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Der Winter verging – aber Mater Renée konnte weder leben noch sterben. Der Malaria, die sie zuerst befiel, folgte eine heftige Lungenentzündung und als diese endlich wich, blieb eine Schwäche zurück, die das Schlimmste befürchten ließ. Dabei hüstelte sie fortwährend und so oft der Abend kam, ging ein leises Frösteln durch ihre Glieder, flackerte eine jähe Fieberröte in dem blassen Antlitz auf, trat ein unheimlicher Glanz in die Augen, die seit Monaten keinen Schlaf mehr fanden.
»Sie müßten jetzt noch weiter nach dem Süden!« meinte Doktor Tapponi kopfschüttelnd. »Das römische Klima taugt nicht für diesen Zustand, besonders jetzt, wo der Frühling kommt!«
Ja, wärst du eine Römerin! dachte er dabei. Ein Kind aus dem Volk, aber so ... Rein und unvermischt war der Quell dieses Blutes durch Jahrhunderte von Generation zu Generation geströmt. Nun rächte sich die Natur an dem Hochmut der Rasse und das blasse Fürstenkind sank von Tag zu Tag mehr in sich zusammen, welk wie eine Blume, deren Wurzeln keine Nahrung finden.
Es wäre so leicht gewesen, die Kranke weiter südwärts zu bringen, nach der Provence oder Sizilien, wo der Konvent ähnliche Institute besaß. Aber Mater Renée erklärte, bis zuletzt auf ihrem Posten ausharren zu wollen und die Willensstärke, mit der sie nicht nur bei diesem Entschlusse beharrte, sondern auch Tag für Tag die laufenden Geschäfte des Konvents erledigte, ganz wie in ihren gesunden Tagen, wiegte auch die anderen zuletzt in der Hoffnung ein, daß es »mit der Hilfe Gottes und der allerseligsten Jungfrau« wieder besser gehen werde.
Nur Tapponi ließ sich nicht täuschen. »Du willst sterben,« dachte er, so oft er in die blau umränderten, wie von einem unheimlichen Brand entzündeten Augen sah, »und du wirst sterben!« Sie war ja auch nicht die erste in diesem Hause, die ihm und seiner Kunst so geheimnisvoll entglitt. An der Hand eines Wehs, das plötzlich wie ein Gespenst aus unerforschlichen Abgründen der Seele emporstieg und zuletzt den ganzen Menschen hinnahm, bloß weil er wollte. O ja, es gab noch ganz andere Geheimnisse in diesen Häusern, als jene, zu denen Tag für Tag gebetet wurde und Seelen, die sich kraft eines eisernen Willens hier zur Heiligkeit erzogen, konnten sich auch langsam zum Tod verurteilen, kraft dieses selben Willens. Draußen in der Welt war die Physis stärker, hier wirkten Kräfte, die auch für den Blick des Arztes Rätsel blieben. Nur daß sie da waren und heimlich wühlten und wie in selbstmörderischer Zerstörungslust triumphierten, fühlte er. Alles andere entglitt seiner Kunst; lächelte ihm fast verächtlich aus diesen hochmütigen Asketenblicken entgegen. Die Behandlung kranker hysterischer Weiber war ihm geläufig. Dem Phänomen dieser Willensmagie, die im Königsmantel eines undurchdringlichen Schweigens stolz und feierlich dem Tod entgegenwandelte, stand er wie ein Unwissender gegenüber. Und dieses stille blasse Fürstenkind war nicht die Erste, die er so hingehen sah. »Diese Klöster, diese Klöster!« seufzte er oft kopfschüttelnd vor sich hin. »Jede Walstatt ist eine Erholung dagegen. Da sieht man wenigstens die Verwundeten und weiß, wie man zu helfen hat. Aber hier ... wo das Leben wie aus unsichtbaren Wunden ganz still und heimlich verrinnt.«
Und Tapponi mußte es wissen; er kam ja in so viele Klöster. Diese Erkenntnis war es auch, die langsam aber sicher seine eigene Weltanschauung zu untergraben begann Er war längst nicht mehr der wahrheitssichere Materialist, der so unbefangen und überlegen während der ersten Jahre hier aus- und eingegangen. Gewisse Erfahrungen und Erkenntnisse ließen sich eben nicht umgehen und obwohl ihm nichts ferner lag, als die Annahme des positiven Christentums – begann er sich doch immer eifriger in das Studium jener After-Wissenschaften zu vertiefen, die unter den Namen »Hypnotismus« und »Okkultismus« dem Geheimnis der verschleierten Seele nahezukommen suchten. »Psychologische Alchymie«, wie er selbst es noch scherzhaft nannte. Und wenn der alte Rationalist in ihm sich langsam zu schämen begann, tröstete er sich mit den ungewollten Erfolgen der – Alchymie. Der »Stein der Weisen« war nie aus einer Retorte gekommen; Gold machen konnte man noch heute nicht und doch war in der Küche eines solchen Magiers das Pulver erfunden worden. Die Menschheit ahnte eben auch heute seelisches Neuland und wurde es diesmal entdeckt, gehörte es nicht mehr der Kirche und einem Glauben, sondern der Wissenschaft. Damit pflegte Tapponi sich vor sich selbst zu entschuldigen.
Langsam kam das Osterfest heran. Es fiel diesmal in den März und wurde, wie alljährlich, mit den üblichen Exerzitien eingeleitet, denen sich nicht nur die Schwestern, sondern auch sämtliche Zöglinge des Institutes unterwarfen. Dann erst durften diejenigen heimfahren, deren Eltern ferne von Rom wohnten, wenn es diese wünschten und die Haltung der Schülerinnen während des ganzen Halbjahres eine tadellose gewesen.
Sowie die Exerzitien begannen, verschwand der Geistliche, dem sonst die Seelsorge des Klosters anvertraut war, und ein Jesuitenpater trat an seine Stelle. Es war dies ein belgischer Graf, den die Lust zur Abtötung erst sehr spät und nach einem Leben voll toller Streiche angewandelt hatte, der aber jetzt der Strengsten einer war, und sich nicht wenig darauf zugute tat, auch in den Äußerlichkeiten seiner Bekehrung soviel mit dem heiligen Ignazius gemein zu haben. Wie der große Heilige seines Ordens, war auch er zuerst Soldat gewesen und hatte als solcher genossen und genommen was es zu genießen und zu nehmen gab. Wenn sämtliche Moraltheologen der »heiligen katholischen Kirche« sich zusammengesetzt hätten, um ein Pandämonium des sechsten Gebotes zu entwerfen, wäre beiläufig eine sehr vage Skizze dessen zustande gekommen, was Pater Liborius heute mit einem Seufzer sein »Leben in der Welt« nannte. Und da diese Welt die längste Zeit Paris hieß und Paris damals im Zeichen Baudelaires, Huysmans und der »Satanisten« stand, wäre vielleicht sogar die Phantasie eines ehrwürdigen Kongresses der Moraltheologen zuschanden geworden. Schon aus dem Grunde, weil sie gewisse Details nicht einmal auszudenken gewagt hätte, geschweige denn niederzuschreiben.
Aber auch der Körper des raffinierten Lebemannes konnte endlich den sublimen Ausschweifungen dieser Phantasie nicht mehr standhalten. Und nach einer jener Sinne und Nerven aufpeitschenden Orgien, die dem Teufel mehr gaben, als ein so gesunder Rationalist wie der Teufel jemals verlangt – wurde der übersättigte Wüstling von einem Nervenfieber niedergeworfen. Erst nach langen Wochen kam er wieder zu sich, im Spital seiner Garnison, in dem die stillen Töchter des heiligen Vinzenz von Paul pflichteifrig und lautlos ihres schönen Berufes walteten. Taubenseelen, aus deren Augen eine Güte und Reinheit leuchtete, die dem entmenschten Lüstling die erste Sensation eines neuen Lebens brachte. Wär' er noch der gewesen, der er war, hätt' es für den alten Satanisten kein höheres Ziel gegeben, als eine dieser Schwestern zu verführen. Aber die gemarterte Physis ließ ihn mit einem solchen Ekel vor dem erwachen, was seine Vergangenheit erfüllt, daß ihn die reine und schlichte Größe des ausübenden Christentums in tiefster Seele erschütterte. Und als eine der Schwestern ihm wie zufällig den Thomas a Kempis in die Hand spielte, verlor er sich mit aufschluchzender Sehnsucht an das »Wunder seiner Bekehrung«. Nach all den Orgien raffiniertesten Wissens der Sinne – die naive Gottes- und Seelenliebe dieses Buches, seine tiefe, wie von einem Engel entsiegelte Kenntnis der Welt und ihrer Eitelkeiten und nicht zuletzt die Seligkeit eines Friedens, der auch über den mißhandelten Körper wie Bethesdaflut niederging, wirkten gleich einer Panacee auf den lendenlahmen Invaliden Satans. Und als er sich von seinem Krankenlager erhob, war die Kirche um ein Wunder und um einen Fanatiker reicher. Für ihn wenigstens stand es fest, daß seine Bekehrung ein Wunder war. Und welcher Gläubige hätte dies anzuzweifeln gewagt, da es doch die Geschichte so vieler Bekehrungen war!
Nur eines war ihm aus den Tagen zurückgeblieben, da er »dem Bösen und seinem Anhang« gedient und geopfert: der Hang, auch in seinen Predigten und während der von ihm geleiteten Exerzitien immer wieder den Teufel an die Wand zu malen. Nur anders als er ihn früher gesehn: in all seiner wüsten Häßlichkeit mit den Narben aller Laster, von denen sein höllischer Leib brannte, als den Unhold, der bei jedem Schritt und Tritt hinter einem her war ... seiner Sache am sichersten, wenn man ihn am fernsten glaubte. Lange Stunden wurde er nicht müde, die ihm anvertrauten Seelen immer und immer wieder mit diesen Vorstellungen zu erfüllen und derart zu ängstigen, daß die von ihm geleiteten Exerzitien nach dieser Seite hin geradezu berühmt waren.
Für die Nonnen, die während eines ganzen Lebens mit dem Teufel im Kampf lagen, hatten diese Vorstellungen längst allen Schreck verloren. Die gesunde Jugend der Zöglinge aber reagierte in verschiedener Weise darauf. Den Lebensneugierigen und -hungrigen war es eine »pikante Schüssel«, die recht artig für das »große Diner da draußen« vorbereitete. Die Naiven schliefen regelmäßig ein. Die Phantastinnen aber hatten während dieser acht Tage entweder schlaflose Nächte oder solch entsetzliche Träume, daß der sonst so stille Schlafsaal von hysterischen Schreien wiederhallte oder von dem Geschluchz einer Angst, die wie ein Alp auf dem jungen Herzen hockte. Und eine solche Phantastin war auch Rita Dallago.
In der Nacht, die dem ersten Tag der Exerzitien folgte, weckte sie den ganzen Schlafsaal durch ihr Geschrei. Als sie zu sich kam, bat sie ihre Gefährtinnen unter Strömen von Tränen, doch ja den Schwestern nichts zu sagen. Darauf schliefen die anderen wieder ein. Nur Elena blieb an dem Rand ihres Bettes sitzen und suchte die Kleine durch allerlei Erzählungen und Schnacken auf andere Gedanken zu bringen. Umsonst. All die entsetzlichen Vorstellungen, mit denen Pater Liborius unter Tags ihre Seele erfüllt, hatten im Traum eine noch greifbarere Gestalt angenommen und spukten nun auch vor den wachen Augen des verängstigten Kindes. Die langen Schatten, die sich im Flackerlicht der Kerze längs der hohen Wände des Schlafsaales hinzogen, wurden zu eben so viel bösen Geistern. Das Gestöhn, mit dem der Frühlingssturm in den Kamin hinabfuhr, war der Triumphschrei Satans und seiner Heerscharen. Und ganz gewiß kamen sie, um Rita Dallago hinauszuzerren; durch denselben Kamin und noch dazu bei den Haaren. Zuletzt wurde ihr auch übel.
»Vielleicht hast du doch zu viel gegessen?« meinte Elena skeptisch. Da schien sich die gesunde Natur Ritas, die sich unterdeß erleichtert hatte, langsam wieder zu sammeln. »Zu viel gegessen!« knurrte sie und sah plötzlich ganz verbost drein. »Das geschieht mir doch Jahr für Jahr nach den Exerzitien, daß ich einen verdorbenen Magen heimbring' und von all den guten Sachen zu Hause nichts essen kann. Nicht einmal von dem Geweihten; selbst das Panetto widersteht mir, auf das ich mich schon das ganze Jahr freue. Und dann spei' ich und spei' und speie ... als wenn mir die ganze Hölle in den Magen gefahren wäre. Heuer kommt es noch früher. Und wenn das acht Tage so fort geht, werd' ich vielleicht überhaupt nicht nach Hause kommen. Und was soll ich tun, wenn ich die Hostie herausbrechen muß? Dann holt mich erst recht der Teufel.«
»Warum nicht gar!« sagte Elena, hatte aber Mühe, nicht in ein helles Lachen auszubrechen. So komisch erschien ihr Ritas Qual, die halb abergläubische Angst war und halb Zorn, so schnöde um die kulinarischen Genüsse des Osterfestes betrogen zu werden. Zuletzt aber obsiegte die Bosheit. Und während sie die Decke mit einem energischen Griff bis an die laut aneinanderschlagenden Zähne zog, sprach sie leise: »Aber wart' ... ich werd' es ihnen auch einmal heimzahlen!«
»Fang dir um Gottes Willen nicht wieder etwas an!« warnte Elena.
Rita schwieg und schloß die Augen. In dem runden Katzengesicht trat aber plötzlich ein solcher Zug lauernder Tücke und heimlicher Schadenfreude hervor, daß Elena sich ruhig wieder zu Bett legte. Der Teufel, der nun über Rita kam, war sozusagen ein Hausfreund des Klosters.
Der Saal, in dem die Exerzitien abgehalten wurden, sah nach den Ruinen des Palatin und trat mit seinen Fenstern so dicht an die Mauer heran, die den Park des Klosters umgab, daß man von hier aus sehr gut die Straße überblicken konnte und alle sehen, die da vorüber kamen. Natürlich hatten auch diese Fenster ihre Gitter. Solange die Nonnen denken konnten, war es noch keiner Schülerin eingefallen, bei diesen Gittern den Kopf herauszustecken. Daß es die Nonnen nicht taten, verstand sich von selbst. Zwar waren es nicht die gefährlichsten Leute, die sich da unten zwischen den Ruinen herumtrieben: meist reisende Engländer und endlos schwatzende Deutsche, die von noch geschwätzigeren Kustoden Tag für Tag wie eine Herde heraufgetrieben wurden und natürlich auch wie eine Herde geschoren. Dazwischen strolchten einige schmutzige »Ragazzi« herum, Betteljungen, die, immer hinter den Fremdenführern herlaufend, mit der Zeit soviel von ihrer Weisheit aufgeschnappt hatten, daß sie sich selbst als Führer anboten und mit kundigem Blick auch in der Regel ihre Opfer fanden. Meist Hochzeitsreisende, denen es ohnedies ganz gleichgiltig war, wo die Cäsaren sich nach ihren allzureichlichen Mahlzeiten erbrochen hatten und Caligula erstochen worden war. Fanden sie keine Leichtgläubigen, die sich anschwätzen und prellen ließen, lümmelten sie sich unter die Mauer des Klosters hin und spielten Mora oder schliefen ein; nie jedoch so fest, um das Geklimper der überflüssigen Soldi zu überhören, die diese » buffoni tedeschi« hier vorübertrugen.
Natürlich war Rita nicht die erste gewesen, die diese köstliche Gelegenheit, sich vom Kloster aus mit der Straße in Verbindung zu setzen, entdeckt hatte. Wohl aber war sie die einzige, die seit dem Bestand des Internates auch den Mut fand, diese Gelegenheit zu benützen. Erst hatte es ihr Spaß gemacht, die nach ihrer Meinung unsäglich dummen Gesichter der reisenden Engländer zu studieren. Sie fand, daß es doch köstlich wäre, auch so ein schmutziger Junge zu sein, wie die, welche sich da unten herumtrieben und denselben Leuten, denen sie soeben für den erbettelten Soldo gedankt, hinter dem Rücken eine Nase zu drehen. Wenn sich die Strolche aber gar balgten, zappelte Rita voll Vergnügen, und eines Tages war sie so kühn, die Streitenden durch allerlei Zurufe anzufeuern. Seit jenem Tage hatte sie ein paar gute Freunde mehr. Bald gab es nichts, was die kleinen Jungen nicht für sie getan hätten, wenn Rita nur den üblichen Obolus hinabwarf. Mehr als einmal hatte sie auf diese Weise Briefe an ihre Eltern und Freundinnen aus dem Hause geschmuggelt, die sonst nie und nimmer die Zensur der Präfektin passiert hätten. Nach einer empfindlichen Strafe, die ihr die Präfektin diktiert, waren am nächsten Tage gerade jene Fenster eingeworfen worden, hinter denen Mater Zenobia den Handarbeitunterricht leitete. Einer dieser Steine war sogar mit Rotstift bekritzelt und als die Präfektin ihn aufhob, leuchtete ihr in eckiger Schrift ein unhöfliches » strega vecchia« entgegen. Wem aber wär' es eingefallen, hinter diesen Streichen – Rita zu suchen? Hatte man sie doch nie bei einem Fenster ertappt. Und so kam auch diese Bosheit auf die Rechnung des großen Hasses, den das »Rom der Freimaurer« gegen alle empfand, die noch zum heiligen Vater hielten.
Die zwei nächsten Tage der Exerzitien gingen ruhig vorüber; am Morgen des dritten wußte es Rita zu ermöglichen, daß sie lange vor allen anderen in den Saal trat. Sie zog einen mit großen Buchstaben beschriebenen Zettel aus der Tasche, wickelte ein paar Kupfermünzen in ein gleichfalls beschriebenes Papier, band um all dies eine Schnur, die sie der Sicherheit wegen noch mit einem Stein beschwerte und schnellte ihr Geschoß mit einem kunstgerechten Wurf durch das bauchige Gitter, das für Ritas dünnen Arm noch immer weit genug war. Natürlich stand der von ihr herbeigewinkte Ragazzo bereits auf der Lauer. Mit grinsendem Behagen strich er das Geld ein und machte sich sofort an die Lektüre der beiden Zettel. Was er aber da zu lesen bekam, erschien auch ihm so drollig, daß er zunächst in ein wieherndes Gelächter ausbrach. Er gab der kleinen Missetäterin durch ein wohlwollendes Nicken zu verstehen, daß ihre Sache in den besten Händen wäre. Nachdem er halb zur Bekräftigung, halb um sie geschmeidiger zu machen, noch gründlich in die Hände gespukt hatte, begann er einige Marmortrümmer gegen die Mauer des Klosters zu rücken und befestigte den Zettel mit einem Holzspan in einer Ritze der Mauer.
Als Rita ihre Angelegenheit soweit gefördert sah, schloß sie leise das Fenster, zog ihr Gebetbuch aus der Tasche und setzte sich mit der Miene solch tief innerster Zerknirschung auf ihren Platz, daß es keiner Präfektin der Welt eingefallen wäre, aus diesem Antlitz etwas anderes herauszulesen, als die Gnade der »vollkommenen Reue«.
Langsam begann sich der Saal zu füllen. Es war zehn Uhr und die warme Frühlingssonne, die draußen alles in Licht und Glanz tauchte, glitt wie verschämt über all diese bleichen und übernächtigten Antlitze dahin, in denen so gar nichts von der ewigen Festfreude zu lesen war, in der die Natur sich draußen zu ihrer großen Auferstehung rüstete. Dumpfe Angst, wahnwitzige Selbstquälerei, stumpfe Ergebung und gleißnerische Demut riefen den Gott herab, den sie sich geschaffen und den sie, ohne es zu wissen, immer wieder ans Kreuz schlugen. Wer aber Pater Liborius reden hörte, der mußte zuletzt meinen, daß der Teufel dreimal stärker sei als Gott und der Erlöser. Und je blässer all diese Antlitze wurden, je furchtsamer sich all diese Häupter neigten – all diese blühende Jugend in sich zusammenbrach, desto gesättigter leuchteten die Augen des Fanatikers auf. Von denen, die er auf die Fallstricke des Teufels vorbereitete, würde nicht eine den Mut haben, anders zu werden als er wollte. Nicht eine das Herz beklemmende »Anathema« vergessen, das er gegen das Leben schleuderte, wie es draußen gelebt wurde. Und so blieben all diese Seelen zeitlebens sein eigen, wer immer auch in den Besitz dieser Leiber gelangen mochte. Es war die letzte Genugtuung eines bekehrten Satanisten.
In gewohnter Demut und Hingebung horchten die Schwestern auf. Nur Mater Benedicta empfand auch hier das »zu viel«. Aus der Tiefe ihres schlichten aber echt christlichen Gemütes heraus, dem der Erlöser doch mehr war als ein finsterer Richter, der nur Genugtuung heischen und verdammen konnte. Hatte er nicht selbst der Ehebrecherin verziehen? Und welch' innige Schöpfermilde atmete in mancher Rede auf, die er an die Apostel richtete. Und was erwiderte er dem zornigen Ungestüm des Jakobus und Johannes, als sie von ihm verlangten, daß »Feuer niederfahre vom Himmel« über ein Dorf der Samariter? » Ihr wisset nicht, wessen Geistes ihr seid!«
Ob Pater Liborius es wußte? Aber Mater Benedicta war viel zu demütig, um diese Gedanken auch nur in einem einzigen Worte laut werden zu lassen. Nur ihre Seele wehrte sich fast krankhaft, die Bilder und Vorstellungen in sich aufzunehmen, mit denen der fromme Pater die Phantasie seiner Zuhörerinnen bedrängte. Sie war ja auch nur ein Mensch, ein junges, gesundes Weib, dem die Wallungen des Blutes nicht fremd blieben. Aber dieser Teufel war ihr entschieden zu unrein! War es möglich, daß Gott auch nicht einen Funken von Liebe mehr hatte für seine Schöpfung, wenn sie schon so tief gefallen? Er, der seinen eingeborenen Sohn hingegeben! Der heilige Ignazius mußte zwar auch das besser wissen als sie. Wie ganz anders aber hatte Franz von Sales empfunden. Und er war auch heilig geworden!
Unterdeß sprach sich Pater Liborius immer zorniger in seinen Eifer hinein, bis zwei dunkle Flecken auf seinen fahlen Wangen brannten und kein anderer Laut mehr in dem weiten Saal zu hören war, als da und dort ein Seufzer oder das dumpfe Aufschluchzen einer geängstigten Seele. Seine Worte aber gingen wie Geißelhiebe nieder ... jedes im selben Takt; jedes mit der gleichen Hebung und Senkung. Eine studierte Monotonie, die sich wie Blei erst auf die Nerven legte und dann ganz heimlich auch den Willen fesselte, bis all diese Frauenseelen im Banne einer einzigen Hypnose lagen; seiner Hypnose ...
So wurde es langsam elf Uhr. Die Stunde, welche die Fremden an schönen Tagen so gerne dem Besuch des Palatin widmeten. Standen im Frühling und Herbst hier die Fenster offen, hörte man sogar ihre Stimmen und die breitspurige Redseligkeit, mit der die Führer ihre eingelernte Weisheit auskramten ... Aber heute mußten wohl außergewöhnlich viele da draußen herumgehen. Vielleicht ein ganzer Trupp, wie ihn die großen Reisebureaus meist zu Ostern auf dieses unglückliche Rom losließen. Denn das Getrappel nahm kein Ende und das Gemurmel wurde immer lauter und zudringlicher. Die Fenster waren zwar geschlossen, aber es waren nur einfache Fenster. Und so tief auch all' diese Seelen gesammelt waren, Pater Liborius konnte es nicht ungeschehn machen, daß all' diese Weiberköpfe auch Ohren hatten.
Zuletzt machte auch er eine ungeduldige Bewegung und setzte eine Weile aus, bis die draußen sich verlaufen würden. Doch im selben Augenblick schrillte ein solch gellender Glockenriß durch das stille Kloster, daß sämtliche Nonnenköpfe zugleich emporfuhren. Kein Zweifel ... draußen ging etwas vor ... Aber was?
Die Präfektin blieb ruhig auf ihrem Platz. Sie wußte, daß der Dienst an der Pforte in guten Händen lag und daß die »da draußen« den Frieden des Klosters nur störten, wenn es galt, jemandem rasche Hilfe zu bringen. Vielleicht war ein Reisender plötzlich unwohl geworden oder ein Bettler vor Hunger umgefallen. Die Römer wußten in solchen Fällen noch immer, wo sie rasche Hilfe und einen Topf guter Suppe fanden. Und da auch Mater Renée unbeweglich blieb, konnte man ja einstweilen abwarten, was weiter geschehen würde.
Zum zweitenmal schrillte die Glocke auf. Hatte die Pförtnerin nicht geöffnet? Oder waren es Leute, denen man überhaupt nicht öffnen konnte? Zugleich ein lautes Halloh von draußen ... Die Sache begann ernst zu werden.
In diesem Augenblick erschien eine der »Winden« unter der Tür. Knixte ehrerbietig gegen den Pater hin und gab der Präfektin durch eine verlegene Gebärde zu verstehen, daß sie leider stören müsse, so peinlich es auch wäre. Geräuschlos huschte Mater Zenobia nach der Türe, die sie eben so lautlos hinter sich und der dienenden Schwester schloß. »Nun?«
Die »Winde«, die im Auftrag der Pförtnerin die Meldung zu erstatten hatte, war ein schlichtes Bauernkind aus den volskischen Bergen. Gut, geduldig, immer mit demselben Ausdruck stumpfer Bereitwilligkeit in dem derbknochigen Antlitz, aber ein Kirchenlicht war sie nicht. So wußte die Präfektin aus den ersten Blick, daß die Gute auch diesmal etwas vorzubringen habe, das ihrem Verständnisse so ferne lag, wie der Vesuv den volskischen Bergen.
»Also – was gibt's?« herrschte sie die »Winde« an, als diese noch immer keinen Versuch machte, den Mund zu öffnen. Sie fand es einfach ärgerlich, daß eine Schwester, wenn sie schon so dumm war, sich nicht bemühte, wenigstens etwas klüger dreinzusehen.
»Es sind Fremde draußen!« murmelte die »Winde« verstört; »viele Fremde.«
»Das haben wir ohnedies gehört.«
»Feine Leute ...« setzte die Volskerin mit einer verzweifelten Gebärde hinzu.
»Gut, gut. Aber was wollen sie?«
»Die Knochen der Vestalinnen«, stotterte die »Winde« und machte dabei ein Gesicht, – so fromm und sanft und ergeben, als wäre sie jeden Augenblick bereit, ihre eigenen Knochen auszuliefern.
Die Präfektin stand wie vom Donner gerührt; doch nur einen Augenblick, denn der Unsinn, der da vorgebracht wurde, war ja zu augenfällig. Wahrscheinlich hatte irgend ein Führer den Reisenden von den Ruinen erzählt, die im Park des Klosters lagen ... Und nun wollten diese Leute in ihrer Zudringlichkeit nicht nur den Apollotempel sehn, der sich tatsächlich innerhalb der Klostermauern befand, sondern auch irgend eine Begräbnisstätte der römischen Götzendienerinnen, von der niemand etwas wußte. Wie töricht von der Pförtnerin, diesen Leuten auch nur Rede und Antwort zu stehn. Und weil die Pförtnerin nicht vor ihr stand, goß sie die ganze Schale ihres Unwillen über die arme »Winde« aus.
»Die Knochen der Vestalinnen? Wo wären denn die?« rief sie ärgerlich; »doch nicht bei uns! Sagen Sie der Schwester Pförtnerin, daß es die hier nicht gibt und selbst wenn es solche gäbe, kein Mensch dieses Haus betreten darf. Der Park ist Klostergut. Haben wir unser Recht bisher gegen die Archäologen des Königs verteidigt, werden wir es auch gegen ein paar hergelaufene Fremde zu schützen wissen. Haben Sie mich verstanden?
Die »Winde« zog ein weinerliches Gesicht, schien sich aber zugleich mit einer Art Genugtuung eines Umstandes zu entsinnen, der das, was sie vorbrachte, nicht so unsinnig erscheinen ließ, als es Mater Zenobia hinstellen wollte. Und rascher, als es sonst ihre Art war, erwiderte sie: »Wenn aber die Frau Oberin selbst sie verkaufen will?«
»Was?« fuhr die Präfektin los.
Die »Winde« wich unwillkürlich zurück.
»Nun, die – die Knochen der Vestalinnen!«
»Die Knochen der Vestalinnen ... verkaufen? Wir!« rief die Präfektin. »Und diesen Unsinn laßt ihr euch aufschwatzen? Öffnet den Bösewichten, die ihren Spaß mit uns haben wollen und bringt das noch allen Ernstes vor ... Da könnte man ja den Teufel ebensogut an die Pforte setzen!«
»Aber der Zettel hängt doch an der Mauer draußen.«
Die Präfektin verfärbte sich. »Ein Zettel?«
»Ja, der Zettel, auf dem das steht.«
»Was?«
Die »Winde« machte sichtlich einen verzweifelnden Versuch, ihre Gedanken noch einmal zu sammeln. Aber es gelang. Und ihre Freude, sich endlich einmal etwas gründlich gemerkt zu haben, war so groß, daß sie fast die der Präfektin schuldige Ehrfurcht vergaß, und ihr mit bäuerlicher Lebhaftigkeit ins Gesicht schrie: »› Si vendono qui ossi di Vestali!‹ Ja. So steht es draußen. Und der Zettel ist angeheftet. Und Mater Renée hat ihn selbst geschrieben oder ich hab' noch nie die Schrift unserer Frau Oberin gesehen!«
Mater Zenobia stand einen Augenblick sprachlos. Sie faßte rechts und links die Zipfel ihres Schleiers, wie sie immer tat, wenn sie mit ihrer Weisheit zu Ende war. »Warten Sie hier!« gebot sie kurz. Damit verschwand sie in dem Exerzitiensaal. Sie hatte die Türe noch nicht recht geschlossen, als die Glocke zum drittenmal durch das stille Haus schrillte. Zugleich wurde mit plumpen Fäusten an die Pforte gepocht. Den »Ragazzi«, die um den Streich wußten, machte es einen Spaß, die Angelegenheit scheinbar ernst zu nehmen und durch ihr Teil Lärm den kauflustigen Engländern so rasch als möglich zu ihrem Recht zu verhelfen. Mit Stöcken und Füßen trommelten sie an die Pforte und der Findigste unter ihnen hatte auch bereits eine Melodie gefunden, nach der sich die Worte der Affiche in der Art eines Ritornells singen ließen.
»
Si vendono qui
ossi –
di Vestali-i«
Das wurde im Chor herabgebrüllt, halb Spottlied, halb Klagegesang. Zugleich ein Racheakt der diebischen Weglungerer, die der Gärtner des Klosters zur Zeit der Obstreife schon unzähligemale von der Mauer heruntergeprügelt hatte. Zuletzt wurde der Lärm so gräulich, daß die Pförtnerin mit fliegendem Schleier durch den Korridor gelaufen kam, um der nach ihrer Meinung allzulangsamen »Winde« Beine zu machen.
Da trat Pater Liborius aus dem Saal. Hinter ihm Mater Renée und die Präfektin.
»Wir haben doch unser Garantiegesetz«, schrie der Priester empört. »Und das ist ja der reine Überfall. Lassen Sie sofort Polizei holen.«
Aber Mater Renée schüttelte das Haupt. So widerwärtig ihr auch jeder Pöbelauflauf war, empfand sie doch sofort, daß ein Erscheinen der Wache die Szene noch lärmender gestalten könnte. Wenn dieses ganze Spiel nicht überhaupt angelegt war, dem Kloster eine Ungelegenheit zu bereiten und der Regierung einen Vorwand mehr zu geben, die Villa samt den Altertümern wieder in ihren Besitz zu bringen. Auch war sie müde, so totmüde, wie sie dastand, vom Fieber geschüttelt, den Glanz all der schlaflosen Nächte in den armen Augen – im Blick die immer wache Angst, durch keine Miene zu verraten, wie es eigentlich um sie stand.
»Nicht, nicht,« wehrte sie sanft, aber entschieden ab. »Es genügt ja, wenn der Gärtner hinausgeht und diesen Zettel von unserer Mauer nimmt, damit alle sehn können, daß es sich bloß um einen Bubenstreich handelt. Das andere wollen wir – wollen wir dem lieben Gott überlassen«, setzte sie leiser hinzu. Und mit einem gebietenden Wink nach der Pförtnerin: »Schicken Sie sofort nach dem Gärtner!«
»Und dieser – dieser Wackelgreis soll der Meute da draußen imponieren? warf Pater Liborius hin. »Sie sind natürlich die Oberin und haben zu verfügen. Aber ich sage Ihnen« –
» Sie können doch nicht hinaus,« murmelte Mater Renée. »Und wir dürfen nicht. Nun denken Sie aber, wenn man die Carabinieri heraufreiten sähe ... in kurzer Zeit wäre ganz Rom oben.«
»Größer könnte der Lärm auch nicht sein,« meinte Pater Liborius achselzuckend. »Hören Sie nur!«
Und das Gejohle und Getrampel gab ihm für den Augenblick Recht. Wie eine Herde versprengter Schafe hatten sich unterdeß die anderen Nonnen um ihre Oberin versammelt und hinter ihnen drängten die Zöglinge aus dem Saal. Die meisten mit verlegenen Mienen, hinter deren pflichtschuldiger Verstörung man ganz deutlich das kindische Vergnügen hervorleuchten sah, auch einmal so etwas zu erleben.
»
Si vendono qui
ossi –
di Vestali-i-i«
brüllte der Chor draußen und schlug gleich darauf in ein Höllengelächter um. Ein Zufall fügte es, daß Elena gerade in diesem Augenblick nach Rita hinübersah und daß beide lächelten. Ein Lächeln, das kaum einer Sekunde Dauer hatte; und doch lange genug währte, um von der Präfektin bemerkt zu werden. Da Mater Zenobia gewohnt war, alles Böse, das im Hause geschah, den »verderbten Instinkten« Elenas zuzumuten, stand es bei ihr sofort fest, daß Elena das Ganze angestiftet haben oder wenigstens sonst wie um die Sache wissen müsse, daß auch Rita Dallago gelächelt, machte ihr weiter keinen Eindruck. Die war ein gutes, ein frommes, ein legitimes Kind. Vorderhand freilich beschloß sie, ihre Vermutung für sich zu behalten. Irgend ein Anlaß würde sich schon finden, um Elena zu überweisen.
Plötzlich wurde es draußen still. Man hörte die meckernde Greisenstimme des Gärtners » E niente, Signori, niente ...«
Die Fremden schienen endlich zu verstehn, daß sie einem Bubenstreich aufgesessen. Die kleinen Obstdiebe aber brachen beim Anblick ihres Feindes in ein noch lärmenderes Gelächter aus.
»
Si vendono qui
ossi –
di Vestali-i-i-i!!«
Das sangen, johlten, bellten sie ihm förmlich ins Gesicht. Zuletzt ein schriller Hohnruf: »Er braucht sie selbst!« Und dann ein kräftiger Fluch des Alten. Enteilende Schritte ... das, aus immer weiterer Ferne herüber klingende Spottlied, der Spektakel war zu Ende.
Gleich darauf erschien die Pförtnerin mit dem Zettel. Und als Mater Renée ihn zur Hand nahm, schüttelte sie in ehrlichem Staunen das Haupt. So trefflich war ihre Schrift nachgeahmt. Der Zettel ging von Hand zu Hand und kam so auch an die Präfektin. Aber Mater Zenobia schien geneigt, die Sache gründlicher zu nehmen. Mit sichtlich beflissener Langsamkeit zog sie erst ihre Brille hervor, strich die Buchstaben förmlich mit der Nase ab, machte mit dem Kopf eine Bewegung, die skeptisch und pfiffig zugleich aussehen sollte, und verzog die schmalen Lippen zu einem boshaften Lächeln. Und während sie den Zettel an Mater Ignazia weitergab, sprach sie fest und bestimmt: »Der ist hier im Hause geschrieben!«
»Glauben Sie?« fragte Mater Ignazia erschrocken. Die Präfektin gab keine Antwort. Aber der grüne Schillerblick ihrer kleinen Reptilaugen schoß in diesem Moment wie ein aufzüngelndes Flämmchen nach Elena hinüber. Und da die Präfektin laut genug gesprochen, um auch von den anderen Schwestern verstanden zu werden, richteten sich auch die Blicke all' dieser anderen zugleich mit dem ihren auf Elena. Und zwanzig böse, kalte, gehässige Nonnenaugen saugten sich an dem blassen Antlitz fest, bis die arme Elena zu verstehn begann und mit einem Male bis an die Schläfen errötete. Nicht anders, als wäre sie wirklich die Schuldige, worauf die Präfektin den übrigen Schwestern zublinzte und mit einem leichten Händereiben die Sache einstweilen auf sich beruhen ließ.
Dann nahmen die Exerzitien ihren Fortgang.
Als die Zöglinge nach der kargen Fastentafel zu kurzer Erholung in das Sprechzimmer traten, sah sich Elena förmlich gemieden. So viel Spaß auch der Skandal den jungen Damen gemacht – mit der heimtückischen Veranstalterin dieses Skandals wollte nicht eine mehr etwas zu tun haben. Eine fremde Schrift hatte sie auch gefälscht wie der nächstbeste gemeine Betrüger. Da mußte man sich ja fast schämen, in derselben Bank mit ihr zu sitzen. Das leise tuschelnde Häuflein, das sich dort um die junge Fürstin Chigi versammelte, beriet in der Tat schon, ob man die Oberin nicht ersuchen müßte, Elena Ziani zu entlassen, denn das war nicht mehr »fair«. Und daß es eine Adelige getan, machte die Sache nur noch schlimmer und gemeiner. Rita Dellago aber ging von einer Gruppe zur andern, horchte hier auf, lachte dort mit, und tat so sicher und unbefangen, als wär ihr das Ganze eben auch nicht mehr, als ein interessantes Erlebnis. War sie auch so unklug gewesen, Elena von ihrer »Rache« zu sprechen – konnte ihr Elena beweisen, daß gerade dieser Streich ihre »Rache« war? Nicht einmal die »Großmütige« konnte sie diesmal spielen, wie sie so gerne tat, die edle Elena Ziani, die der kleinen Rita so unsäglich lächerlich erschien. Und daß die Schwestern bei allem, was geschah immer und immer nur Elena verdächtigten, war ja bei Gott nicht Ritas Schuld.
Auch Alba hatte sofort begriffen, auf wen die Präfektin zielte. Und weil es ihr nach den Exerzitien nicht gelungen an Elena heranzukommen, stahl sie sich jetzt in das Sprechzimmer, obwohl sie jeden Augenblick bereit sein sollte, sich zum Stundengebet auf dem Chor einzufinden.
Als sie eintrat, lehnte Elena in der Fensternische und starrte mit finsteren Blicken auf den Garten hinaus, der in den ersten Frühlingsblüten prangte. Die dunklen Brauen waren zusammengezogen, um die stolzen Lippen zuckte es. Noch hielt sie sich aufrecht wie jemand, dessen Stolz noch immer groß und frei genug ist, um auch nicht ein Wort an die Verachtung der anderen zu verlieren. Aber sie mußte ihr doch wehetun, diese Verachtung, und weher als alles die Möglichkeit, ihr überhaupt so etwas zuzutrauen. Der scharfe Glanz der Frühlingssonne ließ sie noch einmal so blaß erscheinen und lieh dem trotzigen Ausdruck ihres Antlitzes etwas von der Wehmut einer unendlichen Verlassenheit. Wäre sie mitten in einer Einöde gestanden, nichts um sich und über sich, als das Meer und den Himmel, sie hätte auch nicht einsamer sein können als hier, wo so viel Jugend und Frohsinn um sie blühten und doch niemand von ihr etwas wissen wollte. Wie eine Verdammte steht sie da, dachte Alba.
»Alba – pst – Alba!« winkten ihr die anderen zu. Sie waren neugierig und hofften aus der jungen Novize etwas herauszubringen. Alba speiste jetzt an dem Tisch der Schwestern und ganz gewiß hatte man dort von der Ziani gesprochen. Dazu war der Skandal zu groß gewesen, die Mienen der Konventualinnen zu erregt, selbst während der Mittagstafel; also konnte auch die Chietti einiges erlauscht haben. Doch Alba schritt ruhig an dem zischelnden Trüpplein vorüber und trat zart an die Seite der Ziani.
»Elena!!«
Zögernd, fast unwillig hob Elena das Haupt. Wieder glaubte Alba in ihrem Blick den Ausdruck des vagen Mißtrauens zu erkennen, mit dem ihr Elena begegnete, seit sie das Novizenhäubchen trug. Solch ein Blick, in dem sich Spott und lauernder Argwohn mit einer Frage zu mischen schien, die nie ausgesprochen wurde und doch beständig auf diesen Lippen schwebte, deren frühreifes Schweigen von solch tragischer Beredsamkeit war. »Ich weiß sehr wohl, warum du auf einmal Nonne wirst, wenn du auch zu stolz bist, es mir zu sagen; du, der ich die Bücher verstecken half, in denen man solche Dinge liest. Deine Mutter ...«
Immer wieder fürchtete Alba, diese Worte zu hören. So deutlich sprachen sie aus Elenas Mienen und Lächeln. » Deine Mutter!« Es gab Tage, an denen sie der Ziani geradezu auswich, nur um diese Worte und dieses Sachen nicht einmal wirklich hören zu müssen. Eines stand fest bei ihr: mußte die Fürstin Chietti ihr Kind hier begraben, um Sühne zu finden und Ruhe, sollte auch ihre Schande für immer hier begraben werden. Ihre Schande? Warum sich in Alba noch immer alles auflehnte, die Stunde, die ihr das Leben geschenkt, in dieser Weise zu verdammen? Warum sie gerade im Frieden dieser Mauern immer häufiger und inniger ihres unbekannten Vaters gedachte? Wie eine lauernde Empörung schlummerte das in ihrer Seele. Aber war es, wie es war – es sollte ihr heilig sein: Dieses Weh und dieses Schweigen! Deshalb war sie der Ziani in der letzten Zeit so beflissen ausgewichen, heute aber tat sie ihr unsäglich leid, wie sie so dastand: bleich und verlassen und hohnumzischelt. Nicht einmal der Argwohn in den dunklen Augen tat ihr weh. Empfand sie jetzt nicht selbst, was solch ein Kind empfinden mußte? Gerade nur, daß es von ihr noch niemand wußte ... o wie leid sie ihr plötzlich tat, die Einsame, die da stolz und trotzig ein Martyrium trug, dessen Alba sich noch schämte.
»Elena,« begann sie weich und leise – »ich will dir nur sagen, daß ich natürlich nur das Beste von dir glaube, was auch die anderen jetzt sagen und zischeln mögen.«
Um Elenas Lippen zuckte es bitter. Sie lachte auf: kalt, laut, daß auch all die anderen es hören konnten. »Sehr gnädig von dir. Nun ja ... wir kennen uns ja auch lange genug und gut!«
Aus diesem »gut« klang es wie eine leise Drohung, wie ein heimlicher Wink, daß Alba Chietti die letzte wäre, die hier großmütig zu sein hätte. »Sie legt es mir als eine Art Herablassung aus,« dachte Alba beschämt. Und – schien es nicht auch so? Wenigstens in diesem Augenblick mußte es Elena so empfinden.
»Du darfst mich nicht mißverstehen!« bat sie zart. »Mein ganzes Herz ist bei dir in dieser Stunde.«
»O danke!« lehnte Elena ab und wieder kroch ihr Blick über Alba hin. Dieser gewisse Blick, in dem alles aufflackerte, was Alba fürchtete, der in dieser Minute selbst Albas Mitleid mit seinem Hohn als das kennzeichnete, was es ja auch in der Tat war: das wehleidige Verständnis einer Mitbetroffenen.
»Mißverstehen – mißverstehen ...« lachte Elena dabei. »Aber mich zu verstehen ... mir nur einmal nicht wehe zu tun – dazu hat sich noch keines von euch die Mühe genommen.«
»Es stünde auch dafür,« höhnte die junge Chigi herüber.
»Elena spricht jetzt mit mir!« rief Alba entrüstet.
»Aber blamiert hat sie uns alle!« schnippte sie die kleine Vedoni ab. »Und so oft es hier einen Skandal gibt ...
»Ach, laßt sie doch endlich in Ruhe!« bat Rita Dellago. Die Augen Elenas wollten ihr auf einmal nicht recht gefallen.
»In Ruhe – mich ...« höhnte die Ziani, während sie sich mit einem plötzlichen Ruck den anderen zukehrte. »Ich hab' euch zu lang in Ruhe gelassen, euch und diese – frommen Schwestern. Immer nur zugeschaut und geschwiegen, selbst zu diesem Schwindel, von dem ich noch heute nicht weiß, ob es Betrug oder Dummheit ist.«
»Elena!« warnte Alba erschrocken. Sie hatte noch keine Ahnung, wo hinaus Elena wollte, aber doch eine dumpfe Empfindung für all den unvorsichtigen Haß, der da so plötzlich in ihr aufkochte und sie wieder fortreißen konnte – wer weiß wohin?
»Was ist hier Dummheit oder Betrug?« schrie die Chigi mit zorngeröteten Wangen. »Das sieht ja bald so aus – als ob auch wir« ... sie schwieg, machte aber zugleich eine Achselbewegung, die verächtlicher war und herber, als alles was eine Italienerin in diesem Augenblick sagen konnte.
»Ach – ihr!« höhnte Elena, nicht mehr zu halten ... »Ihr seid natürlich nur die Dummen!«
»Weil wir unter den Strolchen da draußen keine Mitwisser haben?« entgegnete die Chigi.
»Oder keine fremden Schriften fälschen können?« sekundierte die Vedoni.
»Weil ihr euch nicht einmal die – Heiligenbilder anschaut, zu denen ihr hier beten müßt!«
Ein Augenblick atemloser Stille trat ein. Die Heiligenbilder – die Heiligenbilder? Was konnte sie meinen?
Aber Elena ließ sie nicht lang im Unklaren. Und nun geschah das Entsetzliche: ihr ausgestreckter Arm wies nach dem Wunderbild, daß die Hand Mater Dominikas in ekstatischer Stunde an die Wand des Sprechzimmers gezeichnet, genau so, wie sie vor ihrem Seherblick dort aus der Wand getreten war, die – » Mater admirabilis«.
»Jesus Maria!« rief eine Stimme mitten in das Schweigen hinein. Aber Elena ließ sich nicht irre machen. Mit fester Hand ergriff sie den Löschstock, dessen sich die »Winden« täglich beim Anzünden und Verlöschen der Lampen vor dem Gnadenbilde bedienten und schritt ... nein, schritt nicht auf die Mater admirabilis zu, sondern begann Linie um Linie des nächsten Ornamentes in der grünlichen Tapete nachzuziehen: hier einen Umriß beiseite lassend, dort einer Windung etwas weiter folgend, wo die Zeichnung allmählig in ein anderes Ornament überging ... Bis der blasphemische Beweis gelungen war, und auch die anderen sehen mußten, was nur der Zweifelblick Elena Zianis erkannt: daß der vage Umriß dieses Wunderbildes so und so oftmal in der Tapete wiederkehrte, sozusagen das Negativ des Ornamentes war, das irgend ein obskurer Zeichner in irgend einer – Fabrik entworfen.
Stumm, keines Wortes mächtig, folgten die jungen Mädchen dem auf und abgleitenden Stab und mit einem bösen Lächeln, das der Ausdruck einer heimlichsten Genugtuung war, genoß Elena diese große Stunde. Was all die Frommen und Braven da um sie auch jetzt dachten, zu dieser Madonna würde keine mehr den Blick heben können, ohne beschämt an die eigene Gedankenlosigkeit erinnert zu werden. Wie eine Defloration all dieser korrekten Seelen war es. Und das bleiche Kind der Liebe stand in höhnischem Triumph da und genoß zum erstenmal eine süße Stunde der Rache.
Die jungen Mädchen fanden noch immer kein Wort, starrten nur Elena an ... Elena und den dünnen, abgegriffenen Löschstock, der ihnen plötzlich eine ganze Welt entzaubert. So sahen die Wunder und Visionen aus! Eine einzige Täuschung, in die man blindlings hineinfiel, wenn man blind – glaubte. Und Mater Dominika ... sollte sie wirklich auch so – blind gewesen sein, als sie die Madonna aus der Wand treten sah und mit zitternden Händen nach der Kreide gegriffen hatte, um diese Theophanie festzuhalten? Es waren noch halbe Kinder, denen die Frühreife der jungen Zweiflerin plötzlich die Augen geöffnet hatte. Aber die angeborene Noblesse ihrer Empfindung fühlte sich von dieser Täuschung eben so angewidert, wie von der Gegenwart einer Mitschülerin, die so viel Übung im Fälschen einer fremden Schrift gezeigt. Zu welch harmlosem Spaß schrumpfte diese Fälschung zusammen, wenn man sie mit dieser »Vision« verglich. Und sie alle hatten hier – angebetet, waren vor dieser – Tapete ins Knie gesunken! Vor dieser Halluzination einer ehemaligen Bäuerin, die gewiß schon damals eine – Wahnsinnige gewesen!
Das ging so in den jungen Köpfen hin und her. Ein Gewoge aufrührerischer Gedanken und peinlicher Empfindungen, die um so quälender waren, als sie dem Unbehagen so und so vieler Herzen entsprangen, denen der Glaube ein wirkliches Bedürfnis, das Vertrauen noch eine süße Angelegenheit ihrer Jugend war.
Was und wem sollte man jetzt glauben? Das stand in jedem Antlitz geschrieben.
»Was treibt ihr da?«
Es war die Stimme der Präfektin, die plötzlich wie ein Blitzstrahl in dieses dumpfe Schweigen hineinfuhr ... die größte Unruhe, der tollste Lärm fanden bei ihr noch immer ein nachsichtiges Verständnis, zumindest ein rascheres Verzeihen. Nur eines erregte stets ihren Argwohn: schweigende Kinder. Und diesmal schwiegen alle. Und der Mittelpunkt dieses Schweigens war wieder Elena. Sie, die den Aufruhr förmlich mit sich zu tragen schien, was sie auch tat, wohin sie auch kam und schon jetzt schweigen konnte, wie das ganze Kloster. Mater Zenobia hätte nicht die vollendete Asketin sein müssen, die sie war, wenn die Situation, die sie vorfand, ihr nicht sogleich eine ganze Geschichte erzählt hatte.
»Was treibt ihr da?« sprach sie aufs neue, diesmal so schrill und laut, daß die Frage bereits zum Befehl wurde.
Abwechselnd errötend und erbleichend sahen sich die jungen Mädchen an. Aber noch fand sich keine, die die Verräterin machen wollte.
Langsam glitt der schillernde Lauerblick der Präfektin von einer zur anderen. Doch – was hielt sie sich erst lange auf? Dort stand ja Alba Chietti, die Novize! Was all diese vornehmen Dämchen vielleicht unfein fanden ... sie mußte es sagen. Mußte – gehorchen; schon jetzt, wie sie in Zukunft ihr ganzes Leben lang gehorchen mußte. Mit der kühlen Sicherheit der Vorgesetzten trat sie auf Alba zu. »Was ist hier geschehn?«
Aber nur ein stolzer Blick Albas antwortete ihr.
»Sie wissen, daß Sie zu gehorchen haben.«
»Meiner Oberin,« erwiderte Alba ruhig.
»Und allen, die sie vertreten,« klang es scharf zurück.
»Wenn ich meine Gelübde abgelegt habe, werd' ich auch das tun.«
Die blutleeren Lippen der Präfektin begannen leise zu zucken. Doch sie beherrschte sich noch und die Sanftheit ihrer Stimme klang doppelt widerlich, als sie entgegnete: »Wenn Sie jemals dazu kommen wollen, diese Gelübde abzulegen, müssen Sie schon jetzt gehorchen.«
Mit einem Ruck warf Alba das Haupt zurück. Wie eine gewaltige Erschütterung ging es zugleich durch ihre ganze Seele. Es war ihr Stolz, der sich da aufbäumte – derselbe Stolz, der bisher so heldenmütig geschwiegen und gelitten hatte. Dieser eingeborene Adel von Mutter- oder Vaterseite her, der alles ertragen, alles erleiden, nur eines um nichts in der Welt begehen konnte, eine Gemeinheit! Und daß man das von ihr verlangte, darüber war sie sich nie klarer gewesen, wenn es auch unter Anrufung der christlichsten aller Tugenden geschah. Etwas Reines, Hohes, unsäglich Schönes und Menschliches bäumte sich da in ihr auf, etwas, das sie förmlich leuchten zu sehen glaubte, als wär' es ihre Seele selbst oder wenigstens das, woraus ihre Seele lebte. Und das sollte sie entweihen, entadeln, entwurzeln lassen? Ja was glaubte sie denn, diese mit dem schwarzen Stofflappen zu Ehren gekommene Bäuerin? Und mit einem Lächeln, in dem sie all ihren Stolz und all ihre Verachtung aussprach, erwiderte sie fest: »Wenn ich einmal diese oder jene – Schwester sein werde, gern. Einstweilen bin ich noch die Fürstin Chietti!«
Zum erstenmal in ihrem Leben fand Mater Zenobia keine Antwort, nicht bloß aus Entrüstung. Sie war eine zu kluge, eine zu feine Menschenkennerin, um nicht sofort zu empfinden, daß der Trotz, der sich plötzlich in Albas ganzer Haltung aussprach, doch mehr sei, als eine vorübergehende Laune. Aufs Äußerste getrieben, war diese Alba Chietti vielleicht sogar imstande, dem Kloster wieder den Rücken zu kehren. Auch das konnte dem Kloster noch gleichgiltig sein. Aber wenn diese Chietti wieder austrat, verlor der Konvent zugleich eine halbe Million Lire, die sie von ihrer Mutter miterhielt. So hoch beiläufig wurde Albas Gelübde hier eingeschätzt. Und der Konvent brauchte diese halbe Million, die, obwohl noch nicht ausbezahlt, in den Voranschlägen für die nächsten Jahre bereits eine wichtige Rolle spielte. Das wußte niemand besser, als die Präfektin, die mit der Oberin zugleich die Kasse führte und für die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Klosters dieselbe fanatische Hingebung hatte, wie für seine geistlichen. Zwei große Tage gab es jeden Monat im Leben dieses Weibes: die Aussetzung des Allerheiligsten und den – Rechnungsabschluß. Beide fanden sie immer gleich gut vorbereitet. Ihren Gott durfte sie nur empfangen, nicht berühren. Aber das Gold, das an diesen Tagen immer durch ihre Finger rollte, hatte für sie mit der Zeit etwas von Abglanz dieses Gottes angenommen. Wofür sparte, wucherte, knauserte man – wenn nicht zu seiner höheren Ehre und dem immer weiter sich ausbreitenden Einfluß des Konventes? Und was konnte man nicht alles tun mit diesem Golde! Neue Schwesterhäuser gründen, reiche Peterspfennige stiften; der »Propaganda« die so notwendige Groschen zur Bekehrung der Heiden zuwenden; Zeitungen kaufen und unterhalten. Vor allem aber immer größere Haufen des blinkenden Metalles zusammenscharren, sie da und dort fruchtbringend anlegen. Auch der Konvent hatte ja seine Agenten und Spekulanten, genau so, wie die Verwaltung des Peterspfennigs. In Rom wurde jetzt so viel gebaut, ganze Viertel entstanden, verschlangen das Geld zu Hunderttausenden und versprachen Millionen wieder herauszuspeien. Für ihr Teil noch immer zu ungebildet, hatte Mater Zenobia natürlich keinen rechten Einblick in all diese Transaktionen, die von frommen Bankiers und Geistlichen geleitet wurden, die meist eben so geldhungrig waren, wie die »Börsejuden«. Was sie aber sah und immer vor sich hatte, war dieser, am ersten jedes Monates durch ihre Hände rollende Goldstrom, der sie entzückte, blendete, förmlich hypnotisierte. Die vererbte Geldgier, die durch die Reihe ihrer bäuerlichen Ahnen unbefriedigt geblieben, trank sich hier satt, griff sich hier müde, an diesem schönen, blanken, rollenden Gold! »Es gehört auch mir!« dachte sie immer dabei. Natürlich zuerst dem lieben Gott ... aber –. Die »juristische Person« war der Konvent! Und da sollte sie dieser Chietti »hereinfallen« und ihr möglich machen, was sie vielleicht längst im stillen wünschte, die Freiheit mit dem Besitz einer halben Million Lire? Schon die Freiheit gönnte Mater Zenobia keiner mehr, die einmal herinnen war. Für eine halbe Million Lire aber hätte sie sich sogar ins Gesicht spucken lassen, in aller christlichster Demut und natürlich nur »zur größeren Ehre Gottes«.
Mater Zenobia hatte ein schlechtes Gebiß. Wenn sie in Aufregung geriet, schob sie die Oberlippe empor und ließ einen langen, gelben einzelstehenden Zahn sehen, der so groß und unschön war, daß er ebensogut im Kiefer eines Pferdes hätte stecken können. Es war eine Art frommes Gefletsch, die rein physische Äußerung der wenigen, unbeherrschten Affekte im Leben dieser Asketin. Aber alle kannten, alle fürchteten es, alle wußten, wie hart und unbarmherzig die Präfektin werden konnte, wenn sie sich einmal so weit hinreißen ließ.
Auch diesmal zog sie die bläuliche Lippe wieder empor, blöckte der gelbe Pferdezahn ... aber – das Unglaublichste geschah. Mater Zenobia sagte kein Wort mehr. Kehrte der widerspenstigen Novize bloß den Rücken und trat von ihr auf Elena zu. Mit einem Lächeln, daß so sanft und bei all seiner Sanftheit so entsetzlich war, daß ein leiser Schauer durch die Reihen der schweigenden Mädchen ging.
»Nun Elena,« lächelte sie, »du bist ja sonst so stolz, hast mir erst neulich gesagt, daß keine Ziani jemals gelogen hat, da wirst du mir ja wohl auch jetzt die Wahrheit sagen«.
»Wenn Sie es durchaus wünschen!« erwiderte Elena. Im Ton ihrer Stimme, im Ausdruck ihres Blickes lag eine solch lachende Genugtuung, daß die boshafte Nonne unwillkürlich stutzte. »Was kann es gewesen sein?« dachte sie, während ein vages Unbehagen in ihr emporstieg und eine plötzlich aufdämmernde Ahnung sie förmlich warnte, weiter zu fragen. Da fiel ihr Elenas letzter Streich ein, die Eidechse, deren Kopf ihre karikierten Züge gewiesen. Natürlich würde es wieder etwas Ähnliches sein, und der Bankert machte sich noch lustig über sie. Das meinte Elena wohl, mit diesem ironischen »wenn Sie es durchaus wünschen« ... wer sah sich gern in einem solchen Bilde? Wie gut, daß sie heute wenigstens selbst dazugekommen und ihre Freude, diese Ziani einmal auf frischer Tat ertappt zu haben, war so groß, ihre Rachsucht, die ihr die Möglichkeit neuer Strafen vorgaukelte, so verblendet, daß sie alle Klugheit beiseite setzte und wirklich noch einmal sagte:
»Natürlich wünsch' ich es!«
Dreißig junge Augenpaare richteten sich in diesem Moment auf Elena. »Wird sie es wagen?« schien jeder dieser Blicke zu staunen. Es war eine beklommene, fast abergläubische Scheu, die sich in den Mienen all dieser jungen Geschöpfe ausprägte. Aber hinter dieser Scheu barg sich zugleich so viel Erwartung und eine solche Bewunderung für Elenas Mut, daß es förmlich wie eine warme Welle zu der so oft Gedemütigten hinüberschlug und sie noch stärker, noch stolzer, noch selbstsicherer machte. So lang hatten diese dreißig sie heimlich verachtet, sich offen von ihr ferne gehalten. Nun fühlten sie auf einmal mit ihr. Erwarteten von ihr eine schöne, kühne Tat der Jugend, die alles verstehen und alles verzeihen kann, nur nicht die Feigheit!
Bloß eine Sekunde währte dies ... eine flüchtige Sekunde, in der kein Wort gesprochen wurde, kein Atemzug lauter ging als sonst. Und doch war es all diesen jungen Herzen, als hätten sie sich nie besser verstanden, nie einiger gefühlt. Selbst die kaltsinnige Nonne schien etwas von diesem dumpfen Aufruhr der Jugend um sich zu wittern. Aber sie hielt dieses Schweigen für ein einziges verhaltenes Lachen. Und der Gedanke, daß sie der Gegenstand dieser uneingestandenen Heiterkeit war, machte sie im Augenblick fast toll.
»Also, also?« drängte sie, da Elena noch immer schwieg, schwieg und lächelte, wie nur solch ein verdorbener Bankert lächeln konnte.
Da griff Elena aufs neue nach dem Löschstock. Und während sie ihn knapp an Mater Zenobias krummer Nase vorüber zur Höhe jenes Ornamentes emporhob, erwiderte sie mit eisiger Ruhe: » Visionen hab' ich – nachgezeichnet!«
»Wa–?« stammelte die Präfektin verblüfft.
»Ja,« nickte ihr Elena fast freundlich zu. »Die Vision der Mater Dominika hab' ich da noch einmal aus der – Tapete herausgeholt!«
Durch die Reihen der jungen Mädchen ging ein befreiendes Aufatmen. Da und dort lächelte eine, aber es war kein Spott in diesem Lächeln, noch eine Genugtuung über das, was der verhaßten Nonne jetzt angetan wurde: nur die helle, reine Bewunderung, daß diese Elena doch so ganz anders war, als man bis heute geglaubt hatte.
Die Präfektin stand noch immer sprachlos. Sie begriff einfach nicht.
»Oder ist das eine Sünde?« fragte Elena, immer gleich höflich.
»Was?« stammelte Mater Zenobia.
»Nun – das – Muttergottes-Zeichnen!« Und schon fuhr der unheimliche Stab aufs neue jene Konturen entlang ... Hier verweilend, dort ausbiegend und die Präfektin folgte wie gebannt dem unheimlichen Löschstock, der da so rasch und hexenhaft hin und herfuhr und auch ihr aus der Tapete holte, was sie bisher noch mit keinem Blick gesehen ... Zwei, drei Marienbilder ... O, so viele man wollte! Wenn man nur einmal die richtige Stelle in diesem Muster entdeckt! Und hinter ihr standen die dreißig Pensionärinnen und sahen dasselbe.
Eine jähe Blutwelle schoß nach den Schläfen Mater Zenobias. Ein kurzes Gezisch kam von ihren Lippen. War es Staunen, war es Entrüstung? Aber schon stand sie wieder gefaßt und bleich da. Und während sie den Löschstock langsam aus Elenas Händen nahm, sprach sie ruhig: »Sie kommen mit mir!«
Da war er wieder ... der Pferdezahn hinter der emporgezogenen Oberlippe! »Was hat sie denn getan?« schrie eines der jungen Mädchen empört auf. Doch Mater Zenobia sah mit keinem Blick zurück. Nur ihre blutlosen Finger krallten sich immer tiefer in das zarte Handgelenk Elenas, die blaß, aber höhnisch lächelnd an ihrer Seite dahinschritt.
Unmittelbar darauf versammelten sich die Schwestern zum Stundengebet. Alba, die so gern etwas über Elenas Schicksal erfahren, mußte mit auf den Chor. Draußen heulte der Frühlingssturm und wuchtete gegen Fenster und Türen, daß die bunten Glasscheiben des Chors leise mit erbebten und aus dem Glockenturm ein unheimliches Gewinsel herabkam, das längs der Mauern weiterkroch und hinter dem Altar der Kapelle in einem dumpfen Seufzer dahinzusterben schien. Die Nonnen focht es nicht an. Die beteten mechanisch weiter, sangen Strophe um Strophe ihrer Passionslieder ab, fühlten sich vielleicht gerade heute doppelt geborgen hier. Nur Alba wurde ein rätselhaftes Bangen nicht los. Sie wußte ja, daß es der Sturm war, der all diese bangen Klagerufe laut werden ließ, so winselte und seufzte und aufächzte. Sie wußte es und hatte doch bei diesen unheimlichen Lauten die Empfindung, eine schmerzgeschüttelte Menschenstimme darin zu hören – die Stimme Elenas. Woher kam ihr diese Halluzination und mit ihr die dumpfe Ahnung, daß sich da etwas Schreckliches vorbereite? Etwas, das ihr schon jetzt den Atem raubte und das Herz zusammenpreßte, als wären all diese Laute nur die Boten eines Geschehens, das sein Grauen vorausschickte und sich bemühte, wenigstens eine Seele zu finden, der es sich verständlich machen – die es zur Hilfe aufrufen konnte, noch in letzter Stunde? Spielten ihr die Nerven einen Streich, wie so oft während dieser letzten Wochen, die ein einziger verzehrender Kampf gewesen, zwischen dem, was sie scheinen mußte und dem was sie eigentlich war?
Um nicht ganz eine Beute dieser Empfindungen zu werden, verhielt sie sich zuletzt die Ohren. Fanden diese gespenstischen Laute nicht zu ihr, konnte sie vielleicht ruhiger nachdenken. Die Dinge so sehen, wie sie tatsächlich waren. Daß sie dabei auch beten mußte, laut mitbeten und singen, störte sie nicht, war – Lippendressur, wie so vieles, was man hier tun und lernen mußte.
»Elena – Elena ... Elena –« ging es ihr durch den Kopf. Nun ja ... sie war wieder einmal recht unbesonnen gewesen, diese arme Elena. Aber warum sollte es diesmal anders enden als sonst? Auch wenn die Präfektin sie wieder in ihre Zelle gesperrt, um ihr dort weiß Gott welche Schmähungen ins Gesicht zu werfen? Daß Elena ihr nichts schuldig blieb, hatte Alba vor einem Jahr mit eigenen Ohren gehört. Beim Nachtmahl würde sie wieder zum Vorschein kommen wie damals, mit rotgeweinten Augen und ihrem bösen Lächeln; im ganzen aber doch um nichts schwächer oder geringer. Dafür war sie die Ziani! Warum also diese seltsame Beklemmung heute, diese unausgesetzte Angst, daß es Elenas Stimme sei, die sie da höre?
Die Präfektin saß ja auch wieder an ihrem Platz und betete, blaß und ruhig wie gewöhnlich; wie immer ganz bei der Andacht. Hätte Alba nur ein leises Zittern dieser gefalteten Hände bemerkt, eine einzige Bewegung, die dieser Asketin sonst nicht eigen war – wäre ihre Sorge vielleicht berechtigt gewesen. Aber Mater Zenobia betete, sang, küßte ihre heiligen Bilder, vergaß auch nicht eine Devotion, so daß Alba nicht ohne einen gewissen Humor annahm, daß die gute Präfektin sich vielleicht selbst in einer höchst fatalen Lage befand, die sie zwang, der Oberin den Vorfall zu verschweigen und Elena die Strafe zu erlassen, denn – die Umrisse jenes Bildes waren nun einmal in der Tapete! Und Mater Zenobia sagte sich jetzt vielleicht schon selbst, daß es zuweilen doch besser sei, nicht alles zu wissen. Als das Stundengebet zu Ende war, begannen wieder die Exerzitien. Albas erster Blick flog nach dem Platz der Ziani; er war leer.
An den Exerzitien nicht teilnehmen zu dürfen, galt hier als eine der schwersten Strafen und konnte ohne Zustimmung der Oberin nicht verhängt werden. »Nun gut,« dachte Alba, also werden sie es dabei bewenden lassen.« Doch der Gedanke an Elena wollte trotz alledem nicht von ihr weichen. Der dumpfe Trotz, mit dem sie bisher alles Widerwärtige hier ertragen, steigerte sich plötzlich zu einem förmlichen Haß, der ihr alles was sie sah und hörte noch einmal so unerträglich erscheinen ließ. Die eingesperrte Luft des Saales, den übelriechenden Atem der Nonnen, die sich zur Pflege ihres Mundes keine Zeit nahmen, das oft mitten in die Rede des Priesters hineingeplärrte »Amen« und nicht zuletzt dieser patschhändige Jesuit selbst, der nach einem so gründlich genossenen Leben nun all den Lebensekel von sich spie, den ihm die eigenen Laster in der Seele zurückgelassen. Fast erstaunt sah sie zu dem mächtigen Kruzifix empor, das über dem Haupt dieses Menschen hing. Was hatte der Reine, dessen Schmerzensbild da oben hing, mit diesem ausgelotterten Kavalleristen zu tun? Und wieder däuchte ihr, daß alles, was sie hier sah und hörte, ihr noch nie so fremd und seltsam erschienen wäre, wie heute. Und mit dieser Empfindung sollte sie hier ausharren – ein Leben lang? Ja, war sie denn toll? Oder mußte sie es erst werden, um das zu können?«
Da warf sich wieder der Sturm an die Fenster, rüttelte an den Türen, bog draußen die uralte Pinie, die den Palatin hütet, daß man das Geächz des Baumes bis herein hörte ... War es auch wirklich nur der Baum? Und wieder konnte sie nichts anderes denken als – Elena.
Nun, beim Abendessen würde man ja hören ...
Als sich die Zöglinge aber beim Tisch versammelten, blieb Elenas Platz wieder leer.
Nach dem Abendessen zogen sich die Nonnen zu einer letzten Andacht zurück und auch die Novizen nahmen daran teil. Diese Andacht währte kaum eine halbe Stunde. Doch für Alba schien sie heute kein Ende zu nehmen. So groß war ihre Angst ... diese rätselhafte Angst, so brennend ihr Wunsch, Elena wenigstens zu sehen. Hatte man sie auch von der Zöglingstafel ferngehalten, ihr Bett mußte man ihr gönnen. Dieses Bett, in dessen Kissen sie schon so viele stumme Tränen geweint. Im Schlafsaal war sie also gewiß zu finden. Weil es aber den Novizen verboten war, diesen Schlafsaal zu betreten, hatte Alba der kleinen Ruspoli einen Zettel für Elena mitgegeben, in dem sie die Ziani bat, sie nach der Andacht an der Treppe zu erwarten, wenn die Schwestern in ihren Zellen wären.
Und nun saß sie da und tat, als ob sie bete. Und sah doch immer das eine: den um diese Zeit schon dunklen Korridor, den von der Treppe her nur das rote Öllämpchen erleuchtete, das vor der Statue der »Unbefleckten Empfängnis« brannte, und aus der Tiefe des Korridors eine lautlos auf sie zugleitende, schlanke Gestalt mit Augen, die von heißen Tränen erzählten, und Lippen, stolzen blassen Lippen, die noch nie ein Wort über diese Tränen verloren ... Elena! Und sie kam näher, immer näher ... fast mit geisterhaft leisen Schritten. Das rote Flackerlicht des Marienlämpchens hüllte ihre Gestalt in einen magischen Glanz ... »Wie Blut rieselt es von ihr« ... Hatte das Alba gedacht oder – gesehen? Sie konnte es selbst nicht sagen. So mächtig war ihre Vorstellung plötzlich mit dieser Erscheinung verschmolzen, nur einen Augenblick, doch als sie mit einem leisen Schrei wieder zu sich kam, sah sie den erstaunten Blick der Contarini wie fragend auf sich gerichtet.
»Was hast du nur?« forschten ihre großen Heiligenaugen.
Und Alba hauchte leise: »Es ist nur der Sturm«.
Als aber die Orgel unter den Händen Mater Ignazias zu erbrausen begann, fielen zwei heiße Tränen auf Albas Pult. »Ich bin wohl recht seltsam heute,« dachte sie. Dann war auch das zu Ende.
Als die Schwestern sich entfernten, blieb Alba noch eine Weile knien. Die Contarini warf ihr wieder einen erstaunten Blick zu, schien sich aber sonst nichts zu denken. Alba wußte recht gut, was sie tat. Die Kapelle war der einzige Ort, wo ihresgleichen länger verweilen durfte, ohne sofort das Mißtrauen dieser oder jener Nonne zu erregen. Je länger sie aber blieb, desto gewisser konnte sie sein, Elena noch heute allein zu sprechen. Und so blieb sie knien, bis die Sakristanin die Kerzen vor dem Altar verlöschte und lautlos hinausschlurfte, ohne zu ahnen, daß da irgendwo noch ein junges heißes Menschenherz wider das Holz des Gestühles schlug. So still und regungslos saß Alba auf ihrem Platz im Chor.
Endlich ein einziger Glockenriß, kurz, schrill, wie ein Befehl ... Zur Nachtruhe! Wie ein Schatten glitt Alba aus dem Gestühl.
Im Korridor war es schon finster, aber das Marienlämpchen leuchtete Alba ans Ziel. Da stand sie nun an der Treppe mit angezogenem Atem und wartete, wartete ... Welche Schwester wohl die Nachtwache hat? Aber dieser Rundgang wurde ja immer viel später angetreten.
Da – ein leises Geknarr aus der Richtung des Schlafsaales. Gleich darauf ein schleichender Tritt ... nun der aus dem Dunkel tauchende Schimmer eines weißen Nachtgewandes. Langsam, fast gespenstisch glitt die Erscheinung näher ... War das – Elena? Nein. Nur die Ruspoli!
»Alba!?« hauchte die Kleine in die Stille hinein.
»Hier bin ich!«
»Denk' dir ... Elena kommt heute auch nicht schlafen!«
»Wo ist sie denn?«
Die Ruspoli sah eine Weile mit angststarren Augen um sich. Dann flüsterte sie tonlos: »Das weiß niemand. Aber wenn du mir versprichst, jetzt schlafen zu gehen und mich nicht zu betraten, will ich dir etwas sagen«.
»So sag' es schnell!«
»Die Präfektin ist auch nicht in ihrer Zelle.«
»Wo denn?« forschte Alba. Und sie mußte den Atem anhalten, so heftig begann ihr Herz auf einmal zu pochen.
»Da herauf ist sie« ... raunte die Kleine mit einem scheuen Blick nach der Bodentreppe. »In das Zimmer, weißt du, wo man sonst höchstens eine Viertelstunde eingesperrt wird, wenn man recht schlimm war, und so entsetzlich allein ist«.
»Und da hinauf wäre Mater Zenobia?«
»Ich hab' sie doch selbst gesehn!«
»Dann ist auch Elena dort!« rief Alba und rief es so laut in ihrer zornigen Selbstvergessenheit, daß das Echo ihrer Stimme wie ein dumpfes Gegurgel aus der Tiefe des Korridors zurückkam.
»Jesus Maria!« hauchte die Ruspoli, mit einem Satz wieder in das Dunkel zurücktauchend. Aufs neue knarrte jene Tür ... endlich tiefe atemlose Stille.
Wie eine Katze schlich Alba die Treppe empor, mit den Händen sich langsam die Wände entlang tastend, die rechts und links wie ein Schlauch zusammenliefen – gespannt nach der Höhe lauschend, ob nicht etwa ein Ton herabfand ... Aber ... Mater Zenobia mußte heute etwas Besonderes vorhaben, denn als die Lauschende die Höhe erreicht hatte, fand sie die stets offene Tür geschlossen. Leis' fingerte sie an der Klinke herum ... ein vorsichtiger Druck ... ohne einen Laut wich die Tür zurück. Und nun stand Alba oben, gerade jener Stube gegenüber, von der die Ruspoli gesprochen.
Es war gerade keine schlechte Stube, wenn es auch nur eine Mansarde war, zugleich die einzige Stube in diesem Hause, deren Fenster kein Gitter hatten. Aber ihre schräg zusammenlaufenden Wände, ein uralter Kamin, in dem selbst bei völliger Windstille ein wie von ferne her wehender Klagelaut spukte, der Ton ihrer Tapete, die etwas von dem Braun einer Totentruhe hatte und allerlei Gerümpel, das von Jahr zu Jahr hier aufgehäuft wurde, machten diesen Raum höchst unbehaglich. Trat man an das Fenster, hatte man nur einen Blick frei: den in die melancholische Einsamkeit der Campagna, denn das Fenster lag sehr hoch und rahmte nur die Ferne als Bild ein. Wollte man in den Park hinabsehn oder auf den Palatin herunter, mußte man erst auf einen Stuhl klettern. Auch Alba war einmal da oben gewesen und wußte daher sofort, was die Ruspoli mit diesem »so entsetzlich allein sein« meinte.
Und hier sollte Elena bleiben ... die ganze Nacht? Nun, sie würde ja bald mehr wissen.
Schritt um Schritt schlich sie näher, selbst den Atem anhaltend, um nur ja keinen Laut von dem zu verlieren, was hinter dieser dunklen Tür vor sich ging. Aber sie war doch zu aufgeregt und so kam es, daß sie eine ganze Weile nichts hörte als das Gehämmer der eigenen Pulse an Hals und Schläfen. Täuschte sie sich oder – was geschah da drinnen?
Endlich – der Ton einer Stimme, kalt, scharf, ruhig und doch bebend von verhaltener Erregung ... Die Präfektin sprach.
»Nun ... wirst du dich endlich bequemen, mir zu antworten?«
Kein Laut.
»Du hast also dieses Kapitel noch immer nicht gelesen?«
Keine Antwort.
»Gut. Dann wirst du es jetzt mit mir lesen; laut, Wort für Wort, um endlich zu erkennen, woher all' das Böse stammt, das in deiner Seele wohnt.«
Die Stille, die nun folgte, wurde nur durch das knatternde Geräusch der pergamentenen Blätter eines Buches unterbrachen. Elena selbst schwieg noch immer.
Endlich schien Mater Zenobia die gewünschte Stelle gefunden zu haben. Mit laut und scharf einsetzender Stimme las sie die Überschrift des Kapitels herunter.
»Von der Unkeuschheit der Eltern und ihren verderblichen Folgen für Leib und Seele bei Kinder« ... Zugleich hörte man deutlich, wie sie das Buch Elena zuschob. »Nun weiter!«
»Lesen Sie ihre Schweinereien selbst,« kam es in einem Ton unsäglicher Verachtung zurück. Drauf ein dumpfer Fall ... Elena mußte das Buch zu Boden geschleudert haben.
Wieder eine jener schwülen, atemlosen Pausen, in denen sich alles und – nichts ereignen konnte. Aber schon brach Mater Zenobia los und plötzlich war es der Lauschenden, als sähe sie den langen, gelben Pferdezahn förmlich aufleuchten und über ihm das ganze blasse, wut- und haßverzerrte Gesicht der abscheulichen Nonne. So viel unbeherrschter Zorn und lauthervorbrechende Gemeinheit schrien zugleich aus dieser Stimme.
»Wirst du das Buch sofort aufheben? Mit deinen Zähnen wirst du es vom Boden heben und mir überreichen – auf den Knien, du – du Bastard, du!«
Das war nicht mehr die Nonne – das war das gemeine Weib aus dem Volk, das seinem Haß in diesem verborgenen Winkel eine festliche Stunde bereitete. Die Megäre aus den dumpfen Hütten der Volskerberge, die sich den Genuß verschaffen wollte, eine Adelige vor ihrer Kutte auf die Knie zu zwingen.
Aber Elena blieb stark. Wie ein Lachen klang es durch ihre Stimme, als sie erwiderte: »Heben Sie sich die Schwarte selbst auf; sie ist gerade groß genug für Ihren Pferdezahn!«
»Hurenkind!!« Dann ein Sprung. Das niederklatschende Gesaus einer Rute. Ein Gekeuch und Hin und Her, als wenn zwei miteinander rängen. Aber Elena war wohl die Stärkere geblieben, denn kalt und grell lachte sie plötzlich auf: »Und wenn ich dir diesen Schlag jetzt zurückgäbe, du – eingekuttete Stallmagd, du? Wie die Ziani zu Haus ihre Hunde gepeitscht haben und ihre – Bauern? Aber du bist mir zu schlecht dazu, selbst für diese Rute bist du mir zu schlecht! Diese Rute – die hat einmal Blätter gehabt und Blüten ... und hätte vielleicht Früchte getragen ... wenn sie der Teufel nicht in die Hand einer solchen Vettel gespielt hätte ... Meine Mutter willst du beschimpfen? Weil sie geliebt hat und ein Kind geboren und das Höchste und Schönste erfahren hat, was ein Weib erfahren und erleiden kann? Du – du? An der die Liebe vorübergegangen wäre, auch wenn sie dich hier nicht eingesperrt hätten ... Scheusal, das du bist! Geh' mir aus dem Weg, wenn du nicht willst, daß ich dir ins Gesicht spucken soll. Du – Unnatur, du!«
Und von starken Händen entzweigebrochen knackte die Rute ... einmal, zweimal, dreimal ... Man hörte die Stücke da und dort hinfliegen. Unmittelbar darauf wurde die Tür aufgerissen. So jäh und heftig, daß Alba kaum Zeit fand, sich hinter dem alten Paramentenschrank zu verbergen, der rechts von der Türe stand. So wütend die gedemütigte Nonne aber auch herausfuhr, eines vergaß sie nicht: die Tür des Zimmers zu schließen, in dem sich Elena befand. Das Geknirsch des Schlüssels kreischte so widrig durch die Stille der Nacht, als schlösse sich hinter dieser Furie ein Kerker, der sein Opfer nie wieder herausgeben würde ... Mater Zenobia zog den Schlüssel ab und versank wie ein Gespenst im Dunkel der Treppe.
Alba lauschte, bis das Geschlurf ihrer Schritte verhallt war, dann pochte sie leise an die Tür ... »Elena!«
»Wer ist's?«
»Ich, Alba.«
»Was willst du?« fragte Elena mit gedämpfter Stimme. Freundlich und doch wieder in jenem Ton zögernden Mißtrauens, der Alba in der letzten Zeit so oft weh getan hatte. Aber diesmal achtete sie nicht darauf. So heiß brannte ihre ganze Seele von dem Mitleid, das sie mit Elena empfand. So groß und herrlich erschien ihr, was diese Elena soeben getan! Wie der Frühlingssturm da draußen die erstarrte Erde weckte, waren ihre Worte über Albas Seele hingegangen, aufjauchzende Kraft aus Fernen und Tiefen, denen die Welt gehörte und ihre Gesetze, Gewalten, die sich auch durch hundertfache Klostermauern nicht aussperren ließen, die auch in der geknechtetsten Menschenseele schlummerten, in jeder nur der Stunde harrten, die sie hervorbrechen ließ: erhaben, gewaltig, urgeboren wie der Orkan, der von einem Ende der Welt zum andern brauste und die keimschwangere Erde in seine heißen Arme nahm, bis sie sich in tausend und abertausend Geburten von dem erlöste, was in ihr geschlummert! Draußen ging der Frühling über die Erde und hier war die ganze Gewalt der Jugend aus einer Menschenseele hervorgebrochen, die dem Leben gehörte und der Natur. Und von beiden zurückgerufen worden war in der heiligen Stunde eines großen befreienden Schmerzes, zurückgerufen unter dem Gejauchz desselben Föhns, der draußen befruchtend über die Erde hinfegte.
»Du – Unnatur!« hatte Elena der boshaften Nonne entgegengerufen. Elena, die von den Gesetzen, nach denen sich draußen alles vollendete, um so viel weniger wußte als Alba; die nie mit brennenden Augen über Büchern gelegen, die ihr das große Mysterium entschleiert, wie dieser Alba, die mit einer Seele voll Wissensdurst und Wissensfülle dastand, im Novizenkleid der Salesianerinnen: eine Heuchlerin! Denn wozu brauchte Elena dies alles? Sie trug es in sich! Groß und rein und urgeboren; die Natur selbst, wie sie war! Nicht das Wissen, das sie sich in heimlichen Stunden wie ein Dieb zu eigen gemacht, nicht die Erinnerung an das Gespräch mit dem berühmten Forscher in jener weihevollen Nacht, noch ihre hämischen Beobachtungen, nichts – nichts, was Alba Chietti bis heute gedacht und erlitten und erfahren, hatte so mächtig ihre Seele erschüttert, wie der Aufschrei dieses verachteten Kindes der Liebe ... Als hätte die Natur selbst zu ihr gesprochen, mit den großen, ewigen Worten, deren jedes ein Gesetz war ... mit den Symbolen, die in die Ewigkeit zurück, in die Ewigkeit hineingingen und immer dieselben waren: Zeugung, Leben und Tod. Sie brauchte nicht mehr. Ihr war es genug! Aber da kamen die Menschen und kritzelten ihre gemeine Angst und ihre kleinliche Moral und ihren knechtischen Glauben zwischen die Zeilen eines Evangeliums, das nichts enthielt, als jene drei heiligen Worte, bis man diese Worte kaum mehr entziffern konnte, vor all dem Schmutz, mit dem diese Angst und diese Moral und dieser Glaube sie besudelt hatten ... bis man falsch las und falsch empfand und ein Dasein voll Lügen und Ekel lebte, vom ersten bis zum letzten Tag.
O wie gut, daß es noch Menschen gab, die jenes Evangelium in ihrer Seele trugen. Unbewußt ... eine heilige Flamme, die für alle brannte und eines Tages so schön und leuchtend und befreiend hervorbrach, wie heute aus der Seele dieser Elena!
»Du Unnatur, du!«
Ja – wollte Alba Chietti nicht dasselbe werden? Für wen? Wozu? Um einem feigen Weib weiterlügen zu helfen und selbst eines Tages unter der Lüge des eigenen Lebens zusammenzubrechen.
»Du Unnatur, du!«
Sie konnte Elena nicht sehen. Aber wie sie da kauerte und mit Ehrfurcht auf ihre Stimme lauschte, war ihr, als müsse sie in leuchtender Schönheit dort drinnen stehen: stolz und aufrecht wie eine Königin, der man ein mystisches Diadem um die junge Stirne gelegt, ein Diadem, aus dem derselbe Schöpferglanz hervorbrach, der draußen die Erde befruchtete und die Liebe weckte und selbst noch die Geheimnisse des Todes verklärte in dem Wunder dieser alljährlichen Auferstehung, das die Menschen den Frühling nannten!
Und nicht nur ihre Stimme, ihre ganze Seele bebte, während sie sprach: »Was ich will, Elena? O nichts und doch sehr, sehr viel! Dir sagen, daß ich hier gestanden bin und alles gehört habe und dich nie, nie lieber hatte, als in dieser Stunde! Denn auch mich hast du befreit, das wollt' ich dir sagen!«
Drinnen blieb es eine Weile still. Dann hörte Alba, wie Elenas Hand über die Tür hinstrich. Weich, zärtlich, als suche sie die, die so zu ihr sprach. In ihrer Stimme lag etwas unsäglich Weiches, fast mütterlich Mildes, als sie erwiderte: »Ich hab' nur getan, was ich mußte, Alba! Aber wenn es auch dich befreit hat, bin ich doppelt glücklich jetzt. Und nun geh hinab, man könnte dich vermissen.«
»Und du?« fragte Alba, wie von einer aufsteigenden Sorge benommen.
»Gott ... ob hier oder in meinem Bett ... Schlafen könnt' ich ja heute so wie so nicht!«
»Was wirst du denn tun?«
»Das Kapitel über die Unkeuschheit lesen!« lachte Elena zurück.
Auch Alba mußte unwillkürlich lachen ... Aber sie kam ihr nicht so recht von Herzen, diese Heiterkeit. Und auch im Lachen Elenas hatte etwas wie ein falscher Ton mitgeklungen.
»Dann – auf morgen!« rief sie zur Tür hinein, »und gute Nacht!«
»Gute Nacht!« klang es leise zurück.
»Hab' auf das Licht acht!« warnte Alba, aufs neue von einer aufsteigenden Angst bedrängt. Doch von drinnen kam keine Antwort mehr. Elena wollte allein sein und Alba verstand sie.
Draußen aber ging der Frühlingssturm noch immer über die Erde und sang ihr das Lied der Auferstehung – das ewige Lied der Liebe. Fiel Elenas Blick durch das Fenster, sah sie weit über Rom hin ... bis in die Campagna hinaus, über die der funkelnde Sternenhimmel sich geheimnisvoll ausbreitete ... aus der da und dort der Schein eines aufflackernden Hirtenfeuers in die Nacht emporloderte und die Schatten stiller Ruinen schweigend und ernst dem Mond entgegenwuchsen. Die Wipfel der Steineichen unten rauschten eine wilde Hymne, Fenster und Türen gaben geheimnisvolle Laute von sich, aus der Tiefe des Parkes kam ein seltsames Geraun und Geflüster ... die Stimme der heiligen Hochzeitsnacht, die über die Erde ging.
Elena hatte sofort das Licht gelöscht. Nicht weil Alba sie gewarnt, noch um zur Ruhe zu gehen. Es war dieser Sturm, der so rätselhaft zu ihrer Seele sprach ... die geheimnisvollen Laute des jungen Werdens da unten, die ihr Blut so heiß, ihre Sinne so rege machten ... Dieser weite, weite Blick in die Ferne, der plötzlich ihre ganze Sehnsucht aufpeitschte ... die Sehnsucht nach der Freiheit und nach dem, den sie liebte – Flavio!
Noch brannte ihre Stirn von der Genugtuung ihrer Rache; ihr junges Herz aber wußte nichts mehr davon. Ein süßer Rausch hatte sich in ihr Blut gestohlen und das reifende Weib gab sich ihm hin ... triebhaft, fraglos, wie die Erde draußen dem Südwind, der ihren Schoß öffnete, daß sie empfange und gebäre.
Was war ihr jetzt noch Mater Zenobia und die ganze dumpfe Qual dieses Tages? Als wenn es nicht gewesen wäre! Soweit schweifte ihre Erinnerung davon ab. So wonnig blühte ihre Seele auf unter dem fernherschauernden Kuß der Sehnsucht und Liebe, ihre Arme griffen in das Dunkel, der junge Leib bog sich erbebend zurück, die samtenen Augen schlossen sich, wie damals, unter der ersten Umarmung des Geliebten.
»Flavio – gib mir Flavio!« betete sie, hauchte es in die Nacht hinein, die der Göttin geweiht war, der großen unsterblichen, deren Blut in den Adem der Italer pulste noch heute!
»Flavio, gib mir Flavio!«
War sie denn überhaupt noch in Rom? O nein! Sie stand vor dem Bild der lavinischen Venus; unter ihren Füßen die Kühle der feuchten Marmortreppe, um ihre jungen Brüste die heißen Arme Flavios. Und sein Atem ging über ihren Nacken hin – wie draußen der Föhn über die Erde.
Mit einem tiefen Seufzer kam sie zu sich. Als sie aber die Augen aufschlug, sah sie wieder in die Campagna hinein ... In diese weite, lockende Ferne, durch die eine Straße dahinzog, die auch zu Flavio führte, die Straße der Freiheit – der Liebe!
»Von heut' an bist du mir heilig!« Hatte er damals gesagt. Und jeder Brief, den er seither an Alba geschrieben, hatte von einer Wehmut gezittert, die nur Elena verstand! Nach ihr rief er, ohne ihren Namen zu nennen. Sie zog er immer wieder an sich mit diesen Worten, die von Leben und Tatkraft fieberten. Seine Arme suchten sie, in dieser toten ... kalten Ferne.
Warum war sie denn noch da? Und litt und log und ließ sich demütigen ... sie die Braut des Erben der Chietti?
Zu ihm ... zu ihm. Und war es mit blutenden Füßen! War er nicht ein Mann? Er mußte hier Rat wissen. Sie hatte nichts mehr zu tun, als einen Weg zu finden ... den Weg und die Freiheit, auf die Straße dort hinaus ...
Mit einem wilden Gejauchz stürzte sie an das Fenster; riß es auf. Nicht einmal Gitter hatte es, dieses Fenster. Und sie stand noch da, und litt und wartete ...
Weit bog sie das Haupt hinaus, maß die Höhe. Einen Sprung konnte man nicht wagen, aber an einem Strick kam man leicht hinunter, wenn man eine so gute, unerschrockene Turnerin war wie sie. Und sogar der Strick war hier, ein gutes, starkes Wäscheseil, das in einem Winkel des Kamins lag, bei all dem anderen Gerümpel. Ja, warum zögerte sie denn noch? Gleich unter dem Fenster zog doch die Straße vorüber ... in die Freiheit hinein – der Liebe entgegen, der Liebe!!
Wie draußen der Sturm fuhr es durch ihre Seele. Machte sie so ganz zum Weib, daß sie nichts mehr sah, nichts mehr empfand, als den Geliebten!«
»Flavio, gib mir Flavio!«
Mit zitternder Hand machte sie wieder Licht, holte sie das Seil aus dem Winkel, schlang es fest um das Fensterkreuz zwei und dreimal. Darauf rückte sie einen Stuhl heran, um die Höhe leichter zu nehmen. Hoch und schlank und schön stand sie einen Augenblick im Glanz des Mondes, noch einmal den Blick in die Tiefe gerichtet. Da hinunter und dann dort hinaus, ihm entgegen – ihm!
Fest klammerten ihre Hände sich an das Seil. Ein Ruck – und sie glitt abwärts, immer weiter ... immer tiefer. Hatte sie nicht schon die halbe Höhe hinter sich? Wie seltsam alles mit einem Male zu schaukeln begann ... Über ihr der Himmel mit seinen Sternen – unter ihr die Campagna mit ihren Hirtenfeuern. Und die Ruinen ... kamen die nicht näher und näher –?
Sie schloß die Augen. Wagte einen neuen Ruck mit den Händen.
Da krachte und knatterte es durch die Nacht ...
Hatte der Sturm einen Baum niedergebrochen?
Sie dachte es nicht mehr. Die blassen Hände noch im Tod um das Seil geschlungen, lag sie auf den Marmortrümmern des Palatin. Über ihr die Splitter des morschen Fensterkreuzes, das zu schwach gewesen, ihre Last zu tragen.
Und wieder ging der blaue Glanz des Mondes über ihr Antlitz – wie damals in Sorrent.
In dem Schlafsaal der Novizen aber fuhr Alba entsetzt aus ihrem Kissen empor.
»Der Sturm hat einen Baum gebrochen,« dachte sie und mit einem bangen Seufzer – »welch eine Nacht!«
Und Furbo, der Klosterhund heulte und heulte.