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VI. Jugendweihe.

Bartolo Chietti war ein großer Patriot und als solcher hatte er zuweilen seine »Ideen«. Wäre die glorreiche » Italia una« nicht bereits vor aller Welt dagestanden – wer weiß, ob ihr in Bartolo Chietti nicht ein neuer Mazzini oder Garibaldi erstanden wäre. Bartolo Chietti war so fest davon überzeugt, daß er in seinen großen Stunden wenigstens nachträglich an dem großen Werk herumbesserte. In aller Ehrfurcht zwar, wie er sagte, aber doch. Mazzini war ihm noch lange nicht der sublimste Verschwörer. Dies und jenes hätte nach seiner Meinung – Bartolo viel schlauer eingefädelt! Da und dort hatten selbst die Zuaven gesiegt. Wenn Bartolo bei seinem Mokka die Schlachtpläne durchging, wurde es ihm sofort klar, wie das geschehen konnte. Garibaldis »Stellungen« waren nicht einwandfrei gewesen. Das sah ja ein Kind, daß man dem Feind nicht diesen Hügel und jenen Bach hätte lassen sollen. »Positionen, Positionen!« rief er mit erhobenem Zeigefinger. Und Prospero, der um diese Stunde immer schon schläfrig war, gab ihm natürlich recht.

Weil das Vaterland also nicht mehr befreit zu werden brauchte, beschränkte sich Bartolo darauf, es in seiner Weise zu feiern. So ließ er keinen jener großen Gedenktage vorübergehen, ohne ihm »zu opfern«, wie er sagte. Und da er bei diesen »Opferfesten« immer ebensoviel Liebenswürdigkeit als Arglist entfaltete, war der gute Prospero durch Schaden allmählich klug geworden.

»Hast du für morgen etwas vor?« konnte Bartolo ganz unbefangen fragen. Und da Prospero, wenn im Vatikan gerade nichts los war, selten etwas vor hatte, wurde es Bartolo anfangs ganz leicht, ihn hinters Licht zu führen. »Gut,« sagte er mit der unschuldigsten Miene von der Welt – »dann speist Ihr morgen bei mir. Ganz kleines Diner, bloß ein paar interessante Menschen. Na, du wirst ja sehen! Und diese gute Luft auf dem Gianicolo!«

Kam Prospero aber hin, fand er womöglich die ganze römische »Loge« dort und irgend einen alten Garibaldianer, der den »Tag« leben ließ. Da der gute Prospero in glücklicher Unkenntnis dieser »Tage« dahinlebte, gewahrte er immer erst beim Trinkspruch, welchem Fest er anwohnte, er, der »Schwarze«. Natürlich war auch so ein gottverdammter Zeitungsschreiber anwesend, der die ganze Suppe brühwarm auf die Straße setzte. Wenn dann Prospero Chietti das nächstemal im Vatikan erschien, hatten alle Monsignori noch einmal so lange Nasen. Nur Leo XIII. lächelte. Er war ja der feinste Diplomat des Vatikans und als solcher auch über die Qualitäten seiner Getreuen nicht im unklaren. Sollte er dem armen Prospero noch einen besonderen Rüffel geben, ihm, der sein Langohr ohnedies vor aller Welt trug? Der Grafensohn von Carpineto war noch immer viel zu sehr Aristokrat, um nicht über gewisse Dinge von Herzen lachen zu können. Zudem hatte die Sache noch eine andere Seite. War es denn wirklich so schwer, einen Prospero Chietti zu übertölpeln? Den Triumph konnte man dem Quirinal schon lassen!

So nahm Leo XIII. die beiden ersten Niederlagen seines Getreuen ganz harmlos hin. Auch handelte es sich dabei um Feste, deren Daten nur den »Enragés« noch im Gedächtnis saßen. Als der arme Prospero aber auch ein drittesmal hineinfiel, schenkte ihm der Papst ein gar zierlich gebundenes Büchlein. Es war der »Kalender für die Patrioten Italiens«.

»Eure Heiligkeit hält mich doch nicht für einen von – diesen?« fragte Prospero gekränkt.

»Durchaus nicht, lieber Chietti,« lächelte Leo fein. »Da Sie aber immer zu sagen pflegen, daß Ihnen alles im Leben nur einmal geschehe, wollt' ich Sie etwas wachsamer gegen den Teufel machen, der ja immer dreimal anklopft, wie Sie wissen!«

Und Prospero nahm den Kalender und bekam einen – Magenkatarrh. In Rom aber kursierte durch vierzehn Tage ein Witz, den man überall hören und belachen konnte. Auf dem Monte Citorio und dem Kapitol, in den Salons der »Schwarzen« und der »Weißen«.

»Wissen Sie, wie man jetzt am leichtesten die Malaria bekommt? Von der bell' aria auf dem Gianicolo!«

Seitdem nahm Prospero keine Einladung Bartolos mehr an, außer wenn es ein Familiendiner galt. Und selbst da mußte sich Lucrezia immer vorher genau um jede Einzelheit erkundigen, so sehr fürchtete Prospero, seinem Bruder noch einmal aufzusitzen.

Nun war es Anfang Mai und Prospero in Sorrent, wo die Chiettis eine Villa besaßen, die für den Sommer neu instand gesetzt werden sollte. Da erschien eines Tages Bartolo vor seiner Schwägerin. Ob sie ihm nicht die Freude machen wolle, mit Alba einem Frühlingsfeste anzuwohnen, das er in seinen Gärten auf dem Gianicolo gebe?

Ein »Frühlingsfest?« Wie er sich das denke?

Etwas originell; das gebe er zu. Aber ganz Stil und Würde, fast priesterlich. Die Mütter könnten eine beliebige Festtoilette wählen. Die Jungfrauen aber müßten in antiker Gewandung erscheinen; ebenso die Jünglinge. Alle natürlich nur Söhne und Töchter der ersten Geschlechter Roms, ganz Rasse und Geschichte, wie Bartolo sagte. Alles übrige wäre bis zum Abend des Festes sein Geheimnis.

Ob er am Ende nicht wieder irgend eine Gotteslästerung vorhabe, fragte Lucrezia, der die Feste auf dem Gianicolo immer etwas unheimlich waren.

»Dazu würd' ich doch die Jugend nicht laden!« brauste Bartolo auf. »Ein paar alte Soldaten und abgestandene Pfaffen besorgen das viel besser!«

Warum er denn immer und immer wieder über die Geistlichen herfalle?

»Warum?« Nun begann Bartolo seiner Schwägerin ein »Familienfest« der Borgia zu schildern, daß der armen Lucrezia die Haare zu Berge standen ... »Und weißt du, wo diese Orgie gefeiert wurde?« fragte er zuletzt triumphierend. »Sozusagen im Angesichte Roms, in den Orti Farnesiani, gerade dort, wo jetzt das Kloster der Salesianerinnen steht.«

Der gute Bartolo merkte nicht, daß seine geschichtlichen Kenntnisse hier etwas durcheinander gerieten und Alexander VI., Borgia, sein Fest unmöglich in Gärten verlegen konnte, die erst ein späterer Nachfolger – Paul III., Farnese – angelegt. Vielleicht meinte er auch bloß den Palatinischen Hügel. Aber für die arme Lucrezia, die keine geschichtlichen Kenntnisse besaß, war es jedenfalls genug ... Also einen solchen »Heiligen Vater« hatte es einmal gegeben? Daß man ihr davon nichts erzählt hatte! In demselben Kloster, das noch heute dort oben stand. Es war eine späte Lektion, die sie als fromme Katholikin mit einigem Schauder hinabwürgte.

»Last mir also mein Programm,« bat Bartolo, »und Alba eine Stunde, die sie gewiß nie vergessen wird. Ja, und was ich noch sagen wollte: die jungen Damen und Herren müssen einige Tage früher bei mir eine kleine Probe abhalten. Wenn ich dich bitte, da nicht mitzukommen, ist es bloß der Überraschung wegen. Die Mütter und Väter sollen ja unser liebes Publikum sein.«

»Du kannst doch nicht verlangen, daß ich Alba allein hin und her fahren lasse?«

»So gib ihr in Gottes Namen Mademoiselle mit.«

»Mademoiselle hat sich für einige Tage zurückgezogen; sie macht bei den Grauen Schwestern die Exerzitien.«

»Oder Erminia.«

»Richtig!« seufzte Lucrezia auf, »Erminia ist jedenfalls verläßlich.«

»Und ungemein vernünftig!« setzte Bartolo mit einer gewissen Betonung hinzu. War Erminia doch die einzige in diesem Hause, die keine Betschwester war.

»Dann hab' ich also nur noch für die Kostüme zu sorgen!« meinte Lucrezia resigniert.

»Ist auch schon geschehn«, brummte Bartolo. »Mein Freund, der Bildhauer Kopf, hat die Figurinen gezeichnet. Da hast du die Frisur auch gleich dabei; bleibt nur noch die Konferenz mit der Schneiderin, die ja auch den Frömmsten nie unangenehm ist.«

Lucrezia gab ihm einen leichten Fächerschlag. »Du bist doch!«

»Nur ein galanter Onkel!« lachte Bartolo mit einem herzlichen Händedruck. Und draußen war er.

»Wie schade, daß er nie zur Beichte geht!« dachte Lucrezia bedauernd, »er ist so klug und amüsant! Und Prospero ist sein Bruder ... so oft ihr dieser Gedanke kam, griff sie nach ihrer Handarbeit. Für einen christlichen Ehemann war die Beichte doch wichtiger als die Konversation! Wäre sie aber immer eine christliche Ehefrau gewesen, hätten solche Gedanken ihr gar nicht kommen können. Wie ein schwarzer Flor sank es vor ihre Augen.

Einige Tage darauf begannen die Proben. Lucrezia war nicht neugierig, aber das geheimnisvoll strahlende Antlitz Albas ließ sie etwas Besonderes ahnen. »Wird es denn wirklich so schön werden?« fragte sie. Alba erwiderte: »Entzückend!« und mit einem fast andächtigen Schauer: »O, Mama, ich habe nicht gewußt, wie herrlich dieses Rom einmal war!«

»Wozu lernt ihr denn Geschichte?« fragte Lucrezia. Sie fragte diesmal nicht ohne Absicht, lag es ihr doch daran, zu erfahren, wie es jetzt um den Unterricht der Salesianerinnen bestellt war.

»Ach, Geschichte!« machte Alba. »Das sieht alles so grau und roh aus, was man uns im Kloster davon erzählt. Als wenn es in Rom nichts anderes gegeben hätte als garstige Menschen und scheußliche Despoten. Und später nur wilde Tiere, um die armen Christen zu zerreißen und schaurige Katakomben, um sie darin zu begraben! In unserem Buch steht schon etwas mehr darüber. Aber wir müssen oft ganze Seiten überblättern, damit wir ja wieder zu den wilden Tieren und den Katakomben kommen.«

»Was sagt euch denn Onkel Bartolo darüber?« fragte Lucrezia weiter.

»Ja, wenn ich dir das so erzählen könnte!« rief Alba mit strahlenden Augen. »Und eigentlich soll ich's ja auch nicht, aber – o Mama, wie stolz und glücklich bin ich, eine Römerin zu sein!« Um ihre Lippen legte sich plötzlich ein Lächeln, in ihre Augen trat ein Blick, der Lucrezia an die seligste und dunkelste Stunde ihres Lebens erinnerte. Und während sie die Hände faltete, sagte sie mit bebender Stimme: »Gott weiß, daß du es bist!«

Aber auch im Kloster sprach sich die Sache herum. Neben und um Alba saßen ja noch andere junge Römerinnen, jede Trägerin eines Namens, der ebenso stolz als alt war. So weit Onkel Bartolos Einfluß reichte, hatte er sich bemüht, auch ihre Eltern für sein Fest zu gewinnen, ihre Schönheit in den Reigen von Jugend und Anmut zu flechten, der der » Roma aeterna« huldigen sollte. Die meisten hatten seiner Einladung auch mit Freude Folge geleistet, nur die Borghese und Colonna blieben fest. Für sie führte keine Brücke in den Salon eines »Königlichen«. Dies hinderte aber nicht, daß die jungen Prinzessinnen nun erst recht neugierig wurden und immer mehr wissen wollten. Der Kreis der »Schwarzen« wurde ja immer kleiner, immer enger in Rom. Schon war es von diesen und jenen bekannt, warum sie überhaupt noch »päpstlich« waren. Ihre Treue hatte schon mehr mit der Börse des Heiligen Vaters zu tun als mit der Anhänglichkeit an seine Person. Selbst hochgehaltene Traditionen schmolzen, wenn man näher hinsah, zu einem goldenen Klümpchen Eigennutz zusammen. Da war eine Familie, die seit Jahrhunderten wenigstens immer einen Sohn oder Vetter unter die »Porporati« brachte, dort ein Prinzipe, der einen Teil des päpstlichen Landbesitzes unter äußerst vorteilhaften Bedingungen in Pacht hatte. Ein anderer spekulierte mit Dem Überschuß des »Peterspfennigs« an der Börse, bei allerlei Bauunternehmungen und ähnlichen Veranstaltungen der »Zöllner«. So daß, wie die Römer spaßhaft meinten, von dem ganzen Feigenbaum, auf den sich jener Sünder vor dem Heiland geflüchtet, nur mehr ein – Feigenblatt übrig geblieben war. Wieder eine andere Familie und nicht eine der letzten hatte Pio Nono noch in aller Eile rangiert. Da konnte man unter Leo XIII. nicht sofort die Flucht ergreifen.

Bei den ältesten und vornehmsten Geschlechtern aber war und blieb es der ehrliche Haß gegen das junge Königshaus, Die »piemontesischen Eindringlinge«, die noch halbe Barbaren waren zu einer Zeit, da die Nachkommen der »römischen Barone« schon auf dem Stuhl Petri saßen und »urbi et orbi« ihren Segen erteilten. Ihnen war es einfach undenkbar, jemals im Quirinal zum bloßen Höfling herabzusinken; sie, die am Throne Gottes selbst zu assistieren glaubten.

Die Jugend freilich begann schon mit helleren Augen um sich zu schauen. Die Welt war nun einmal anders geworden! Was blieb übrig, als eines Tages seinen Frieden mit ihr zu machen? So oder so ... Man konnte ja auch nicht immer von einem Papstjubiläum auf das andere warten, um sich einmal »zeigen« zu können. Die kleinen Prinzessinnen wurden junge, schöne Damen. Sie wollten gesehn, gefeiert, begrüßt und umworben werden – am Korso und auf der »Passegiata«, heute oder morgen heiraten und nicht bloß standesgemäß, auch reich, sehr reich. Wo waren aber die »Reichen« in ihrem Kreise? Die Geschichte wurde von Tag zu Tag schlimmer. Und was die Väter auch deklamierten, die Mütter rechneten sich nur immer eines heraus: » Non ci dà marito

So hörten die jungen »Päpstlichen« mit stillem Neid von den Vorbereitungen zu dem schönen Fest erzählen, wurden immer neugieriger, zuletzt fast traurig und sehnten ordentlich den Sonntag herbei, um den Alten daheim durch Tränen zu beweisen, daß der Jugend keine andere Pietät eingeboren sei als die für das Leben.

Nur eine fragte um nichts: die Ziani. Wer aber den Ausdruck ihres Antlitzes beobachtete, wenn sie von der Sache reden hörte: die weit geöffneten Augen, die mit den Worten ganze Bilder in sich zu trinken schienen, den traurigen Blick, mit dem sie immer wieder in die eigene Verlassenheit zurücksank, die verschämte Art, in der sie sich endlich davonschlich, der herbe Trotz, der sie stunden-, ja tagelang schweigen hieß – der konnte leicht erraten, daß gerade dies einsame Geschöpf nur einen Wunsch hatte, mit dabei zu sein.

Und Alba erriet es auch, aus dem tiefen Mitleid heraus, das diese freudlose Jugend ihr einflößte, wenngleich ihre Scheu vor der Ziani noch eine größere geworden war. Hatte die Ziani bis heute doch kein Wort über jene Szene verloren, die Alba unfreiwillig erlauscht. Konnte sie da unschuldig sein? Albas kindlichem Sinn war es unmöglich, sich ein solch schweigendes Erdulden des Unrechtes vorzustellen. Und war die Ziani das Geschöpf, es überhaupt so hinzunehmen? Sie, die nichts und niemanden achtete, so düster und trotzig auf sich selbst stand ... Vielleicht wußte die Präfektin doch, was in ihr immer und immer wieder gezüchtigt werden mußte!

Aber der stumme Sehnsuchtsblick ihrer Augen tat ihrs an. Ein Adler, der in Racconigi gefangen gehalten wurde, hatte ganz denselben Blick gehabt: hinaus, hinauf, ins Licht! Selbst in ihre Träume hatte sie der Blick des Tieres damals verfolgt, bis der Verwalter auf ihre Bitten dem Adler wieder die Freiheit gab. Wie herrlich, der armen Elena wenigstens einen Blick ins Licht zu gönnen!

»Höre,« sagte Alba eines Tages ... »möchtest du dir dieses Fest nicht auch ansehn?«

Ein böser Blick war die Antwort. Wahrscheinlich glaubte die Ziani, daß Alba sich einen Spaß machen wolle.

»Irgend etwas kannst du ja doch darauf sagen,« meinte Alba gekränkt.

»Wer denkt an mich!« lachte die Ziani kurz auf. Es sollte gleichgiltig herauskommen, aber in ihrer Stimme vibrierte ein Ton, der sie Lügen strafte.

»Das wirst du schon sehn,« sagte Alba geheimnisvoll und eilte hinweg, fast beschämt von der Möglichkeit, jemandem etwas Gutes erweisen zu können. Als aber der große Tag herankam, fuhr Lucrezia selbst vor und bat die Oberin, auch der Ziani den Besuch zu gestatten. »Sie wird mit uns hinfahren, bei uns übernachten und von uns wieder zurückgebracht werden,« versicherte Lucrezia. Und Mater Renée, die sich der Fürstin für mehr als eine Wohltat verpflichtet fühlte, konnte unmöglich nein sagen.

»Wenn sie uns dort nur keine Schande macht,« meinte die Präfektin mit einem süß-sauren Lächeln, als die Oberin ihr in Gegenwart Lucrezias mitteilte, daß die Ziani heute »geladen« sei.

»Alba hat mir bisher nur immer Gutes von ihr erzählt,« erwiderte Lucrezia unbefangen. Die Präfektin entfernte sich, um die Ziani herbeizuholen. Schön war sie freilich nicht, die arme Elena, wie sie in ihrem etwas abgetragenen Sonntagsstaat vor die Fürstin trat und ihr düsterer Blick, die wirren Haare und ungelenken Bewegungen ließen sie noch unliebenswürdiger erscheinen. So recht wie ein zerzaustes Vögelchen sah sie aus, das irgendwo aus dem Nest gefallen ist und sich nun nirgend zu Hause weiß. Was all den frommen Schwestern aber bisher nicht gelungen war: den Ton zu finden, der diese Seele erklingen machte, dies Wunder wirkte sofort Lucrezias Mutterinstinkt.

»Liebe Kleine,« sagte sie, während ihre Hand sich weich auf die wirren Locken der Ziani legte, »dich hat wohl nie eine Mutter herausgeputzt?«

»Sie ist auch alt genug, um es selbst zu treffen!« meinte die Präfektin bissig. »Aber gewisse Dinge passen uns eben nicht, was?«

Nun war diese gelbe, schmallippige Nonne nie widerwärtiger, als wenn sie zu scherzen versuchte. Selbst Lucrezia fühlte das sofort heraus und um über die Peinlichkeit des Augenblicks hinwegzukommen, meinte sie lächelnd: »Wer weiß, vielleicht steht ihr eine altrömische Frisur besser. Wir haben ja heute zwei Coiffeure im Haus!«

Während sie aber so sprach, fühlte sie plötzlich, wie das Haupt der Ziani unter ihrer Hand stoßweise zu erzittern begann. »Nun?« sagte sie. Aber da hatte die Ziani schon ihre Hand ergriffen und im nächsten Augenblick brannten zwei heiße Küsse auf dieser Hand und zwei noch heißere Tränen. Dann lief sie hinaus.

»So ist sie,« lachte die Präfektin gezwungen, »und die sollen wir zurechtbringen.«

Lucrezia sagte kein Wort, aber etwas in ihr bäumte sich plötzlich fast beleidigt auf und ließ ihr die blasse Nonne noch widerwärtiger erscheinen. Sie wußte nicht, woran es lag, aber Albas Erzählungen, der nur schlecht verhehlte Haß der Präfektin und der leidenschaftliche Ausbruch des verlassenen Kindes gaben ihr plötzlich mehr zu denken, als sie sich selbst eingestehn mochte. Und als sie nun zu dritt im Wagen saßen, legte sie rechts und links die Arme um die jungen Geschöpfe ... um diese zwei, die nicht da sein sollten und doch mehr denn alle anderen eine Mutter brauchten.

»O Mama, wie bist du gut!« hauchte Alba leise. Die Ziani sagte nichts, starrte blaß und stumm zum Fenster hinaus, aber ihre Tränen flossen immer rascher; wie ein Frühlingsregen kamen sie, der Wunder wirkt und Wunder findet.

Als der große Abend anbrach und der Coiffeur auch an Elena seine Kunst erprobt hatte, konnte Lucrezia nur mit Mühe einen Ruf der Bewunderung unterdrücken. Diese Ziani war ja schön, ganz unheimlich schön! Ein Kopf, wie von der Statue eines Epheben herabgenommen und auf den schlanken Hals dieser herben Mädchengestalt gesetzt. Jeder Zug Kraft, Wille, jünglinghafte Anmut und trotzige Frühlingsherbe. Dazu die goldgetönte Blässe des Antlitzes, der finstere Schwung der starken Brauen, die wie von rätselhaften Lichtern durchhuschten Augen. Nur der Mund ... Um den träumte und zuckte und lauerte etwas ... »Nichts Gutes!« dachte Lucrezia. Aber mußte es darum gleich das Böse sein? Und plötzlich wußte sie, woran das geheimnisvolle Lächeln dieses Mundes sie erinnerte – an den berühmten Kopf der »sterbenden Medusa« des Lionardo. Und dabei dachte sie ganz unwillkürlich: »Ja ... wenn die jung stürbe, müßte sie gerade so aussehn.«

Im selben Moment traf ihr Blick mit dem der Ziani zusammen, der, wie sie plötzlich fühlte, auch sie die ganze Zeit her beobachtet haben mußte. Hell, durchdringend, mit einem Ausdruck frühreifen Wissens, schien er bis in ihre Seele hinabzusteigen und sich wie ein scheues Tier wieder unter diese dunklen Lider zu verkriechen. »Als ob sie wüßte, was ich jetzt gedacht habe!« fuhr es Lucrezia durch den Sinn. Das war natürlich unmöglich. In Lucrezias Seele aber blieb ein Schauer zurück, etwas, das eine geheime Angst war und noch etwas ...

»Die junge Dame hat gar keinen Schmuck!« flüsterte ihr in diesem Augenblick die Zofe ins Ohr. Wie erlöst atmete Lucrezia auf: »Ja so« – Zart und vorsichtig trat sie an die Ziani heran, ordnete da und dort an den Falten ihres Kleides herum. Steckte eine Schleife höher, eine Blume etwas tiefer in den Nacken und meinte endlich wie nebenbei: »Sie haben einen so schönen, schlanken Hals, liebes Kind ... da stünde irgend ein Kettchen oder Perlen gut. In ein Institut bringt man natürlich dergleichen nicht mit, darf ich Sie vielleicht ein bißchen schmücken?«

»Nur einen Stirnreif,« sagte in diesem Augenblick der Coiffeur, der eben daran war, seine Sachen zusammenzupacken. »Wenn Ezzellenza den bei der Hand hätten! Dieser Kopf verlangt ordentlich danach.«

»Aber gewiß!« rief Lucrezia. Und schon trat sie an den Wandschrank, der ihre Juwelen barg. Ein goldenes Stirnband fiel ihr ein, das sie selbst einmal getragen, die kunstvolle Nachahmung eines etruskischen Schmuckes. Der Reif zeigte in zarter Gravierung ein Gewinde von Palmetten und Lotosblättern, denen gerade in der Mitte der Stirne eine zwischen die Brauen fallende Blütenglocke entwuchs. Auf dem Original war auch die Blüte aus Bronze gewesen. Lucrezia hatte einen leuchtenden Rubin fassen lassen, der wie eine purpurne Lotosknospe auf der Stirne der Trägerin ruhte.

»Sehr gut!« nickte der Coiffeur, während er den Schmuck entgegennahm. Und als der Reif festgesteckt war und der Rubin wie ein blutiger Tropfen in die goldblasse Stirne hing, rief er bewundernd: »Nun kann der Kopf der Signora im Braccio Nuovo aufgestellt werden!«

Erminia und die Kammerfrau lachten, fühlten als echte Italienerinnen aber sehr wohl heraus, wie viel damit gesagt war. Nur Lucrezia konnte nicht hindern, daß ihr wieder die sterbende Medusa einfiel: mit den starren, klassischen Zügen und den Schlangen ums Haupt, deren eine sich auch wie ein funkelnder Reif um die fahle Stirne windet. Und als sie die kostbare Tür ihres Juwelenschrankes schloß, fuhr sie mit einem leichten Schauer zusammen. Da starrte sie ihr ja wieder entgegen – die Maske der Medusa, mitten aus dem Elfenbeinrelief, das den Wandschrank zierte und den die Andromeda befreienden Perseus darstellte. Von seinem Schild starrte sie ihr entgegen: schön und unheimlich zugleich. Ganz wie dieses Kind ...

Da trat Alba ein.

Sie trug das in weichen Falten herabfließende Gewand der Römerinnen, nur ohne Stola. Aus dem leicht emporgewundenen Knoten der Haare fielen rechts und links ein paar Locken auf die bloßen Schultern, die, schmal und zart, in der ganzen Anmut der Jugend abfielen. Um die Stirne trug sie ein weißes Band. Der bloße Fuß ruhte auf weichen Sandalen, die von gekreuzten Riemen aus weißem Leder gehalten wurden.

»Hast du auch nichts vergessen?« fragte die Prinzipessa noch einmal.

Alba lächelte geheimnisvoll: »Behüte; ich bring' sogar mehr mit, als der Onkel erwartet hat.« Damit nickte sie der Ziani zu und Elena sah etwas befangen beiseite. »Noch eine Überraschung?« dachte Lucrezia. »Ach ja, die Jugend ist so reich!«

Als der Diener den jungen Mädchen die langen Abendmäntel um die Schultern legte, huschelte sich die Ziani wie fröstelnd darin ein. »Dir ist doch nicht kalt?« lachte Alba.

»Nein,« erwiderte die Ziani, diesmal mit einem vollen, dankbaren Blick. »Aber es ist das erste Fest, das ich in meinem Leben seh'. Da freu' ich mich und fürcht' ich mich zugleich.«

»Fürchten – wovor?« staunte Lucrezia.

»Daß es vielleicht zu schön sein wird!« erwiderte die Ziani. »Was mach' ich denn mit dieser Erinnerung bei den Salesianerinnen? Ein ganzes Leben lang.« ...

Lucrezia wandte sich ab. Es war dies ein Thema, das sie in Gegenwart Albas nicht gerne besprochen sah. Stand es zwischen Mutter und Tochter doch schon fest, daß Alba im Herbst wenigstens probeweise bei den Salesianerinnen eintreten sollte. Freilich ... wie sie heute vor ihr stand: ganz Jugend, Schönheit und Erwartung, erschien es selbst Lucrezia fast unmöglich, sich ihr Kind unter dem schwarzen Bahrtuch der feierlichen Profeß zu denken. Ihre leidende Seele aber sagte ihr immer wieder, daß es kein anderes Mittel gebe, sie zu entsühnen und Alba dem Einfluß der bösen Instinkte zu entwinden, die mit der Sünde der Mutter auch ihr ins Blut übergegangen sein mußten. Aus diesem Grund hatte sie auch die Annäherung an die Ziani nicht ungern gesehen. Von dem, was Elena über die Nonnen eigentlich dachte, hatte ihr Alba noch nichts erzählt, in der dumpfen Angst, daß ihre Mutter vielleicht der Oberin davon sprechen könnte und die Ziani dann noch mehr zu leiden hätte. Und wo käme sie hin – arm wie sie war, ohne diese Zuflucht im Kloster ...? Lucrezia aber sah in der Ziani bereits eine Verlobte des Herrn und dachte es sich ebenso rührend als weihevoll, die zwei, die miteinander auf der Schulbank gesessen, auch vor dem Altar knien zu sehn: reine Engel, die hoch und feierlich ihre Leuchte emporhielten, über das Grab einer toten Sünderin und die dunklen Stunden einer noch lebenden ...

Endlich setzte sich der Wagen in Bewegung. Viel zu spät für die Empfindung der jungen Mädchen, deren drängende Erwartung heute natürlich voraneilte.

Es war ein klarer, aber warmer Abend, in dem schon etwas von sommerlicher Schwüle brütete. Die Dämmerung, in die sie hineinfuhren, nahm langsam eine violette Färbung an. Der Himmel dunkelte von einem Blau, das den Lapislazuliton des Ozeans hatte. Über der Kuppel Sankt Peters hing noch eine leuchtende Abendwolke. Aber schon funkelten da und dort die Sterne auf und die Luft kam wie eine Blütenwolke von all den Hügeln hernieder und trug das Geräusch des Korso mit sich, die fröhlichen Rufe tollender Kinder und hie und da einen verwehten Hornklang der Militärkapelle, die auf dem Pincio spielte. Dunkel und ernst wuchsen die Ruinen in die Nacht.

Die Villa Bartolos lag knapp an der Passegiata Margherita, förmlich vergraben in einem Park, der um diese Zeit immer ein Labyrinth blühender Hecken und Bäume war. Terrassenförmig sich hebend und senkend, wuchs er bis zur Höhe des Gianicolo empor, den Tiber, die Stadt und den ganzen Rundbogen des Gebirges in sein weites Blickfeld ziehend. Dabei undurchdringlich für jedes Auge, das von außen hineinspähen wollte.

Uralte Pinien und Zypressen überschatteten seine Wege, blühende Lianen hingen zwischen dunklen Steineichen herab, hundertjährige Schlingrosen waren bis in die Wipfel der Bäume geklettert und zogen den Purpur ihrer Blüten wie eine Königsschleppe nach sich. Weiße Oleander blühten längs der marmornen Treppen, aus antiken Urnen flutete ein Gewirr tropischer Schlingpflanzen hernieder, die die Formen bunter Schlangen hatten und den Würzehauch indischer Räucherpfannen.

Da war ein riesiges Tuffbassin, das marmorne Seeungeheuer hüteten. Der goldige Ton des Steins war im Lauf der Jahrhunderte von all dem sprühenden Wasser förmlich grün-schwarz geworden, eine Patina, die der »befloßten Herde des Nereus« fast den Schein des Lebens lieh.

Im Silberduft eines Hains uralter Ölbäume probte ein marmorner Faun seine Flöte. In einem Rondeau, dem nur der Scharlach der Granatbaumblüte seine Farbe lieh, stand eine herrliche Kopie der kapitolinischen Venus.

Da und dort säumten Veilchen und wildwuchernde Primeln scheinbar vernachlässigte Pfade. Wer aber näher zusah, entdeckte, daß sie über die herrlichsten Kapitäle antiker Säulen hinwegwucherten, die wie von der Zeit herumgestreut, in vornehmer Einsamkeit hier die Vergangenheit hüteten.

Die Höhe des Parks bildete ein »Stern«, von dem sechs Alleen vielhundertjähriger Zypressen ausliefen, wie gigantische Wächter längs der weißen Marmortreppen hinan- und hinabsteigend. Wer hier stand, hatte die » Roma aeterna« zu seinen Füßen – Gegenwart und Vergangenheit in einem Bilde vor sich, wie es schöner und erschütternder nicht mehr gedacht werden kann.

Noch spät nachts sah man den Tiber hier im Mondlicht heraufblitzen. Die Schattenmassen der Ruinen stiegen wie der schweigende Chor einer Tragödie aus der Tiefe. Die grauen Türme der kriegslustigen Barone des Mittelalters standen gleich versteinten Riesen da. In schweigender Majestät thronte die Kuppel der Peterskirche über all' den Mauern und Dächern ... dort trotzte die Engelsburg herüber. Die langen Fronten des Quirinals schimmerten auf. Noch näher die wie übereinandergetürmten Bauten des Kapitols. In der Ferne sah man die roten Lichter eines Eisenbahnzuges vorüberfliegen, daneben wuchsen die Aquädukte der »Marcia« empor. Noch zog die Via Appia in die träumende Campagna hinaus und mit ihr die uralte Straße nach Ostia. Ernst und schweigend stand am Horizont das Gebirge.

»Die ganze Welt hat mir nichts mehr zu sagen, wenn ich dieses Bild sehe!« versicherte Bartolo, so oft er von der Höhe des »Sterns« auf Rom herabsah. Und er hatte recht ... Hingesunkene Größe, in Staub aufwirbelnde Macht, Geschlechter, die ihren Ursprung bis auf die Götter zurückleiteten, Träume, die einst Himmel und Erde umspannt – alles, was die Welt bewegt und des Menschen Seele als Schicksal erkennt und schaudernd erfährt, das alles lag unter dem Schutt dieser Ruinen.

»Was nützt es, daß unsere Legionäre Jerusalem zerstört haben?« pflegte Bartolo zu sagen. »Die Rache der Juden war feiner!« Oft litt er geradezu unter diesem Gedanken. Wenn Garibaldi mit seinen Scharen Italien auch einig und groß gemacht und Rom wieder zum Mittelpunkt Italiens – die Renaissance der Lateiner, von der Bartolo träumte, war das noch lange nicht.

»So lang diese Kreuze auf das Forum herableuchten, so lang ist auch der Papst der König Roms!« Er sprach das nie so offen aus. Aber die Liebe zu seiner Heimatstadt, die kindliche Trauer über ihr Geschick wühlten eine heimlich blutende Wunde in sein Herz, gaben seinen Gedanken und Reden zuweilen den Schein einer Bedeutung, die doch nichts anderes war als das Pathos dieser eingeborenen Empfindung. Und so hatte es ein merkwürdiges Schicksal gefügt, daß aus dem durch und durch katholischen Hause der Chietti noch einmal und vielleicht zum letztenmal ein Sproß hervorging, dessen Fühlen und Denken aus einer Wurzeltiefe quoll, von der der blühende Stamm nichts mehr wußte, noch wissen wollte.

»Gehst du heut' wieder zu deinem hohen Priester?« neckte er Prospero, so oft dieser bei einer Feier im Vatikan zu assistieren hatte.

»Du wirst schon auch noch einmal hinfinden,« knurrte Prospero mißvergnügt.

»O, warum nicht?« lachte Bartolo. »Der Tempel des Jupiter Stator kann ja noch immer aufgebaut werden. Und wenn dein Papst dann wieder Pontifex Maximus heißt –«

»Mach' dich nicht lächerlich!«

»Und du vergiß nicht, daß eine Chietti die letzte der Vestalinnen war.«

»Legende, Legende.«

Dann streckte Bartolo wohl mit einer großen Geste den Arm aus. Und während er von den Ruinen zum Vatikan wies, sprach er langsam: »Was ist nicht Legende – was wird nicht Legende? Weißt du, wohin ich jetzt geh'? Ins Kircherianum, um mir die depossedierten Götter anzusehn.«

»Woher er nur all' die Blasphemien hat?« jammerte Prospero oft für sich. Und da ihn sein Glaube immer auf den einen Versucher wies, wurde es dem guten Prospero oft recht bange für Bartolo.

Als Lucrezia mit ihren jungen Damen vorfuhr, staunte sie nicht wenig, statt des livrierten Dieners einen halbnackten »alten Römer« am Tor der Villa zu sehn. »Was will denn der da?« rief sie, und zögerte auszusteigen.

»Aber Mama,« lachte Alba. »Das ist ja der Giacomo!«

Nun erst erkannte auch Lucrezia den Portier.

»Seht ihr heute alle so aus?« fragte sie ärgerlich.

Giacomo zuckte verlegen die Achseln. »Der Prinzipe hat gesagt, daß wir heute Sklaven seien!«

»Das kann schön werden!« murmelte Lucrezia verstimmt, aber die Jugend ließ ihr keine Zeit, sich anders zu besinnen. Schon eilte Alba voraus, ihr nach die Ziani.

»Ich hoffe, daß die jungen Herren drinnen besser angezogen sind!« hüstelte Lucrezia.

»O Mama,« lachte Alba, »so dekolletiert, wie die Damen auf einem Hofball, sind sie noch lange nicht. Uns wie wars denn voriges Jahr auf dem Lido? Da konnte man ihnen doch auch keine Strümpfe und Schuhe ankommandieren! Und wie häßlich sie noch dazu waren, all' diese mageren Büffelzüchter und fettsüchtigen Seidenspinner!«

»Der Lido!« sagte Lucrezia, brachte aber den Satz nicht zu Ende. Schon stand Bartolo vor ihr, neben ihm ein Fremder – hoch, breitschulterig, mit langem, schlichtem Blondhaar, das an den Schläfen bereits einen grauen Ton hatte.

»Ein Deutscher!« dachte Lucrezia auf den ersten Blick und dann: » Hat der Mensch Augen!«

»Signore Kopf?« lächelte sie ihn an. Sie dachte, es sei der berühmte Bildhauer, der sich aus Freundschaft für Bartolo herabgelassen, die Figurinen zu zeichnen.

»Signore Mil–ler!« stellte Bartolo vor. »Ein berühmter – Arzt aus Deutschland.«

»O!« staunte Lucrezia pflichtschuldig. Sie entsann sich zwar nicht, jemals von einem berühmten Arzt dieses Namens gehört zu haben, wollte sich aber keine Blöße geben. Denn im Salon ihres Schwagers verkehrten wirklich nur Leute von Ruf.

»So,« scherzte Bartolo, »und nun wird Signore Miller dich zu den Matronen Roms geleiten. Hoffentlich erzählt er dir nicht zu viel von seinen Operationen!« Dabei zwinkerte er dem Fremden zu und beide lachten. Bartolo wie ein schlimmer Junge, der Fremde leise, herzlich, mit einem Ton, der fast etwas Kindliches hatte.

»Ich muß nämlich jetzt zu der Jugend! Signore Kopf hat zwar die Regie übernommen. Aber –«

»Wo ist denn Alba?« rief Lucrezia, der es nun erst auffiel, daß sie allein dastand.

»Erlaub' mir! Soll ich meine besten Nummern gleich beim Entree herausstellen? Die ist und bleibt jetzt für eine halbe Stunde im Orkus.«

»Aber die Ziani?«

Bartolo hörte nicht mehr, und da Signore Miller im gleichen Augenblick der Fürstin den Arm bot, mußte sie sich wohl oder übel zu den versammelten »Matronen Roms« geleiten lassen.

»Sie sind zum erstenmal in Rom?« fragte sie ihren Begleiter.

»Das nicht,« lächelte der Fremde, »aber so oft ich komme, ist es mir jedesmal, als war' ich zum erstenmal da.«

»Und wie gut Sie Italienisch sprechen!« staunte Lucrezia.

»Ich hab' es in meiner Jugend gelernt und das bleibt einem, wie die Erinnerung an die erste Liebe.«

»Ja, ihr Deutschen,« nickte Lucrezia, »ihr könnt noch schwärmen und darum habt ihr auch mehr von unserem Rom als wir. Wenn man hier so dahinlebt, von klein auf, halb in Gewohnheit, halb in Gedankenlosigkeit ... Nur für die Fremden ist Rom noch ein Fest.«

»Ihr Schwager ist gleich eine rühmliche Ausnahme!«

»Der ist Junggeselle und hat keine Kinder, und zuweilen seine – seine ...« Sie wollte sagen »Phantastereien«, sagte aber schließlich »Ideen«.

Wieder schien es, als lächle der Fremde, leise, kaum merklich, aber doch.

»Die Ideen fliegen einem hier wohl von selber zu,« sprach er dann langsam. »Sehn Sie zum Beispiel – hier!« Er blieb einen Augenblick stehn, zog den Arm der Fürstin wie ein Vater an sich und wies mit der Linken in den Abend hinein. »Da bin ich gestern gesessen und wollte eine Aquarellaufnahme machen. Wie ich es in meinen freien Stunden zu tun liebe, wo ein Stück Natur oder Geschichte mich lockt. Die Landschaft verläuft hier so still und groß, alles Ruhe und Plastik in diesen Linien. Aber glauben Sie, daß es mir möglich war? Dieses Rom, das im Abendgold so tragisch dalag, sprach plötzlich mit tausend Zungen zu mir. Das Forum füllte sich mit leuchtenden Marmorhallen, vom Kolosseum schlug es wie das Getos einer Brandung an mein Ohr. Der Wind, der von der Via Appia herkam, schien einen gellenden Tubaruf mit sich zu führen. Vom Palatin her drang der Lärm eines neronischen Bacchanals. Nicht einmal der Blick in die Campagna gab mir die nötige Ruhe. Lag auf dem Wege nach Tivoli nicht die Villa des Hadrian, in der das lieblich -düstere Antonius-Idyll spielt? War dort drüben nicht der Landsitz, den eine sinnige Sage mit dem ruhmvollen Aufstieg der Julier verknüpft – die Villa ad gallinas albas? Welche Menschen, denen die Adler des Zeus Verheißung und Erfüllung in ihren Fängen herabtrugen! Und während hier oben noch alles lebt und gleißt und wie trunken dahintaumelt, versammelt sich da unten schon die stille, blasse Gemeinde der ersten Christen, schlug das Leben nach einem anderen Strand seine Brücke hinüber. Und worüber das alte Rom gelacht, das wurde allmählich ein Ernst, mit dem die Welt sich noch heute nicht recht abgefunden hat; der neue Träume brachte und neue Ketten ... Ein geheimnisvoller Schritt weiter auf der dunklen Linie, die wir Entwicklung heißen. Kurz, ich alter Kerl, der ich gewohnt bin, alles recht sauber unter meine Mikroskope zu nehmen – ich fing auf einmal zu halluzinieren an. Ich weiß, wie sie das hier nennen ... » Fantasticaggini«. Aber einmal, sehn Sie, waren diese Phantastereien doch mehr: große, lebendige Ideen, die die Welt bewegt, die Geschichte gestaltet, und das sollte ich mit – Wasserfarben festhalten? Ich lüftete meinen Hut und schlug mich in die Büsche.«

»Wie schön Sie das jetzt gesagt haben!« rief Lucrezia hingerissen, »und wie es mich freut, daß Sie trotz aller Gelehrsamkeit auch das Christentum respektieren. Sie sind also gläubiger Christ?«

Der blonde Hüne sah auf die Italienerin herab – mild, nachsichtig, wie auf ein Kind, dem man seine Freude nicht verderben will. Dann ließ er ihr galant den Vortritt zu der Marmortreppe, die zum »Stern« emporführte.

Hinter ihnen rauschten schon wieder andere Seidenschleppen heran. Von der Höhe kam ein Gekicher junger Stimmen. »Da müssen Sie irgendwo sein, unsere Lachtauben!« meinte Lucrezia zärtlich. Signore Miller nickte: »Machen Sie sich auf ein herrliches Tableau gefaßt! Kopf hat das Bild nach einem berühmten Gemälde Böcklins gestellt und was neu daran ist, macht es fast noch origineller. Das Originellste ist aber das Gedicht, das Ihre Tochter sprechen wird!«

»Alba? Davon hat sie gar nichts gesagt!«

»Weil es eine ihrer Mitschülerinnen erst in letzter Stunde gemacht hat!«

»Doch nicht die – Ziani?« staunte Lucrezia.

»Allerdings; so wurde die junge Dame genannt.«

Lucrezia blieb unwillkürlich stehn; sie preßte die Hände an die Brust: »Die Ziani eine Poetissa! Eine – Poetissa!« wiederholte sie mit der schönen Andacht der Italienerin für alles, was Kunst heißt. Und plötzlich ging ein Geleucht über ihre Züge: »Gott ist doch gut!«

»Wie – meinen Sie das?« fragte ihr Begleiter etwas befremdet.

»Weil die Arme bloß ein – solches Kind ist!«

»Was für ein Kind?«

»Gott ... ein Kind der Liebe!« stammelte Lucrezia verwirrt.

»Ja sehn Sie,« erwiderte der Fremde ... »das sind die Fälle, wo der liebe Gott von der Natur korrigiert wird!« Lachte er nicht dazu? In seiner Stimme war ein so heller Ton, etwas Freies, Weites, das wie eine Lichterscheinung an der armen Lucrezia vorüberglitt.

»Es ist zwar nicht ganz christlich, was er da sagt,« dachte sie ... »Aber –« Sie mochte sich nicht eingestehn, wie wohl ihr seine Worte getan.

Auf der Treppe des letzten Absatzes kam ihnen wieder solch ein »alter Römer« entgegen. Zum Schrecken Lucrezias war er noch weniger bekleidet und daß dieser »Römer« gerade der jüngste Diener Bartolos war, stimmte Lucrezia noch ärgerlicher. Da schwirrten ja die Versuchungen wie die »Zanzare« herum. Ungehalten wollte sie sich abwenden, aber Signore Miller hielt sie zurück. »Es ist der Zeremoniär, der Sie zum Fest lädt!« sprach er leise. Und schon stand der Bote vor ihnen und senkte wie zum Gruß seinen elfenbeineren Stab, hob ihn wieder und schritt den beiden voran und wie geblendet, blieb Lucrezia plötzlich stehen.

Bläuliche Lichtwellen rannen vor ihr über den Boden hin. Es war der Widerschein der Magnesiumflammen, die aus mächtigen »Opferschalen« emporschlugen. In jeder Ecke des ein Zwölfeck bildenden »Sterns« stand eine solche Schale auf hohen, reich ornamentierten Bronzesäulen und von einer Säule zur anderen schlangen sich weiße Blumengewinde, so daß der Raum wie mit blühenden Ketten abgeschlossen war. Nur den Zugang zur Treppe, über welche die Gäste heraufkamen, hatte man freigelassen. Bänke von giallo antico dienten als Ruhesitze. Ein uralter Meilenstein, der sich in der Antikensammlung der Chietti befand und an der Via Appia gefunden worden war, bildete die erste Stufe zu einem Altar, der in der Mitte des Sterns stand. Er trug das zinnengekrönte Marmorhaupt einer Riesin – der Göttin Roma.

»Wie sie im Braccio nuovo steht,« rief Lucrezia unwillkürlich, und als sie näher hinsah, entdeckte sie auch die schwarzen Marmoraugen in dem Kopf, die dem gespenstisch dämmernden Antlitz diesen Ausdruck abgründiger Gier und eherner Majestät leihen.

Aber man ließ ihr nicht Zeit, erst lang um sich zu schauen. Die »Mütter der Jünglings und Jungfrauen Roms« waren fast vollzählig versammelt ... Hinter den Bänken standen die Väter, machten die »Galantuomini« oder politisierten. Die älteren Jahrgänge sprachen über die Ernteaussichten und über die Viehzucht. Wäre Bartolo zugegen gewesen, er hätte sich wieder einmal geärgert und geschämt. Denn was stak noch von den Römern in diesen? Freilich glaubte er auch für diese »Décadence« den zureichenden Grund gefunden zu haben. Die vielhundertjährige Priesterherrschaft hatte sie verdorben. »Laßt einen Mann nur erst hinter einer Kutte herlaufen und ihr sollt sehn, wie rasch er ein altes Weib wird!« pflegte Bartolo zu sagen. Und die gezierten Formen der Männer seiner Kaste, ihre anämische Gleichgiltigkeit gegen alles, was nicht Weib oder Geld hieß, ihr geradezu ausfallender Hang zum Klatsch, ließen sein Urteil nicht ungerecht erscheinen. Was tat es, wenn noch einige dann und wann in den Fechtklub liefen? »Entkleidete Spinnen!« meinte Bartolo verächtlich. Nein, die hätten Karthago nicht in den Staub geworfen! Und hätte er wenigstens irgend ein geistiges Interesse bei ihnen entdeckt! Aber »was die Pfaffen nicht dumpf, das hatte Paris stumpf gemacht!« wie Bartolo sagte. Ein Glück, daß die Weiber anders waren. Da stak noch Kraft und Rasse, trotz Weihwedel und Beichtvater. An die Söhne und Töchter dieser Mütter wandte er sich heute, an das »Rom, das werden sollte«.

Lucrezia hatte noch nicht recht Platz genommen, als sie schon in allen Tonarten das Lob des berühmten Fremden zu hören bekam. Wie liebenswürdig er sei, wie klug, welch ein hinreißender Causeur. » E molto interessante!« Die Frauen waren also einig über ihn und auch die Männer fanden ihn » affabile«. Nur der alte Ruspoli machte seine » ostacoli«.

»Den Kopf hab' ich schon einmal gesehn!« sagte er zum Herzog von Sermoneta, »irgendwo ... vielleicht auch nur in einem Buch. Aber – Miller hat er da nicht geheißen!«

»Wie denn?«

»Das weiß ich nicht mehr, und sie haben ja auch so abscheuliche Namen in dieser Germania. Namen, die man husten und spucken muß. Aber Miller – nein!« entschied er wieder mit einem argwöhnischen Blick nach dem Fremden. »Miller heißt der nicht!«

»Du glaubst doch nicht etwa, daß Cagliostro wieder umgeht?« lachte der Herzog.

»Kennen Sie schon das neueste Mot über Crispi?« mengte sich in diesem Augenblick ein Deputierter ins Gespräch. Sofort traten ein paar andere hinzu. »Nun?«

»Also ... nach der letzten Debatte über das neue Ehegesetz soll er in den Couloirs geäußert haben, daß er doch noch ›in seinem Siegeswagen‹ hier herausfahren werde. › In biga mia!‹ Sie verstehn? Und was macht der ›Osservatore‹ daraus?«

»Nun, nun?«

»Er zieht die zwei letzten Worte zusammen und schreibt: › In bigamia!‹ Sie verstehn doch?«

»Aber natürlich. › La bella Carolina‹ ... hahaha!«

Ein paar Gattinnen werden neugierig und treten hinzu. »Nichts für die Damen!« lachte man ihnen entgegen.

»Und zu viel für die Herren!« ruft eine streitbare Katholikin.

»Wieso?«

»Erlauben Sie mir, wenn unsere Töchter sich künftig bloß kirchlich trauen lassen, sind sie für den Staat so gut wie nicht getraut. Und lassen sie sich bloß ›staatlich‹ trauen, leben sie für die Kirche im Konkubinat!«

»Darum werden sie sich künftig eben zweimal trauen lassen!« ruft der Deputierte, ein Gesinnungsgenosse Bartolos.

Die Duchessa zieht bloß die Schultern in die Höhe und über diese Schultern wirft sie mit unendlicher Verachtung hin: »Vom – Sindaco? Der da unter uns herumläuft und ein Bock ist wie alle anderen?«

»Der Prete kann ja auch ein Bock sein!«

»Aber er geht beichten.«

Trumpf!

»Heut' haben wir wieder Kaffee zur Milch,« schmunzelte der Deputierte hinter ihr. Die anderen lachen. Sie wissen, was er meint: die schwarz-weiße Mischung der Gesellschaft.

Unterdeß hat die Fürstin Bedoni sich des interessanten Fremden bemächtigt. Sie ist ultraklerikal und steingeizig, bloß die Pariser Schminke gönnt sie sich noch, so alt sie auch ist.

»Man hat mir gesagt, daß Sie ein berühmter Arzt sind?«

Der Fremde lächelt bloß.

»Wie denken Sie über den Rheumatismus?«

»Schlimm, da ich ihn selbst habe.«

»O, da brauchen Sie mir ja nur zu sagen, was Sie anwenden? Mein Medico will mich nach Brückenau schicken. Das soll irgendwo in diesem Germanien sein.«

»Ich war auch schon dort.«

»Und sind gesund geworden?«

»Und hab' ihn im nächsten Jahr wieder bekommen.«

»Und Katzenfelle? Wie denken Sie von Katzenfellen?«

» Schaden können sie nicht.«

»Mir helfen sie!« triumphiert die Bedoni. »Und wenn man noch ein Kaninchen ins Bett nimmt und drei Rosenkränze betet« –

»Ist das Kaninchen den anderen Tag tot, nicht?« fragte der Fremde völlig ernst.

»Sie haben es also auch schon probiert?«

»Das nicht, aber die Kaninchen hab' ich immer bewundert.«

»Die – Kaninchen?«

»Daß sie so prompt reagieren.« Damit zog sich Signore Miller zurück.

»Endlich ein Arzt, mit dem man vernünftig reden kann!« dachte die Bedoni entzückt.

Da schollen drei mächtige Hornrufe aus der Tiefe des Parks empor.

»Es sind Tuben!« sprach einer der Herren.

»Was Sie sagen!«

»Ja, die Tuben aus der Waffensammlung Bartolos.«

»Großartig!« rief der Deputierte. »Und wie herrlich, wie weihevoll, daß es doch wieder Römer sind, die sie an die Lippen setzen.«

» Roma aeterna!« sprach jemand laut und wie mit einem Schlag verstummte das Gelächter und Geplauder ringsum. So verschieden auch die Anschauungen und Interessen dieser Menschen waren, diese dröhnenden Tubarufe, die wie aus den hallenden Fernen einer großen Vergangenheit herüberklangen, durchschauerten alle mit einem Gefühl kindlicher Ehrfurcht. Wann und wo erschollen ihre Stimmen zuletzt? In den Urwäldern Germaniens – am Strand des alten Danubius – in Dacien oder Syrien? Welcher Feldherr ließ durch sie zu den Legionen reden? Wo war der goldene Adler, der ihnen vorausflog? Die Manipel, die ihm folgten und von einem Ende der Welt zum anderen getragen wurden, im donnernden Marsch der Kohorten?

Wie Andacht sank es über alle nieder. Das waren nicht mehr »Päpstliche« und »Königliche«, Gläubige und Ungläubige; Römer und Römerinnen waren es, die da standen und lauschten und mit Blicken sich grüßten, in denen der Instinkt uralter Zusammengehörigkeit aufleuchtete.

Und die Tuben klangen näher und näher.

»Von dort müssen sie heraufziehn!« meinte der Herzog von Sermoneta.

Aber im selben Augenblick trug der Nachtwind von der entgegengesetzten Seite den Auftakt eines vielstimmigen Frauenchores empor.

»Unsre Mädchen!« wispelten die Mütter zärtlich. Da und dort erhob man sich wieder, um früher etwas sehn zu können. Aber es war wie ein geisterhaftes Nahen. Kein Schritt hörbar ... nichts als der Weiheklang dieses Liedes, das helle, junge Frauenstimmen wie eine Opferflamme in die Nacht steigen ließen.

Wieder schrien die Tuben auf. Dann wurde das Motiv des Weiheliedes von den kräftigen Stimmen der Jünglinge aufgenommen und nun begann man erst zu merken, daß der Festzug in zwei großen Gruppen von entgegengesetzten Seiten heranzog.

Plötzlich wurde der düstere Schein aufleuchtender Fackeln sichtbar. Sklaven trugen sie, die im weißen Kleid römischer Tempeldiener rechts und links aus dem Dickicht traten und zu beiden Seiten der Marmortreppen Aufstellung nahmen. Wie auf einen unsichtbaren Wink fielen rechts und links die weißen Blumenketten nieder – zur gleichen Zeit traten auf die oberste Stufe der Treppe: rechts die Töchter, links die Söhne Roms – im selben Augenblick verschmolzen ihre Stimmen zu einem einzigen Chor.

Paarweise schritten sie einher: die Jungfrauen in langherabwallenden, weißen Gewändern – im Schmuck der ersten Toga die Jünglinge. Je zwei und zwei trugen blühende Gewinde! Und als die Gruppen knapp vor dem Altar sich trafen, begannen sie in feierlichem Rhythmus denselben zu umschreiten. Bald scheinbar ineinander verschmelzend – bald wieder streng und würdig sich sondernd, nun ihre Stimmen ineinander verschlingend und ihre Kränze, gleich darauf einzeln an dem Bild der Göttin vorüberwandelnd. Ein rhythmisches Nah'n und sich Entfernen, und Opfern und Huldigen ... Bis plötzlich alle Kränze auf den Stufen des Altars lagen – hoch hinauf sich bauend, daß die gespenstische Kolossalbüste der Roma wie aus einem Hügel weißer Blüten und grüner Lorbeerzweige emporstieg.

Zuletzt standen sie wieder streng getrennt: links die Söhne – rechts die Töchter Roms. Eine Pause tiefster Stille trat ein und in diese Stille hinein klang plötzlich der schlichte Ton einer Hirtenflöte. Uralte, bukolische Klänge, wie sie noch heute in der Campagna zu hören sind, in Tivoli und Arriccia und tief hinein ins Gebirge. Wo die Sabiner- und Volskerberge blauen und das alte Latium in tiefem Schlummer liegt und der Welt, die es einst beherrscht, nichts mehr zu sagen hat. Nichts mehr bewahrt hat von all' seinen Schätzen und Träumen und Herrlichkeiten, als den uralten Ruf der Hirtenflöte, die auch heute nicht anders klingt als damals, der staunenden Welt aber noch heute erzählt, wie ein rauhes Volk von Hirten sich zu Königen der Erde erhoben.

Unter den Klängen dieser Flöte trat Alba auf die erste Stufe des Altars ...

Mit einer Bewegung, die ebensoviel Anmut als Andacht hatte, hob sie rechts und links die blassen Arme empor. Die leicht nach innen gebogenen Flächen beider Hände in Stirnhöhe gegeneinander gekehrt. Die antike Stellung des Betenden, wie sie uns noch heute in den »Oranten« erhalten ist und selbst vom christlichen Kult in die Messe hinübergenommen wurde. Ihre Stimme aber ließ Wort für Wort in die tiefe Stille gleiten: hell, feierlich-langsam, mit der ganzen herben Frische ihrer Jugend. Daß es seltsam und metallisch widerklang, als fielen gläserne Kugeln in ein goldenes Becken.

Heimat du – erst Mutter des braunen Hirten,
Der im Fell des Zickleins aus grüner Trift
Rinder einst gehütet und krummgehörnte,
Höck'rige Widder ...

Dumpf den Tag hindämmernd beim Klang der Flöte,
Oder Furch' um Furche mit rauhem Pflug
In die Erde wühlend, daß weit die Saat ihr
Woge, die Brot trägt ...

Bis der Gott zu ihm trat in heil'ger Stunde
Und den Blick ihm lenkte vom Pflug – vom Mund
Ihm die Flöte zog und vom Aug' die Binde
Frommer Genüge.

Daß er Bess'res sah, als die Erd' ihm brachte,
Höh'res ahnte, als ihm der Tag beschert,
Still verträumt vom Morgen zum Abend oder
Mühsam durchrungen:

Latium, das heilige, wie es vor ihm lag,
Und dahinter schweigend und groß die Welt:
Winkend, leuchtend, lockend und doch auch drohend –
Angst oder – Beute!

Als im Fell des Böckleins von deiner ersten
Mauer Remus sprang zu des Bruders Grimm,
Dem du Nam' und Art dankst und alle Wunder
Früher Gesittung –

Ahnte da der Weltkreis, daß diese Mauer
Überschatten werde einst seine Grenzen?
Ziel sein jeder Machtgier und aller Völker
Grab oder Zwinger?

Niedertrat dein eh'rner Kothurn Karthagos
Größe und der list'gen Barkiden Ruhm.
Von den himmelragenden Pyramiden
Grüßte dich Nike!

Knirschend beugt' Okeanos seinen Nacken
Deiner Flotten klatschendem Ruderschlag.
Aufkreischt in Germaniens heil'gen Forsten
Siegreich dein Adler.

Über schnee'ge Gipfel, durch braune Wüsten
Zieht noch heut' sich deiner Heerstraßen Spur.
Trägt die Erde Furchen, vom Schwert geschlagen:
Rom grub sie ein!

Unaustilgbar sind deiner Schritte Spuren.
Und sank auch vom Haupt dir zuletzt die Kron'.
Heilig gilt die Stätte den Menschen heut' noch,
Die dich getragen!

Späte Enkel nah'n wir uns ... deiner Größe
Würdig nicht. Kaum wert mehr des Namens, ach!
Den du hinterlassen den Letzten, so du
Zeugtest und nährtest.

Doch im Herzen loht noch die heil'ge Flamme,
Dein zu sein! Die purpurne Well' des Blut's
Gibt sich hin in kindlicher Lieb' und Treu' dir
Ewige Mutter!

Nimm sie an, die Jugend, die dir zu Füßen
Heute sinkt – ein Frühling, den du gebarst,
Daß mit heil'ger Hand du draus formest – bildest,
Was dir gefällt:

Männer, mit dem Schwerte dich zu beschützen,
Mütter, künftige Helden dir zu weih'n –
Junge Erd', daraus du einst neu erstehn magst,
Heilige Roma!

Ein mächtiger Tubaruf, in dem etwas von der drängenden Sehnsucht dieser Invokation zitterte, nahm Albas letzte Worte auf und schrie sie in die Stille der Nacht hinein, eine Frage an das Rom, das im Schlummer der Ruinen da unten lag. Der Opferreigen der Jugend umschritt noch einmal in feierlichem Rhythmus den Altar – an Alba vorüber, die stumm und schlank und bleich noch immer mit erhobenen Armen dastand. Die Sklaven senkten ihre Fackeln zur Erde, die blauen Flammen der Opferschalen sanken tiefer und tiefer, bis auch die letzte erlosch, so daß nur mehr das silberne Licht des Mondes auf Albas bleicher Stirne lag, als sie vom Altar herabstieg: langsam, langsam nach rückwärts schreitend, und zuletzt mit einer tiefen Kniebeuge von der Göttin Abschied nehmend, deren dunkle Augen so groß und mächtig auf ihr ruhten, daß es wie ein leiser Schauer durch die junge Seele ging.

Weit hinaus funkelten unten die Lichter Roms. Das Gebirge stand schweigend am Nachthimmel und durch den dunklen Bogen, den die Wipfel zweier uralter Steineichen bildeten, schien das mächtige Grabmal Hadrians förmlich hereinzuwachsen. Es war ein Anblick, der selbst den Atem der Menschen gefangenhielt.

Endlich löste sich der Bann. Man umringte Alba, beglückwünschte Bartolo, bewunderte die Ode an Rom und als man erfuhr, daß ein kaum sechzehnjähriges Mädchen diese Strophen gedichtet, rief man laut nach der Ziani.

Aber wo war sie? Niemand entsann sich, sie vom Augenblick ihres Eintrittes an noch einmal gesehen zu haben. Und Lucrezia, die das seltsame Wesen des unglücklichen Geschöpfes kannte, begann immer unruhiger zu werden. Zuletzt mußten sich mehrere Diener aufmachen, sie zu suchen.

Alba, die den Schrei kannte, mit dem sich die Zöglinge des Klosters auf dem Palatin anzurufen pflegten, begann gleichfalls den Park zu durchsuchen. Irgendwo mußte sie doch sein und wenn Alba nur laut genug rief, würde sie auch antworten.

Plötzlich hörte Alba eilige Schritte hinter sich. Als sie sich wandte, stand Signore Miller vor ihr. »Wenn Sie gestatten, möcht' ich mir erlauben, Ihnen bei der Suche nach diesem scheuen Wundervogel behilflich zu sein. Ihr Herr Onkel hat mich selbst dazu aufgefordert. Auch ist es so schön hier unten und die Seele mir noch so seltsam bewegt von dem eben Gehörten, daß es mir im Augenblick wirklich unmöglich wäre, mit gewöhnlichen Menschen von gewöhnlichen Dingen zu schwatzen.«

»Dann muß ich wohl ganz still sein,« lächelte Alba bescheiden. Sie wußte bereits, daß ein » uomo di molto nome« vor ihr stand und wenn sie auch keine Ahnung hatte, wodurch sich der Fremde berühmt gemacht, war ihr doch die schöne Ehrfurcht vor dem Geisteshelden eigen, die alle Kinder dieses alten Kulturvolkes erfüllt.

»Im Gegenteil,« lächelte der Fremde mit einem schalkhaften Blick, »gerade um Sie zum Sprechen zu bringen, hat Ihr Herr Onkel mich Ihnen nachgeschickt.«

»Um – mich zum Sprechen zu bringen?« wiederholte Alba langsam und etwas unsicher: »Ja meint er denn, daß ich etwas zu verschweigen habe?«

»Ich weiß nicht, was er meint, ich weiß nicht, was Sie fürchten,« erwiderte Signore Miller, mit seinem leisen Lachen. »Aber wenn Sie wollen, könnten wir zum Beispiel ein wenig von der – Brückenechse plaudern.«

»Ach!« rief Alba mit einem leisen Schrei und ein förmlicher Ruck ging durch ihren Körper, so jäh und heftig, daß selbst der Kranz auf ihren Locken zitterte.

»Nun?« fragte der Fremde, leise, innig und zugleich streckte er ihr beide Hände entgegen, mit einer Bewegung, in der eine Güte und Hilfsbereitschaft lag, die ihre ratlose Jugend im Innersten erschütterte.

Aber noch siegte das Mißtrauen über ihre schöne Empfindung. Sie hatte den Fremden zu angelegentlich mit ihrer Mutter plaudern gesehn und sie war zu lange in einem Kloster, um nicht zu wissen, welch' seltsame Umwege die sogenannte Angst um »das Heil einer Seele« oft einzuschlagen pflegt, wenn sie dieser Seele ins Innerste schauen will. Gab es nicht selbst unter den jüngsten Zöglingen welche, die in solchen Dingen einen überraschenden Spürsinn entwickelten? Am Morgen die lachenden Vertrauten irgend einer respektlosen Äußerung oder kleinen Missetat, waren sie abends bereits die belobten Denunzianten. Schlich nicht die Präfektin selbst horchend an allen Türen herum ...? Und war man nicht immer darauf aus, die jungen Herzen gegeneinander zu erbittern, wenn ihrer zwei sich in Vertrauen einander zuzuneigen schienen? Es war die Zudringlichkeit der geistlichen Herrschsucht, die sich noch jenseits des Beichtstuhles fortsetzte und von einigen der frommen Schwestern mit einem Eifer gepflegt wurde, der ihnen in den Augen der Jugend mehr nahm, als sie ahnten, in diese reinen Seelen Schlimmeres hineintrug, als sie fürchteten.

... »Hier bin ich verdorben worden!« hatte die Ziani gesagt, und wenn Alba bedachte, welch' eine Reihe widerwärtiger Gefühle während der letzten Woche ihre Seele durchzogen ... Wie sie gezwungen wurde, nacheinander zu lügen, zu heucheln, zuletzt mit der eigenen Mutter Komödie zu spielen ... Was in ihr alles entblättert worden war und wie viel sie auf einmal gesehn und verstanden hatte, um Jahre zu früh verstanden – blieb auch ihr kein anderer Rest, als die traurige Erkenntnis der Ziani.

Wenn dieser Signore Miller sich nun bloß auf ihren Onkel ausredete, um sie vollständig sicher zu machen? Ihre Mutter hatte es vermieden, noch einmal von dieser unseligen Eidechse zu sprechen, ihr Vater getan, als wenn er kein Wort davon wüßte, die Oberin ihr die »Marien-Medaille« um den Hals gelegt ... Aber nun kamen sie alle wieder heran, nur von einer anderen Seite, wollten sie endgiltig aushorchen. Wie eine eiserne Fessel klemmte ihr der Trotz plötzlich das Herz ein. Nichts – gar nichts sollten sie herausbringen!

Und während ihr Blick kühl und fremd an dem scheinbar Hilfsbereiten abglitt, erwiderte sie mit überlegener Ruhe: »Sie sind wirklich sehr freundlich, aber warum sollen wir denn gerade von der Brückenechse sprechen? Ich denke, wir suchen die Ziani?!«

Schon ahmte sie den Schrei nach, der so oft im Garten des Internats erscholl und horchte mit vorgebeugtem Haupt in die Nacht hinaus. Doch alles blieb still.

»Wollen wir jetzt nicht doch ein wenig von der Brückenechse reden?« lachte der Fremde, während er ihr im Weiterschreiten galant den Arm bot.

Alba nahm den Arm, sagte aber kein Wort.

»Ich könnte nämlich nicht schlafen ohne ihre Absolution,« fuhr Signore Miller fort, »obwohl ich wahrlich nicht schuld bin, daß mein Werk gerade in Ihre Hände geraten ist.«

»Ich dachte, das Buch gehöre Onkel Bartolo?« warf Alba ein. Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch ihr Atem schien plötzlich zu stocken.

»Ich habe gesagt, mein – Werk!« kam es ruhig und fest zurück.

In Albas Augen trat ein flackernder Glanz, ein Glanz, der fast etwas Irres hatte, aber selbst in diesem Dunkel sichtbar war, und mit einem Jubel, der jedem Wort einen Herzstoß gab, stammelte sie: »Ihr – Ihr Werk, sagten Sie, dieses – Buch? Aber dann heißen Sie ja gar nicht Signore Miller!«

»Nein,« lachte der Fremde herzlich. »Da ich aber der Gast Ihres Herrn Onkels bin und Ihr Herr Onkel heute auch so viele fromme Seelen zu begrüßen hatte, gab es keinen anderen Ausweg für uns. Ich selbst brachte ihn darauf. Übrigens ist es ein nom de guerre, den ich mir auf Reisen gerne beilege. Wenn der Teufel sich nämlich bei uns daheim Müller nennen würde, möchte kein Mensch mehr glauben, daß es der Teufel ist. So harmlos ist dieser Name.«

»Sie – Sie!« stammelte Alba, und ihre Hände sanken herab. Ihre Augen schlossen sich, aber der Mond beleuchtete ein Antlitz, auf dem zum erstenmal nach langen Tagen wieder ein glückliches Lächeln lag.

»So!« lachte der Gelehrte, während er ihren Arm wieder unter seinen schob, »und nun schelten Sie mich tüchtig aus!«

»Wie dürfte ich denn das?«

»O doch! Sie stellen sich einfach vor, daß Sie der liebe Gott sind, dem ich in die ›Genesis‹ hineingepfuscht hab'. Dessen Werk ich – diskreditieren will, wie man Ihnen im Kloster wohl gesagt haben wird. In den Klöstern und auf den Kanzeln wissen sie nämlich immer alles noch einmal so gut, als der liebe Gott. Nun?«

»Gut,« rief Alba plötzlich mit einem hellen Lachen. »Dann will Ihnen der liebe Gott, der in den Klöstern wohnt und von den Kanzeln spricht, hier ein Geständnis machen. Aber daß Sie ja nichts ausplaudern, hören Sie? Also: wenn der liebe Gott die Welt noch einmal erschaffen würde und sich am siebenten Tage zurückzöge, möchte er so klug sein und die ›Brückenechse‹ nicht mehr auf dieser Welt zurücklassen.«

»Was täte er denn mit ihr?«

»Er würde sie ins Paradies mitnehmen, damit Sie ihm nicht mehr draufkommen!« scherzte Alba immer heiterer, »und ins Paradies ließ' er Sie just nicht hinein!«

»Ich bin ihm schon dankbar, daß er mich in dieser schönen Welt herumlaufen läßt!« entgegnete der Gelehrte und Alba, sein Wort aufnehmend, lief plötzlich wie in einem Freudenrausch vor ihm her ... »Ja – in dieser Welt! In dieser schönen, schönen Welt!« rief sie entzückt. Erlösung, Befreiung, der ganze Adel des Geschöpfes, das sich wieder eins mit seinem innersten Wesen fühlt, atmeten aus ihrem Ruf. Sie stand still und hob die Arme dem Nachthimmel entgegen, der seine Myriaden Sterne über ihr aufleuchten ließ.

»Und nun erzählen Sie mir von Ihrem Gott!« sprach sie leise, scheu, mit der ganzen Ehrfurcht der Jugend. »Von dem Gott, der nicht in Klöstern wohnt und nicht auf den Kanzeln predigt und die unbequeme Brückenechse auf der Erde vergessen hat. Ach – wollen Sie das?«

Ein inniger Blick umfaßte ihre junge Gestalt. Der Gelehrte schüttelte langsam das Haupt: »Sie sind noch so jung!«

»Kann man für die Wahrheit jemals zu jung sein?« kam es ernst zurück.

»Die Wahrheit, die wir lehren, ist Erkenntnis und Erkenntnis ist immer auch Arbeit. Ein Stück Arbeit, das jeder selbst leisten muß, ein schmaler, dorniger Weg, auf dem man nur schrittweise vorwärts kommt, den man von Schritt zu Schritt freimachen muß.«

»Freimachen?«

»Von dem Urwald, der zu beiden Seiten wuchert.«

»Sie meinen die – Überlieferungen?« sprach Alba leise und während sie sprach, zitterte ihre Stimme, gleichsam noch blutend von der Wunde, durch die ihr Kinderglaube den Todesstoß empfangen.

»Ganz recht,« nickte der Forscher ...»Die Überlieferungen, das Überkommene, das – Ererbte, das unsre Seele oft nicht nur mit Worten und Glaubensformeln an sich kettet, sondern auch mit Empfindungen, die durch ganze Generationsreihen die Empfindungen unserer Väter und Mütter waren und in der geheimnisvollen Stunde, da sie uns das Leben schenkten, auch auf uns übergingen, wie Blut und Wachstum und diese ganze, wunderbare Dynamik des Lebens. Haben Sie jemals eine Korallenbank gesehen?«

»In Messina!« nickte Alba.

»Also ... Dann werden Sie auch gleich verstehn, was ich meine. Bis ein solcher Korallenstock entsteht, müssen tausend und abertausend Generationen der kleinen Tierchen daran arbeiten. Sie gehn hin ... aber die Spur ihres Daseins bleibt zurück und ist, wie alles, was auf dieser Erde zurückbleibt ein – Totes. Doch immer neue Geschlechter siedeln sich an, arbeiten daran weiter. Ganze Inseln kann zuletzt ein solcher Stock tragen und sehn Sie: das ist das Ehrwürdige, auch am Toten!«

»Dann ist Ihnen also auch mein Glaube heilig?« hauchte Alba.

Weich und väterlich sank seine Hand auf ihre Schulter ... »Wenigstens so lange als Sie nicht reif und stark genug sind, an einem, sagen wir – neuen Korallenstock mitzubauen. Wenn ich Ihnen jetzt auch alles sagte, was ich weiß und noch mehr wüßte, als ich Ihnen sagen kann, wäre das, was Sie durch mich empfingen, etwas anderes als ein neuer Glaube? Mit so und so viel Dogmen und dem ganzen Ballast der Autorität. Nein, Sie selbst müssen sich die Freiheit erringen, Sie selbst sich der Erkenntnis entgegenarbeiten. Für jedes ›Nein‹, das Sie dem Überkommenen entgegensetzen, den festen Grund bauen. Sehen lernen, denken, schließen und vor allem: gerecht sein!«

»Die anderen sind es nicht,« brach Alba aus. »O, wenn Sie wüßten ...«

»Wie man mich an die Wand gemalt hat?« lächelte der Forscher. »Lieber Gott, das bin ich so gewöhnt!«

»Nun sagten Sie selbst Gott!?«

»Ich meine nur etwas anderes damit.«

»Was?« drängte Alba, »o, sagen Sie es mir!«

»Dies alles, was um uns ist, um uns und in uns, im Kleinsten so gewaltig wie im Größten. Am Größten aber dort, wo es sich wirklich einem künftigen Gott entgegenarbeitet, langsam, mühevoll, aber doch sicher.«

»Einem künftigen Gott?«

»Dem Gott, der nicht nach einem festen Plan vorausgeschaffen hat, sondern auf der Höhe seines Weges sich plötzlich jubelnd erkennt und begreift. Ein Gott, dessen Tagewerk Arbeit war und nicht Laune, dessen Weltgesetze Harmonie sind und nicht Willkür, der am letzten Tage wirklich ruhn wird und sehn, ›daß sein Werk gut war‹. Aus einem Samenkorn kann in wenigen Jahren ein ganzes Getreidefeld werden. Ahnen Sie, was im Lauf von hunderttausend neuen Entwicklungsjahren aus dieser Welt werden kann?«

»Gott?« hauchte Alba und faltete die Hände.

»Ja. Der Gott, der am letzten Tage ruht und vor unseren Augen noch heute die Welt erschafft. Sie immer herrlicher, immer weiter, immer größer macht. Alles in allem ist, aber nicht einer außer allem. Nur im ersten Fall sind wir seine Geschöpfe, im letzten seine – Puppen. Was scheint Ihnen würdiger?«

»O, und wie es zuweilen schmerzt, Puppe zu sein!« rief Alba bitter. »Als wenn sie einen bald da-, bald dorthin würfen und dabei immer dieses Gefühl, daß mit einem Komödie gespielt wird. Vom lieben Gott angefangen bis zum letzten, der es einem angeblich gut meint, bloß deshalb, weil er wünscht, daß man genau so werden soll, wie er will. Was wehrt sich da in einem?«

»Gott! Der mit jedem seiner Geschöpfe einen Schritt weiter macht in die Vollendung.«

»Ja, so muß es sein!« nickte Alba. »Warum lassen Sie mich aber dann hier stehn?« setzte sie mit einem plötzlichen Aufblick hinzu.

»Nicht so ganz,« kam es leise zurück. »Ich hab' Ihrem Onkel ein zweites Exemplar meines Buches gegeben, ebenso ein Kästchen mit verschiedenen Präparaten. Beides ist für Sie bestimmt. Bei einem flüchtigen Blick auf die zwischen Glastäfelchen ruhenden Stationspräparate werden Sie meinen, bloß Sandkörnchen oder Farbflecke zu sehn. Nehmen Sie die Täfelchen aber unter ein gutes Mikroskop, ihr Onkel hat eines der besten, das Zeiß hergestellt – werden Sie plötzlich die Wunder der Tiefe vor sich haben. Kleinste und niederste Lebewesen, wie sie zu Milliarden den Ozean erfüllen, dem freien Aug' unsichtbar und doch von einer Schönheit und Mannigfaltigkeit der Formen, wie der Laie sie nicht für möglich hält. Arbeiten sie sich da hinein, an der Hand des Buches, vor allem aber durch eigenes Schauen, und wenn das Buch und die Welt der kleinen Urwesen Ihnen nichts mehr zu sagen hat – werden wir weiter sprechen und hoffentlich länger. Vielleicht gerade übers Jahr, wenn ich auf meiner Reise nach Messina wieder hier vorüberkomme.«

»Ich – dank' Ihnen!« rief Alba. Und eh' er sich's versah, hatte sie seine Hand ergriffen und geküßt. Stumm schritten sie nebeneinander her, immer tiefer in den Park hinein, während ihnen von der Villa her die schwermütige Melodie eines römischen Volksliedes nachirrte.

Plötzlich blieb Alba stehen. »Sehn sie das Weiße dort?« hauchte sie leise, kaum hörbar, als gält es, die Scheu eines Vogels zu schonen.

»Wo?«

»Dort ... bei der Venus.«

»In der Tat –«

»Das ist – sie

»Die Dichterin?«

»Ja, Elena!«

»Sie wollten Sie doch anrufen?«

»Jetzt nicht mehr, und vielleicht ist es überhaupt am besten, wenn ich allein hingehe.«

»Dann geh' ich also zurück. Aber nur eines bitte, nicht wahr? Mein Name.« ... Er legte den Finger an den Mund und während Alba mit lateinischer Grazie seine Bewegung variierte, sprach sie drollig: »Gewiß, der Teufel heißt auch in Rom – Miller!«

Wenige Augenblicke später stand sie vor der Ziani. »Elena, wo bleibst du denn?«

Langsam hob ihr die Ziani das Antlitz entgegen und wie der helle Schein des Vollmondes von ihrer Stirne zu den halbgeöffneten Lippen hinabrann, sah Alba, daß dieses Antlitz totenblaß und tränenüberströmt war.

»Du weinst doch nicht, Elena?«

»Doch!« kam es leise zurück, aber so weich und sanft gesprochen, daß Alba die sonst fast knabenhaft schrille Stimme kaum wiedererkannte.

»Warum?«

»Weil es so schön war!« hauchte die Ziani.

»Und wenn du erst wüßtest, wie dein Gedicht gefallen hat! Wie sie jetzt alle von dir reden und dich sehn wollen ... und da läufst du hieher und versteckst dich und –«

Ohne sich zu rühren, saß die Ziani da. Nur die Pupillen ihrer Augen schienen sich zu erweitern, immer größer zu werden, immer dunkler und plötzlich zog ihr ein seltsames Lächeln die Mundwinkel herab. »Wißt ihr, was ihr jetzt getan habt da drüben?« fragte sie höhnisch.

Alba sah sie bloß an, so schön und unheimlich zugleich kam sie ihr vor.

»Ihr habt den alten Göttern geopfert.«

»Wie?« stammelte Alba.

»Den alten Göttern habt ihr da droben geopfert,« sprach die Ziani laut und plötzlich beide Arme von sich werfend: »Den alten, großen, herrlichen Göttern! Wenn sie das im Kloster wüßten! Wenn sie das –«

»Glaubst du wirklich, daß man das so deuten könnte?«

»Ob man es so deutet oder nicht, ihr habt es getan, und die Götter werden euch antworten!« setzte sie mit einem dunklen Blick hinzu.

»Elena! Das glaubst du doch selbst nicht?«

»Würd' ich es sonst tun?« lachte sie höhnisch zurück.

»Also ist es deshalb?« sprach Alba, scheu, leise, wie für sich selbst.

»Was?«

»Daß die Präfektin dich so haßt!«

»Was weiß die davon?« kam es mit unendlicher Verachtung zurück. »Aber mir antworten sie, zu mir reden sie ... im Traum und im Wachen, die alten, herrlichen Götter Roms!« Wie in einer Verzückung stieß die Ziani diese Worte aus. Sie erhob sich und strich mit einer lässigen Gebärde ein Gewirr grüner Blätter aus ihrem Schoß. Es war ein zerpflückter Kranz. Seine weißen Blüten lagen zu Füßen der kapitolinischen Venus.

»Nein – sag' mir – tust du das – wirklich?« stammelte Alba. Sie wußte nicht mehr, was sie denken sollte.

»Ja, das tu' ich!« kam es fest zurück. »So oft ich allein bin, tu' ich das! Mag sie mich wieder schlagen, die Präfektin!« Und während sie die Hände im Nacken verschlang und das dunkle Lockenhaupt wie verzückt zurücklegte, sah sie zwischen den langbefransten Lidern träumend zu der marmornen Göttin hinüber. »Ihr waret schön,« wehte es von ihren Lippen ... »Ihr werdet wiederkommen!«

Sie wandte sich langsam zum Gehn.

Als Lucrezia sich nach dem Festmahl von Bartolo verabschiedete, war sie voll des Lobes für Signore Miller.

»Welch' ein Mann!« sagte sie. »Berühmt und so bescheiden. Und wie wohl er einem tut mit allem, was er sagt. Ob er auch fromm ist?«

»Liebe Lucrezia,« lächelte Bartolo mit einem Seitenblick auf Alba, »glaubst du denn wirklich, daß nur die Frommen gut sein können?«

»Das nicht, aber einem solchen Menschen möchte man doch vom Herzen wünschen, daß er auch einmal selig wird!«

»Daß ihr Frommen euch immer um das kümmern müßt!« brummte Bartolo, »so oft ihr einen kennen lernt. Du empfindest sonst in allem so fein, so taktvoll. Sagt dir denn nicht das eigene Gefühl, welche Zudringlichkeit sich in dieser Besorgnis verhüllt und welche Herrschsucht? Das ist ja gerade so, als wenn man bei einem Besuch stracks auf die Schränke des Hausherrn losginge und darin herumkramen wollte.«

»Aber die Seele« ...

»Erlaub' mir! Soll denn gerade die vogelfrei sein? Das innerste Heiligtum, der mystische Schrein, für den die Natur noch immer ein letztes Schloß hat und einen letzten – Winkel, in dem selbst das eigene Ich nur wie ein Fremder wohnt! Das ist orientalische Schamlosigkeit und hieratische Despotie und ich kann dir nicht sagen, wie weh es mir tut, wenn ich eine Römerin so reden höre. Denn die Römer, siehst du ... die haben wohl der halben Welt einst den Fuß in den Nacken gesetzt, aber die Götter jedes Volkes haben sie geachtet!«

»Bis auf den Gott der Christen!«

»In dem sie sofort ihren Unterjocher witterten,« gab Bartolo zurück. »Und hätten sie nicht die Torheit begangen, so viele Märtyrer zu machen ... Galiläa hätte nie die Welt besiegt.«

»Das darf ich nicht mehr anhören,« rief Lucrezia mit einem raschen Schritt zu ihrem Wagen. Alba sagte nichts, aber ein Blick tiefsten Dankes flog zu Bartolo hinüber. Sie zog seine Hand an die Lippe und drückte einen innigen Kuß darauf.

»Na,« lachte Bartolo, »wovon werden wir heute träumen?«

»Von Signore – Miller!« zwinkerte Alba. Der Wagen setzte sich in Bewegung.

Die Ziani sollte auch die Nacht im Palazzo Chietti zubringen, wo auf Lucrezias Befehl ein eigenes Zimmer für sie in Stand gesetzt worden war. Aber Alba hatte so lange gebettelt, bis man das Lager für die Ziani in ihrem Zimmer zurechtmachte. Schlief doch auch Alba in dieser Nacht zum letztenmal in »ihrem« Zimmer. Dann mochte es Anita beziehen, so wie es war. Selbst die »Arrazzi« wollte Anita haben! Und Lucrezia hatte ihr auch darin nachgegeben, mit dieser merkwürdigen Schwäche, die ihr Anitas Wünsche fast zu Befehlen machte. Alba fügte sich, aber Erminia war ganz gelb vor Ärger. Für sie stand es fest, daß Anitas Bonne diese Kaprize in das kleine Köpfchen der »Mohrin« gesetzt hatte, um ihr, Erminia, einen Streich zu spielen ... Schon lachte der ganze »Souterrain«, wenn von den »Arrazzi« die Rede war. Hätte die gute Alte ihre »Piccola« nicht so gerne gehabt, sie wäre am liebsten davongelaufen.

»Erminia ist in den großen Jäger verliebt, der aus den Arrazzi die Hunde führt!« höhnte der Koch.

Und Nino lachte: »Wer weiß ... vielleicht ist auch der große Jäger der Vater ihres Bambino!«

Und das mußte man anhören! Mit grauen Haaren und als Mutter eines Sohnes, der »Prete« werden wollte.

Die Kammerfrau half den jungen Damen beim Auskleiden. Vorher wollte sie die Fenster schließen.

»Das besorg' ich schon selbst!« sagte Alba. »Es ist noch so heiß herinnen, und der Mond steht so schön über dem Garten.«

»Mög' er Ihnen silberne Träume bescheren,« sagte die Kammerfrau; sie war eine Lombardin und fand oft ganz anmutige Redewendungen. Sie knixte und ging; die beiden Freundinnen waren allein.

»Bist du schon unter der Decke, Elena?« fragte Alba nach einer Weile.

»Ja,« kam es hinter der weißen Mullgardine hervor.

»Dann erlaub', daß ich mich noch ein wenig zu dir setze,« bat Alba, die der Klosterregel gemäß der sich Entkleidenden bisher den Rücken gekehrt hatte.

»Komm',« klang es leise zurück.

Leicht und schlank glitt Alba über den weichen Teppich. Ihr weißes Nachtgewand fiel in keuschen Falten über den jungen Körper und ließ nur den Hals frei und einen Teil der Arme, die noch die ganze herbe Festigkeit des jungen Fleisches hatten. Ihre Haare waren in einer dicken Flechte hinaufgenommen, die bloßen Füße staken in blauseidenen Pantöffelchen und wie das Mondlicht ihre schlanke Gestalt umflutete, weich, geheimnisvoll, sylphenhaft jede Linie wie mit einem reinen Glanz nachzeichnend, schien es, als glitte ein guter Engel heran – leise, fast unhörbar, um einem armen Menschenkind Trost zu spenden.

»Gib mir deine Hände, Elena!« bat sie weich.

Zwei Ärmchen von rührender Magerkeit streckten sich ihr entgegen, und während Albas weiße Finger sich sanft, aber fest um Elenas braune Handgelenke legten, sprach sie: »Sag' mir, woran du jetzt denkst?«

Eine Weile blieb es still; die Ziani wandte langsam das Antlitz zur Seite. »Woran werd' ich wohl denken?« lachte sie bitter.

»Soll ich dir's sagen?«

»Nun?« machte die Ziani und wieder klang es wie Hohn in ihrer Stimme.

Langsam neigte sich Alba über sie. So tief, daß ihre monddurchleuchteten Augensterne gerade über den dunklen Pupillen Elenas standen. Wie freundliche Sterne über einer stummen, brütenden Tiefe und während ihr Blick immer wärmer, immer gütiger wurde, sprach sie leise: »Also ... du denkst jetzt an das, was dir die Präfektin gesagt hat!«

»Wann?« hauchte Elena zurück. Ihre Augen schlossen sich; doch Alba fühlte, daß ihre Hände zu zittern begannen.

»Nach der Geschichte mit der Eidechse. Damals, weißt du, als Mater Dominica ihren Anfall hatte. Da ging ich mit der Oberin an der Tür der Präfektin vorüber und hörte dich weinen und schreien. Also ... was hat sie dir da gesagt? Oder getan?«

Keine Antwort.

»Elena,« bat Alba mit zitternder Stimme. »Könntest du wirklich glauben, daß ich bloß neugierig bin?«

Elena sagte noch immer nichts. Aber ihr schlanker Körper begann unter der leichten Seidendecke so heftig zu zucken, daß Alba wie beruhigend ihre Stirne an das Antlitz der Freundin legte. »Du armes Kind, du!« sprach sie. Das kam ihr so von den Lippen, ungewollt und doch voll von der Güte frühreifen Mutterinstinktes.

Auch Elena schien dies zu empfinden. Denn ihr dunkles Haupt drängte sich plötzlich wie ein schutzsuchendes Vögelchen an Albas Schulter, ein Schluchzen brach aus ihrem Herzen hervor ... ein heißes, wildes und doch auch erlösendes Schluchzen.

»Sag' mir, Elena,« fragte Alba zärtlich ... »ist nie eine Mutter so an deinem Bettchen gesessen, wenn dir bange war?«

»Ich – weiß es – nicht mehr.«

»Dann denk' dir, daß sie jetzt bei dir sitzt. Daß sie mich geschickt hat, damit du einem Menschen deine Not klagen kannst und was sie mit dir tun!«

Jäh fuhr die Ziani empor. »Nein, Alba, nein ... Gerade das könnt' ich nie tun!«

»Ja, aber warum denn nicht? So eine Mama ... eine gute, liebe! Wozu hätte man denn eine Mama?«

»Weil« –

»Nun?«

Wieder blieb es still. Die Ziani richtete sich langsam auf und während sie mit einem Blick voll unsäglichen Kummers vor sich hinstarrte, sprach sie dumpf: »Nicht, um sie so tief zu beschämen, Alba!«

»Ich versteh' dich nicht.«

»So schlecht gemacht hat sie meine Mutter,« schrie die Ziani plötzlich auf, »so schlecht! Meine – tote Mutter!« Und während sie ihr Haupt in die Kissen wühlte, schrie sie immer wieder: »Meine tote Mutter! Meine arme, tote Mutter!«

»Aber Elena,« stammelte Alba, der es nun erst klar wurde, in welchen Schmerz sie hineingegriffen – »das wirst du doch besser wissen!«

»Ich!« lachte die Ziani auf, »die immer von anderen genährt und gekleidet und geschlagen und angelogen wurde ... Bloß meine Mutter haben sie mir zu Hause gelassen. Die Mutter, die ich so unendlich lieb hatte ... weil ich mir bei allem dachte: Meine Mutter wäre anders gewesen! Und diese Mutter hat sie mir genommen!«

»Ja aber ... wie hat sie denn das gemacht, Elena?«

»Daß ich ein – ›solches Kind‹ bin, hat sie mir gesagt.«

»Ein solches Kind?«

»Das keinen ordentlichen Vater hat.«

»Du Arme!« Mehr konnte Alba nicht sagen. Sie, die in Glück und Ordnung und Reichtum aufgewachsen war und sich immer so wohl gefühlt hatte zwischen Vater und Mutter ... Und plötzlich kam auch über sie eine beklemmende Traurigkeit. Sie ahnte nicht – woher, sie wußte nicht – warum? Nur eines empfand sie dunkel: daß diese Traurigkeit mehr war als Mitleid.

»Aber,« stammelte sie endlich ... »Selbst wenn es so wäre ... könntest du etwas dafür, Elena?«

»Und bin doch bis heute dafür geschlagen worden!« sprach die Ziani dumpf vor sich hin. »Aber jetzt geh!« setzte sie fast rauh hinzu, zog die Decke über ihr Antlitz und blieb stumm.

Leise schlich Alba nach ihrem Lager zurück. Doch der Schlaf wollte noch lange nicht kommen und so lag sie in ihrem Bett und starrte wie so oft wieder die lieben Gestalten ihrer »Arrazzi« an, die im Mondlicht leise auf sie zuzuschreiten schienen, voran der Page mit dem bekappten Falken.

»Silberne Träume,« hatte ihr die Kammerfrau gewünscht und das Leben trat so dunkel und schweratmig an ihr Lager ... gerade heute!

Würde sie den Falken dort noch einmal auffliegen sehen – hoch, hoch, ins goldene Licht eines seligen Traumes ... ins Kinderland?

Und wie die Ziani weinte sie in ihre Kissen hinein, heiß und lang, zum erstenmal.

Als sie aber gegen Morgen erwachte, begann sie sich allmählich eines seltsamen Traumes zu entsinnen. Der Falke dort war richtig noch einmal aufgeflogen ... hoch, hoch! Und was hatte er in seinen Fängen getragen? Ein kleines, zappliges, metallisch schimmerndes Ding, das halb Eidechse war und halb Nonne ... die Präfektin!


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