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IV. Casa Chietti.

Der folgende Tag war ein Sonntag und durfte von jenen Zöglingen, deren Eltern in Rom wohnten, im Kreis der Familie verbracht werden. Eine ganze Reihe von Equipagen hielt an solchen Tagen vor der Pforte des Klosters in der Via di San Bonaventura. Schwerfällige Familienkarossen, die noch aus der Zeit stammten, da Rom päpstlich war, und leichte moderne Coupés, die auf lautlosen Rädern heranglitten und lichtgraue Seidenpolsterung hatten und Federn, die sich wie auf Daunen wiegten. Schwarze und weiße und braune und falbe Rosse – immer aber Tiere edelster Zucht holten die jungen Herrinnen heim. Und von den Wappen, die am Schlag prunkten, konnten die vorübergehenden Bürger die Namen der Geschlechter lesen, deren Vergangenheit einen Teil der Geschichte Roms ausmachte. Kutscher und Bediente trugen zuweilen Livreen, die etwas schäbig waren, aber ihre Manieren waren immer tadellos, jede Bewegung auf den Ton eines Hauses gestimmt, in dem es nicht nur Generationen von Herren, sondern auch Generationen von Dienern gab. Manche dieser Kutscher hatten schon die Mütter der jungen Damen aus dem Pensionat geholt, wie heute die Töchter, und sprangen die jungen Geschöpfe zur Pforte heraus, froh einen Tag wieder daheim sein zu können, freute sich der alte Diener mit ihnen. Aber das Aufleuchten seines Blickes änderte deshalb nichts an der ehrerbietigen Art, mit der er den Hut zog und in der Hand behielt, bis seine junge Contessina im Coupé saß.

Meist wurden die Zöglinge von ihren Müttern abgeholt, die mit ihnen zugleich die Messe hörten, die Fra Clemente las. Einige pflegten auch allwöchentlich hier zu beichten und das Abendmahl zu nehmen, wie sie es in ihrer Jugend getan. Es waren dies die sogenannten »Marienkinder« des Klosters. Sie trugen über ihrem Herzen das Zeichen desselben frommen Bundes, in den Mater Renée auch Alba Chietti aufgenommen. Vielen war dieses Zeichen ein wirklicher Schutz durchs Leben geblieben; die Gewohnheit dieses allwöchentlichen Wiederfindens in Gott zur Rettung vor den Versuchungen geworden, mit denen das Leben an sie herantrat. Und wenn sie sich draußen auch noch so mondän gebärdeten, bei Festen und Bällen die Reize ihrer Nacktheit preisgaben oder in einem Flirt den Eid vergaßen, mit dem sie sich dem Gatten angelobt ... das kleine Stückchen Metall, das sich so kühl und blank an diese hochwogenden Brüste legte, hatte schon manche vor dem Fall behütet. Ein Ruck an dem weißen Bändchen konnte da zu einer Erschütterung der innersten Seele werden. Symbolisch zertrat die Unbefleckte immer wieder das aufzischende Haupt der alten Schlange.

Auch Lucrezia Chietti war ein »Marienkind«, der frömmsten eines, wie die Schwestern sagten, denen die demütige Gottseligkeit der großen Dame ein Gegenstand fortwährender Erbauung war. Mater Renée schien ihr besonders zugetan, denn Lucrezia Chietti sprach ein elegantes Französisch und entstammte mütterlicherseits einer Familie, die etwas vom Blut der Bourbonen in sich hatte. Ihr Vater freilich war ein Venezianer ältester Rasse und auch Lucrezias Antlitz wies den heroisch-stolzen Kameenschnitt dieses Adels. Bis auf einen Oberpriester des Jupiter Stator führten die Geschlechtsregister der della Gioja zurück, und so reich auch Prospero Chietti war – der Tag, an dem es ihm gelang, eine della Gioja heimzuführen, war einer der stolzesten seines Lebens gewesen. So hoch wertete selbst der Adel Roms den Stammbaum dieser Familie.

Nie kam Lucrezia Chietti ohne ein Geschenk für das Kloster, ohne einen Blumengruß für seine Hirtin. An den Marientagen wurden die Altäre der Klosterkirche von den Gärtnern der Chiettis geschmückt und das Schönste, was in ihren Warmhäusern blühte, die seltensten und kostbarsten Prunkpflanzen leuchteten und dufteten bei solchen Festen zu Füßen der jungfräulichen Gottesmutter. Lucrezia Chietti aber saß immer in der letzten Bank und schluchzte leise in ihr Taschentuch hinein. Tränen gottseligster Hingebung, wie die Schwestern meinten, denn was konnte sonst das Herz einer Dame bedrängen, die vor der Welt so hoch dastand und vor Gott so rein?

Nach der Kommunion lud Mater Renée die Prinzipessa immer für einen Augenblick ins Sprechzimmer. Niemand wußte, worüber sie so angelegentlich sprachen. Aber Alba erriet schon lange, daß sie und nur sie der Inhalt dieser Gespräche war. Die Augen ihrer Mutter ruhten dann immer doppelt zärtlich auf ihr und mit einer Art Spannung, die auf irgend eine Gelegenheit zu warten schien, um ihr irgend etwas höchst Wichtiges mitzuteilen. »Du mein liebes, süßes, armes Sorgenkind.« Das bekam Alba nach jedem solchen Gespräch zu hören, wenn sie im Wagen saßen, um heimzufahren. Auch warum die Mutter sie zuweilen so heftig an sich riß, um sich im nächsten Augenblick fast ebenso heftig von ihr zu kehren, hätte sie schon lange gerne gewußt. Die Zärtlichkeit, mit der sie der kleinen Anita daheim begegnete, war eine ganz andere. »Bin ich denn wirklich ein Sorgenkind?« dachte Alba und fand es merkwürdig, daß sie gerade der Mutter Sorgen machen sollte, von denen der Vater nichts zu ahnen schien.

Diesen Sonntag aber blieb Lucrezia noch einmal so lange bei Mater Renée drinnen und als sie endlich herauskam, suchte Alba mit einer gewissen Unruhe im Antlitz der Mutter zu lesen. Für sie stand es fest, daß die beiden natürlich nur von dieser unglückseligen Eidechse gesprochen. Mater Ignazia hatte es ja gleich angedroht und so würde der schöne Tag im Elternhaus wahrscheinlich seinen größten Reiz verlieren: den des sonnigen Friedens und der vollsten Sorglosigkeit, die alles daheim noch einmal so schön machte.

Und mit welcher Sehnsucht harrte Alba immer diesem Sonntag entgegen! Wie genoß sie schon tagelang vorher jeden einzelnen seiner kostbaren Augenblicke. Wie reizvoll standen Anfang und Ende dieses Tages immer vor dem nie ganz überwundenen Heimweh ihrer Seele. Von dem Augenblick an, da sie mit ihrer noch heute schönen Mutter in das seidengepolsterte Coupé stieg, das immer so diskret nach dem Parfüm duftete, den die große Welt gerade lancierte, bis zu jenem, der sie nach einer Reihe lachender Stunden für eine Nacht wieder in das Schlafgemach ihrer Kinderjahre zurückführte. In diesen hohen, prunkvoll-vornehmen Raum, in dem Gobelins hingen, deren Ritter und Damen schon Generationen ihres Geschlechtes ins Land der Träume hinüberbegleitet und den sie nie betrat, ohne daß eine Kammerfrau ihr den silbernen Armleuchter vorantrug, in dem nach wie vor Wachskerzen brennen mußten, weil es eben so Brauch war bei den Chiettis. So viel hundert elektrische Flammen auch auf einen einzigen Druck in den Prunksälen des Palazzo Chietti aufsprangen – in seinen Schlafgemächern wurden nur diese schlanken, blassen Wachskerzen gebrannt. Warum – hätte keine Chietti mehr sagen können, aber jede hätte es als einen Mangel an Vornehmheit empfunden, wenn es anders gewesen wäre.

Man ließ sich von der Kammerfrau entkleiden und dann ... ja, dann blieb man allein mit diesen figurenreichen Arazzi des Benozzo Gozzoli und irgend ein schlanker Page des ritterlichen Jagdzuges hielt der Einschlummernden einen bekappten Falken entgegen, der in den Traum hinüberflog, während der Page leise zu nicken und geheimnisvoll zu lächeln begann.

Für all diese lieben Empfindungen würde heute natürlich so wenig Zeit als möglich übrig bleiben. War Mama einmal aufgebracht, konnte sie den ganzen Tag über dasselbe reden und keine Bitte, keine Entschuldigung fand Gehör. Schon oft war es dem jungen Mädchen aufgefallen, um wie viel strenger jede Strafe ausfiel, die ihr zugemessen wurde, und unter heißen Tränen hatte sie sich einmal darüber beklagt. Damals waren auch der Prinzipessa die Augen übergegangen und während sie das Haupt wie hilfesuchend an die Brust ihres Kindes lehnte, sprach sie schluchzend: »Gott weiß, warum ich es muß!«

Seither war Alba doppelt bemüht gewesen, auf alles zu achten, was sie tat. Und nun kam diese unselige Eidechse dazwischen! Natürlich würde auch ihre Mutter alles daransetzen, dieses Geschöpf des Teufels aus dem Paradies ihres Glaubens zu verscheuchen. Von Mama würde es an Papa gelangen. Zum Überfluß war auch Onkel Bartolo geladen. »Das kann ein Diner werden!« dachte die arme Alba.

Wie sollte sie sich verteidigen? Die Nachlässigkeit, mit der Onkel Bartolo solche Bücher herumliegen ließ, gab ihr ja noch kein Recht, sie zu lesen. Wer aber konnte auch ahnen, daß es Menschen gab, die so teuflisch waren, daß sie sich hinsetzten und ein ganzes Buch schrieben, bloß um die Schlange aus dem Paradies zu bringen. Denn das war ja wohl die böse Absicht dabei, wenn Mater Ignazia und die Oberin recht hatten. Und stand das Buch wirklich auf dem Index, hatten sie auch recht!

So wurde die echt kindliche Angst um einen verlorenen Festtag die natürliche Bundesgenossin des alten Glaubens, der ja auch heute noch mehr von der Angst der Menschen lebt, als von der Unwiderleglichkeit seiner Dogmen. Und sie merken es nicht einmal, all diese großen und kleinen Kinder.

»Was wird sie jetzt sagen?« dachte Alba, als ihre Mutter aus dem Sprechzimmer trat. Aber Lucrezia nickte ihr freundlich zu und gab ihr einen Kuß auf die Stirne, ganz wie sonst. Darauf glitt ihre fein gantierte Hand in das schwarzseidene Reticule und holte einige Stückchen Zucker hervor. Der Zucker war für die Pferde bestimmt, die Alba jeden Sonntag abholten, und nur Alba durfte ihnen diesen Zucker geben. Lucrezia aber brachte ihn immer mit und reichte ihn Alba, bevor sie durch die Pforte traten. Das war noch immer so gewesen und nie wär' es dem jungen Mädchen eingefallen, der Mutter besonders dafür zu danken. Heute aber trieb ihr diese bis ins kleinste gehende Berücksichtigung all ihrer Lieblingswünsche die Tränen in die Augen. Eine warme Welle kindlicher Zärtlichkeit überflutete ihr Herz und während sie die Hand der Mutter an die Lippen zog, sprach sie leise: »O Mama ... du vergißt doch auf nichts!«

Da blieb Lucrezia plötzlich stehen – mitten in dem langen, kühlen Klostergang, der von der eigenen Stille förmlich widerzuhallen schien. Ernst sah sie Alba an, nickte ihr flüchtig zu und murmelte leise: »Es wird ja auch einmal die Stunde kommen, da du meiner nicht vergessen wirst!«

»Mama!« rief Alba und warf sich an ihre Brust. Lucrezia aber drängte sie sanft von sich und mit einem Lachen, das etwas gezwungen klang, sprach sie: »Hör' nur, wie Castor und Pollux schon wiehern. Arme Pferdchen, müssen die heute warten auf ihren Zucker!«

Mit einem Sprung stand Alba draußen. Die Gewähr, daß auch dieser Sonntag so schön sein würde wie alle anderen, gab ihr förmlich Flügel und noch nie hatte sie dem alten Diener so vertraulich zugelächelt, noch nie so vergnügt den beiden Rappen ihren Zucker gereicht: »Was – bin ich wieder da?« Die edlen Köpfe der klugen Tiere schienen ihr zuzunicken, was im gerührten Blick des alten Antonio zu lesen war: »Du bist uns aber auch abgegangen!« Mutter und Tochter stiegen ein. O wie herrlich es sich jedesmal anhörte, dieses ruhige, sichere: »Nach Hause!«

Die seidenen Kissen des Wagens dufteten nach »Violette de Parme« wie sonst, und Mama hatte wieder dieses geheimnisvolle Geriesel von Seide und Spitzen um sich. Ach, und einen Hut, der selbst ein Gedicht des Frühlings war.

Wieder schlug es über Albas Herz zusammen, riß sie an Lucrezias Brust – ganz instinktiv, mit dem elementaren Zug eines jungen Tieres, das schon der Geruch der Mutter mit Wohlbehagen erfüllt.

Der Hut glitt von ihren Flechten, das leichte schwarze Krägelchen fiel in die Kissen zurück, mit weitgeöffneten Augen trank sie sich satt an dem Anblick des Wesens, dessen Leib ihre Heimat war, noch eh' sie denken konnte.

Draußen sanken die grünen Hänge des Palatin zurück, glitt das Forum vorüber, das Kapitol und die riesigen Marmortreppen, die zum Standbild Viktor Emanuels emporführen. Geputzte Menschen eilten durch die Straßen, die Verkäufer der Zeitungen schrien sich rot. Schon schlug das Getös des Korsos an die leise klirrenden Wagenfenster – und noch immer lehnte Alba an der Schulter der Mutter, und Lucrezias Linke strich über ihre Scheitel – erst langsam, dann immer rascher, immer zärtlicher. Ihre Augen aber starrten zur Seite: mit einem Ausdruck solcher Qual und innerster Gehetztheit, daß Albas Glückgefühl in den letzten Winkel ihrer Seele zurückgekrochen wäre, hätte sie nur einen dieser Blicke bemerkt.

Das Haus der Chietti stand in jener Reihe stolzer Paläste, die von der Piazza Venezia angefangen rechts und links den Korso begleiten und durch den Adel ihrer Formen, die Namen ihrer Besitzer, den Ruhm ihrer Erbauer, diese Straße zu einer Sehenswürdigkeit der Erde machen. Die Hände Rossis, Bramantes, Raffaels haben diese Pläne gezeichnet. Ihre erlauchten Geister in der Schönheit dieser Linien und Verhältnisse geschwelgt, eh' Stift und Zirkel sie festhielten. Die Träume göttlicher Menschen sind hier zu Taten geworden, von deren Ruhm ganze Geschlechter leben, bloß weil es ihnen vergönnt ist, in diesen Räumen zu wohnen. Manche freilich haben den stolzen Bauten nur mehr ihren Namen hinterlassen. Von der Not vertrieben oder von dem unbarmherzigen Schnitter hinweggemäht, dem es gleich ist, welche Saat er austilgt. Aber die Wappen prunken noch an Mauern und Toren, die Steine reden von Tagen, die auch heute nichts gemein haben wollen mit der bürgerlichen Geschwätzigkeit da unten. Schlendert man an einem solchen Palast vorüber, spät nachts, wenn auch die Lichter des Café Aragno längst erloschen sind und nur der Vollmond seine gespenstische Schau hält – dann ist es zuweilen, als nicke ein fahles Antlitz hinter diesen Scheiben hervor, als schneide sich der Strahl des Mondes mit dem jäh aufblitzenden Stahl einer Klinge ... als wäre der bleiche Schein dort die rieselnde Schleppe einer Schönen, deren Geschmeide bläuliche Funken in die Nacht stäubt. Aus den grauen Arkaden des Hofes aber steigt der verbuhlte Klang einer Mandoline empor und längst verstummte Lippen fingen wieder ein Lied, das so alt ist wie der Tod und so jung wie das Leben.

Möglich, daß unter Tags hier grauköpfige Beamte sitzen und hustend und brummend lange Ziffernreihen addieren, möglich, daß in diesem Palast jetzt Politik gemacht wird und in jenem Geld. Senkt sich aber die Nacht über diese Straßen und die Einsamkeit über die Seele der Menschen, die sie durchwandeln, gehören diese Paläste wieder den Toten, den Toten und den Schatten, die nirgends mächtiger sind als in Rom.

So oft der Wagen durch den Torbogen ihres väterlichen Palastes rollte, horchte Alba auf. Das seltsame Echo, das unter den Hufen der Pferde hervorkam, sich dröhnend an die mächtige Wölbung warf, und von den Arkaden des stillen Hofes wie ein verlorener Ton aus weiten, weiten Fernen zurückirrte – weckte immer einen merkwürdigen Schauer in ihrer Seele. »Das haben alle Chietti gehört,« dachte sie, »genau so wie ich es höre, schon vor vierhundert Jahren haben sie das so gehört.«

Was dieser oder jener Chietti getan und geleistet, hielt die vergilbte Familienchronik fest. Da und dort ein stolzes Blatt der Geschichte, aber ihre Freude und ihr Schmerz – ihr Lachen und ihr Weinen waren mit ihnen hinabgestiegen und die Gedanken, die sie über diese Treppe hinauf» und hinuntergetragen, die Stimmen, die das Echo dieser Korridore geweckt – blieben verhallt und vergessen. Wie wenig sagten selbst ihre Bilder! So haben soundso viele ausgeschaut, die einmal gelebt haben und denselben Namen getragen; einmal ... Wie ein ungeheures Bahrtuch legte sich dieses Wort über die Menschen und die Jahrhunderte.

Aber da schlief irgendwo ein Ton, den alle Chietti gehört hatten; schlich ein Echo von den Arkaden über die Treppen, das alle begleitet hatte. Was sie dabei gefühlt, wußte Alba nicht, aber daß jeder wenigstens einmal darauf geachtet, war gewiß und wer weiß, ob nicht mancher dabei genau dasselbe gedacht, wie Alba: »O Vaterhaus!«

Im Hof plätscherte eine Fontäne, die erst Albas Vater angelegt. Aber die Arkaden, die sich in zwei Reihen über die schlanken toskanischen Säulen aufbauten, waren ein Werk Bramantes, und die goldgetönten Marmormedaillons zwischen den Archivolten erzählten noch heute von der klassischen Anmut seiner Zeit. In dem Lächeln, mit dem diese schönen Antlitze auf die Enkel herabsahen, schien noch eine gespenstische Erinnerung an die prunkenden Feste der Väter zu leben. Auf diesen Lippen das vergessene Zauberwort der Tage zu schlummern, die nur dem Leben gehört und seinem Rausch. Am Fuße der feierlichen Marmortreppe aber stand eine wertvolle Antike: »Der gefesselte Barbar« und starrte mit traurigem Trotz den Geschlechtern nach, die ihr Glück an ihm vorübertrugen – seit Jahrhunderten, bis auf den heutigen Tag ... Wer konnte sagen, ob in den Legionen, die ihn und sein Volk niedergeworfen, nicht auch ein Ahnherr der Chietti gestanden? Hier in diesem Rom, wo alles eine einzige Familie war und eine einzige Erinnerung: die Menschen, die Götter und die Bilder! Zwei Bewohnerinnen des Palazzo Chietti ließen es sich nicht nehmen, Alba schon immer auf der Treppe zu begrüßen: ihre Amme und das jüngste Töchterchen des Hauses, die kleine schwarze Anita. Ganz in Weiß gekleidet, stürmte ihr das Schwesterchen immer mit einem Freudenschrei entgegen, hielt ihr erst die Wangen, dann die jeweilige Lieblingspuppe zum Kuß hin. Alsbald begann sie zu plaudern, und bis Alba die Tür ihres Zimmers erreicht hatte, wußte sie meist schon alles, was während dieser langen, langen acht Tage vorgefallen war. Die »Nona« hatte ihren letzten Zahn verloren und mußte nun wie ein »Bambino« gefüttert werden. Ob Alba nicht meine, daß es da gleich am besten wäre, für die arme Nona eine Amme zu nehmen? Bruder Flavio habe geschrieben; na, nichts Besonderes. Dafür hätte die böse Büffelkuh auf Dem Landgut bei Monfelice gleich zwei Kälbchen auf einmal bekommen. Ob Alba glaube, daß die Büffelkälbchen auch gleich so schwarz seien? Der Verwalter in Racconigi müsse davongejagt werden, habe der Babbo gesagt, denn er sei ein Schurke, und dabei habe der Babbo im Ärger die Zigarre mit dem brennenden Ende in den Mund genommen. Armer Babbo! Carlotta aber – Anitas Lieblingspuppe – habe einen Katarrh gehabt und Bonbons essen müssen ...

»So viele, daß Anita sich daran den Magen verdorben hat,« lachte die Amme dazwischen.

Und während Mutter und Kinder und Dienerin unter solch lustigem Gezwitscher durch die hallenden Korridore schritten, sahn ihnen rechts und links die stummen Bilder der Ahnen nach, deren Kinderlachen auch einmal das Echo dieser Wände geweckt, während zu den offenen Fenstern die Sonne Roms hereingrüßte.

Anita zählte noch keine fünf Jahre, erwies sich aber schon jetzt als echte Chietti und wenn sie so an den schweigenden Bildern vorüberflatterte, schien sie von jedem einen Zug mit sich zu nehmen. Hier die energischen Brauen, die über der Stirne fast zusammenstießen, da die scharf gebogene Nase, dort das dunkle, üppige Kraushaar, die vollen Lippen und den eigenwilligen Zug um den Mund. Der runde Kopf saß schon jetzt auf dem festen Nacken der rassereinen Römerin. Die schwarzen Augen schwammen in einem Weiß, das einen bläulichen Ton hatte und die mattgetönte Korallenschnur um den runden Hals ließ den Bernsteinton ihrer Haut noch kräftiger hervortreten.

Mit Alba aber hatte sie nicht einen gemeinsamen Zug und Albas Amme, für die es feststand, daß ihr Pflegling das schönste Kind gewesen, das die Sonne je gesehen, pflegte diese vollkommene Unähnlichkeit der beiden Schwestern immer mit einer Art Genugtuung zu betonen. Anita verstand noch nicht, was ihr damit abgesprochen wurde, Alba kümmerte sich nicht darum. Die Prinzipessa aber seufzte leise auf, was die Amme für ihr Teil auch nicht befremdlich fand, denn eine häßliche Tochter ist immer eine Sorge. Nun ... einstweilen war sie ja noch ein Kind!

So wie Alba zu Hause war, mußte sie ein Bad nehmen und wurden ihr die weißen Festkleider zurechtgelegt. »Das gibt einmal eine schöne Braut!« hatte die Amme bei einer solchen Sonntagstoilette gesagt, war jedoch von der zufällig anwesenden Prinzipessa sofort zurechtgewiesen worden und zwar mit Worten, die ihr noch heute allerlei zu denken gaben. »Niemand kann wissen, wozu Gott ihn bestimmt hat!« Santissima Madonna! Was sollte denn aus einer Chietti werden, die so schön und reich und anmutig war?

Wenn Alba ihr sonntägiges Bad nahm, pflegte die Amme sie zu bedienen, und die naive Freude an der Schönheit, die auch über die Seele des ärmsten Italieners einen festlichen Glanz breitet, ließ ihr diese Stunde immer besonders weihevoll erscheinen. Sie selbst löste die »Nuphar-Tabletten« für das Badezimmer auf, parfümierte die stärkende Essenz, mit der ihr Liebling nach dem Bade eingerieben wurde, sorgte, daß die weichsten Pätschelchen vor der Wanne standen und auf dem Toilettetisch immer ein Strauß blühender Blumen. Hatte die Zofe die Schildpattkämme auch noch so blank geputzt – Erminia fand immer wieder etwas daran auszustellen. Und wenn sie, die Wäsche über den Arm, hinter ihrem Liebling in das Badezimmer trat, pflegte sie den Schlüssel jedesmal mit einem zufriedenen Knurrton umzudrehen. »So, nun bin ich wieder allein mit meinem Liebling, wie damals, als er noch meine Piccinina war!« Sie sagte es nicht; hätte es nie gewagt, dieses heimlichste Entzücken ihrer Seele in Worte zu kleiden. Aber ihr ganzes Antlitz leuchtete davon und was sie während der Woche Frohes erlebt oder Böses erfahren, breitete ihre gutmütige Schwatzhaftigkeit in dieser Stunde vor der jungen Herrin aus.

Dabei genoß sie aber mit mütterlichem Auge jeden knospenden Reiz des jungen Körpers und war nicht übel geneigt, all diese Schönheit auch als einen Teil des eigenen Verdienstes anzusprechen. »Unsere Prinzipessa ist jetzt schon eine ganze Donna«, Pflegte sie »denen in der Gesindestube« zu erzählen. War die Schönheit ihres Lieblings auch hier genügend gewürdigt worden, sprach sie stets mit demselben Ruck des Hauptes: »Sie hat meine Milch getrunken!« Und niemand wagte ihrer Deutung dieser Tatsache zu widersprechen. Man wußte auch wohl, warum.

Hatte Erminia einmal auf irgend jemand einen Haß geworfen, gab es kein Auskommen mehr. Das hatte Anitas Amme gleich in den ersten Monaten ihrer friedlichen Tätigkeit zu fühlen bekommen und weil die temperamentvolle Volskerin auch kein Blatt vor den Mund nahm, behielt Erminia zuletzt doppelt recht. Zuerst erkrankte Anita, dann die Amme. Erminia aber stellte sich mit eingestemmten Armen vor die kleine Wiege, und nach einem geringschätzigen Blick auf den grüngelben Säugling meinte sie triumphierend: »Hab' ich's nicht immer gesagt? Die Kreatur hat den bösen Blick. Davon ist ihr die eigene Milch sauer geworden!« Von dem Streit in der Gesindestube aber schwieg sie und der Haß gegen die Nebenbuhlerin in der Gunst des Hauses verwandelte sich zuletzt in eine heimliche Abneigung gegen Anita, der sie es nie verzieh, daß mit ihr die Volskerin ins Haus gekommen war und zugleich eine kleine Nebenbuhlerin ihrer vergötterten Alba.

Schon bei der Anschaffung der Kinderwäsche stutzte sie. »Das hat meine Alba nicht so schön gehabt!« meinte sie mit einem zornigen Stirnrunzeln. Seither war kein Tag vergangen, ohne daß sie ihren Liebling auf irgend eine Weise gekränkt oder zurückgesetzt glaubte. Anfangs lachten sie die übrigen aus, als sie aber näher zusahen, mußten sie ihr recht geben. Anita bekam alles noch einmal so schön und so teuer. Und – Anita sollte auch zu Hause erzogen werden ... »Immer Anita, Anita, Anita!« Pflegte Erminia vor sich hinzubrummen, so oft sie allein war. »Und wenn sie dich in Weihwasser baden – eine Mohrin bleibst du doch!«

Auch heute war Erminia durchaus nicht guter Laune, blieb jedoch still, bis Alba sich entkleidet und die Benzoe-Tinktur das Wasser so weich und milchig gemacht hatte, daß sie ihren Liebling sorglos hineinsteigen lassen konnte. So wie sie aber Seife und Schwamm zur Hand nahm, öffneten sich auch die Schleusen ihrer Beredsamkeit und Alba, die von der eigenen Angelegenheit noch immer ganz benommen war, mußte sich Gewalt antun, um ihr auch nur einige Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Aber plötzlich horchte sie auf: »Was sagst du? Mama will mich ausquartieren?«

Die Amme wurde ordentlich rot vor Eifer. »Was denn? Und wer soll unser Zimmerchen bekommen? Anita natürlich!«

»Unser Zimmerchen« war ein Gemach, das vier Fenster hatte, die sich nach dem Garten des Palazzo öffneten und im Sommer Kühle und Luft, im Winter aber eine Flut von Licht hereinließen. Der Arzt hatte dieses Gemach einmal für den gesündesten Raum des Hauses erklärt. Auf seine Anordnung hin war die kleine Alba während einer schweren Erkrankung dort untergebracht worden und in den Tagen der Genesung fand sie ein solches Wohlgefallen an den bunten Gestalten der gewebten Tapeten, den grinsenden Faunmasken des Marmorkamins, dem Licht- und Schattenspiel der von draußen hereinnickenden Wipfel und Zweige, daß sie mit zitternder Stimme bat, sie doch immer in diesem »Zimmerchen« schlafen zu lassen. Wer hätte damals den Mut gehabt, ihr etwas abzuschlagen? Und da Erminia während jener bösen Wochen Tag und Nacht an dem kleinen Bett geweilt, war aus dem Zimmer Albas »unser Zimmerchen« geworden; geworden und geblieben, bis Alba zu den Salesianerinnen kam.

Da war kein Winkel, den sie nicht liebte, keine Gestalt der kostbaren »Arazzi«, die sie nicht einmal in einen Traum mit hinübergenommen, ganze Märchen hatte sie sich hier ausgesonnen. Und o der herrlichen Lust, die hereinschlug, wenn die Amme morgens das Fenster öffnete; der tiefen, dämmerigen Stille, die Nerven und Sinne wie ein laues Bad umhüllte, wenn man nach der Spazierfahrt über den Korso hier eintrat! Die ganze Woche über freute sich Alba auf das selige Aufatmen in »unserem Zimmerchen«. Und nun! Mama hatte ihr noch kein Wort davon gesagt!

Doch war Alba zu wohlerzogen, um irgend einen Unmut laut werden zu lassen. Aber ihre jungen Brüste stiegen plötzlich wie zwei Rosenknösplein aus der milchweißen Flut des Wassers – so rasch ging ihr Atem. »Unser Zimmerchen!« sprach sie leise vor sich hin, und plötzlich kam eine ihr selbst unerklärliche Angst über sie, als hätte der ganze, weite Palazzo Chietti nun überhaupt kein »Zimmerchen« mehr für sie.

»Und warum?« fragte sie nach einer Weile.

»Weil die Anita im Frühjahr das Fieber gehabt hat und es jetzt wieder Frühling wird. Madonna, der ihr Fieber kommt doch immer vom Magen her!«

»O, wenn es deshalb ist!« sprach Alba. Es kam ihr nicht leicht an, dieses freiwillige Verzichten, aber sie liebte das Schwesterchen und ... war nicht auch sie einmal da hinübergekommen, weil sie krank war? Nur eines wollte sie sich für ihr neues Gemach ausbitten: die Arazzi mit dem Jagdzug! Mochte dann Anita alles übrige haben, wenn nur die Gefährten ihrer kindlichen Träume um sie blieben!

Erminia war etwas enttäuscht. Sie hatte auf einen größeren Widerstand gehofft. Ganz im stillen aber bewunderte sie aufs neue das »gute Herzchen« ihres Lieblings und fragte sich zum hundertstenmal, wie es denn möglich sei, eine Anita zu bevorzugen, wenn man eine Alba besaß?

Da der junge Prinzipe bei den Jesuiten in Neapel studirte und Anita noch mit ihrer Bonne speiste, war die Runde, die sich um die Familientafel versammelte, nur eine kleine. Prospero Chietti, Lucrezia, Alba und die Gesellschafterin ihrer Mutter. Beim schwarzen Kaffee erschien in der Regel auch Onkel Bartolo und brachte die neuesten Neuigkeiten mit. Kleine Skandälchen aus geistlichen Kreisen, für die sich der gereizte Prospers durch Erzählung einer schmutzigen »Bestechungsaffaire« rächte, die »irgendwo um den Monte Cittorio herum« spielte. Natürlich zogen sich die beiden Brüder mit diesen Histörchen ins Rauchzimmer zurück. Aber Prosperos gereiztes Lachen, das mehr einem Krähen glich, und Bartolos nervöses Gekicher hielten die Prinzipessa und ihre Gesellschafterin immer auf dem Laufenden.

»Wie sie sich wieder ärgern!« seufzte Lucrezia mit einem resignierten Kopfschütteln, und die bigotte Französin, die gewöhnlich an einem geistlichen Gewand herumstickte, meinte seufzend: »Und gerade am Sonntag!«

Bei der letzten Zigarre aber machten die seltsamen Brüder ebenso regelmäßig ihren Frieden, und wenn Prospero den beweglichen Bartolo in den Vorsaal hinausbegleitete, sprach er immer ganz gerührt: »Lass' dir's gut gehn, Kleiner, und zeig dich bald wieder!« Worauf Bartolo, den Finger an die Nase legend, noch eine Weile stehn blieb, bis ihm endlich einfiel, was er noch jeden Sonntag an derselben Stelle gesagt hatte: »Ja, und daß ich nicht vergesse ... mach' doch etwas Bewegung, deiner Hämorrhoiden halber!« Dann nahm er den Hut aus der Hand des Dieners, der mit der feierlichsten Miene dastand, und ging. Wohin? Ja, wenn man das jemals erfahren hätte! Onkel Bartolo war Junggeselle.

Für heute aber war Onkel Bartolo zum Diner geladen, und Alba, der das Schweigen ihrer Mutter auffiel, nahm an, daß ihre unselige Eidechse wahrscheinlich den Anlaß eines neuen Streites zwischen den beiden Brüdern geben werde. Eine Angelegenheit, die Mama mit ihr nicht besprach, kam zuletzt immer vor Papa. Nun, sie hatte ja ihr Teil verdient. Aber Onkel Bartolo würde die Sache nicht so ruhig hinnehmen. Wenn der sich einmal in etwas verbiß! Und die Bücher, die »auf dem Index« standen, waren sein Lieblingsthema. Ob sie wohl auch etwas davon zu hören bekommen würde? Aber war dieser Wunsch nicht wieder eine Sünde? Es schien, als sollte sie nicht mehr zur Ruhe kommen.

War Onkel Bartolo geladen, gab es immer eine » Potage à la reine«, denn Onkel Bartolo liebte alles Französische, von den Enzyklopädisten angefangen bis zur Küche des aufgeklärten Landes. Und wollte er Prospero besonders ärgern, stimmte er die ersten Takte der »Marseillaise« an. In seinem Inneren verachtete er zwar nichts so sehr als »die systematische Pöbelwirtschaft«, wofür ihm mehr oder weniger jede Republik galt. Hier war auch die einzige Klippe für seine Begeisterung. Dachte er an die französische Revolution, murmelte er immer ein angewidertes »Brutto! Brutto!« vor sich hin. Aber in der Sorge, deshalb für weniger aufgeklärt zu gelten, ließ er diese Meinung nie vor anderen laut werden. Dies war die einzige Heuchelei, deren er sich schuldig machte. Und wie tapfer hatte er gekämpft, diese »Belleität« los zu werden, mit welcher Geduld Carlyle und Lamartine und Taine gelesen. Umsonst. Es stak wohl in der Rasse, und sagte er sich, daß einmal die Zeit kommen könne, in der seinen »Contadini« in Toskana und Sizilien oder den Büffeltreibern seiner Campagnagüter Ähnliches einfiele – lobte er sich das »Bagno«. Kamen aber die Wahlen – ja, dann ging Bartolo hin und gab einem – Sozialisten seine Stimme. »Der Mensch ist ein Chaos!« murmelte er vor sich hin und spuckte mit Nachdruck aus. Wenn er aber in sein Bett kroch, dachte er nur mehr eines: »Wird Prospero sich ärgern!« Und dieser Gedanke richtete ihn wieder auf.

Heute gab's also wieder einmal » Potage à la reine«, Prospero hätte zwar die nationale »Minestra« lieber gesehn. Da diese Suppe aber sowohl von den »Päpstlichen« als von den »Königlichen« ohne Vorbehalt verzehrt wurde, gab er gerade kein Prinzip auf, wenn er sich auch einmal die » Potage à la reine« schmecken ließ. Die »Carciofi«, die darauf folgten, waren ja gut römisch, ganz » alla giudia« zubereitet. In der Trattoria des »Padre Abraham« bekam man sie auch nicht besser.

Das Gemach, in dem die Chiettis für gewöhnlich ihre Mahlzeiten einnahmen, lag unmittelbar neben dem hallenden Marmorsaal, dessen lange Tafel nur zu besonderen Festlichkeiten gedeckt, dessen weite Flügeltür aber mit Beginn der warmen Zeit immer offen gelassen wurde, um dem Speisezimmer der Familie die nötige Kühle zuzuführen. Aus der Dämmerung des fürstlichen Raumes irrte ein diskreter Widerschein großherrlichen Prunkes in das gemütliche Familienzimmer: der Alabasterglanz der weißen Marmorsäulen, das Geleucht der vergoldeten Fruchtgewinde, die sich längs der Wände hinzogen, der rosige Schimmer eines, in die Lünetten gemalten, nackten Frauenleibes, alles ward rechts und links aus venezianischen Riesenspiegeln zurückgeworfen, über deren kristallene Flächen ganze Blumenfluten niederrieselten, von Künstlerhand dem spröden Glas so leicht und täuschend aufgesetzt, als wären all diese Rosen und Veilchen und Tulpen nur zum Wegpflücken da. Und wie hell warfen die rosigen Marmorwände jedes Lachen zurück, das hineinfand, die geschliffenen Muranogläser der Luster jeden Lichtstrahl, der zwischen den geschlossenen Läden durchschlüpfte! Ganze Generationen hatten hier gelacht und getollt und geliebt und gescherzt, und etwas von ihrem Jubel war drinnen zurückgeblieben: im Geleucht der Farben, im Lächeln der nackten Göttinnen, selbst im Ton dieses Echos, das wie aus kristallenen Tiefen zurücksprang.

Die Suppe wurde in Frieden genossen und von den »Carciofi« glaubte Alba nichts fürchten zu müssen. Sie waren so ziemlich das einzige, worüber die beiden Brüder noch nicht gestritten hatten. Bartolo leistete sogar Erstaunliches in der Hingabe an dieses Gericht, weshalb Lucrezia immer dafür sorgte, daß noch eine zweite Platte bereit stand und der servierende Diener so oft als möglich an ihrem Schwager vorüberkam.

Auch heute schienen die Artischocken den streitbaren Fortschrittsmann in beste Laune zu versetzen. »Gut – sehr gut!« murmelte er mit der gnädigen Miene des Kenners. Aber plötzlich begann er zu husten, und mit dem Husten mußte ihm etwas anderes in die Quere gekommen sein. Irgend ein Einfall ... genug! Der Husten ging in ein wohlgefälliges Gekicher über, und das Gekicher spielte wieder jene, ach! nur allzubekannten Worte an die Oberfläche: »Eh, eh ... da hab' ich dir ein Buch entdeckt, Prospero!«

Wenn Prospero Artischocken aß, war er halb bewußtlos. Sonst hätte er heute – hätte er nach allem, was ihm Lucrezia mitgeteilt, nun und nimmer nach jenem Buche gefragt; zuletzt in Albas Gegenwart. Aber, wie gesagt – er wußte in diesem Augenblick wirklich nicht, was er tat. Und so trat er in des Teufels Schlinge.

»Wie heißt es?«

»Prospero!« rief Lucrezia über den Tisch hinüber, diskret, aber doch mit leisem Vorwurf. Worauf Prospero nun seinerseits zu husten anfing, um die Sache zu verreden. Aber es war zu spät.

»Wie es heißt? O! Der Titel allein ist ein Kunstwerk, eine – eine Offenbarung, wenn du willst: ›Jehovas gesammelte Werke‹ heißt es!«

»So, so!« murmelte Prospero einigermaßen verlegen.

So groß auch seine Entrüstung über die Lektüre eines Buches war, dessen Titel schon nach einer einzigen Blasphemie schmeckte – das Versprechen, das er Lucrezia gegeben, hielt ihn einstweilen im Zaum. »Lass' uns nur erst im Rauchzimmer sein,« dachte er, dann werd' ich dir schon das Nötige sagen, » caro mio!« Einstweilen aber duckte er sich.

Möglich, daß Bartolo das geflissentliche Ausweichen des Bruders unter anderen Umständen begriffen und respektiert hätte, für den Augenblick aber besaß es etwas unsäglich Aufreizendes für ihn. Er glaubte mit Recht vermuten zu dürfen, daß »dieser Ignorant Prospero« gar keine Ahnung von dem eigentlichen Inhalt des Buches habe, durch den Namen »Jehova« darüber vielleicht sogar beruhigt sein könne, und wer bürgte ihm dafür, daß er bei seinem nächsten Besuch im Klub nicht mit fetter Zufriedenheit sagte: »Da habt ihr den guten Bartolo. War so lang ein Freigeist, und wißt ihr, wo er jetzt hält? Beim alten Testament!« Schon der bloße Gedanke dieser Möglichkeit ließ Bartolo alle Rücksicht vergessen.

»Eh, eh!« lachte er, mit der Serviette rascher als gewöhnlich über seinen wohlgepflegten Bart fahrend, dessen stumpfe Schwärze allwöchentlich aufgefrischt wurde. »Du hältst es am Ende gar für ein Gebetbuch, was?«

»Geben Sie noch einmal die Artischocken herum, Nino!« befahl Lucrezia mit lauter Stimme. Nino stand zwar schon eine Weile hinter Bartolos Stuhl. Aber – sie sah es kommen: diesmal versagten auch die »Carciofi«.

»Was habt ihr denn diese Woche Neues gelernt?« fragte die geängstigte Lucrezia, um für den Augenblick wenigstens Albas Aufmerksamkeit auszuschalten. Und Alba, die froh war, daß sich der Zank noch immer nicht auf ihre Eidechse warf, gab mit heller Stimme einen Bericht: sprach von der Geschichte, der Religion, der Physik und Chemie, sprach immer rascher, immer lauter, in der guten Absicht, auch auf ihre Weise etwas für den lieben Frieden zu tun.

Aber schon wurde das Zorngekrähe Prosperos hörbar, daß Bartolo ihn für so dumm hielt, es ihm ins Gesicht sagte, vor Frau und Kind und Dienern ... Wenn er just auch kein Freund des Lesens war, so viel sagte ihm, gottlob, sein gesunder Verstand und seine christliche Empfindung, aus welchem Pfuhl der Verderbnis ein Buch stammen mußte, dessen Titel schon ein Pasquill der Genesis war.

»Was du mir nicht alles zutraust!« lachte er geärgert, »bloß weil ich diesen Mist so von mir werfe! Bevor ich mir von einem Affen etwas vorgaukeln lasse, besinn' ich mich doch erst auf das, was ich selbst weiß, was die Märtyrer mit ihrem Blut, die großen Kirchenlehrer mit ihrem Genie bestätigt haben. Laß du mich aus mit deinen Giftmischern und Volksverführern. Aber freilich, wenn du die Hölle durchaus so billig kaufen willst – mir kann es recht sein.«

»Natürlich,« lachte Bartolo: »Dann sähest du eines Tages auf mich herab, aus einem Himmel voll Pfaffen, der brave Prospero auf diesen unseligen Bartolo! Laß dich auslachen mit deinen Ammenmärchen!« Und um ihn recht intim zu ärgern, besann sich Bartolo plötzlich, daß Nino noch immer mit der Platte seines Lieblingsgerichtes dastand, und nahm sich lachend alle »Carciofi« auf den Teller. Nicht um sie zu essen – behüte, bloß um die Freude zu haben, das belustigende Gekrähe Prosperos womöglich nun in der Terz zu hören.

»Wer und was einmal in meinem Himmel sein wird, geht dich nichts an!« schrie Prospero.

»Artischocken!« gab Bartolo zurück, der mit diabolischem Vergnügen den grimmigen Blick auffing, den Prospero nach seinem vollen Teller schickte.

Prospero ignorierte diesen Einwurf, doch sein Antlitz wurde noch röter und seine Stimme kletterte um einen ganzen Ton höher. »Meine Pflicht aber ist es, darauf zu achten, daß wenigstens die Seelen meiner Kinder von dieser Verderbnis nicht angefault werden. Ja, mein lieber Bartolo!« Daß die väterliche Entrüstung Prosperos in diesem Augenblick durchaus ernst war, hätte kein Mensch bezweifeln können, nicht einmal Bartolo. Nur Gott wußte, woran er in diesem Augenblick noch dachte: »Bei den ›Sardini del Lago‹ werd' ich mich rächen!«

Auch die »Sardini del Lago« waren ein Lieblingsgericht beider Brüder und wurden wöchentlich einmal direkt von den Ufern des Gardasees nach dem Palazzo Chietti geschickt.

So war es ein Verhängnis der streitbaren Brüder, sich mehr als einträchtig in den Schüsseln ihrer leiblichen Nahrung zu begegnen, während sie sich die ehrwürdigen Gefäße ihrer geistigen mit ebenso viel Eifer als Geschick an den Kopf warfen.

»Deine Kinder, deine Kinder!« lachte Bartolo. »Ich hab' bloß den Titel eines Buches genannt, du hast gleich den Kommentar dazu gegeben. Frag' dich doch selbst, wer der Klügere war!«

»Prospero!« mahnte Lucrezia noch einmal, und in ihrem Antlitz war nun eine wirkliche Angst zu lesen. »Sie hat es dem Vater gesagt!« schloß Alba. »Warum aber fürchtet sie, daß es vor mir zur Sprache kommt?« Und plötzlich schien es, als nähme jemand anderer in ihrer Seele das Wort und spräche mit klarer, fester Stimme: »Damit ich nicht die Wahrheit erfahre!«

Da erschienen die »Sardini del Lago«.

»Sie sind gerade in diesem Monat am besten,« rief Lucrezia, mit nervöser Hast bemüht, das Interesse der streitenden Brüder auf ihr Lieblingsgericht zu lenken ... »Weißt du noch, Prospero? Als wir damals unsere Hochzeitsreise machten, war es auch Ende April, wir gerieten bis nach Sirmione, wo es damals noch keine Hotels gab und hätten so gerne etwas zu essen gehabt. Da briet uns eine Bäuerin die »Sardini del Lago«; war das ein arrosto

Wie rasch sie sprach, die arme Lucrezia! Aber niemand hörte auf sie. Selbst Albas Gedanken nahmen plötzlich eine ganz merkwürdige Richtung, als säße sie nicht hier bei Tisch, um zu speisen, sondern stünde wieder vor Mater Ignazia, wie gestern ... »Fische – Fische?« dachte sie. »Ganz recht, die Fische sind die niedrigste Ordnung der Wirbeltiere und die Sardinen gehören zur Familie der Heringe. Gehörten sie auch wirklich dazu? Ach wie seltsam ihr doch heute alles im Kopf herumging! Als hätte jemand ihr ganzes, armes Wissen durcheinandergeworfen, all die schönen Schachteln ihrer braven Erinnerungen aufgerissen und ihren Inhalt da- und dorthin gestreut. »Nicht zu verwechseln mit der echten Sardelle!« hatte sie von der Sardine gelernt. Du lieber Gott! Am Ende lauerte auch da eine Falle, so gut, wie bei der Brückenechse! Ganz wirbelig ward ihr zumut, und so gerne sie die Sardinen sonst aß – heute starrte sie fast feindselig auf das unschuldige Tierchen, als könne es jetzt und jetzt eine andere Gestalt annehmen.

»Natürlich haben wir sie arrosto gegessen!« knurrte Prospero feine Gattin an, wie jemand, der etwas ganz Überflüssiges bestätigen soll, während seine Gedanken Gott weiß wo sind. »Als ob man Eidechsen überhaupt anders essen könnte!«

»Eidechsen?« lachte ihm Bartolo ins Gesicht, und – » Eidechsen!« hallte es in Albas Seele wieder. Sie faltete die Hände unter dem Tisch, nun war ihr wirklich schon alles eins! Denn diese Eidechse, das wußte sie, die würde nicht so bald wieder verschwinden. Madonna ... konnte das jetzt ein – arrosto werden!«

»Was – Eidechsen?« krähte Prospers. »Wer redet jetzt von Eidechsen?«

»Erlaub' mir!«

»Die Sardinen hab' ich natürlich gemeint. Warum ich aber auf die Eidechsen gekommen bin, darüber will ich dich nicht lang im unklaren lassen. Dein Affendoktor hat mich darauf gebracht.«

Nun wurde Bartolo rot. »Das ist ein berühmter Mann, weißt du? Einer der größten Naturforscher, die je gelebt. Und wenn die Pfaffen und ihr Gefolge ihn auch noch so klein machen – in hundert Jahren wird man wissen, was er war!«

»Eine Schande für die Menschheit, der er das Zeichen Gottes von der Stirne wischen will!« schrie Prospero und warf seine Serviette auf den Tisch.

»Dann hätte der liebe Gott vorsichtiger sein sollen!« rief Bartolo ebenso laut, »und dafür Sorge tragen, daß die Knochen der Menschenaffen nicht mehr zum Vorschein kommen.«

»Knochen – Knochen!« gestikulierte Prospero.

»Jawohl, mein Lieber: Knochen!« wiederholte Bartolo, dem Bruder die Gabel entgegenhaltend. »Und wenn du mir für deine Weltanschauung nur ein so reelles Zeugnis beibringen kannst wie die Knochen, die Doktor Dubois jetzt eben auf Java ausgegraben, will ich alles glauben, was im Katechismus steht und meinetwegen gleich morgen zur Beichte gehn!«

»Das Kind!« stammelte Lucrezia. Sie war totenblaß geworden. Aber die Brüder schienen nicht mehr zu hören und Alba, die mit weitaufgerissenen Augen dasaß, hielt förmlich den Atem an. Um sie schien alles zu wanken, unter ihr der Boden zu weichen und von fern her kam es wie das Getos eines ungeheueren Meeres, das keine Ufer hat und keinen Bändiger. Was war das? Die Lüge oder die – Wahrheit? Ihr schwindelte.

»Ich habe diesen Knochen noch nie gesehn!« eiferte Prospero. »Und jedenfalls hat er mit meiner unsterblichen Seele nichts zu tun!«

»Und ich hab' noch keine unsterbliche Seele gesehn, weder meine, noch deine, noch sonst jemandes und niemand wird jemals ein vom Gehirn unabhängiges Seelenleben erfahren. Ich kann also im besten Falle nur daran glauben, wenn du willst. Aus den paar vorweltlichen Knochen in Java aber baut dir jeder Anatom den Urvater des » homo sapiens« auf.

»Ein Schwindel – eure ganze Entwicklungslehre!« erboste sich Prospero, häufte aber dabei seinen Teller so voll mit den kleinen Fischen, daß Bartolo ihn im Augenblick durchschaute.

»Deshalb brauchst du mir nicht alle Sardinen wegzuessen, mein Lieber!« lachte er stirnrunzelnd. »Und um auf die Entwicklungslehre zu kommen – die konnten eure Jesuiten und Tatsachenverdreher als Schwindel ansprechen, so lang dieses Übergangsglied noch nicht gefunden war. Die fossilen Knochen auf Java haben die Reihe unserer Ahnen geschlossen. Die mindestens indirekte Stammesverwandtschaft des Menschen und Affen durch die Herkunft von einem gemeinschaftlichen Stammvater wird durch die vergleichende Morphologie bestätigt und die Blutsverwandtschaft beider ist durch untrügliche Phänomene der Blutreaktion experimentell erwiesen. Also waren auch die Chietti einmal Affen, ob es dir nun recht ist oder nicht!«

»Daß du auf dem besten Weg bist, wieder einer zu werden, seh' ich!« höhnte Prospero.

»Alba, mein Kind, geh' hinaus!« bat Lucrezia in diesem Augenblick mit zitternder Stimme.

Alba ging. Vor ihr her aber schien ein flimmerndes Etwas über den Mosaik des Bodens zu huschen ... es hatte ein schillerndes Schwänzchen und zwei zur Seite gestellte kleine, boshafte Äuglein. »Diese unselige Eidechse!« dachte Alba ... Da schien es plötzlich, als nähme der Kopf des Tieres wieder die Züge der Präfektin an, diese herzlosen, blassen Züge, die Ritas Stift festgehalten. Zugleich war ihr, als höre sie auch den qualvollen Aufschrei der Ziani wieder: »Sie lügen – Sie lügen – das ist nicht wahr!«

Als sie auf dem Wege zur kleinen Anita ihrer Amme begegnete, stieß Erminia einen Schrei aus: » Cara mia, was haben sie dir getan?« So blaß und verstört schritt Alba einher ...

Hatte Prosperos Zorn seinen Höhepunkt erreicht, so fiel es ihm gewöhnlich ein, daß seine unsterbliche Seele dadurch einen Schaden leiden könne. Den Ausbrüchen seiner Leidenschaft folgte meist ebenso rasch die Reue, die ängstlich verlegene Reue eines Menschen, der im Grunde seiner Seele durchaus gut und wohl behütet war und seine Rechnung mit dem Himmel von einer österlichen Beichte zur anderen immer mit der gleichen Sorgfalt machte, ohne deshalb hindern zu können, daß jedesmal dieselbe Todsünde auf seinem Konto stand.

»Wie ein Tier ist er!« dachte Lucrezia in solchen Augenblicken und etwas von dem Ekel, den sie in der Brautnacht vor ihm empfunden, stieg aufs neue in ihr empor. Ein fast physisches Unbehagen, dem sich der geheimnisvolle Haß des Weibes gesellte, das sich ohne Liebe hingegeben. Natürlich schämte auch sie sich sofort dieser Empfindung, schlug ein Kreuz oder murmelte irgend ein Gebet vor sich hin und bemühte sich, noch sanfter, noch demütiger, noch hingebungsvoller zu sein. Nur ihr Beichtvater und der Gekreuzigte, zu dessen Füßen sie an solchen Abenden ihr Herz ausschüttete, wußten bisher warum.

Als Prospero Alba so still und blaß zur Tür hinausschreiten sah, fühlte er sofort, was er getan. Und er war verantwortlich für diese Seele! Nun hatte er sich derselben Sünde schuldig gemacht, für die er den Leichtsinn Bartolos zur Verantwortung ziehen wollte. Daß ihm das widerfahren konnte ... ihm!

»Verzeih'!« sagte er zu seiner Frau und wandte sich seinem Bruder zu. Aber schon hatte sich Bartolo erhoben und mit einer Stimme, die von Ingrimm zitterte, sprach er: »Ein Affe, so ... und um mir das zu sagen, lädst du mich eigens zu Tisch? Gut, gut. Aber ich muß dir sagen: dein Glück, daß du mein Bruder bist!«

»Aber Bartolo!« rief Prospero, ihn mit Gewalt festhaltend, »du wirst mir doch das nicht antun und fortgehn, so zwischen Suppe und Braten?«

»Affen lädt man nicht zu Tisch!« knurrte Bartolo.

In diesem Augenblick lachte die Französin auf; lachte laut, herzlich ... So groß auch das Ärgernis war, das ihre Frömmigkeit wieder an dem Streit der Brüder genommen. Und mit der frischen Schlagfertigkeit, die ihrer Rasse eigen ist, rief sie: » Mon Dieu, wie kann man so beleidigt sein von diesem Wort, wenn man auf die Ureltern wirklich so stolz ist? Entweder man ist ... oder man ist nicht!«

Das traf; Bartolo lächelte, Prospero lachte. Selbst Lucrezia schüttelte nachsichtig das Haupt, und Nino, der eben am Büffet stand, beugte sich tief über seine Schüsseln, um nicht laut herauszuplatzen, so selbstverständlich erschien auch ihm die Logik der kleinen Französin. Man aß in Frieden weiter, nicht einmal die fatale Eidechse wurde mehr ausgegraben.

Als die Brüder sich ins Rauchzimmer zurückgezogen hatten, erschien eine Jugendfreundin Lucrezias: »Die Ercolani«, wie sie der Kürze halber im ganzen Hause genannt wurde. Ein bißchen Herablassung lag allerdings auch in dieser familiären Kürze. Die Ercolani war arm, so stolz und alt auch ihr Name war und eine »Pulcellona« obendrein.

Wenn die Ercolani erschien, pflegte Mademoiselle Ange, die Französin, in der Regel zu verschwinden, und nicht bloß, um die beiden Freundinnen allein zu lassen. Mademoiselle Ange hatte einen Beichtvater, von dem sie große Stücke hielt, der, wie man sagte, nahe daran war, Kardinal zu werden. Und über diesen Beichtvater hatte sie einmal ein Wort der Ercolani erschnappt, das ihr die »alte Phantastin«, wie sie die Ercolani bei sich selbst nannte, ein für allemal widerwärtig machte. Bei Lucrezia freilich fand sie kein Gehör. Die zuckte nur immer die Achseln, wenn die Sprache auf die Ercolani kam und seufzte ein trauriges: »Die Arme!«

Mademoiselle Ange aber dachte allemal: »Wie seltsam, daß diese Hysterikerinnen immer wieder jemanden finden, der ihnen glaubt. Nun, ich kenne sie!« Für ihr Teil hatte sie auch nicht unrecht. Monsignore Malinconi galt als einer der angesehensten Priester Roms, so jung er auch noch verhältnismäßig war. Die ganze französische Kolonie beichtete bei ihm.

Da Lucrezia noch bei ihrem Kaffee saß, wurde der Ercolani auch gleich eine Tasse angeboten. Dann öffnete Nino die Fenster und entfernte sich.

Still und fast menschenleer lag unten der Korso. Es war noch früher Nachmittag und die Sonne tauchte Straßen und Häuser in ihre blendende Lichtflut. Rechts und links waren die Läden geschlossen, nur die Blumenhandlungen hatten sich heute doppelt gerüstet. Rom feierte seine »Palilien«, den Tag seiner Gründung. Da gab auch der Ärmste ein paar Soldi für Blumen aus, um nicht ganz ungeschmückt in dem Strom der Menge zu treiben, der sich am Abend dieses Tages den bengalisch beleuchteten Ruinen entgegenwälzte. Noch aber lag alles still. Wie ein großes Ausruhen war's, um für den selbstbewußten Übermut des Abends doppelt gerüstet zu sein. Wie alt wurde Rom an diesem Tage? Wie wenige Römer das auch wirklich wußten, zur »Girandola« eilte alles, was Beine hatte. Auf den Straßen wurde schon jetzt der Ruf der Blumenmädchen laut und schlug in immer kürzeren Pausen zu den geöffneten Fenstern herein: halb singend, halb klagend, wie der verhallende Auftakt eines Ritornells: » Fiori Signore, fiori!«

Die Ercolani hatte ein quittengelbes Gesicht und einen Hut, der ihr meist schief saß. Aber ihre Gestalt war hoch und schlank und das früh verblühte Antlitz zeigte noch heute die Spuren einstiger Schönheit. Schlug sie aber die Augen auf, konnte man selbst ihre vierzig Jahre vergessen. So viel Leidenschaft und unverbrauchte Jugend funkelten aus ihrem Blick, und wenn sie sprach, schien der weiche Art ihrer Stimme ein trauriges Lied zu dieser ungenossenen Jugend zu singen. Ein Lied, das nicht alle verstanden, das aber fast jeden ergriff, so daß sie eigentlich noch immer auffiel. »Wie kommt es, daß die allein geblieben ist?« Unzähligemal schon hatte Lucrezia diese Frage beantworten sollen, noch nie aber das Geheimnis der Freundin preisgegeben. Dieses Geheimnis, das ihr die Ercolani in einem Ausbruch wilder Leidenschaft vor nun achtzehn Jahren anvertraut und von dem keine Menschenseele sonst etwas ahnte, kein Priester etwas wußte. War es doch ebensolange her, daß die Ercolani auch nicht mehr gebeichtet hatte.

Ohne ihren Kaffee zu berühren, trat die Ercolani ans Fenster und starrte hinaus ... eine ganze, lange Weile. Sie streifte die Handschuhe von den Händen und warf sie auf einen Stuhl und während sie sich wie müde nachgleiten ließ, murmelte sie zwischen den Zähnen: »Derselbe Tag war es ... genau derselbe Tag ...« und plötzlich, fast aufschreiend: »O, Lucrezia, was hab' ich inzwischen gelitten! Und nun muß ich auch das noch erfahren ... am selben Tag!«

» Fiori, Signore, fiori?« scholl es wieder von der Straße herauf, ein Wagen rollte vorüber.

»Du Arme!« sagte Lucrezia und ein Ausdruck, den auch nur die Ercolani kannte, trat in ihr Auge. Aber sie fand keinen Mut mehr, diese Unselige zu trösten, auch konnte sie sich ja denken, was die Ercolani endlich erfahren, endlich ... nachdem es ganz Rom schon längst wußte und zischelte!

Die große Blumenhandlung, dem Palazzo gegenüber, mußte ihre Türen weit geöffnet haben, so heiß roch plötzlich die Luft, die zu den offenen Fenstern hereindrang. Rosen mußten dabei sein und Veilchen und Lilien und Iris ... viel, viel blaue Iris!

Lucrezia schauerte plötzlich zusammen, schloß die Augen und lehnte sich zurück. O ja ... nun wußte auch sie, welchen Tag die Ercolani meinte. Die unsichtbare Duftwelle, die sie so lautlos umzitterte, hatte es ihr wieder gesagt, mit der duftigen Stimme der Iris hatte sie's ihr wieder gesagt.

» Fiori, Signore, fiori?«

Auch damals hatte man die Palilien gefeiert und von dem Brand, der die schweigenden Ruinen Roms beleuchtet hatte, war auch ihr ein Funke in die Seele gefallen ...

»Weißt du's noch?« schluchzte die Ercolani in die Stille hinein.

Lucrezia fuhr empor und strich sich die Haare aus der Stirne. »Gewiß ... gewiß!« beeilte sie sich zu sagen. Mit der Hast einer Seele, die überrascht zu werden bangt und heimlich fürchtet, daß sie selbst einmal aufschluchzen könnte und reden, nach diesem langen, tödlichen Schweigen.

Das Taschentuch an die Augen pressend, saß die Ercolani da. Ihr ganzer Körper bebte von diesem Schluchzen und während Lucrezias Blick über die Gestalt der Jugendfreundin hinging, entsann sie sich aufs neue jenes Abends ...

Drinnen, in einer Fensternische des Festsaales, war ein schönes, junges Mädchen gestanden und hatte mit ihr in den langsam herabsinkenden Abend hineingeschaut. Unten rollte Karosse an Karosse vorüber. Die Blumenmädchen priesen ihre Ware an, wie heute. Die Luft kam wie eine heiße Welle des Frühlings und mischte sich dem Blut und nahm ihre jungen Seelen mit. Da kam es von den Lippen der Ercolani – selig-überschwenglich, ein einziger Schrei der Erlösung: »Lucrezia ... heute hat er mich geküßt!«

»Der – Priester?« hatte Lucrezia gestammelt und mit einem Grauen, in dem nur ihr bewußt doch auch eine süße Neugierde bebte: »Und du fürchtest dich nicht vor der Sünde?«

Mit einem Blick, in dem etwas wie Wahnsinn auffunkelte, hatte die Ercolani sie damals angestarrt, und eine Weile blieb es so atemlos still zwischen ihnen, wie jetzt. Plötzlich lag die königliche Gestalt des schönen Mädchens zu ihren Füßen und während sie beide Arme um Lucrezia schlang, rief sie wie trunken: »Sein bin ich – sein werd' ich bleiben! Nenn' es nun Sünde oder Schande oder wie du willst ... aber wisse: es ist die Liebe!«

Und von den bebenden Armen, die sie umklammerten, schien es wie eine geheimnisvolle Lohe auch in das Blut der jungen Frau hinüberzuschlagen, bis ihr Herz schwer wurde und ihr Sinn trunken und ihre Seele sich dem Duft der Iris hingab die ihr einer am Morgen dieses Tages geschenkt und die so heiß aus dem weißen Muranokelch herüberduftete, der Dort unter der Venus des Vasari stand ...

Dann war unten im Hof ihre Carozza vorgefahren, die Carozza, die sie zum erstenmal allein zur »Girandola« führen sollte, denn der Prinzipe befand sich damals auf einem seiner friaulischen Güter.

» Fiori, Signore ... fiori?!«

Lang und tief atmete Lucrezia auf. Endlich schlug sie ein Kreuz und ihr Blick, der noch immer auf der Freundin ruhte, nahm einen fast feindseligen Ausdruck an. »So erwacht man dann!« sprach sie leise vor sich hin. Und als sie die welken Züge der Ercolani mit dem blühenden Mädchenantlitz verglich, das sie noch eben im Geiste vor sich gesehen, dachte sie erschauernd: »Das ist die Sünde!«

In diesem Augenblick fuhr die Ercolani mit einem wilden Ruck empor und begann wie geistesabwesend auf und nieder zu eilen. Lucrezia sprach noch immer kein Wort. Wozu auch? Das hatte sie ja schon so oft mitangesehen, im Laufe dieser achtzehn Jahre, hatte wie oft geglaubt, daß nun endlich, endlich alles vorüber wäre, aber es war doch immer wieder beim alten geblieben.

Plötzlich blieb die Ercolani knapp vor Lucrezia stehen und während sie die zu Fäusten geballten Hände straff herabschnellen ließ, sprach sie mit einem Ausdruck wilder Entschlossenheit: »Aber glaubst du, daß ich ihm das schenke? Jetzt, wo ich weiß, daß er ein ganz gemeiner Pfaffe ist! Achtzehn Jahre hab' ich ihn für einen Heiligen gehalten. Nun soll er sehn, was er aus mir gemacht hat!«

»Du denkst doch nicht an einen Skandal?«

»Ich bin eine Ercolani. Die dulden und tragen und schweigen. O, wie lang die dulden und tragen und schweigen können! Du kennst doch unseren Wahlspruch? ›Pazienza!‹ Wie geschaffen für mich,« lachte sie bitter in die eigenen Worte hinein. »Aber wenn die Ercolani erwachen ... weinen sie › aqua tofana!‹«

»Geh', komm', komm'!« beruhigte sie Lucrezia.

»Ich kann nicht mehr sitzen. Als wenn kein Halt in mir wäre, so ist das jetzt! Weißt du was? Die ganze Nacht bin ich so stumm herumgegangen und aus dem Zimmer hat meine lahme Mutter mich angerufen: »Maddalena, mein Kind, was hast du?« Meine Mutter, die es noch immer nicht weiß! O, Lucrezia, wie mein Herz brennt, die Hölle wird nicht schlimmer sein!«

»Ja, ja!« wollte Lucrezia sagen, schrak aber doch zur rechten Zeit zusammen und besann sich. Aber doch – wie peinigend dieses Gespräch, in dem jedes Wort ihr zur Schlinge werden konnte.

»Daß der Malinconi mehrere Verhältnisse gehabt, weiß ja ganz Rom!« sprach sie endlich leise, »ehrbare, wie mit dir, und – und ... und auch andere! Aber hättest du mir's geglaubt, so toll wie du bis heute warst mit deinem – deinem Santo!«

»Meinen Gott hab' ich gehaßt, seinetwegen!« schrie die Ercolani auf, »den Gott, der mir ihn genommen, und während ich meinen Feind im Tabernakel gesucht, hat der Malinconi mit der ein Verhältnis gehabt und mit einer anderen die Ehe gebrochen und von einer dritten sich protegieren lassen. Ich aber bin inzwischen verhungert und verdorrt!«

»Protegieren hat er sich ja von jeder lassen!« warf Lucrezia leise ein. Es schien bloß so nebenher gesprochen, aber die Ercolani verstand sofort, was sie damit eigentlich sagen wollte.

»Auch von mir, nicht wahr? Und das war seine ganze Liebe!« lachte sie schneidend auf. »Weil ich einen Onkel hatte, der Kardinal war und ein »Papabile« und weil er in die Reihe der »Porporati« kommen wollte. Nun, es ist ihm ja auch gelungen: durch meinen Onkel. Als der gute Alte aber starb – ja, da hatte dieser Schleicher auch für mich nichts mehr übrig. Da löste er eines Tages meine Arme von seinem Hals und sprach mir von dieser »Liebe ohne Sinnlichkeit«, und ob ich denn glaube, »daß er zu jedem Mädchen so gesprochen hätte, jede so geschont?« »Aber ich sei eine priesterliche Seele! O, wie er mich kannte, mich durchschaut hatte, mich und meinen Stolz, der meine Jugend mit Füßen trat, so oft sie sich in Begierde wand! So machte er mich ganz sicher, nahm er mir jede Eifersucht, ließ mich bloß von dem Haß gegen den Gott zerfleischen, der uns für immer getrennt. Hahaha, wird er gelacht haben bei den anderen!«

In diesem Augenblick schlug ein seines Geklirr an das Ohr Lucrezias. Es kam nicht aus dem Rauchzimmer, wo die beiden Brüder noch plaudernd beisammen saßen, auch nicht von der Straße, die noch immer leer dalag. Drinnen im Saal, dessen Flügeltür weit offen stand, mußte ein Fenster in Scherben gegangen sein. Aber wie?

»Es ist doch niemand drinnen?« stammelte die Ercolani. Sie war totenbleich geworden.

Rasch eilte Lucrezia in den Saal. Doch niemand war zu sehen. Nur ein leichter Zugwind schlug ihr entgegen und hob die lang herabwallenden, gelbseidenen Sonnenblender, die vor den offenen Fenstern hingen, durch die der Saal seine Kühlung empfing. Hatte jemand die gegenüberliegende Tür geöffnet? Aber nein, die lag ja so fest im Schloß, wie gewöhnlich. Als Lucrezias Blick jedoch auf den Mosaik des Bodens fiel, funkelten ihr in der goldigen Dämmerung des Saales die Scherben einer kristallenen Vase entgegen. Mit einem leichten Schrei bückte sie sich danach und starrte wie geistesabwesend nach dem Marmortisch, der unter der Venus des Vasari stand, zwischen dem ersten Fenster des Saales und der Tür, die in das Gemach führte, in dem sie mit der Ercolani saß.

An dieser Stelle hatte ihr die Ercolani vor achtzehn Jahren das Geheimnis ihrer Leidenschaft anvertraut, auf diesem Tisch war damals die Muranovase mit der blauen Iris gestanden, dieselbe Vase, deren Scherben sie jetzt in Händen hielt. »Magdalena!« tief sie mit schwacher Stimme. Sie schloß die Augen; ihr schwindelte.

Mit einem Satz war die Ercolani drinnen. »Nun?«

»Wie – wie meinst du, kann das jetzt geschehn sein?« fragte Lucrezia und ihre Stimme bebte, die Hand, die der Freundin die funkelnden Kristallscherben entgegenhielt, zitterte so heftig, daß das weiche Spitzengeriesel ihres Ärmels wie haltlos hin und her baumelte.

Mit einem Blick maß die Ercolani die Länge des Saales ab. »Hast du jemanden hinausgehn gehört?«

»Nein ...«

»Wär' auch nicht so rasch möglich gewesen ... Laß mal sehn ...«

In diesem Augenblick bewegte ein leiser Windhauch den gelbseidenen Sonnenblender, schien ihn leise nach innen zu schieben, bis er sich blähte und hob – nicht gerade bis an den Rand des Marmortisches schlug, aber doch so weit, daß man bei einem stärkeren Luftstoß auch diese Möglichkeit annehmen konnte.

»Das war es!« sagte die Ercolani und schloß das Fenster, und sie schritten wieder in das Nebengemach.

»Wie gut, daß sie nur mit sich selbst beschäftigt ist,« dachte Lucrezia, über deren Glieder ein seltsamer Schauer rieselte: kühl und unheimlich, als hätte ihr eine eisige Hand plötzlich mitten ins Herz gegriffen.

» Fiori, Signore ... fiori?!« scholl es von draußen empor. Jetzt hörte man Menschen lachen und Pferde dahintraben; der Korso begann sich zu beleben.

»Schließ auch dieses Fenster!« bat Lucrezia mit schwacher Stimme, sank in ihrem Stuhl zurück und preßte die Hand an die Augen. Eine schwere Last schien sich auf ihre Brust zu legen mit dem Duft der blauen Blume, der von draußen hereinflutete. »O Madonna!« hauchte sie wie vergehend, und ihr pochendes Herz schlug ein dumpfes: »Das ist die Sünde!«

»Fehlt dir etwas –?« fragte die Ercolani, als sie sich zurückwandte.

»Nein, nein!« wehrte Lucrezia ab. »Es ist ... ich hab' nur über deine Lage nachgedacht und da ist mir ein Gedanke gekommen.«

Die Ercolani zuckte bloß die Schultern: »Laß hören!«

»Willst du dich nicht wieder mit deinem Gott versöhnen?« sprach Lucrezia leise. »Man weiß nie, wo er auf einen wartet!«

»Der Gott, den ich gehaßt habe?«

»Er hat schon größere Sünderinnen an sein Herz gehoben!« flüsterte Lucrezia, und mit einem plötzlichen Ausblick, in dem ein ganzer Glaube und eine innerste Erfahrung widerleuchteten: »Glaub' es mir!«

»Das alles zu – beichten!« stieß die Ercolani hervor.

»Denk' an deine Namenspatronin ... Maddalena!« Und plötzlich begann Lucrezia zu schluchzen, scheinbar so ganz ihrem Gott und dem Unglück der Freundin hingegeben, daß die Ercolani gerührt ihr zu Füßen sank.

»Er hebt jede auf, Maddalena ... Wie ich jetzt dich aufhebe. Glaub' es mir!« sprach Lucrezia noch einmal und ihre Tränen versiegten plötzlich, ihre Stimme klang wieder fest und hell. Ja, wie ein Licht brach es aus dieser Stimme!

Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen. Dann sprach die Ercolani langsam: »Weißt du mir jemanden?«

»Geh' zu Fra Clemente! Er ist der Heiligsten einer!

Wieder schwieg die Ercolani und eine tiefe Trotzfalte legte sich zwischen ihre dunklen Brauen. Eine Falte, die den herbstolzen Zügen ihres Antlitzes plötzlich eine fast männliche Schönheit lieh. »Es ist gut!« sprach sie endlich dumpf, drückte einen langen Kuß auf die Stirne Lucrezias und ging. Auf der Schwelle jedoch wandte sie sich noch einmal um. »Aber Kardinal wird er nie!« rief sie mit einem bösen Frohlocken in der Stimme, und dabei schloß sie die Rechte – hart und fest, wie der Griff eines Raubvogels war es.

Wenige Augenblicke später trat Alba ein, um die Mutter zu der abendlichen Korsofahrt abzuholen, zu dieser Fahrt, auf die sich Alba während der ganzen Woche gefreut hatte, weil sie wieder einmal mit Mama allein fahren sollte. Der Prinzipe mußte den Abend bei einem Kardinal zubringen, Anita aber durfte nach Sonnenuntergang nicht mehr hinaus, der Malaria wegen.

Leise, fast scheu trat Alba in das Gemach, und wie zögernd hielt sie einen Augenblick die Tür in der Hand. Ihr Blick hatte etwas Unstetes und der breite Federhut, der ihr Antlitz beschattete, ließ es noch schmäler und blässer erscheinen. »Mama?« hauchte sie in das Zimmer hinein. Aber ihr Fuß bewegte sich nicht einen Schritt weiter. Erst als sie keine Antwort erhielt, hob sie den Blick: das Gemach war leer.

»Mama!« rief Alba noch einmal. Endlich trat sie ein und zog die Tür hinter sich zu. In demselben Augenblick kam Lucrezia aus dem Saal, in der Hand ein Tellerchen, in das sie die Scherben der Vase gesammelt. Ihr blasses Antlitz, die verweinten Augen, der wie geistesabwesend ins Leere gerichtete Blick gaben ihr ein so seltsames Aussehen, daß Alba ihre Mutter fast nicht wieder erkannte, als wäre sie plötzlich älter geworden ... um viele, viele Jahre älter.

Die Fenster des kleinen Speisesaales hatten schwere Vorhänge, deren dunkles Grau den tiefen Raum immer um eine Stunde früher in Dämmerung hüllte. Selbst einem guten Auge wär' es daher nicht sofort möglich gewesen, zu erkennen, was Lucrezia auf diesem Tellerchen trug. Auch stand sie noch zwischen der Tür, rechts und links die schwere Samtportiere, hinter sich das Dunkel des großen Raumes, das ihre zierliche Gestalt förmlich zu verschlingen schien.

Als Alba die Mutter so gewahrte, ging ein heftiger Ruck durch ihren Körper, ihre Hände begannen zu zittern, ihre Lippen entfärbten sich. »Mama!« stammelte sie noch einmal und ihr Auge suchte den Boden: bang, mit dem unsicheren Blick einer Ertappten. Wäre Lucrezias Seele nicht so ganz vom Netz ihrer Erinnerungen umfangen gewesen, hätte ihr ein einziger Blick in das Antlitz ihres Kindes sagen müssen, wo die Schuldige stand. Als der bebende Ruf aber an ihr Ohr drang, traf er sie so unvorbereitet, daß sie die weiße Gestalt vor sich wie ein Gespenst anstarrte, zusammenschrak und sich endlich zu einem Lächeln sammelte ... zu einem Lächeln, das so gezwungen und verlegen war, als hätte sie selbst die Vase in Scherben geschlagen.

»Was der – Wind da – gemacht hat!« stotterte sie. Und als Alba, halb erstaunt, halb verlegen, den Blick hob, sah sie, wie eine seine Röte ins Antlitz der Mutter stieg – höher und höher, bis sie im Schatten der schon leis' ergrauenden Schläfenhaare verschwand. Und Lucrezia, die es zu fühlen schien, schlug vor ihrem Kinde den Blick nieder, während der Teller mit ihrer zitternden Hand so heftig auf und nieder bebte, daß die seinen Scherben ein geisterhaftes Klingen von sich gaben. Einen Ton, der wie aus weiten, weiten Fernen kam und diesen Seelen etwas zu sagen schien, das die eine mit Angst erfüllte und die andere mit einem Grauen, das noch blind und unsicher in der Nacht des eigenen Schicksals herumtastete.

Da schlug vorn Korridor her das Geroll der Equipage ins Gemach, die eben an der Treppe vorfuhr. Wie erlöst atmete Lucrezia auf. »Ja so ... wir wollten ja fahren!« Sie eilte hinaus, noch immer den Teller in Händen.

»Soll ich hier auf dich warten?« rief Alba ihr nach.

»Nein, nein, du kannst ja einstweilen hinabgehn, ich muß nur Hut und Schleier nehmen.« Und plötzlich lachte sie wieder wie jemand, der durchaus fröhlich erscheinen will.

Mit weitgeöffneten Augen starrte Alba ihr nach; langsam schritt sie die Treppe hinab. Glaubte ihre Mutter wirklich, daß der Wind die Vase zersplittert, und wenn sie es glaubte – fand sie es wirklich so lustig? Wieder schien ihr, als husche das Reptil mit dem boshaften Antlitz der Präfektin vor ihr her ... erst über den Korridor, dann über die glatten Marmorfliesen der Stufen, lautlos, unheimlich: ein böser Geist, der sie von der Erkenntnis zur Neugierde, durch die Neugierde zu immer neuer Erkenntnis führte ... Hatte sie ihr nicht auch den heimlichen Weg nach dem Saal gewiesen? Den Onkel wollte sie belauschen und über diese unselige Eidechse endlich die Wahrheit erfahren, und was hatte sie gehört? Die Geschichte der Ercolani! Eine Geschichte, die ihr die letzten Schleier von den Augen nahm. Waren es wirklich die letzten? Als sie in den Wagen stieg, sah sie unwillkürlich um sich, als müsse da irgendwo der metallische Panzer jenes teuflischen Reptils schimmern, das den verkleinerten Leib eines Drachen hatte und das boshafte Antlitz einer alten, herzlosen Nonne.

Endlich kam Lucrezia herab. Hinter ihr der Diener mit der Fußdecke und dem kostbaren Spitzenshawl der Fürstin. Die Fahrt wurde im offenen Wagen gemacht und bis spät in den Abend ausgedehnt. Da mußte man sich versorgen.

» Passeggiata Margherita!« gebot Lucrezia dem Kutscher, der mit leisem Senken der Peitsche die Weisung entgegennahm. Der Diener schlug den Wagen zu, sprang auf den Bock und hinter dem davonrollenden Gefährte wurden wieder die Echos des Palazzo Chietti laut. »Wie fremd das plötzlich klingt!« dachte Alba, von einem leisen Schauer angeweht. Oder war heute alles anders als sonst?

Auf dem Korso lagen die letzten Sonnenstreifen, breit und grell wie goldene Bänder, selbst der Staub bekam etwas von ihrer Glorie, so daß er sich wie ein blitzender Schleier von einem Wagen zum anderen wand und hinter den eleganten Gefährten einen Wall von goldigen Wolken aufzubauen schien, der die vornehmen Insassen von der Plebs trennte, die laut und vergnügt der »Girandola« entgegentrottete.

Alba hatte, ganz von ihren Gedanken benommen, nicht auf die Weisung geachtet, die der Kutscher erhielt. Erst als der Wagen die dem Forum entgegengesetzte Richtung einschlug, stutzte sie. »Wir wollten doch die Girandola ansehn, Mama?«

Wie aus tiefen Gedanken fuhr Lucrezia empor. Ihre Stimme hatte einen fast rauhen Klang, als sie erwiderte: »Immer diese Girandola! Die hast du doch schon oft genug gesehn, und ich hab' es so nötig, heut' ein bißchen aufzuatmen!«

»Auf der Passeggiata ist doch auch immer alles voll um diese Zeit,« wagte Alba einzuwerfen.

»Heute wird alles bei der Girandola sein!«

»Und es war immer so schön!« sprach Alba träumend vor sich hin. »Wenn zuerst das Forum aufglänzte ... dann der Konstantinbogen und ganz zuletzt die Arkaden des Kolosseums, bis alles in einer Lichtflut schwamm, so hell und doch so stumm und traurig!«

»Zudem sind wir heut' auch allein!« sprach Lucrezia kurz.

»O Mama,« schmeichelte Alba ... »Eben deshalb!«

Wie gestochen zuckte Lucrezia zusammen.

Irgend etwas an dem unschuldigen Wort ihres Kindes mußte eine neue Gedankenreihe in ihr ausgelöst haben, denn sie wandte das Haupt nach der andern Seite und blieb eine ganze Weile stumm. Und als Albas Hand sich noch einmal wie flehend auf die ihre legte, sprach sie mit einem fast feindseligen Blick: »Verlang' nicht mehr von mir, als ich darf.«

»Aber Papa hat es doch erlaubt!« stammelte Alba.

Mit einem hastigen Griff schloß Lucrezia ihren Schirm, den sie trotz der niedersinkenden Dämmerung noch immer vors Antlitz gehalten, und während sie einen Blick irrer Qual in die Ferne sandte, erwiderte sie hart: »Aber der liebe Gott verbietet es mir!« Sie lehnte sich zurück und sprach kein Wort, bis der Wagen den Janiculus erreicht hatte. Vor dem Kloster San Onofrio ließ sie halten, um mit Alba die Passeggiata entlang bis zur Terrasse vor San Pietro in Montorio zu schreiten, das tägliche Endziel ihrer abendlichen Korsofahrt. Nur daß die sonst von Hunderten belebte Anlage heute still und fast menschenleer dalag. Um so erquickender machte sich dafür die Kühle des Abends fühlbar.

Im Blumenatem des Frühlings war noch etwas von dem frischen Anhauch, den der Wind von den Bergen herniedertrug; aus den silbernen Höhen des Apennin, der mit der schneebedeckten Leonessa herübergrüßte, und aus den veilchenblauen Schluchten des Sabinergebirges, in denen der Anio dahinrauscht und der » Fons Bandusiae« des Horaz. Und dieser Wind, der über einsame Täler und hängende Bergstädte – über das Schweigen der Ruinen und die Stille der Campagna einherkam, holte sich auf dem Janiculus seine Würze aus den tausend und abertausend Blumenkelchen, die sich rings jetzt öffneten – in den Gärten der verlassenen Villen und zwischen den Kreuzgängen verträumter Klöster.

Etwas Süßes, aber zugleich auch Beklemmendes lag in dieser Luft und bedrängte Albas Seele, daß ihr das Atmen fast schwer wurde und ihre Jugend plötzlich wie mit tausend Pulsen zu pochen begann, während Lucrezias Haltung immer müder wurde, ihr Antlitz etwas von dem aschfarbenen Ton der Dämmerung annahm, die langsam, aber stetig alles einzuspinnen begann: unten die Stadt und hier oben die schweigenden Gärten. Nur aus der Ferne leuchtete noch ein letzter Glanz herüber: dort, wo am Abhang des Monte Cavo die weißen Zinnen der Albanerstädte aufragten und blitzende Fensterreihen den Kupferschein der Abendwolken spiegelten.

Auch Alba hatte bisher geschwiegen. Aber die tiefe Stille des Abends und die immer lauter redende Stimme einer Angst, die sie sich selbst nicht erklären konnte, zwangen ihr wieder die Worte über die Lippen. Worte, die sie eigentlich nicht sagen wollte, über die sie erschrak, als sie so plötzlich in das Schweigen hineinklangen, das ihrer Mutter wieder die Ruhe zu bringen schien und Frieden, und die sie doch aussprechen mußte, wie von einer geheimnisvollen Macht getrieben, über die ihr Wille keine Gewalt hatte.

Sie waren unterdes auf die Terrasse von San Pietro in Montorio gekommen. Hinter ihnen rauschte die Aqua Paola, zu ihren Füßen lag Rom. Dieses Rom, das heute den stolzen Tag seiner Geburt feierte! War es der ergreifende Anblick der Stadt, das stumme Locken der weit hinausgedehnten Campagna, das Geläute der Abendglocken, das sich wie ein klingender Kreis von Hügel zu Hügel spann ...? Lucrezia blieb plötzlich stehn und atmete auf. Und da begann Alba zu sprechen.

»Mama ... hat dir die Frau Oberin gesagt, was ich gestern getan habe?«

»Ja, mein Kind,« kam es zurück, leise, weich, wieder so ganz die Stimme ihrer Mutter.

»Bist du mir deshalb böse, Mama?«

»Jeder Mensch kann irren und straucheln, mein Kind,« sprach Lucrezia, ohne Alba anzusehen, »wenn dir aber das Wort deiner Mutter etwas gilt, dann hör', was sie dir jetzt sagt: Bleib' rein und wahre dir den Frieden deiner Seele! Alles andere ist Trug auf dieser Welt!«

»O Mama ... solang' ich dich habe« –

»Mich wirst du nicht immer haben,« murmelte Lucrezia düster, »und ich darf dich nicht immer haben.«

»Wie – wie meinst du das, Mama?« fragte Alba betreten.

»Daß Gott auf jede Seele das höchste Recht hat.«

Wie ein Vogel huschelte sich Alba an die Schulter der Mutter. »Aber für diese Welt hat er ja dich mir gegeben.«

»Für diese Welt,« wiederholte Lucrezia bitter. »Gefällt sie dir denn wirklich so sehr, diese Welt? Du bist noch jung, aber ich sag' dir, es ist keine Freude darin, die man zuletzt nicht mit einer tödlichen Angst büßen müßte. Und wenn ich mir denke, daß du vielleicht auch einmal so vor Gott stehen könntest und daß ich vor ihn treten müßte mit der doppelten Verantwortung auf der Seele ...« Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber ihre Stimme erstickte plötzlich, ihr Antlitz sank nach vorne, und auf den kostbaren Spitzenshawl, den ihre Hand über der Brust zusammenhielt, perlte langsam Träne um Träne nieder.

»Mama!« schrie Alba auf und legte den Arm um sie. So blieben sie eine ganze Weile stehn, während über ihren Häuptern die Glocken des christlichen Rom hinklangen und im Dunkel die ersten Raketen aufzischten, die die Geburt des heidnischen Rom feiern sollten.

Endlich schien Lucrezia wieder ruhiger zu werden, ihr Schluchzen verstummte – ihre Tränen versiegten. Aber der feierliche Ernst, der plötzlich auf ihrem Antlitz lag, erfüllte Albas Seele mit einem rätselhaften Bangen. »Jetzt, jetzt« ... dachte sie und wußte doch nicht, was die Mutter sagen würde, so fremd und feierlich und geheimnisvoll, wie sie mit einemmal vor ihr stand.

In diesem Augenblick nahm Lucrezia beide Hände Albas, hob sie langsam empor und starrte in das Antlitz ihres Kindes – lang, tief, atemlos. »Willst du deiner Mutter wieder den Frieden ihrer Seele geben, Alba?« Sie sprach es leise, kaum hörbar ... in das Geläute der Glocken hinein, die der »Königin des Himmels« in dieser Stunde den Gruß der Erde entgegentrugen. Aber Alba verstand jedes Wort, und die rührende Hilflosigkeit ihrer Mutter erfüllte sie plötzlich mit einer solchen Zärtlichkeit, daß ihre ganze Seele davon überging.

»O Mama,« stammelte sie, während ein tiefes Rot in ihre Wangen stieg. Sie zog die Mutter wie ein Kind an sich: »Sag' mir nur, wie ich es machen soll, du liebe, gute, kleine Mama du!«

Ein schwaches Lächeln glitt über Lucrezias Züge. Sie sah zum Himmel empor mit einem Blick, der wie ein Gebet war, und ohne Albas Hände loszulassen, sprach sie langsam: »Hast du noch nie darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn – wenn du immer bei den Schwestern bliebest?«

»Nein, Mama,« hauchte Alba, »nie ... aber wenn du es willst?« Sie verstummte.

Lucrezia schüttelte leise das Haupt. »Ich kann nicht wollen, was dir vielleicht über die Kraft geht, nur wünschen kann ich es und Gott darum bitten: zu deinem und meinem Besten, denk' also darüber nach! Und nun wollen wir nichts mehr davon reden.« Damit wischte sie die letzten Tränen von den Augen und atmete auf, leicht, frei, wie eine Erlöste.

In diesem Augenblick brach ein purpurner Schein durch die Nacht. Er kam aus der Tiefe des Forums, umschlang die Triumphbogen des Konstantin und des Septimius Severus, stieg langsam zum Kolosseum empor, immer höher, immer leuchtender, durchglutete nach und nach alle Tiefen des schweigenden Riesenbaus: jede einzelne Linie nachzeichnend, jeden Bogen der gewaltigen Arkaden, bis das heidnische Rom in einer einzigen Glorie aufleuchtete und der Jubel der Tausende, die es da unten begrüßten, sich wie eine Riesenwoge zu der einsamen Höhe des Gianicolo emporwälzte.

»Nun hast du die Girandola auch noch gesehn,« sprach Lucrezia – sprach es so weich und zärtlich, wie man zu einem Kinde spricht, dem man nach einer allzu strengen Strafe einen Leckerbissen reicht.

»Ja,« nickte Alba, die mit weit aufgerissenen Augen in die immer dunkler werdende Glut starrte. War das wirklich nur die »Girandola«? Ihr schien es ein ungeheurer Brand zu sein, ein Brand, der alles verschlang, was ihr bis heute lieb gewesen: die Jugend und die Freiheit und den Frühling und selbst die schweigende Majestät dieser Ruinen.

»Ist dir kühl?« fragte Lucrezia, da sie sich zum Gehen wandte.

»Nein,« erwiderte Alba. Als der purpurne Schein hinter ihnen aber erlosch, blieb sie noch einmal stehen, und während sie mit weitgeöffneten Augen in die Nacht hineinstarrte, dachte sie erschauernd: »so wird es dann immer sein!«


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