster, wie alle dieses Hauses.

In dem Kind ihrer Liebe aber züngelte sie weiter – die rosige Flamme des Blutes, das die Freude geadelt!

Mit solchen Gedanken öffnete Alba den Brief des Bartolo Chietti. Sie las ...

»Mein liebes Kind! Mir ist noch immer, als hätt' ich nicht recht gehört! Du im Kloster! Aber da steht die gute Erminia und heult. Also muß ich es wohl glauben. Du weißt, daß das Briefschreiben nie meine Sache war. Auch ist jetzt nicht die Gelegenheit, weitschweifig zu werden. Die Sache will a tempo erledigt sein. Zunächst also das, was Dir zu wissen not tut: Wir haben Gott sei es gedankt! – jetzt in Rom auch nicht ein Gesetz, das Dich in Deinem Kloster länger als eine Minute festhalten könnte, wenn Du nicht magst. Weder der Wille Deiner Mutter, noch der Deines Vaters sind da maßgebend. Weil aber der gute Prospero immer ein Knecht der Kirche und seines Weibes war – verzeih', daß ich so offen bin, aber die Galle erwürgt mich fast – müssen wir zwei die Sache erledigen, und zwar so rasch als möglich. Schreib' mir also, wann und um welche Stunde Du befreit sein willst. Und wenn ich mit dem Carabinieri eindringen müßte, befreien wird Dich

Dein Onkel
Bartolo.«

Ein leises Lächeln irrte um Albas Lippen. Der gute Bartolo! Wie »romantisch« der sich wieder das alles vorstellte ... Aber eines war richtig empfunden: Albas Eltern durften erst nach ihrer Entfernung von ihrem Entschluß in Kenntnis gesetzt werden. Nicht eine Stunde früher! Gab es in Rom wirklich kein Gesetz, das Alba hier festhalten konnte, außer jenem ihres eigenen Willens, so mußte sie selbst ihren freien Willen wieder zu Ehren bringen und allein hier hinausschreiten, hocherhobenen Hauptes, die freie Bürgerin eines freien Staates! Mochte ihre Mutter sich dann entschließen, ob sie diese Tochter noch als ihr Kind anerkennen wollte – oder sie verloren geben für immer. Alba selbst stellte es ihr frei, indem sie hier hinausging, um nicht wieder ungerufen in jenes Haus zu treten, das nicht das Haus ihres Vaters war.

Sie setzte sich hin und schrieb:

»Lieber Onkel! Wenn es so ist, wie Du sagst und kein anderes Gesetz noch ein anderer Wille mich hier zurückhalten kann, als mein eigener – soll mich auch nur dieser Wille befreien! Laß mir also den Ruhm, den ersten Schritt in mein neues Leben ganz frei und allein zu tun! Nur um Deinen Wagen bitt' ich Dich. Er kann mich in der Via San Bonaventura erwarten. Nicht um mich rascher wegzubringen, bloß, weil ich nur das weiße Kleid hier habe, das ich vor meiner Einkleidung als Novize getragen. Wenn mich Dein Wagen morgen früh um neun Uhr am Fuße des Palatins erwartet, wird er diesem ernsten Leben eine ernste Braut zuführen –

Deine Alba.«

Erminia übernahm es, auch diesen Brief an seine Adresse zu befördern. Und während sie das, nach ihrer Überzeugung unsäglich wichtige Schriftstück noch in der Tasche mit der Hand festhielt, als könnte es ihr jetzt und jetzt von irgend jemandem entrissen werden, eilte sie in wilder Hast durch den dämmernden Korridor zur Pforte, wo sie wie ein » diavolo« an der Türhüterin vorbeifuhr. Mit dem überlegenen Kopfschütteln unbewegter Askese sah die Pförtnerin ihr nach. Was diese »weltlichen Leute« doch immer für eine Eile haben!

Die Messe, bei der den Klosterfrauen und Novizinnen die österliche Kommunion gereicht wurde, war für die neunte Morgenstunde festgesetzt. Es war die Messe, der auch die Fürstin Chietti allsonntäglich beizuwohnen pflegte. Wollte Alba einer Begegnung mit ihrer Mutter ausweichen, mußte sie um diese Stunde das Haus bereits verlassen haben ... Noch einmal – zum letzten Male – ging sie mit den übrigen Novizen zu Bett. »Ob man mir etwas anmerkt?« dachte sie und fast geflissentlich vermied sie es, Gemma Contarini nahezukommen. Sie hatte einen so merkwürdigen, durchdringenden Blick, diese blonde, stille Contarini! Einen Blick, der wie hellsehend in Fernen und Tiefen drang, die sich nicht gerne entschleiert sahen. Die kleine Rita Dallago zog immer den Daumen ein, wenn die Contarini mit ihr sprach, und doch war es nicht, was die Italiener » mal occhio« nennen. Aber Alba begriff sehr wohl, daß ein Kind auch vor diesem Blick innerster Sammlung und früher Seelenreife Angst und Scheu empfinden könne. Sie selbst war um vieles älter als Rita und konnte ein ähnliches Gefühl nicht loswerden. Allen, allen hätte sie heute hier ins Gesicht lügen können, nur Gemma nicht!

Die Nacht verbrachte Alba schlaflos. Erst als der Morgen graute, sank sie in einen leichten Schlummer und hatte einen ganz merkwürdigen Traum. Ihr war, als öffne sich leise, leise die Türe des Schlafsaales und eine hohe Mannesgestalt trete ein und schreite auf sie zu. Die großen, dunkeln Augen voll Angst auf sie gerichtet. Die Lippen halb geöffnet, wie zu einem inhaltschweren Wort. Nun stand die Erscheinung vor ihr und gleich darauf war es, als ließe sich jemand, schwer aufseufzend, am Rand ihres Bettes nieder. Noch nie hatte Alba das Antlitz dieses Mannes gesehen und so qualvoll er sich auch bemühte, ein Wort hervorzubringen – kein Laut kam über seine Lippen! Da legte er leise, ganz leise die wächserne Hand auf ihre Rechte ... Ein eisiger Schauer fuhr durch Albas Leib. Aber zugleich auch ein Gefühl unsäglicher Liebe und Zärtlichkeit.

»Vater!« schrie sie auf ... als sie erwachte, war es Tag. Noch schlummerten alle friedlich um sie. Aber ihr Herz war zum Brechen schwer, von einer Liebe und Sehnsucht, die vergeblich die Arme ins Leere streckten.

Bange, heiße Tränen netzten das Kissen, auf dem ihr junges Haupt zum letztenmal geruht.

Noch nie hatte Alba so lange mit ihrer Morgentoilette gezögert. Damit erreichte sie es, als Letzte im Schlafsaal zurückzubleiben. Waren die anderen einmal auf dem Chor, hatte sie freies Spiel. Einen Augenblick bangte sie, daß die Präfektin ihrer Gewohnheit gemäß noch einmal im Schlafsaal erscheinen könne. Aber der Gedanke, daß irgend eine Novize gerade am Ostersonntag zurückbleibe, lag ihr wohl ganz ferne. Als die Uhr des Klosters die achte Stunde schlug, wußte sich Alba vollkommen sicher. Konventualinnen, Novizen und Zöglinge waren um diese Zeit vollzählig in der Kirche versammelt. Denn der Kommunion der Nonnen ging die Beichte der Zöglinge voran, und im ganzen Hause blieb niemand zurück, als die »Winde,« die gerade den Dienst bei der Pforte hatte. Es war heute die gute, dumme Volskerin.

Langsam legte Alba Stück um Stück der Novizenkleider ab, die sie nach dem Aufstehen noch einmal über sich geworfen, zuletzt die Lourdesmedaille, die sie von Mater Renée erhalten. Dann eilte sie auf den Schrank zu, der ihre Habseligkeiten barg: ihre Wäsche, und als letzte Erinnerung an den unseligsten Tag ihres Lebens, den weißen Brautstaat, den sie vor der »Einkleidung« getragen. Weich und kühl rieselte die leichte Seide an ihren jungen Leib nieder. Wie schön es war, dieses weiße Kleid! Und damit sollte sie nun wieder in das Leben hinaus! Nach so langer, langer Zeit zum ersten Male wieder! In das Leben hinaus und in diesen blaustrahlenden Frühlingstag, der wie eine leuchtende Verheißung über Rom lag.

»Auferstehung!«

Aber eine andere, als die drinnen sie feierten.

Dem Leben entgegen, seiner Freiheit, seinem Kampf und seinem Ernst, doch auch seinen geheimnisvollen Schauern und Wonnen ... Der heiligen Freude des Daseins entgegen, das sich in jeder Generation aufs neue vollendet, nach – »ewigen, unerforschlichen Gesetzen«.

Dazwischen kam plötzlich eine ganz kindische Freude über sie.

Ihre Haare! Diese schönen, dicken Flechten! Die hatte sie noch! Erst vor dem feierlichen Gelübde wären sie der Schere zum Opfer gefallen.

Nun tat es ihr nicht einmal leid, so ganz ohne Kopfbedeckung hier hinaus zu müssen.

Die Sonne sollte sehn, daß sie ihre Haare noch hatte! Die Uhr im Korridor schlug dreiviertel neun.

Nun wurd' es ernst.

Mit fester Hand öffnete Alba die Tür und trat auf den Gang hinaus, schritt weiter, immer weiter vorwärts, ohne nach links oder rechts zu sehen, stolz, frei, selbstsicher, so ganz wieder die junge Dame von einst. Wär' ihr die Präfektin selbst jetzt über den Weg gelaufen, sie hätte sie bloß mit einem Lächeln spöttischer Herablassung begrüßt.

»Adieu, liebe Mater« –

Als sie an der Pforte ankam, steckte die dicke Volskerin den Kopf zum Türfenster heraus. Ein so fester Schritt um diese Stunde in diesem Haus ... das mochte selbst ihr auffallen.

»Grüß Gott,« nickte Alba.

Die »Winde« riß den Mund auf und starrte sie an wie eine Erscheinung. Ohne eine Miene zu verziehen, legte Alba den Schlüssel ihres Schrankes vor die Sprachlose.

»Hier ist mein Schlüssel, bitte ihn der Mater Präfektin zu geben. Morgen oder übermorgen werd' ich meine Sachen abholen lassen. Novizenkleid und Medaille liegen auf meinem Bett«.

Die Volskerin machte eine verzweifelte Gebärde, brachte aber noch immer kein Wort hervor.

»So,« lächelte Alba, »und nun, liebe Schwester, lassen Sie mich hinaus!«

Endlich kam die »Winde« zur Besinnung.

»Ich darf nicht!« stieß sie hervor, zugleich machte sie einen Schritt nach vorwärts. Augenscheinlich in der Absicht, den im Schloß steckenden Schlüssel an sich zu nehmen. Doch Alba war rascher als sie.

»Aber ich darf es!« nickte sie der Guten triumphierend zu. Und schon flog die Tür auf – weit, weit, wie noch nie, seit dieses Haus so viel Jugend und Leben verschlang. Alba Chietti war draußen! Der Frühlingswind nahm die Gazeschärpen ihres weißen Kleides und trug sie wie spielend hinter ihr empor, daß es um sie tanzte und flatterte ... Jetzt war sie außerhalb des Klosterfriedens ... jetzt auf »königlichem Grund«. Jetzt – verschwand sie!

Hinter ihr stand mit offenem Mund noch immer die Volskerin, die als treue Dienerin ihres Hauses mit wachsendem Schreck nur eines begriff: daß in diesem weißen Kleide so eben eine Million Lire hinausspaziert war, lachend, auf Nimmerwiedersehen!

Unterdes eilte Alba den Palatin hinab, immer rascher, immer leichter, wie von Schwingen getragen. Dabei von einer Rührung überwältigt, die ihr alle Dinge ringsum so merkwürdig nahe brachte, wie noch nie in ihrem Leben. Als wüßte alles, was sie da draußen begrüßte, von der langen Nacht ihrer Einkerkerung, von der Schmach und Qual ihrer Unfreiheit: der Stein, der auf ihrem Wege lag, die Lerche, die sie so neugierig anblickte, ehe sie vor ihr in die Luft stieg, die Bäume, die ihr so vertraut zuzuwinken schienen, mit diesen jungen, saftgeschwellten Zweigen, auf denen der Frühling saß und sich leise hin und herschaukelte. Und hinter ihr die immer tiefer zurücksinkende Welt dieser Ruinen! Eine tote Welt, aber doch eine, die noch immer ihre Majestät hatte, ihre Größe und ihren Adel, weil das Leben über sie hinweggegangen war, zuerst mit seinem Glanz und dann mit seinen Stürmen, dieses Leben, dem auch sie jetzt entgegenflog!

Mein Gott! Wie lange hatte sie dies alles nicht gesehen? Wie lang war es schon her, daß ihr selbst die Luft nicht mehr so frisch und frei um die Wangen gespielt? Wie unsäglich lange!

War es am Ende nicht doch ein Traum, daß sie einmal dort drinnen gewesen. Hinter den hohen Mauern jenes Hauses, dessen vergitterte Fenster so düster und fremd in den Frühling hineinstarrten und in diese ganze, lachende Welt, die so schön war, so unsterblich schön selbst dort noch, wo ihr Grün und ihre Blüten über Ruinen hinwegrauschten.

Wahrhaftig! Sie mußte stehn bleiben und die Hand vor die Stirne legen und sich besinnen, ob das wirklich ein und dieselbe Alba Chietti war? Jene, die eines Tages dort drinnen aus blassen Priesterhänden ein schwarzes Totengewand empfangen – und die Alba, die hier stand, mit einem weiten, frohen, freiheitsseligen Herzen, das von allen Pulsen des Lebens klopfte und voll war von allen Wünschen und Träumen der Jugend!

Noch einen letzten Blick wollte sie nach jenem Hause werfen. Wie um sich zu vergewissern, ob es auch wirklich noch dort stand? Aber nein. Sie konnte nicht, wie ein Schauer wehte es von dort herüber.

Und plötzlich stieg ein heller Ruf aus ihrer Kehle, der aufjauchzende Lerchenruf – der Befreiung! Sie flog nun förmlich den Palatin hinab, daß ihre Schärpen um sie flatterten und ihre dicken Flechten sich lösten und ihre Wangen hochrot waren, als sie endlich unten ankam.

Onkel Bartolos Kutsche! Dort eilte ihr der alte Gaetano schon entgegen: den Hut in der Hand, mit diesen halb ehrfürchtigen, halb vertraulichen Bücklingen des Dieners, der alles und nichts weiß ... Sie sprang in das Coupé, der Schlag flog zu. Gaetano setzte sich wieder auf seinen Platz neben den Kutscher und sah noch einmal so dumm auf die andere Seite, ohne mit dem Gefährten auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Obwohl beide in diesem Augenblicke gewiß ganz dasselbe dachten: »heute führen wir eine Prinzessin, die keinen Hut auf hat!«

Da lächelte er sie schon an – der Humor dieses Lebens!

Als der Wagen längst des Forums dahinfuhr, kam ihm vom Korso her ein elegantes Coupé entgegen. In seinem Fond lehnte eine schlanke, blasse Frau, ganz in silbergraue Seide gehüllt; zwischen den fein gantierten Händen ein edelsteinbesetztes Gebetbuch. Ohne nach rechts oder links zu schauen, sann sie ernst vor sich hin und ihr blasses Antlitz zeichnete sich mit der Schärfe und Feinheit einer Kamee in den hellen Glanz des jungen Tages.

»Wie schön und traurig diese Frau ist!« dachte Alba auf den ersten Blick. Plötzlich gab es ihr einen Ruck. Es war ja ihre Mutter! Schon rissen die Diener Bartolos draußen die Zylinder von den Köpfen und grüßten ehrfürchtig die Fürstin Chietti. Die Fürstin Chietti nickte zerstreut zurück, ohne einen Blick in Bartolos Kutsche zu werfen.

Es war ein Geschehen, das wie ein Blitz vorüberfuhr und wie ein Schlag in Albas Seele.

Hatte sie ihre Mutter jetzt vielleicht überhaupt zum letztenmal gesehen? Und wenn sie sie wiedersah – wie würde es sein?

Bange, qualvolle Fragen, auf die ihr nichts und niemand eine Antwort gab.

Draußen saßen die Bedienten wieder steif und regungslos auf dem Bock und sahen jeder nach einer anderen Seite. Mit Gesichtern, deren Dummheit immer undurchdringlicher wurde. Obwohl in jedem genau dasselbe geschrieben stand: »Da ist eine Tochter an ihrer Mutter vorbeigefahren – ohne daß eine von der andern gewußt hat. Wie ärgerlich, daß wir selbst nicht mehr wissen.«

Endlich die Piazza Fienili und dort, in das Gewirre der Straßen hineinleuchtend, der grünliche Silberglanz des Tiber. Nun donnerte der Ponte Palatino unter den Hufen der Pferde. Die Straßen begannen sachte anzusteigen. Schon leuchtete das Kreuz von San Pietro in Montorio auf. Dort funkelten die Wasser der Aqua Paola.

»Hier war es!« dachte Alba. Und schwer wie ein Alp wollte sich wieder die Erinnerung jenes Abends auf ihre Seele legen, an dem ihre Mutter dort gestanden und ihr unter heißen Tränen zum erstenmal jenes Gelöbnis ewiger Selbstvernichtung abgenommen.

Und wieder wollte es wie Mitleid an ihre Seele schleichen.

Aber plötzlich fuhr sie empor. »Nein!« schrie etwas in dieser Seele auf. »Du gehörst dir selbst! weder dem Gott noch der Reue einer Anderen. Und wenn sie tausendmal deine Mutter ist – vor dem Blick, mit dem du die Welt anschaust – versinkt auch die ihre, denn jedes neue Leben ist eine neue Welt!«

Sie ließ das Fenster des Wagens herab und sah tief aufatmend auf dieses Rom zurück, das selbst wie eine Offenbarung des Lebens sich vor ihrem Blick entfaltete: mit den Tempeln vergessener Kulte, den Ruinen märchenhafter Paläste, den Triumphbögen und Straßen und Amphitheatern, durch die jetzt nur mehr die Schauer und Gespenster der Vergangenheit huschten.

Aber das Leben selbst ging mit ehernen Schritten weiter – über alle hinweg, über alles hinüber; ohne Furcht und ohne Reue ewigen Zielen zu – nach »ewigen, unerforschlichen Gesetzen«.

Man durfte nur keine Angst vor den Ruinen haben!

Als die Fürstin Chietti an die Pforte des Klosters pochte, fuhr die öffnende »Winde« mit dem Ausdruck eines solchen Schreckens vor ihr zurück, daß Lucrezia unwillkürlich stutzte. Sie war ohnedies nicht so ganz sorglos heute hiehergefahren. Erminia hatte sich daheim bei der Erzählung von Elenas Flucht und Tod in allerlei düsteren Anspielungen gefallen, obwohl sie auf die Frage, wie Alba sich befände, nichts Beunruhigendes vorbringen konnte. Aber Lucrezia, die genau wußte, daß Alba und die Alte immer ihre Heimlichkeiten und »Pasticci« hatten, nahm diese Anspielungen diesmal weniger leicht. Stand doch der blutige Schatten einer Toten dahinter und Lucrezia war nicht nur fromm, sie war auch abergläubisch; wer wußte besser als sie, wie viele Tränen und Beschwörungen es gekostet hatte, Alba hier hereinzubringen? Wenn nun Alba sich noch unglücklicher fühlte, als sie bisher gezeigt? Was wußte denn Lucrezia von ihrem Kinde? Gerade nur daß sie es allsonntäglich bei der Messe hinter dem Chorgitter vorübergleiten sah und zuweilen wähnte, ihre Stimme aus dem Gesang der Schwestern herauszuhören, diese Stimme, deren weicher Alt sie so sündhaft oft an jene des Mannes erinnerte, die ihrer Liebe auch das letzte Opfer abgeschmeichelt ... Nicht ein Wort hatte sie während all dieser Monate mit ihrem Kinde reden dürfen; nicht eine Zeile an sie richten. So wollten es die strengen Regeln des Noviziates.

Im weißen Kleid der »Gottesbraut« hatte sie Alba zum letzten Male gesehen und sie durfte sie nicht eher wiedersehen, bis Alba an den Stufen des Altares die »feierliche Profeß« abgelegt. Hätte sie auch um nichts in der Welt früher sehen mögen, von der steten Angst gequält, daß Albas erstes Wort nach dieser langen Scheidung ein aufschluchzendes »ich kann nicht!« sein könnte.

Nun kam aber diese fatale Ziani-Affaire, von der die liberalen Blätter gestern bereits weiß Gott welches Aufheben gemacht! »Wie unangenehm, daß diese Ziani überhaupt einmal in unserem Hause war!« hatte Prospero ausgerufen und Lucrezia konnte ihm nicht Unrecht geben. Hatte sie doch selbst mit wachsendem Unbehagen bemerkt, wie innig zuletzt die beiden Mädchenseelen ineinander wuchsen.

»Wie sieht Alba aus?« »Was hat Alba dazu gesagt?« waren ihre ersten Fragen an Erminia gewesen und Erminia hatte voll heimlicher Schadenfreude jene doppelsinnigen Antworten gegeben, die nichts und – alles befürchten ließen.

Dazu der Lärm in den Abendblättern. Die ganze Nacht hatte Lucrezia kein Auge geschlossen und zum ersten Male nach langer Zeit war es wieder ihr Mutterherz und nur ihr Mutterherz, das mit erregtem Schlag den schleichenden Gang dieser endlosen Stunden maß.

»Wenn es nur schon Tag wäre ... wenn es nur schon Tag wäre!« hatte sie unaufhörlich geseufzt, und als sie gegen Morgen in einen fieberhaften Schlummer fiel, sah sie nach langer, langer Zeit wieder zum ersten Male den Vater ihres Kindes im Traum. Es war ein Wiedersehen, wie im Paradiese, wo die Seele noch beklommen von der Erinnerung ihres körperlichen Daseins zum erstenmal in aufatmender Befreiung empfinden soll, daß auch das, was sie auf Erden als Sünde hinter sich gelassen, durch die Reue und die Gnade Gottes sich in schuldloses Glück wandeln könne. Schauer von Wonnen waren an ihr niedergegangen und als die Hand des Geliebten die ihre ergriff, schien es wie ein Schlag durch ihren Leib zu gehen. Sie war an seine Brust gesunken und hatte geweint ... aber ein Weinen, dessen Geschluchz wie ein Lachen war und Tränen, von deren Süßigkeit ihre Seele noch jetzt trunken schien.

Als sie aber erwachte, gab ihr Aberglaube diesem Traum eine ganz andere Deutung. Noch nie war sie so früh zur Messe gekommen, noch nie so atemlos hier herauf geeilt. Und als sie nun in das verstörte Antlitz der Pförtnerin blickte, schien es ihr, als hätten ihr diese blassen Nonnenlippen nur ein einziges, entsetzliches Wort zu sagen, so daß sie mit aller Gewalt an sich halten mußte, um nicht laut aufzuschreien, bevor sie überhaupt etwas wußte.

»Um Gotteswillen,« stammelte sie – »meiner – meiner Alba ist doch nicht auch etwas geschehen?«

Die schwerfällige Volskerin riß die Augen noch weiter auf. Wie – vor einigen Minuten war die Tochter lachend hier hinausgegangen, und nun stand die Mutter vor derselben Pforte und tat, als ob sie von nichts wußte? Was sollte man sich da denken? Und wie entsetzlich, daß sie ihren Posten nicht verlassen durfte, um es den andern zu sagen. Aber sie konnte ja doch nicht den Gottesdienst stören! Ganz abgesehen davon, daß es ihr überhaupt verboten war, von der Pforte zu weichen, bevor eine andere Schwester hier den Dienst übernahm.

»Nein, nein,« murmelte sie verletzt, während sie die Fürstin zugleich mit einem durchaus nicht mehr respektvollen Lächeln maß. »Wenn ihr draußen nichts geschieht – bei uns ist ihr nichts geschehen!«

Wie nach einem Halt tastend, griff Lucrezia mit beiden Händen um sich ... »Draußen –?« hauchte sie. »Wie – wie meinen Sie das?«

Die »Winde« rümpfte die Nase.

»Gott! Sie ist doch eben da hinausgegangen, ohne daß jemand davon wußte. Und als ich sie zurückhalten wollte, hat sie mir einfach die Türe vor der Nase zugeschlagen.«

»Meine – Alba?«

Lucrezia stand wie versteinert.

»Ich dachte – Ezzellenza wüßten es wenigstens –?«

»Nichts weiß ich, gar nichts! Nicht einmal, wo ich sie jetzt zu suchen habe!« Und plötzlich stürzten die Tränen aus ihren Augen, begann ihr Herz wieder in dumpfer Angst zu pochen ... stand der Traum dieser Nacht vor ihr und der Vater des Kindes, dessen ihre Reue sich so oft geschämt.

»Meine – Alba!!« schrie sie auf.

Unwillkürlich vertrat ihr die »Winde« den Weg. Wie um den Frieden dieses Hauses vor einem neuen Skandal zu schützen. Mochte diese Novize jetzt tun und lassen was sie wollte – hier hatte man nichts mehr zu tun mit ihr. Und nicht ohne eine gewisse Bosheit erwiderte sie:

»Wo Ezzellenza sie zu suchen haben – doch hoffentlich nur zu Hause.«

»Natürlich, natürlich,« stammelte Lucrezia wie geistesabwesend und wie um sich selbst zu überzeugen, wiederholte sie laut und mechanisch: »Natürlich nur zu Hause!«

Und atemlos wie sie gekommen, eilte sie wieder zu ihrem Wagen zurück. Dröhnend fiel hinter ihr die Pforte ins Schloß.

Halb ohnmächtig in das offene Coupé sinkend, hatte Lucrezia Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. Immer rascher, immer heißer quollen sie zwischen den brennenden Lidern hervor und legten zwischen sie und diese leuchtende Welt einen Schleier, durch den sie Entsetzliches zu sehen meinte.

»So rasch wie möglich nach Hause!« hatte sie dem erstaunten Kutscher zugerufen und »Kastor und Pollux« flogen förmlich dahin. Ihr aber schien es noch immer, als käme sie nicht vom Fleck und die fiebernde Erregung malte zwei brennende Rosen auf ihre sonst so blassen Wangen, während ihre Tränen unaufhaltsam weiterflossen. Da und dort blieb ein müßiger Sonntagsbummler stehen und starrte verwundert der großen Dame nach, die so seltsam dreinsah und so bitterlich vor sich hinweinte. War es möglich, daß man so traurig sein konnte, in einem solchen Gefährt? Aber Lucrezia bemerkte nicht einmal das Aufsehen, das sie erregte.

»Rascher, rascher!« rief sie dem Kutscher immer wieder zu. Und sie rief es noch, als bereits das Pflaster des Korso unter den Hufen der dahinjagenden Pferde dröhnte, rief es selbst vor dem Portal ihres eigenen Palastes, so fremd erschienen ihr plötzlich diese Straßen und dieses Haus.

Der Portier war mit einem ehrerbietigen Gruß an den Wagen getreten. Lucrezia sah es kaum, so gehetzt eilte sie die Treppe hinauf ... Was auch immer geschehen war oder geschehen konnte, diese Leute erfuhren ohnedies noch immer alles zu früh!

In dem Korridor, der zu den Gemächern Prosperos führte, stieß sie auf Anita und deren Bonne.

»Mama, Mama,« rief Anita, ihr entgegenlaufend – »denk einmal, wer gekommen ist?«

In diesem Augenblick war es der Gequälten, als müßte sie vor Freude umsinken. Denn wer als Alba konnte gekommen sein? Und sie riß Anita an sich und küßte sie und stammelte unter Lachen und Weinen – »unsre Alba, nicht wahr? So sag' es doch, daß unsre Alba wieder gekommen ist?«

Mit einem heftigen Gezappel machte sich Anita frei, sie zog die Augenbrauen empor und zeigte ein verdutztes Gesicht ... »Alba? aber nein, Mama ... Flavio! Flavio ist gekommen!«

»Fla–vio?« stammelte Lucrezia enttäuscht und befremdet zugleich. Hatten die Chiettis doch erst vor einigen Tagen einen Brief ihres Sohnes erhalten, in dem er ihnen geschrieben, daß er auch die Osterferien der Vorbereitung für die Reifeprüfung zu widmen gedenke, und nicht heimkommen werde, nur um rascher fertig zu werden.

»Ja, Flavio,« rief Anita eifrig. »Und jetzt ist er beim Papa drinnen und weil ich gerade auch beim Papa drinnen war, haben sie mich hinaus–ge–smissen ... damit ich nicht hören soll, wie sie miteinander streiten ...«

»Pfui – Anita!« ermahnte die Bonne. Aber ihre Verlegenheit ließ Lucrezia erkennen, daß Anita die Wahrheit gesagt.

»Bringen Sie die Kleine hinab!« befahl sie kurz. Sie selbst eilte nach dem Arbeitszimmer Prosperos. Flavio daheim und im Streit mit seinem Vater ... Alba weiß der Himmel wo? Wahrhaftig, das war ein Tag, an dem Gott sie wieder fühlen ließ, daß ihm all ihre Reue und Buße noch immer nichts galt! »Am besten wär's jetzt, ich stürbe!« dachte sie, als sie die zitternde Hand an die Klinke der Türe legte, durch die ihr Prosperos erregte Stimme entgegenscholl.

Bei ihrem Eintritt erhob sich Flavio, um die Hand der Mutter zu küssen. Das war aber auch alles. Nichts von der Freude, die sonst bei jedem Wiedersehen in seinen Augen aufzuleuchten pflegte. Und welch unschöner Zug in seinem Antlitz! Etwas Fremdes, Hartes, um nicht zu sagen Feindseliges.

»Du – du wolltest ja diesmal nicht kommen?« begann Lucrezia verwirrt.

»Natürlich!« fiel Prospero mit einem zornigen Gekrächze ein, »weil seine Geliebte aber einen dummen Streich gemacht hat, ist er doch gekommen, um Gott und seine Eltern dafür zur Rechenschaft zu ziehen.«

Wie eine Gerte schnellte die biegsame Gestalt Flavios empor und die dunklen Augen mit einem Blick auffunkelnden Hasses auf den Vater gerichtet, erwiderte er fest: »Ich hab' dir schon einmal gesagt, daß sie nicht meine Geliebte war, sondern meine Braut!«

Lucrezia taumelte förmlich zurück: »Ich – verstehe – nicht!« hauchte sie.

»Selbstverständlich,« höhnte Prospero. »Warum solltest du dir auch weiter die Mühe nehmen? Genug, daß du ihnen die Gelegenheit gemacht.«

»Ich – meinem Kinde eine – eine solche Gelegenheit ...?« Lucrezia wollte noch etwas hinzusetzen. Aber die Angst, die sie so lange gefoltert, Flavios plötzliches Erscheinen, die Szene zwischen Vater und Sohn und nun diese Andeutungen, die wie die Blitze eines langsam heranziehenden Gewitters in ihre Seele schlugen, warfen sie förmlich nieder. Es war ein Glück, daß Prosperos Ruhebett hinter ihr stand, sonst wäre sie zu Boden gesunken ...

»Nun siehst du, was du angerichtet hast!« rief Prospero seinem Sohne zu.

Aber Flavio blieb unbeweglich. Starr und blaß und hoch aufgerichtet sah er zu, wie die Mutter zusammenbrach und der Vater in wilder Hast hinzustürzte, um die Schwankende in seinen Armen aufzufangen. Sah es mit einem fremden, kalten, toten Blick, als wären es Menschen, die ihn weiter nichts angingen.

»Danke, danke,« hauchte Lucrezia ... »Es war nur« ...

»Und nun hab' die Güte, auf dein Zimmer zu gehen!« bat Prospero.

»Wie kann ich denn?« schrie Lucrezia gequält auf. »Wenn ich euch so sehe ... und nicht weiß, warum?!«

»Wenn du dir die Mühe genommen hättest, in Sorrent nur etwas besser acht zu gehen, wäre dies alles nie geschehen!« knurrte Prospero unwillig.

»In Sorrent?« Der Armen begann etwas zu dämmern. »Meinst du am Ende die Ziani?«

»Wen denn?« brach Prospero aufs neue los. »Und welch' ein Glück, daß sie tot ist!«

»Vater!« Das war nicht mehr die Stimme Flavios. Das war die Stimme eines Fremden, die Stimme eines Menschen, aus dem eine unsägliche Qual herausschrie und zugleich ein Haß, der die Mutter erschauern machte. War das noch ihr Kind? Dieser bis in die Lippen bleiche, wutverzerrte Mann, der mit geballten Fäusten dort stand und die blanken Zähne in die Lippen grub, die von einem unerhörten Fluch zu zittern schienen oder von einer Drohung, die Lucrezias Blut erstarren machte?

»Sag' das nicht noch einmal, Vater, oder –«

»Oder –?« schrie Prospero mit einer Bewegung, als wolle er auf ihn zustürzen.

»Oder es geschieht etwas, das wir Beide unser Leben lang bereuen würden!«

»Du drohst mir?«

»Dann tritt mir nicht aufs Herz!« Und der Jüngling, den der Zorn eben zum Manne gereift zu haben schien, brach, wie von einer wehen Erinnerung überwältigt, plötzlich in sich zusammen und barg das Antlitz zwischen den bebenden Händen, damit die Eltern seine Tränen nicht sähen.

Lucrezia sah mit einem flehenden Blick zu ihrem Gatten empor. »Warum quälst du ihn auch so?« sprach sie leise. »Da sie doch tot ist!«

»Tot – die!« brauste Prospero aufs neue auf. »Solche Geschöpfe scheinen das Leben einer Hexe zu haben. Du hast ihn ja noch nicht reden gehört, weißt noch nicht die Hälfte von dem, was der junge Herr mir soeben ins Gesicht geblasen. Hast keine Ahnung von den gotteslästerlichen Absichten, die er seine ›Überzeugung‹ nennt! Von wo hätte er denn das alles auf einmal her, frag' ich? Von wo und von wem, wenn nicht von diesem unseligen Geschöpf, das seine Füße gerade über unsere Schwelle tragen mußte! Und das sagt er mir, seinem Vater! Sagt er mir in einem Hause, in dem er nur Güte gesehen, nur Liebes erfahren! Speit es in diesen vier Wänden von sich, die seinesgleichen noch nicht gesehen, seit der Palast der Chietti steht!«

»Solche Heuchler, wie ich bisher einer war, werden diese Wände schon oft gesehen haben!« kam es im Tone tiefster Verachtung zurück. Und die Rechte, die noch naß von den Tränen des ersten heißen Jugendschmerzes war, schlug dabei klatschend an ein zeitgebräuntes Paneel. »Aber wenn sie über das, was ich jetzt als Wahrheit erkannt habe, auch zusammenbrechen – aussprechen werd' ich diese Wahrheit und – nach ihr leben!«

»Dann bitte, auf deine eigenen Kosten!« gab Prospero brutal zurück.

»Und wenn ich dabei verhungern muß und darüber zugrunde gehn!« rief Flavio mit der Gebärde eines Schwures, und voll wehmütiger Einsicht setzte er hinzu: »Mein Gott, wie arm und klein müssen all' diese Chietti bis heute gewesen sein, daß sie inmitten ihrer Millionen nicht verstehen gelernt haben, daß man für eine Wahrheit hungern und darben und meinetwegen auch sterben kann!«

»Still du ...« rief Prospero mit einer Bewegung nach Lucrezia, die der Gedanke, daß auch ihr Sohn bereits vom Tode sprach, so entsetzlich berührte, daß sie mit einem lauten Schrei emporfuhr, »Still, sag' ich ... Und dich, mein junger Herr frag' ich: welche Wahrheit ist es denn, die deine frischgebackene Weisheit derjenigen entgegenzustellen hat, für die diese Chiettis fast eintausend Jahre gekämpft und gelebt und wenns nötig war, auch geblutet haben?«

»Ich hab' dir schon gesagt, daß mir dein Glaube heilig ist,« erwiderte Flavio finster. »Aber –«

»Aber –?«

Flavio zuckte die Achseln. »Es ist nicht mehr mein Glaube!«

»Also!« krähte Prospero mit einem Blick auf Lucrezia. »Da hast du's ... da hast du's! Und jetzt sag' mir, ob du noch glaubst, daß man das in einem Jesuitenkollegium lernt?«

»Vorgetragen werden natürlich ganz andere Dinge dort,« warf Flavio mit unsäglicher Geringschätzung hin ... »Aber –«

»Nun, nun? Laß doch einmal hören!«

»Wer in dieser Zeit geboren ist und leben will, kann nicht mehr alles für Wahrheit nehmen, was dort vorgetragen wird.«

»Schau, schau ... Am Ende hast du gar auch Rosmini studiert?«

»Rosmini war ein Heiliger!«

»Der mit der Kirche zerfallen war!«

»Schlimm genug für die Kirche!« rief Flavio mit blitzenden Augen. »Wenn sie keine Wahrheit mehr verträgt.«

»Wahrheit – Wahrheit! Willst du unzulängliche Doktrinen den ewigen Wahrheiten unserer Religion entgegenstellen?«

»Die ewigen Wahrheiten unserer Religion hat Christus ausgesprochen. So schlicht und doch so göttlich erhaben, daß sie die Ewigkeit ihres Bestandes in sich selbst tragen und niemanden brauchen, der sie beschützen muß, weder dich, noch mich, weil sie die Zukunft von Jahrtausenden in sich schließen, deren sittliche Höhe unsere Entwicklung erst erreichen muß. Wer war denn ein Christ, wie Christus ihn wollte? Er allein und sonst niemand! Alle andern tasten sich erst mühsam auf seiner Straße weiter. Der eine so – der andere so. Zu ihm werden alle finden, die reinen Willens sind.« ...

»Und das bist du, was?« höhnte Prospero, »mit dem geilen Trieb dieser frühen Leidenschaft, mit deiner Verachtung der Autorität ... mit mit –« Seine Stimme überschlug sich.

»Mit dem reinen Willen, ihn dort zu suchen, wo er sich noch verbirgt!«

»Wo er sich noch verbirgt?« lachte Prospero. »Nun, ich muß sagen, da hör ich Neuigkeiten« ...

»Damit alle ihn finden können,« fuhr Flavio unerschüttert fort, »wie er für alle gekommen ist!«

»Und wo, wenn ich fragen darf, willst du ihn suchen?«

»In den geheimnisvollen Geburtswehen dieser neuen Zeit, im Kampfe für ein neues Leben und für jede Wahrheit, die die Menschheit ihrer Vollendung entgegenführt.«

»Nun, was sagst du?« höhnte Prospero mit einer Wendung nach Lucrezia. »Spricht er nicht wie die ›Tribuna‹ und der Teufel zugleich?«

»Ich habe bisher nur den › Osservatore Romano‹ gelesen,« warf Flavio verächtlich hin, »aber es hat genügt. All' dieser Haß im Namen Christi! All' diese Hetzjagden hinter Menschen her, die mit ihren eigenen Augen sehen wollen und nicht aus den Totenschädeln versunkener Geschlechter! Der selbstgenügsame Idiotismus der gläubigen Laien, die die Wahrheit ein für allemal in der Tasche zu haben glauben und böse werden, wenn sie umlernen sollen ... Galilei ist wenn nicht physisch so geistig gefoltert worden und – hat Recht behalten; Savonarola verbrannt, weil er so unvernünftig war, ein besserer Christ sein zu wollen, als ein fragwürdiger Papst. Giordano Bruno hat man verbrannt. Alle unbotmäßigen Denker ausgestoßen; so und so viel arme Weiber verbrannt, die man heute auf den Kliniken von ihren hysterischen Wahnvorstellungen befreit; ohne Feuer oder Folter. Ist das alles wirklich im Dienste der Wahrheit und in der Erleuchtung des heiligen Geistes geschehen? O ja! Ich habe den › Osservatore‹ gelesen und noch einige andere dazu. Berühmte Bücher, die nicht auf dem Index stehen, Bücher aus der Bibliothek des Jesuitenkollegiums. Ich habe sie gelesen, diese ›Apologien des Christentums‹, die mich um meinen Glauben gebracht: mit ihrem Verrücken des Streitpunktes, ihrem Umgehen der Gründe des Gegners, ihrem Ersetzen der Beweise durch Begriffsunterscheidungen, ihren Fälschungen der Tatsachen in Natur und Geschichte, ihren Schmähungen jedes geistigen Fortschrittes, der sich nicht dem Dogma dienstbar macht. Ich habe sie alle gelesen bis auf die Apologie eines Alexander VI. Borgia von dem Dominikaner Ollivier und ... ich habe genug!«

»Und das ist dein letztes Wort?« keuchte Prospero.

»Jedenfalls das ehrlichste, daß ich seit langem gesprochen.«

»Gut. Dann nimm zur Kenntnis, daß auch ich jetzt von dir genug habe.«

»Prospero –!« schrie Lucrezia auf.

»Und dich –«

Mit einem Schrei warf sich Lucrezia zwischen beide. »Du darfst ihm nicht fluchen, hörst du? und ihn nicht verstoßen. Wenn du ... wenn du nicht auch mich verstoßen willst.«

Und während sie die Arme weit ausbreitete, stierte sie mit einem wahnsinnigen Blick vor sich hin, mit einem Niobeblick, vor dem alles versank, was ihr bisher lieb und teuer gewesen: ihr Glaube, der Friede ihres Heims, das in der Liebe zu ihren Kindern so sicher verankerte Glück ihres Herzens ... alles, alles! Denn wo war der Gott, zu dem sie bisher so heiß gebetet in dieser entsetzlichen Stunde?

Plötzlich schlug es wie ein Blitz in sie: Dort war er! Dort an der Seite ihres Sohnes, der bereit war alles hinzugeben, um nicht als Pharisäer durch diese Welt gehen zu müssen. Dort, wo ihre Alba jetzt weilte; dieses arme, verlassene Kind ihrer Liebe, das sie mit ihrer unnatürlichen Reue fast in den Tod gejagt. Und dort – dort mußte auch sie jetzt sein: die Mutter!

O ja! Wo die Natur sich in großen, urgeborenen Empfindungen ausatmete, wo sie rein und schön dastand, wie am ersten Tage, dort war auch Gott!

Nun wußte sie's!

Auch Prospero stand noch immer wie versteinert. Daß Lucrezia so rasch, so offen sich auf die Seite ihres Sohnes schlagen würde, hatte er nicht erwartet. Sie, deren Frömmigkeit und Gottesfurcht wie ein stetes Gestirn über diesem Hause leuchtete! Was ging hier vor? Oder hatte er sich vielleicht doch wieder einmal zu weit fortreißen lassen? Lucrezia – war doch auch eine Christin! Und wenn sie fand, daß er noch kein Recht habe, hier zu verdammen, hatte sie gewiß ihre Gründe, gute, wohlerwogene. Sein Jähzorn hatte ihm schon zu oft im Leben einen schlimmen Streich gespielt. So daß er mit der Zeit gegen die Weisheit seiner eigenen Entschlüsse etwas mißtrauisch geworden war. Natürlich nur insgeheim; aber mehr als einmal hatte es sich in den letzten Jahren ereignet, daß er nach ähnlichen Szenen ganz leise und bescheiden im Boudoir seiner Gattin erschien, um nach ihrem Rat gutzumachen, was sich noch gutmachen ließ. Nur nicht zeigen durfte man das; zuletzt vor den Kindern. Auch war das heute wirklich etwas ganz anderes! Etwas, das ihn mitten ins Herz traf. Seit fünfhundert Jahren waren die Chietti päpstliche Thronassistenten. Kein Fest in St. Peter, bei dem sie nicht dabei gewesen. Kein weltgeschichtliches Ereignis im Palaste des obersten Priesters der Christenheit, dem nicht irgend ein Chietti angewohnt, ob nun ein Papst zum Sterben kam, oder ein neuer Hirte der Christenheit » urbi et orbi« verkündet wurde ... Ob man nun einen dieser vergeistigten Greise unter dem Geschmetter der silbernen Tuben auf die » sedia gestatoria« durch die Reihen der Gläubigen dahin trug, während die Sixtinische Kapelle ihm das machtvolle » tu es Petrus« entgegensang – oder ob er in eine der stillen Marmorgrüfte hinabgesenkt wurde, an die nicht nur der » Maggiordomo«, sondern auch die Geschichte ihre Siegel legte ... irgend ein Chietti war immer und überall dabei gewesen! Auch er hatte ja nichts anderes zu tun gehabt bis heute, und war sich bedeutend und wichtig dabei erschienen. Und nun stand ein Chietti da, der dies alles so geringschätzig behandelte, daß er sich fast schämen mußte wie der nächstbeste Müßiggänger, dem man zu verstehen gab, daß in dieser Welt für seinesgleichen so gut wie gar kein Platz mehr sei. Und dieser Chietti war sein eigener Sohn! O nein, allzu rasch durfte man jetzt nicht die Segel streichen. Aber freilich – auch nicht weitergehen. Lucrezia war so klug; mochte sie zusehen, wie sie mit dem Jungen fertig würde.

Ohne die Barschheit seines Tones zu mildern, rief er: »Auch du drohst mir? Nun gut! vielleicht weißt du besser, wie man solche Narren zurecht bringt. Ich aber mag ihn einstweilen nicht mehr sehen.«

Damit verließ der gute Prospero hocherhobenen Hauptes das eigene Gemach, in der festen Überzeugung, nicht nur seinem Sohn, sondern auch seiner Frau einmal gründlich den Herrn gezeigt zu haben.

Als er draußen war, stürzte Flavio auf seine Mutter zu und barg den Kopf an ihrem Herzen.

»Du Wilder,« hauchte Lucrezia ... »was hast du getan?«

»O Mama ... Ich habe sie so geliebt!« schluchzte Flavio auf. Und nach langer, langer Zeit weinte er wieder heiße Tränen in den Schoß der Mutter – Tränen, die ihr Herz glücklich machten trotz alledem.

Sie konnte doch nicht so verwerflich sein, diese Liebe, wenn sie ihr den Sohn zurückgab, den ihr die frommen Väter genommen!

Aber – da war noch Alba!

Wie gehetzt sprang sie wieder empor. »Geh' jetzt auf dein Zimmer, mein Kind, und vermeid' es, heut und morgen dem Vater zu begegnen. Wenn ich in einer ruhigen Stunde mit ihm gesprochen habe, wird sich alles wieder einrenken!«

»Nur nicht mein Entschluß, in den Dienst des Vaterlandes zu treten!« rief Flavio bevor er ging. »Bitte, sag' ihm das, Mama!«

»Ja, ja!« rief Lucrezia verstört. Dann schellte sie und befahl dem Diener, ihr Erminia zu rufen. Es schien ihr ganz undenkbar, daß die Alte nicht wissen sollte, wo Alba hingeraten war ...

Mehr als einmal hatte Bartolo von dem im Freien gedeckten Frühstückstisch nach dem Tore seiner Villa gespäht, ob Alba noch immer nicht in Sicht käme.

»Ich hätte sie doch selbst holen sollen!« meinte er zuletzt beunruhigt und »Signore Miller« mußte ihm mit der Uhr in der Hand beweisen, daß es auch den besten Pferden nicht möglich wäre, in so kurzer Zeit von dem »Gianicolo« auf den Palatin und von dort wieder auf den »Gianicolo« zu kommen. Selbst in der Voraussetzung, daß Alba auch nicht eine Minute auf sich habe warten lassen.

»Aber man weiß ja nie, was diese Schwarzen aushecken,« rief er nervös, »wenn sie nur einmal jemanden in ihrer Gewalt haben. Und – ich bitte Sie – diese Mutter! Möglich, daß Gott zur Schöpfung des Weibes nur einer Rippe des Mannes bedurft, sagt einer unserer besten Volkswitze, aber die Tränen des Weibes brechen alle Rippen des Mannes! Und – nun, Sie haben ja selbst gehört, was die gute Erminia erzählt hat, und Alba ist kein Mann.«

»Ihr Brief atmet aber so viel Elan und Trotz!«

»Wenn es nur keine Nerven gäbe – wenn es nur keine Nerven gäbe!« erwiderte Bartolo skeptisch. »Aber bitte, essen Sie doch! Dieses Panetto ist nach einem Rezept bereitet« –

»Weshalb essen denn Sie nicht?« lächelte der Naturforscher.

»Ach, ich ... liege im Kampf mit Rom!« Er brauchte immer ein großes Wort, der gute Bartolo, immer irgendeine Emotion; das hielt ihn frisch und gesund.

Endlich – ein Geknirsch heranfahrender Räder, das Gewieher von Pferden, die sich dem Stall entgegensehnen. Mit einem Freudenruf sprang Bartolo auf.

»Wie gern möcht' ich jetzt Onkel sein!« lachte der Gelehrte. »Da es aber eine Familienszene ist« –

»Wer könnte dieser Szene besser anwohnen, als Sie? Nein, nein, kommen Sie nur! Die Kleine liebt sie ja förmlich und wenn sie ihr auch dorten alle dreiunddreißig Teufel ausgetrieben ... von Ihnen ist sie sicher noch besessen.«

Der Gelehrte erhob sich, machte einen Schritt vorwärts, kehrte aber wieder auf seinen Platz zurück. »Nein,« wehrte er ab, »gehn Sie allein! Die Scham einer so jungen Seele will geschont sein.«

»Scham?«

»Da sie nun doch einmal in diesem Kloster war, könnte ihr mein allzurasches Auftauchen als eine Art Vorwurf oder Zudringlichkeit erscheinen.«

»Sie sind doch der zartfühlendste Mensch, den ich in meinem Leben gesehen hab'!« rief Bartolo enthusiastisch. »Und wenn ihre Gegner nur eine Ahnung hätten, wie Sie eigentlich sind ...«

»Für meine Gegner hab' ich trotz alledem nur die Zähne,« lachte der Gelehrte auf.

In diesem Augenblick knarrte das Gittertor der Villa. Der Bediente hatte es geöffnet und stand nun, den Hut in der Hand, während ein weißes, aufflatterndes Etwas an ihm vorüberflog.

»Onkel Bartolo!« jauchzte eine helle Stimme und der Frühlingswind, der dem jungen Geschöpf entgegenfuhr, trug nicht nur die flatternden Bänder ihres bräutlichen Staates empor, er schien diese »Alba« selbst auf seine Schwingen zu nehmen und mit einem Ruck zwischen die beiden hineinzuwehen, wie eine große, weiße, leuchtende Blüte!

»Onkel Bartolo ...« und leise, schüchtern, wie von einer unausgesprochenen Frage begleitet: »Sig – Signore H – aeckel!«

Der Forscher streckte ihr beide Hände entgegen und sein Blick ging wie Sonnenschein über sie hin; nahm ihr alle Scheu und auch den letzten Frost vom Herzen, so daß sie nun erst zu fühlen meinte, wie warm es war, und wie hell – und alles Freiheit und Sonne!

»Sagen Sie dem Cameriere, daß er für meine Nichte einen frischen Tee bringen soll!« rief Bartolo dem sich entfernenden Lakai nach und mit einem bekümmerten Blick in Albas Antlitz knurrte er: »Du siehst ja aus, als wenn sie dir eine Woche nichts zu essen gegeben hätten?«

»Gefrühstückt hab' ich allerdings noch nicht,« erwiderte Alba, »da wir zur Kommunion befohlen waren.«

»Da will ich meinen Leuten doch lieber gleich selbst Beine machen!« rief Bartolo geschäftig.

»Aber Onkel! – kannst du denn glauben, daß man in einer solchen Lage überhaupt einen Hunger spürt?«

»Ach was« – und fort war er.

An dem Tisch blieb es eine Weile still. So still, daß man das feine Geriesel hörte, mit dem der Wind durch das Bambusrohr ging, das dem zierlichen Kiosk seinen Schatten gab. Albas Herz aber pochte zum Zerspringen und in die blassen Wangen stieg plötzlich ein zartes Rot. Nun war die Stunde gekommen, die sie so oft herbeigesehnt und doch auch immer gefürchtet hatte. Er, dessen Lehre ihr Glaube war, saß vor ihr und sie mußte ihm Rede stehen über ihre Abtrünnigkeit. Mit keinem Blick noch hatte er es von ihr gefordert; die sonnigen Augen voll Güte und mildem Verstehen auf sie gerichtet, ihre Rechte noch immer in seiner Hand – würde er selbst es gewiß auch nie fordern. Aber gerade dieses Schweigen bedrückte sie. Es war so viel Nachsicht mit ihrer Jugend darin, wie ihr schien! Alles was sie getan, war doch wahrhaftig nicht im Wankelmut ihrer Jahre geschehen; noch aus verächtlicher Willensschwäche. Wie aber konnte sie ihm sagen, daß sie aus dem tiefen Verstehen einer zertretenen Menschenseele sich zu jenem Opfer entschlossen? Sie, der das Geheimnis ihrer Mutter für immer die Lippen schloß?

Aber schweigen – ganz schweigen, nein, das dürfte sie doch auch nicht.

»Sie werden mich wohl innerlich verachtet haben,« sprach sie mitten in die Stille hinein und die Röte ihrer Wangen stieg bis an die zart geäderten Schläfen – ihr Blick flüchtete in den bläulichgrünen Schatten der leise hin und herschwankenden Bambuswedel.

»Dazu fehlte mir doch jedes Recht!« rief der Gelehrte lebhaft. »Und ... was unsere Vernunft auch als Wahrheit erkennen mag ... das Menschenherz ist ein ganz eigenes Ding. So eine Art ruhmloser Held, dessen größte und schönste Taten meist unerkannt bleiben. Wer dürfte da richten? Zuletzt ich, dessen ganzer Beruf ein einziges Verstehen sein soll«.

»Ich danke Ihnen!« brach Alba aus. »Und« ... doch sie kam nicht weiter. Ihre Lippen begannen zu zucken, ihre Augen füllten sich mit Tränen und plötzlich lag ihr Antlitz auf derselben weichen Rechten, die vorher ihre Hände so warm und väterlich umschlossen hatte.

»Dort kommt Ihr Onkel!«

Mit einem Ruck fuhr Alba empor ... Wie zart von ihm, kein anderes Auge in die Scham ihrer entschleierten Seele blicken zu lassen! Das war eingeborener Seelenadel, tiefstes Wissen von allem Menschlichen. Wie brutal und herzlos erschien ihr dagegen alles, was sie bisher von den »Frommen« erfahren. Und sie hatten doch auch ihre – Nächstenliebe; ihren Beichtstuhl und ihre – Gewissenserforschung. Aber in der ewigen Angst um das Heil der eigenen Seele war ihnen die seine Witterung für die Qualen der anderen abhanden gekommen. Wer sich ein ganzes Leben hindurch auf den Himmel vorbereiten und vor der Hölle schützen mußte, hatte weder Zeit noch Lust, sich um die Wirrsale dieser Erde zu kümmern.

»Wie gut Sie sind!« hauchte Alba mit einem dankbaren Blick und während sie die Tränen von den Wangen wischte, sprach sie: »Und wie wohl es tut, eine Güte zu erfahren, die so durch und durch Güte ist. Mir ist das heute zum ersten Male geschehen.«

»Auch ihre Mutter wird sie verstehen lernen,« erwiderte der Gelehrte. »Und,« er lachte auf, »sehn Sie nur, was Ihr Onkel Ihnen alles zutragen läßt! Wenn Sie das wirklich essen müßten.«

Auch Alba lachte auf: »Der gute Onkel!«

»Mir scheint gar, ihr macht euch da lustig über mich?« fragte Bartolo. Aber er ließ sich nicht irre machen und als der Diener sein Tablett niederstellte, begann er selbst seiner Nichte all' die guten Dinge vorzurücken. »Das sind ›Astoria-Brötchen!‹ ... werden in England in den feinsten Klubs zum Tee gereicht. Diesen Orangen-Jam empfehl' ich dir ganz besonders.«

»Mich verlangt nur nach etwas Tee.«

»Behüte, in deinen Jahren ...«

Und nun mußte Alba essen, ob sie wollte oder nicht.

»Nein,« meinte Bartolo nach einer Weile, »wenn ich bedenke, daß ich eines Tages zu meiner Nichte ›Mater‹ hätte sagen müssen! Wenn der Herzog von Aosta und ich eines Tages auf unseren Polarreisen einen – Löwen gefunden, es hätte mich nicht sprachloser machen können! Seh' einer diese Lucrezia an, als ob sie auf meine Abreise gewartet hätte!«

Der Gelehrte hatte mit einem leisen Lächeln zugehört und dabei vor sich hingeblickt, still und versonnen, wie es seine Art war, wenn irgend ein Wort oder Eindruck langsam Wurzel schlug in seiner Seele.

»Mater!« begann er plötzlich mit weicher Stimme. »Welch ein schöner, großer, göttlicher Name, der Name, den das Leben selbst an der Stirne trägt wie ein Geheimnis leuchtendes, mystisches Zeichen! ... Was aber soll er in einem – Kloster? Was unter denen, die Glaube und Beruf dem Leben entzieht und der Unfruchtbarkeit weiht? Es ist ein seltsamer Zufall, daß ich gerade darüber oft nachgedacht habe und mich, beim redlichsten Bemühen, auch die Terminologie meiner Antipoden zu verstehen, doch nie in diese Logik hineinfinden konnte! Von dem niedersten Lebewesen bis zum höchst entwickelten reicht der heilige Mutterwille des Daseins. Nichts Lebendiges kann sich seiner Gewalt entziehen und was sich ihr entzieht, scheidet für immer aus der heiligen Gemeinschaft des Lebens. Es ist ein Instinkt, so mächtig und urgeboren, daß der Entschluß eines Weibes, sich in diesem Sinne wider die Natur zu kehren, wirklich etwas Heroisches, aber ebenso Befremdendes hat. Wenn ihm nur nicht auch etwas von dem Widersinn der Selbstzerfleischung anhaftete! Die Kirche verdammt den Selbstmord; in der richtigen Folgerung, daß kein Geschöpf das Recht habe, sein Leben dem Schöpfer hinzuwerfen. Für die Natur ist ein Leben außerhalb der Reihe ihrer physischen Gesetze noch schlimmer als ein Selbstmord. Und alle Heiligen der Legende werden mich nicht glauben machen, daß es in ihrem Dasein nie eine Stunde gegeben, in der sie diese Art zu leben nicht auch als – Sünde empfunden, so groß und heilig die Zwecke waren, denen sie sich zu opfern glaubten.

Mater –!

Da sehe man dieses Rom an. Diese ›Niobe der Völker‹, wie Byron so schön sagt. Zu welcher Höhe hat diese Mutter ihre Kinder emporgeführt und diese Kinder, wie viele Götter und – Henker haben sie ihr gegeben. Aber von allem, was der Geist ersonnen und die Unnatur der Begierde und der Kulte gezeitigt – was ist geblieben? Nichts, als die Erscheinungen des ewig weiter flutenden Lebens, diese endlose ›Mutterschaft‹ mit ihrem stetigen Daseinswillen ...

Ich weiß nicht, ob Ihnen, lieber Freund, zufällig ein paar Verse Martials bekannt sind, die so beiläufig ausdrücken, was ich in diesem Augenblicke empfunden und doch nicht selbst sagen kann? Gerade vom ›Janiculum‹ herab, hat der Dichter diese Verse an Rom gerichtet und es ist ein bedeutsamer Zufall, daß uns nicht nur diese Verse erhalten blieben, sondern daß uns auch Rom heute nichts anderes zu zeigen hat, als ein, an die schlichten Erscheinungen des täglichen Lebens verlorenes Sein schon damals von hier aus gesehen und bedeutungsvoller gesunden, als allen Glanz und alle Paläste und Tempel Roms.

»Sehen kann man die sieben Herrscherberge von hier aus und das ganze Rom betrachten und die Tuskuler- und Albanerhügel. Dort das alte Fidenae, Saxa rubra und der Anna Perenna Hain an Obst reich. Auf Flaminius Straße, auf dem Salzweg, sieht man Menschen im Wagen fahren, lautlos; auch die milvische Brück' ist nah, es ziehen durch den heiligen Tiber auch die Schiffer.«

Und nun sehn Sie von hier auf Rom herab! Um so viele, viele Jahrhunderte später, als Martial. Was sehen Sie? Nicht viel mehr als Martial gesehen!

Die ›Niobe der Völker‹ hat das Haupt verhüllt, aber hinter dem Schleier, mit dem sie es verhüllt, blüht noch heute das Leben hervor – und nur das Leben!«

»Meister!« rief Alba im Tone heller Entzückung. »Wissen Sie, daß ich, als ich da herauffuhr, ganz dasselbe empfunden habe? Nur etwas hab' ich mir noch dazu gedacht« –

»Nun?«

»Daß man keine Angst vor den Ruinen haben dürfe!«

Stumm und bewegt reichte ihr der Forscher die Hand.

Vor dem Gitter der Villa begann wieder der Kies des bergansteigenden Fahrweges zu knirschen. Kurz daraus hielt ein Wagen.

»Wahrscheinlich jemand, der die Aussicht genießen will!« meinte Bartolo. »Ein Besuch wäre vorgefahren ...«

Er sagte es wie nebenbei, spähte aber doch immer wieder nach der Straße zurück und auch Albas Herz begann plötzlich zu pochen, ihre Augen aufzuleuchten ... Wenn es vielleicht doch ihre Mutter war, die alles verstand und vergab und nun kam, sie wieder heimzuholen? Sie mochte so viel Glück gar nicht ausdenken! Und wenn es Prospero war? Aber nein! Ihn würde Lucrezia zuletzt schicken. Mit keinem Blick hatte Alba der Mutter bisher zu verstehen gegeben, daß sie um ihr schamvoll gehütetes Geheimnis wisse, und doch hatte Lucrezia seit jenem Gespräch in Sorrent nie mehr wieder so unbefangen wie einst in das Antlitz ihres Kindes blicken können. Dann war jene herbe Abschiedsszene im Kloster gekommen und seitdem hatten sich Mutter und Tochter Monate lang nicht wieder gesehen ... Die Stimme ihrer immer wachen Angst allein mußte Lucrezia sagen, daß die Alba, die sie heute fand, eine ganz andere sein würde als jene, die sie damals verlassen.

In diesem Augenblick trat der Diener aus der Villa, der Alba abgeholt. Er kam rascher heran, als es sonst Art und Anlaß erheischen und vermied es sichtlich, seinen Herrn früher anzusehen, als es unbedingt nötig war. Albas Wangen färbten sich immer tiefer, während Bartolo die Stirn runzelte und ein halb unwilliges, halb bedeutungsvolles »Hm« hören ließ.

»Die Fürstin Chietti«, meldete der Diener, ohne den Blick vom Boden zu heben.

»Warum kommt denn meine Schwägerin nicht herein?« fragte Bartolo, zog die Augenbrauen empor und lehnte sich noch breiter in seinen Stuhl zurück.

»Ezzellenza möchten nur ein Wort mit der Prinzipessa reden« ... murmelte der Diener, vor Bartolos Blick immer kleiner werdend. »Darum haben Ezzellenza erst nicht den Wagen verlassen. Wenn Ezzellenza ... das heißt die Prinzipessa so liebenswürdig wäre, sich für einen Augenblick hinauszubegeben ...?«

»Meine Frau Schwägerin soll die Güte haben, noch einen Augenblick zu warten,« entschied Bartolo, um vorerst den Diener außer Hörweite zu bringen. Endlich sah er Alba an: »Nun?«

»Wenn Mama selbst gekommen ist, will auch ich selbst mit ihr sprechen!« erwiderte Alba leise.

»Und wenn sie am Ende wieder zu weinen anfängt?« knurrte Bartolo. »Du bist wohl im Stande, dich noch einmal dort einsperren zu lassen?«

Alba lächelte bloß. »Nein, Onkel, das ist nun wohl für immer vorüber. Und wie du mich siehst, fühl' ich mich so stark und selbständig, daß ich selbst deinen großmütigen Schutz nicht weiter in Anspruch nehme. Es sei denn, daß Mama mir das Haus verschlöße. Aber wär sie da selbst gekommen?«

»Du gehst also wirklich?« staunte Bartolo. »Nun siehst du, ich an deiner Stelle würde sie wenigstens zur Kapitulation zwingen.«

»Meinst du, daß ihr Erscheinen hier etwas anderes ist?« gab Alba sicher zurück. »Ich bin dessen so gewiß, daß ich dir zugleich Adieu sage, denn heute komm' ich nicht mehr zurück.«

Damit drückte sie einen Kuß auf seine Hand. »Sie aber, verehrter Meister,« wandte sie sich an den Forscher, »Sie bitt' ich einstweilen nachzudenken, ob und wie es Ihnen möglich sein wird, mich in die Schar Ihrer Hörer auszunehmen, denn ich hab von heut' an einen festen Lebensplan!«

Noch ein Nicken, ein Lächeln, ein letzter warmer Händedruck und fort war sie.

»Mir bleibt der Verstand stehen!« sprach Bartolo kopfschüttelnd.

»Weshalb?«

»Was die Weiber alles in einem Sack haben! Gestern das Offizium, heute das Mikroskop und Ihre Präparate ... aber der Teufel weiß ... gerade das macht sie so interessant!«

Als Alba auf der Straße war, kam ihr die Mutter mit offenen Armen entgegen. Sie war aus der Kutsche gestiegen, um den Blicken der Diener die Rührung dieses ersten Wiedersehens zu entziehen. Und mit welchen Blicken sah sie wieder in das Antlitz dieses Sorgenkindes, nun sie es noch einmal empfing – heil und gesund, wie aus der Hand Gottes!

»Alba!« Es war ein einziger Schrei, dessen Inbrunst fast etwas Wildes hatte, dem Küsse folgten, wie sie nie die Seele dieses immer beiseite geschobenen Kindes erbeben gemacht ... Tränen, die ein einziger Jubel waren.

»Meine – Alba!«

»O Mama!«

Die zierliche Frau nahm die Hand dieser langen Alba und zog sie förmlich ängstlich mit sich ... »Komm – komm, daß ich dich nicht wieder verliere.«

Hand in Hand wie zwei Schwestern eilten sie zu dem Wagen.

»Da hast du den Zucker für Kastor und Pollux ...«

»Mama! auch daran hast du gedacht.«

»Damit alles so ist, wie es war!« flüsterte Lucrezia. »Aber – du bist schön geworden!« Und zum ersten Male ging auch ein Blick aufleuchtenden Mutterstolzes über Albas Gestalt hin. Ein Blick, so warm und innig, daß es dem jungen Geschöpf schien, als müßten unter seinem Glänze alle Knospen ihrer Seele auf einmal aufbrechen.

»Du bist so gut, Mama ... nach all' dem?«

»Schweig' davon!« wehrte Lucrezia fast ängstlich ab. Sie stieg in den Wagen und zog Alba nach.

» Via appia antica!« rief sie dem Kutscher zu. Die Pferde zogen an und Alba schien es, als flöge der ganze Frühling vor ihnen her, Blumen und Rosen streuend wie die leuchtende Eos auf dem Meisterbilde Guidos.

Aber ihr Ziel?!

»Warum fahren wir nicht heim, Mama?« Lucrezia errötete und Alba hatte die Empfindung, daß es ihr unsäglich schwer ankäme, die Worte, die jetzt auf ihre Lippen traten, auch auszusprechen. Aber – sie sprach sie aus.

»Weil ich das, was ich dir heute zu sagen habe, mein Kind, dir überall sagen kann, nur nicht – im Hause der Chietti!«

Über Albas Herz ging es wie eine warme Flutwelle. Heute – heute würde sie hören, wer ihr Vater war! An demselben Tage, da sie ihn im Traum zum ersten Male gesehen! Den Mann, den ihre Mutter so unsäglich geliebt, daß sie um seinetwillen alles vergessen.

Alles –?

Wie wenig, da es die Natur mit einem neuen Leben zurückgekauft!

Immer rascher fuhr der Wagen dahin und ihm zur Seite wechselten rechts und links die leuchtenden Bilder Roms. Hier blieb der Palatin zurück, dort versank der Aventin ... und da zog sie in die Campagna hinein – die älteste stolzeste Straße Roms, die » Regina viarum«.

Von einem Himmel herableuchtend, dessen Veilchenbläue auch nicht ein Wölkchen trübte, holte die Sonne selbst aus den Ruinen alle Farben hervor und den letzten Glanz, der ihnen noch eigen war. Die gigantischen Massen der Caracalla-Thermen warfen violette Riesenschatten über den Weg, während von ihren Höhen weißblühende Ranken ins Licht flatterten und da und dort, wo ein Bogen sich öffnete, eine Nische sich auftat, das bunte Geleucht der herrlichen Mosaikreste hervorbrach. Der Bogen des Drusus flog vorüber, die Gräber der Scipionen und der Bogen des Trajan. Nun ging es zur »Porta San Sebastiano« hinaus. Immer freier wuchs dem Blick die Campagna entgegen – immer weiter. Die Lavablöcke, über die der Wagen jetzt dahinfuhr, hatte noch die Hand der Römer gelegt.

Vor dem Kirchlein » Domine, quo vadis« schlug Lucrezia ein Kreuz. Darauf lehnte sie sich wieder stumm in den Wagen zurück, schien nichts zu sehen, nichts zu hören, als die geheimnisvollen Gesichte der Vergangenheit und jene Stimme, die aus dem Grabe zu ihr sprach: »Sag' es meinem Kinde!«

Und Alba, die alles ahnte, schwieg erschüttert wie sie.

Schon tauchten rechts und links vom Wege die Ruinen der antiken Grabmäler auf und warfen ihre Schatten über die Straße, auf der das neue Leben dahinzog; hauchten Grabeskühle und Grabesruhe in die erhabene Ode, die der Frühling ganz schüchtern und leise mit seinen ersten Blumen zu schmücken begann, als fürchte er den eisigen Hauch des Schweigens, das da irgendwo unter den Ruinen saß und nur vom Tode zu träumen schien, von dem letzten Triumphator, der über diese Straße nach Rom gezogen war.

Vor dem Grabmale der Cäcilia Metella ließ Lucrezia halten. Sie stieg aus, um mit Alba eine Strecke weiter zu gehn, während die Pferde im Schatten der mächtigen Ruine aufschnaubend rasteten.

Auch jetzt blieb Lucrezia stumm und Alba fühlte instinktiv, daß sie wieder aus dem Sehbereiche der Diener strebte. Doch aber fiel ihr dieses Schweigen immer lastender aufs Herz und wenn sie auch tat, als ob sie im Augenblicke nur die Primeln beschäftigten, die sie rechts und links vom Wege pflückte, und die wechselnden Bilder, die den Blick in die Ferne zogen – ihr Herz war jetzt doch ganz bei der Mutter, die immer wieder einen Schritt zurückblieb, wie zögernd und im letzten, schwersten Kampf mit sich selbst.

Langsam weiter schreitend, kamen sie endlich zu einem Hügel, unter dem ein Bächlein dahinfloß, während zwei umgestürzte Marmorblöcke zu flüchtiger Ruhe luden. Als sie die Anhöhe erstiegen, fuhr ihnen ein weißer Spitzhund kläffend entgegen und ein junger Hirt, der im Schatten einer Pinie gelegen, erhob sich, um langsam seiner Herde nachzuschreiten. Er hatte sich aus den Binsen, die längst des Baches wuchsen, eine Rohrpfeife geschnitzt, und prüfte nun im Weiterschreiten Ton und Stärke, während er den langen Stab lässig hinter sich herzog ... Mutter und Tochter waren wieder allein.

»Wollen wir uns ein wenig setzen?« begann Lucrezia leise.

»Wie du willst, Mama!«

Aber plötzlich sprang sie wieder auf. Sie hatte im Weidendickicht des Baches einige dunkelblaue hochschäftige Blüten entdeckt und eilte mit ein paar Sprüngen hinab, sie der Mutter zu holen. »Schau, Mama – blaue Iris!« Noch atemlos vom raschen Lauf, legte sie die Blumen in den Schoß der Mutter.

»Iris?« Wie erstarrend sah Lucrezia auf die scheu emporduftenden Blüten nieder. »Iris!« hauchte sie noch einmal und sie erblich und barg das Haupt in den Händen.

War es nur ein Zufall, daß ihr Kind diese Blume ihr gerade heute in den Schoß legte oder hatte der Tote ihr diesen Gruß aus der Erde geschickt? Er, der ihr dieselben Blumen an demselben Tage gesandt, da seine Liebe als lebendiger Atem in ihren Schoß übergegangen war?

Ein Schauer ging an ihr nieder.

Warum konnte sie noch immer nicht sprechen? Da er es so laut, so augenscheinlich, so heftig von ihr begehrte? Durch Träume und Taten und Zeichen?

Wie quälend das war ...

In diesem Augenblick sank Albas Hand leis auf ihre Schulter.

»Mama?!«

»Ja – mein Kind?«

»Ich hab' heute Nacht von meinem Vater geträumt!«

»Von –?« Lucrezia wußte nicht ob sie recht gehört und – konnte Alba nicht jenen meinen, den sie bis heute als ihren Vater angesehen? Und müde lächelte sie:

»Ist dir denn dieser Traum gar so merkwürdig erschienen?«

Alba schwieg eine Weile. Leise, leise ließ sie sich an der Seite der Mutter nieder, so leise und lautlos fast, wie es der Tote in ihrem Traum getan. Und während sie die eine Hand um den Leib der Mutter legte und mit der anderen ihre schlaff herabhängende Rechte faßte, sprach sie langsam: »O doch, Mama! Denn der, der mir im Traum erschienen, hat so ganz, ganz anders ausgesehen!«

Mit einem Schrei fuhr Lucrezia empor, starrte ihr Kind an, wollte etwas sagen und fuhr endlich mit einer Gebärde der Erlösung nach ihrem Herzen. »Alba ... Alba ... so – hast du es – doch – geahnt!«

Langsam, stoßweise wie ihr Geschluchz brachen auch diese Worte von ihren Lippen, erstickten unter Tränen, rangen sich doch wieder hervor – erschütterten ihre Seele und warfen den armen Leib wie in Krämpfen hin und her, daß sie zur Erde gesunken wäre, hätten die Arme ihres Kindes sie nicht so fest und unlösbar umklammert, so fest und unlösbar, wie einst die Arme des Vaters.

»Wie hätt' ich das nicht ahnen sollen, Mama? Da du doch so übermenschlich viel gelitten hast, meinet- und seinetwegen!«

Weich, kosend, unter einem Regen warmer Küsse hauchte sie das in das Ohr der Mutter hinein und die verschmachtende Seele des armen Weibes trank die Worte des Kindes wie einen Frühlingsregen in sich.

»Und du verachtest mich deshalb nicht?«

»Mutter!« schrie Alba auf und schon lag sie zu ihren Füßen. »Ich – dich verachten, die mich in einer Schöpfer-Stunde dem Leben und der Sonne geboren! Ich, dich – in der ich alles umarme, was mir bisher das Leben schön und herrlich gemacht. Ich?!«

»Die – Ehebrecherin!« schluchzte Lucrezia auf.

»Was geht denn mich der Mann an, dessen Ehering du trägst,« schmeichelte Alba zu ihr empor. »Erzähl' mir lieber von dem, der dich glücklich gemacht!« Sie legte ihr Haupt in den Schoß der Mutter und sah zu ihr empor ... mit den märchenseligen Augen ihrer Kindheit.

»Ich habe den Chietti ohne Liebe genommen, nehmen müssen, wie's bei uns eben Brauch ist.«

»Erzählst du mir wieder von dem anderen –?!«

»Damit du es leichter verstehst!«

»Mit dem Blut des Mannes in mir, der mich ins Leben gerufen? O Mama! Wie töricht von uns Menschen, erst immer lange Reden über das zu halten, was die Natur einfach will ... und weil sie es will, auch immer erreicht. Wie kleinlich, mit so viel Reue und Tränen die wenigen Stunden zurückzukaufen, da wir den Mut hatten, wir selbst zu sein!«

»Alba!« warnte Lucrezia mit weit geöffneten Augen; »sprich nicht so, mein Kind, wenn ich nicht glauben soll – daß auch du einmal« –

»Soll ich das Schicksal schon jetzt versuchen,« erwiderte Alba ernst, »indem ich etwas verspreche, was zu halten mir vielleicht gerade deshalb schwerer würde, weil ich es so hochmütig versprochen? Mit Ernst und Ruhe will ich dem Leben entgegengehn, Mama, aber auch in Demut! Und nun« –

»Ja –«

»Ich kenne noch nicht den Namen meines Vaters.«

Langsam neigte Lucrezia das Haupt zu ihrem Kinde herab, ihre Lippen legten sich an Albas Ohr und zwischen zwei seligen Mutterküssen nannte sie den Namen des Mannes, der sie mit diesem Kinde gesegnet.

Er stammte aus keinem der Geschlechter, deren stolze Paläste jetzt auf dem Korso standen. Aber er hatte auch keine Mörder und Wegelagerer, keine Giftmischer und Brudermörder unter seinen Ahnen, wie so manche dieser Geschlechter.

In Albano geboren, war er nichtsdestoweniger ein Römer wie all' diese anderen Großen und wenn das junge Rom die edelsten Männer nannte, die es vom Joche der Priester befreit – nannte es auch den seinen. Nicht auf dem Schlachtfeld hatte er geblutet, wie Elenas Vater, aber im Kampfe der Geister war er in erster Reihe gestanden. Er war ein –

Alba schlug sich ans Herz, als sie den teuren Namen hörte – sie allein ihn hörte. Nicht einmal der Frühlingswind konnte ihn weitertragen, so leise hatte ihn Lucrezia genannt.

»Danke, Mutter, danke,« jubelte Alba. »Dieser Name ist wie ein Schicksal und ich will dieses Schicksal leben; will es gestalten, so wie er selbst es vielleicht gestaltet hätte, wenn ... Dein Gatte hat ihn nie gekannt?«

»Nie gesehen,« atmete Lucrezia auf. »Wir lernten uns im Salon einer Freundin kennen; dann nahm das Verhängnis seinen Lauf.«

»Bereust du es?«

»Seit heute – nicht mehr!« Ihr Antlitz sank an die junge Schulter ihres Kindes – müde, aber mit einem seligen Lächeln. In diesem Augenblicke klang vom Fuß des Hügels der langgezogene Klageton der Hirtenpfeife empor, schlicht, einfach, uralt, derselbe Ton, den auch die Hirten des alten Latium denselben Rohrpfeifen entlockt. Unmittelbar darauf schlug der rauhstimmige Gesang des Campagnuolen an das Ohr der Lauschenden. Ein Lied, das vielleicht auch nur einer dieser Hirten ersonnen, mitten im brütenden Schweigen der bis ans Meer ergossenen, lateinischen Ebene – es in die Ebene hineingesungen, bis da und dort eine andere Stimme es aufnahm und so immer weiter trug, von Geschlecht zu Geschlecht, bis es fast so alt und ehrwürdig war, wie alles ringsum: die Ruinen, die Kirchen, die Meilensteine und Grüfte!

»Blühn am Almo wieder die Primeln, grüß' ich
Albano dich – und dich, fern winkendes Rom;
Und ich frag' mich: soll ich nach Rom ziehn, oder
Nach Albano wieder, wenn's Sonntag wird?

Kirchen haben sie dort in Rom und Heil'ge,
Die Wunder tun und wirken am lichten Tag ...
Doch in Albano wohnt und lacht, die ich liebe
Und mehr Wunder tut, als ein Heil'ger vermag.

›Albano oder Rom?‹ frag' ich immer wieder –
Und das Echo lacht: ›Albano und Rom‹ zurück!
Will ich nicht närrisch werden, was tun? Ich fahre
Sonntag nach – Albano und frag' dort mein – Glück!«

»Albano! hörst du's, Mama?« lächelte die Tochter Lucrezias und während sie die Arme aufs neue um die Mutter schlang, flüsterte sie:

»... Ich fahre
Sonntag nach Albano und frag' – dort mein Glück!«


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