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VII. Die Göttin.

Ende Mai bezogen die Chietti ihre Villa in Sorrent. Es war der letzte Sommer, den Alba im Elternhause verleben sollte und weil es der letzte war, tat Lucrezia alles, um ihrem Kind diese wenigen Wochen so schön als möglich zu machen. Jeder Wunsch Albas wurde erfüllt und Erminia, die noch keine Ahnung von dem Schicksal hatte, das ihrem Liebling bevorstand, war zum erstenmal mit »dieser Mutter« zufrieden. Noch nie war Albas Sommertoilette so reich und schön gewesen. »Lauter weiße Kleider und echte Spitzen!« erzählte die Zofe. »Vier Hüte ... und einer mit Federn – so lang! Drei Badekostüme. Nun ja, die waren notwendig. Aber was für teure Sachen da ins Wasser getragen wurden!«

Erminia lauschte mit weit aufgerissenem Munde. Kam die Prinzipessa endlich darauf, welch' ein Goldvogel ihre Alba war? Oder ging etwas anderes vor? Hatte man »Pläne«? Es war der guten Alten kein Geheimnis geblieben, daß Lucrezia knapp vor der Abreise von Rom eine ganze Wäscheausstattung für Alba bestellt hatte. Das konnte doch nur mit einer Heirat enden! Denn Albas Wäsche war ja noch neu und gut. Zugleich aber ging der Amme ein Wort der Prinzipessa im Kopf herum, das ihr die ganze Bestellung doch wieder in einem anderen Licht erscheinen ließ.

»Also ... alles von bester Leinwand, aber so einfach als möglich!« hatte Lucrezia dem Fräulein gesagt, das gekommen war, um die Bestellung entgegenzunehmen. »So einfach als möglich ...« Nein, das konnte doch keine Brautwäsche sein! Und zuletzt die Brautwäsche einer Chietti! Jetzt, wo bald jede Cameriera wenigstens ein paar »Punto Tirato«-Stücke in ihrem Trousseau hatte!

»Sie will doch wieder sparen an ihr!« schloß Erminia zuletzt, »und weil es an den Kleidern nicht mehr geht, fängt sie bei der Wäsche an. Die ›Mohrin‹ aber hat auch da alles noch einmal so schön, obwohl sie noch bis vor kurzem ...« Erminia spuckte aus und sie tat, was sie bei solchen Anlässen immer tat: sie schlug ein Kreuz und bat die Madonna, »diese Mutter« doch endlich zu erleuchten.

Auf Albas Wunsch hatte Lucrezia auch die Ziani nach Sorrent geladen; anfangs nur für eine Woche, bis Elena auf Albas Bitten immer und immer wieder von Neapel herüberkam. Das verschlossene Wesen Elenas wollte der Fürstin je länger je weniger gefallen und trat sie zuweilen aus sich heraus, geschah es in einer Weise, die Lucrezia fast einen Schreck einflößte. Barocke Einfälle, jähes Auflachen, Äußerungen einer höhnischen Überlegenheit, die in keinem Verhältnis zu ihrem Alter stand – eine fast orgiastische Beziehung zur Natur ... Dann wieder ein plötzlich hervorquellender Strom von Tränen und zuletzt immer diese stolze, trotzige Selbstsicherheit! Dabei wurde die Ziani von Tag zu Tag schöner und oft fragte sich Lucrezia mit stillem Kummer, wann und wie aus diesem Bündel unheimlicher Gewalten eine stille »Braut Christi« werden sollte? Aber es stand fest, daß die Ziani im nächsten Jahr ihr Noviziat antreten sollte.

»Hast du ihr schon gesagt, daß auch du Nonne wirst?« fragte Lucrezia eines Tages ihre Tochter.

»Noch nicht!« erwiderte Alba mit einem leisen Erröten. Lucrezia sprach nicht weiter davon, aber ein tiefer Seufzer sagte ihrem Kind, daß ihr Herzenswunsch noch immer der gleiche sei und nun lagen nur mehr wenige Wochen zwischen diesem Wunsch und seiner Erfüllung. Alba aber lebte noch so ganz in der Welt!

Der Park der Villa Chietti lief nach rückwärts in einen kleinen Orangenhain aus, der sich stufenweise zum Meer herabsenkte und in den schwülen Abendstunden der Lieblingsaufenthalt der jungen Mädchen war. Im Badekostüm glitten sie hier die hohen Steintreppen hinab, um die jungen Glieder in das blaue Naß der Fluten zu tauchen, die zwischen den jäh abstürzenden Schroffen eingeengt, still und durchsichtig dalagen, wie in granitenen Wannen. Von oben wehten die mächtigen Wipfel der Orangenbäume herrliche Kühle herab, in der Ferne stand hoch und klar der Vesuv und die Segel der Barken, die gegen Capri zogen, schimmerten wie die Flügel weißer Riesenvögel herüber.

Elena war eine treffliche Schwimmerin. Die Arme unter dem Kopfe, trieb sie oft eine ganze Weile auf dem Rücken hin; gerade nur die notwendigsten Tempi machend, Aug' und Seele ganz zwischen Himmel und Erde verloren.

»Fürchtest du dich denn so gar nicht?« fragte Alba einmal, »unter dir ist's doch schon ziemlich tief.«

»Sonst wäre es ja kein Genuß!« lautete die Antwort. So trieb sie weiter auf dem Wasser, stumm lächelnd, wie in einer seligen Verzückung.

»Elena!« rief Alba nach einer Weile.

»Ja?« kam es ganz verträumt zurück.

»Woran denkst du jetzt?«

Langsam hob Elena die Rechte und wies nach einem kleinen Plateau, das eben im violetten Purpur des Abends aufzuleuchten begann ... »Siehst du den kahlen Fleck dort oben? Nein, nicht da. Dort, wo man zur Marina grande hinabsteigt? –«

»Was ist's mit dem?«

»Da ist einmal ein Venustempel gestanden.«

»Wirklich?«

»Gewiß! Und dort bei der Villa Majo haben sie der Ceres geopfert. Nun ist das alles ins Meer gesunken. Vielleicht hinabgeworfen worden von den Priestern der Christen. Da, knapp unter mir, leuchtet eine weiße Marmorplatte herauf ... Wer sagt uns, ob sie nicht einmal auf dem Altar der Venus gelegen? Begreifst du nun, über welchem Abgrund ich dahinschwimme?«

Und plötzlich stieß Elena einen Schrei aus: so fremd und wild und jauchzend, daß die Möven über ihnen im Flug einhielten und ein seltsames Gefühl durch Albas junge Glieder rann. Wie ein Schauer, in dem sich ein mystisches Grauen mit einer ihr noch unbekannten Wonne paarte.

»Elena!« rief sie. Sie wollte noch etwas sagen, aber ihr Atem stockte, stockte so plötzlich, als hätte sich eine schwere Last auf ihre jungen Brüste gelegt.

Und Elena sprach mit geschlossenen Augen: »So haben die Priesterinnen der Venus aufgeschrien, wenn sie opferten!«

»Woher weißt du denn das?« staunte Alba.

»Wissen ... wissen!« lächelte die Ziani verächtlich. »Das – spür' ich!« Sie warf sich wieder in die natürliche Lage zurück, begann unterzutauchen – immer tiefer ... immer tiefer ... Da, eben als Alba um Hilfe rufen wollte, kam sie wieder herauf und während sie keuchend der Treppe zuschwamm sprach sie: »Es ist so, wie ich sagte.«

»Was?«

»Der Marmor da unten ist eine Altarplatte.«

»Wieso?«

»Weil Buchstaben darin eingegraben sind!«

»Die kannst du doch unmöglich gesehn haben?!«

»Gesehn, gesehn!« lachte Elena wieder auf. » Gespürt hab' ich sie, mit diesen meinen Fingern!«

Sie versank in sich und sprach kein Wort mehr.

Mitte Juni sollte der junge Prinzipe eintreffen. Man hatte ihn schon früher erwartet. Aber der Rektor des Jesuitenkollegiums wollte das zu Ende gehende Studienjahr recht weihevoll schließen und ordnete nebst der üblichen »Herz-Jesu-Andacht« auch noch Exerzitien an. Weil die Angelegenheit auch bei Tisch besprochen wurde, blieb sie der Ziani kein Geheimnis.

»Dein Bruder ist wohl sehr fromm?« sagte sie leise zu Alba.

»Ich hab' ihn jetzt schon ein ganzes Jahr nicht gesehn!« erwiderte Alba ausweichend.

Die Ziani kniff die Augen ein und lächelte.

»Das ist das Unheimliche an ihr,« dachte Alba, »daß sie alles sofort durchschaut!« Nun würde eine mehr wissen, wie es um den jungen Chietti stand. Denn Prospero und Lucrezia merkten natürlich nichts, ihnen genügte es, daß ihr Sohn eine marianische Medaille trag und scheinbar stundenlang zum heiligen Aloysius von Gonzaga betete. Lucrezia trug Sorge, daß in jedem Zimmer, das er zu Hause bewohnte, sofort ein kleiner Altar des jungfräulichen Heiligen aufgeschlagen wurde. Wenn der Erbe des Hauses auch kein Priester werden sollte, so mußte er heute oder morgen doch sein Amt als päpstlicher Thronassistent antreten und diesem Amt wohnte in den Augen Lucrezias etwas von dem mystischen Rittertum des Grals inne. So wenig sie auch Prospero liebte – wenn sie ihn bei den großen Festen des Vatikans vor der » Sedia gestatoria« einherschreiten sah und die silbernen Posaunen auch über sein Haupt hinweg ihr jubelndes » Tu es Petrus« schmetterten, während die Sixtinische Kapelle den Engelschor ihrer Knabenstimmen dazu ertönen ließ – in diesen großen Augenblicken ihres Hauses empfand sie sich immer in tiefster Seele als die Mutter eines »Chietti«. Darum war es für sie eine ausgemachte Sache, daß der junge Chietti ebenso fromm als rein sein müsse.

Alba wußte etwas mehr. Ihr Bruder war gerade ihr besonders zugetan und hatte sich mehr als einmal geradezu wegwerfend über seine Lehrer geäußert. »Wie sie selbst sind, weiß ich nicht,« pflegte er zu sagen, »aber daß sie nur Heuchler erziehn, das seh' ich! Zwei Drittel von uns sind Angeber und die Wenigen, die keine Angeber oder Aushorcher sind, haben ganz andere Gründe, so fest zusammenzuhalten.«

»Welche denn?« hatte Alba gefragt, ganz ahnungslos, bloß aus der dummen Neugierde eines Backfisches heraus. Da war Flavio aber plötzlich tief errötet und hatte zur Seite gespuckt. »Und gerade die gelten als die Frömmsten!« rief er empört.

Alba verstand noch heute nicht, worin er die Verwerflichkeit dieser Frömmigkeit sah.

Für jede schlechte Note, die er erhielt, rächte sich Flavio durch ein Histörchen über die Patres. Und wenn Alba ihm auch nicht alles glaubte, oft war seine Entrüstung doch so ehrlich, die Tränen, die er wie in stummer Scham vergoß, so echt, daß sie doch auch nicht alles als üble Laune eines gekränkten Ehrgeizes ansehen konnte.

»Ich wehr' mich ja noch!« schluchzte er einmal mit dem ehrlichen Ingrimm eines aufrechten Jungen. »Aber paß auf, ob ich in vier Jahren nicht gerade so eine Kanaille bin wie die anderen.«

Seither waren Flavios Ausbrüche immer seltener geworden, seine Zeugnisse immer besser. Aber wenn Alba jetzt an ihn dachte, empfand sie dieselbe Scheu wie vor der Ziani. Dieses Schweigen und – dieses Lächeln!

Und sie? War sie denn besser geworden unterdes? Knapp vor ihrer Abreise von Rom war es Onkel Bartolo gelungen, ihr das verpönte Buch samt den Präparaten und seinem Mikroskop zuzustellen und mit Hilfe der treuen Erminia waren die Sachen bis nach Sorrent gewandert – in Erminias Koffer. Nun hatte sie Alba in einer Grotte des Parkes verborgen, dem Meere nah, dem die kleinen Lebewesen einst angehört, und stundenlang konnte sie hier sitzen und lesen und vergleichen und immer neue Formen entdecken, immer neues Land für ihr Wissen und ihre Erkenntnis ... So ein einziges zerriebenes Kügelchen Tiefseeschlamm, wie viele Wunder das in sich barg! Welche Fülle der Formen und Arten und wie entzückend diese, nur mit dem Mikroskop wahrnehmbaren Kieselpanzerchen, die ein Schleimklümpchen bewohnt hatte! Ein Schleimklümpchen, das so gut einmal Leben und Fortpflanzung war wie alles, was sich da heroben blähte! Diese Schönheit der Linien, Regelmäßigkeit der Winkel. Alles wie gebosselt! Dem Menschenaug' unsichtbar und doch von Einer, die alles zu sehn schien, für die kurze Spanne eines kleinen Daseinskampfes so tauglich als möglich gestaltet.

Da war eine Radiolariensammlung aus dem nördlichen Atlantischen Ozean. »Polycyttarien-Plankton« von Madagaskar. »Tiefseeschlamm«, den die »Chalenger-Expedition« aus einem Abgrunde von zweitausendneunhundert Faden heraufgeholt. Von den Fär-Oer-Inseln, von Ceylon und Bermudas. Fossile Radiolarien, deren Formen sich im Tertiärmergel von Barbados ebenso gut erhalten als im Tiefseeschlamm des Pacific. »Viertausendvierhundertfünfundsiebzig Faden« waren als die Fundtiefe des Radiolars »Ooze« angegeben! Und diese Miniaturen des Meeres, die unter einem Fingertipp zerbröckelten, zu Schleim und Gallert zerflossen – sie lebten wirklich! Lebten und bewegten sich und hielten dem Druck des ganzen Ozeans stand! Und wenn sie starben, sanken diese Milliarden und Milliarden zur Tiefe und wurden Schlamm und Sand; gaben zurück, was sie empfangen hatten, ganz stumm, ganz lautlos. Wem –? Wie viele Jahrtausende waren vergangen, ohne daß man von dem Leben da unten auch nur etwas geahnt hatte!

Alba saß und studierte und verglich. Wer aber ahnte, was in ihr vorging? Nicht ihre Mutter, die sie schon jetzt im Schleier sah, nicht die Ziani, die ihr doch schon so vieles anvertraut, nicht der Gott, der einmal ihr Gott war und jetzt so stumm blieb, als wäre sie ihm auch so sicher, mit dem bloßen Wort auf den Lippen, dem sein Name kein Inhalt mehr war.

Aber wußte sie denn selbst, was in ihr vorging? Oder war sie im besten Zug, eine Heuchlerin zu werden? Wie die Ziani und ihr Bruder und der Unwürdige, der die Ercolani betrogen und demnächst doch Kardinal werden sollte.

Wenn sie aber so dasaß und verglich und studierte, kam es oft plötzlich wie eine jauchzende Befreiung über sie. Die leise Ahnung eines Zusammenhanges, der sie von Ewigkeit her mit allem verband, was sie um sich sah: mit dem Klümpchen aus dem Tiefseeschlamm ebensogut wie mit dem Strahl der Sonne, die durchs Dickicht zu ihr fand ... dem mütterlichen Lullgesang des Meeres, das in brütender Mittagsschwüle da unten hinwogte. Und ihr war, als zöge ein leuchtender Strom an ihr vorüber und eine heimliche Stimme riefe ihr zu: »Wirf dich hinein, wie du bist, kopfüber! Er weiß schon, wohin er dich tragen muß, er hat es immer gewußt. Er allein – der heilige Strom des Lebens!«

Und dann – ja dann hätte sie hinsinken können, irgendwo ... und einem Gotte opfern, ganz wie die Ziani! Nur daß ihr Gott noch keinen Namen hatte. Aber war er deshalb weniger vorhanden? Sie fühlte das Licht seiner Nähe; die Musik seiner Bewegungen. Wie diese Milliarden kleiner Wesen es einmal gefühlt – es noch fühlten, wenn sie im Ozean dahintrieben, in einer Tiefe von so und so viel tausend Faden ... »auf dem heiligen Strom des Lebens«.

Bevor Flavio eintraf, kehrte die Ziani nach Neapel zurück. Niemand wußte warum? Ihre Tante war nach einem heftigen Gichtanfall nach Bormio gefahren, um dort die Bäder zu gebrauchen und hatte ihre alte Kammerfrau mitgenommen. Nur der greise Ciriako, der in dem herabgekommenen Haushalt die Stelle eines Kochs und Bedienten zugleich versah, war zurückgeblieben. Ein halbtauber Grieche, der als Erbstück der Familie zuletzt bei der jungfräulichen Tante Elenas gelandet war, seinen Dienst mit einer gewissen verbissenen Pünktlichkeit besorgte, aber bei sich mit seltsamer Zähigkeit nur einen Gedanken nährte: wieder nach Griechenland zurückzukehren, obwohl er siebzig Jahre zählte und die Heimat seit einem halben Jahrhundert nicht wieder gesehen hatte. Taub wie er war und immer von Erinnerungen an Menschen und Ereignisse umsponnen, die weit jenseits der Zeit lagen, in der er lebte, fristete er ein seltsames Scheindasein und glitt mehr wie ein Schatten als ein Mensch durch das Haus. Da er, wie die meisten Tauben, mehr mit sich selbst sprach, aber immer nur Griechisch, war er den ganzen Tag auch so ziemlich mit sich selbst beschäftigt. Störte niemanden und besaß eigentlich nur eine Leidenschaft: eine gewisse Sammelwut, die sich seltsamerweise nur auf weibliche Garderobestücke beschränkte. Abgelegte Kleider und Hüte seiner Herrin, die er in muffigen Koffern und Schachteln barg. Wobei ihm die »Cameriera« mit stillem Ingrimm zusah, denn um dies alles kam sie ja zu kurz. Aber Ciriako war eben ein »Familienmöbel« und außerdem ein ebenso sparsamer als trefflicher Koch. Fragte man ihn, was er denn um Gotteswillen mit dem alten Plunder vorhabe, dann lächelte er geheimnisvoll und begann mit rührender Scham von einer Braut zu erzählen, die er »damals« in Korfu zurückgelassen.

»Die lebt ja vielleicht gar nicht mehr!« schrie ihm die Kammerfrau einmal wütend ins Ohr. Worauf Ciriako mit zähem Eigensinn erwiderte: »Sie lebt und wird jetzt gerade alt genug sein, das alles zu tragen!«

Oft und oft hatte Elena der Prinzipessa von diesem wunderlichen »Hausgenossen« erzählt. Alba und Lucrezia waren daher nicht wenig erstaunt, daß sie gerade jetzt heim wolle, wo sie niemanden antraf, als den alten Ciriako. Aber Elena blieb standhaft.

»Ich bleibe ja nur zwei Tage aus,« sagte sie und als Lucrezia sich entfernt hatte, setzte sie leise hinzu: »Wenn ich zwei Tage mit dem Alten allein bin, weiß ich alles!«

»Ach!« rief Alba unwillkürlich. Sie hatte mit einem Male begriffen: die Ziani ging dem Leben ihrer Mutter nach.

Am Abend desselben Tages traf Flavio ein. Er sah blaß und mürrisch aus und war verschlossener denn je. Selbst Lucrezia stutzte. Als sie aber in ihrer mütterlichen Art allerlei Kreuz- und Querfragen stellte, um seinem vermeintlichen Kummer näher zu kommen, über sein Leben im Konvikt, seine Andachtsübungen und die ehrwürdigen Patres, erhielt sie Antworten von solch diplomatischer Zurückhaltung oder süßlicher Salbung, daß ihr ein einziger Aufschrei ihres Kindes lieber gewesen wäre.

»Was ist das?« dachte sie und begann zum erstenmal an der unfehlbaren Erziehungsmethode der ehrwürdigen Patres zu zweifeln. Denn, was war eine Frömmigkeit wert, die das Kind der eigenen Familie entfremdete? Nur Alba, die dem ganzen Gespräch mit stummem Interesse gefolgt war, sah klar: Flavio war schon so weit, daß er das alles ironisierte: die Erziehung der Jesuiten, die Frömmigkeit der Mutter, die ganze Verlogenheit eines Haushaltes, der mehr mit dem Beichtstuhl zusammenhing als mit den natürlichen Instinkten des Blutes.

Und wie meisterhaft hatte Flavio diese Komödie gespielt! Der vollendete Jesuit, der eine fromme Mutter vor dem – Jesuitismus erschrecken ließ! Sie sagte kein Wort. Eigentlich wußte man ja nie, wie man mit Flavio daran war. Aber noch nie hatte sie ihren Bruder so aus dem Innersten heraus bewundert; seine Intelligenz der ihren so innig verschwistert gefühlt. Sollte sie ihm auch das Geheimnis ihrer Grotte preisgeben? Ihm und der Ziani? Aber da kroch wieder jenes leise Mißtrauen an sie heran, das sie in so kurzer Zeit allen und allem entfremdet hatte.

Zwei Tage später kehrte die Ziani zurück. Sie war blässer als je und in ihren Augen flackerte ein fieberischer Glanz, ihr Blick war noch unsicherer geworden. Als sie aus der Barke stieg, die sie vom Dampfer ans Land brachte, schien sie ein leichter Schwindel zu befallen, so daß Alba, die sie an der Treppe erwartet hatte, ihr beide Hände entgegenstrecken mußte.

»Was hast du nur?« fragte sie, bloß um etwas zu sagen, so sehr erschütterte sie der Anblick der Freundin. Elena schwieg und der Barcaruolo der Chietti meinte wichtig: » Sarà, il mal di mare!« Das war auch eine Erklärung, und sie half der armen Ziani wenigstens über den ersten Augenblick hinweg. Denn da standen ja auch die anderen herum: Lucrezia und Flavio und diese entsetzliche Anita, die so fürchterlich neugierig war und in ihrer kindlichen Einfalt oft Fragen stellte, die selbst die Erwachsenen in Verlegenheit brachten.

So kehrte sich ihre Neugierde auf den ersten Blick einer etwas altmodischen Reisetasche zu, die die Ziani mit sich trug. »Was hast du in dem Sack?« rief sie, »ich will es sehn!«

Und als die Ziani, bis an die Stirn errötend, die Tasche mit einem fast heftigen Griff ihren Händen entwand, begann Anita in ihrer Enttäuschung mit den Beinchen zu stampfen und so laut zu kreischen, daß Erminia und die Bonne zugleich herbeistürzten.

»Wenn ich jetzt die Mama wäre!« sagte Erminia mit einem Seitenblick auf Lucrezia, die der »Mohrin« seit ihrer Geburt noch nicht einen Klaps gegeben hatte ... Nun erst konnte man Flavio mit der Ziani bekannt machen.

Als die kleine Gruppe unter dem breitschattenden Dach der Orangen- und Granatbäume langsam zur Villa emporstieg, hielt Alba sich absichtlich zurück. Wohl fühlend, daß ihre Gegenwart die Ziani noch unsicherer machen würde; zugleich aber auch seltsam betroffen von dem sicheren Ton, den Flavio sofort für Elena fand. Er, der sie doch zum erstenmal sah und sonst so kühl und zurückhaltend blieb. Vielleicht war es auch ein Gefühl männlicher Überlegenheit, das sich beim Anblick der vom Schwindel Befallenen in ihm geregt hatte und ihn so rasch die beste Art finden ließ, dem seltsamen Geschöpf Vertrauen einzuflößen. Vielleicht auch eine noch feinere Art, sich zu verstellen. Alba hatte ihm und – nicht ohne Absicht – gerade von jenen Eigenschaften der Ziani erzählt, die auch die seinen waren und die er selbst so scheu und geflissentlich verbarg. Wie die beiden aber langsam die Marmortreppe der Terrasse hinanstiegen, Flavio unter lebhaften Gebärden etwas erzählend, die Ziani mit einer Miene auf ihn horchend, die ganz Aufmerksamkeit und heimliche Befühlung war, schien es, als wirke gerade das, was beide sonst so ängstlich verbargen, wie ein heimliches Fluidum von einem zum anderen hinüber. Als hätte die Not ihrer Seelen irgend ein Zeichen gefunden, in dem sie sich erkannten und begegneten und hoch über alle anderen hinweg verständigten.

Nach Tisch schlich Alba wieder zu ihrer Grotte hinab. Sie wollte der Ziani nicht lästig fallen, die noch immer recht bleich und müde aussah und eine so rasche Annäherung leicht für Neugierde halten konnte.

Der Himmel hatte sich im Laufe des Nachmittags langsam verfinstert und blauschwarze Sciroccowolken hingen über dem Golf von Neapel und rollten wie die dunklen Falten eines Riesenmantels vom Vesuv herab. Das Meer lag noch in lauernder Ruhe, und die Segel der Obstbarken, die gen Capri glitten, hingen schlaff nieder. Weit draußen begann aber auch die Flut sich allmählich zu entfärben und jenen stumpfen Ton anzunehmen, der den Sturm verkündet. Schon sprangen um die kleine Insel Nisida die weißen Schaumwellchen auf, in jenen krausen, bizarren Linien, die noch heute die Gestalt der antiken Seepferde vortäuschen.

In der Villa war alles still. Albas Eltern hielten ihre Siesta. Aus dem Souterrain drang der eintönige Singsang des Kochs. Vor Albas Grotte schlug mit melodischem Geschluchz die Woge an, die über den Altar der Venus rollte.

Das Licht, das sonst um diese Stunde besonders günstig für Albas Mikroskop war, ließ heute viel zu wünschen übrig. Die Schatten der Wolken, die immer dichter heransegelten, glitten wie dunkle Tücher draußen vorüber und mehr als einmal fuhr Alba zusammen, in der Meinung, daß jemand sich draußen vor der Grotte herumtriebe. Da, als sie wieder einmal emporfuhr, stand Elena in der Öffnung; blaß, aber mit einem überlegenen Lächeln um die Lippen.

»Ach, bist du wieder da

»Wieder?« stammelte Alba. Sie kam sich ganz dumm vor bei dieser Frage, die ein letzter Versuch war, ihr Geheimnis zu hüten und um Elena abzulenken, trat sie ihr rasch entgegen. Wenn Elena nur nicht sah, was sie in der Grotte verbarg, ihre Anwesenheit selbst brauchte ja kein Geheimnis zu bleiben.

Aber diese Elena hatte wirklich etwas von einem Teufel in sich.

»Bring' doch erst dein Buch in Sicherheit!« rief sie spöttisch.

»Mein Buch?«

»Gott, und die anderen Geheimnisse, die du da drinnen verbirgst.«

»Elena, du – du weißt?«

Ein höhnisches Lachen flog zurück. »Ganze Seiten hab' ich schon drin gelesen.«

»Du hast mich also beobachtet?«

»Man hat ja so wenig hier zu tun.«

»Ich – wäre dir nicht so nachgeschlichen!« erwiderte Alba gekränkt. »Und als du heute so – ankamst ... Um nichts in der Welt hätt' ich dich fragen mögen ...«

Die Augen der Ziani blitzten auf. »Darum schleich' ich dir nach. Damit du mich frägst und nicht etwa glaubst« ... Etwas Dunkles kam in ihre Stimme, etwas, das Groll und Schmerz und Hochmut zugleich war und doch auch ein einziger verhaltener Schrei nach Liebe.

»Elena!« rief Alba erschüttert und streckte ihr beide Arme entgegen und Elena warf sich förmlich hinein: von einem Schluchzen geschüttelt, das wie ein Sturm über ihre Seele hinzugehen schien.

»Komm daher, setz' dich!« bat Alba.

Draußen rieselte ein leiser Schauer durch die hangenden Zweige. Die Woge, die über den Altar der Venus daherkam, sprang plötzlich empor. Aber noch war dieselbe Melodik in ihrem Anprall; ein gebrochener Dreiklang, der in dieser tiefen Stille und seltsamen Beleuchtung etwas unendlich Süßes und Melancholisches hatte. Und Elena, den heißen Blick der tränenverdunkelten Augen starr auf das Meer gerichtet, hauchte: »O Alba, jetzt weiß ich alles!«

»Vielleicht fällt es dir doch schwer, es mir zu sagen!« wehrte Alba ab, in der eine unklare Angst aufstieg, daß die nächste Folge dieses Geständnisses die Abneigung Elenas sein könne. Und während sie ihr mit weicher Hand ein paar krause Löckchen aus der Stirne strich, schmeichelte sie: »Ich hab' dich deshalb nicht weniger lieb!«

Mit einem fast trotzigen Ruck machte sich die Ziani frei. »Nein, nein,« rief sie leidenschaftlich, »ich will, daß du alles weißt. Gerade du ... Denn siehst du, wenn die Präfektin auch recht hatte ... deshalb war meine Mutter doch eine Heilige und mein Vater ein Held, Alba. Ja, ein Held! Einer von denen, die Italien freimachen wollten. Freigemacht haben, durch das Zeugnis ihres Blutes! Ich weiß nicht, wo sie ihn eingescharrt haben, dort bei Mentana. Aber ich weiß, daß sein Blut für dieses Land verspritzt wurde und daß er wieder auferstanden ist in diesem seinem Blute.«

Und während sie ihren rechten Arm mit einer Bewegung voll wilder Größe entblößte und hoch ins Licht hob, rief sie noch einmal: »In diesem seinem Blute!« Und die Schwurfinger ihrer Linken preßten sich fest auf die Stelle, wo aus der braunen Beuge des Armes die grünliche Bläue der Pulsader hervorschimmerte.

»Wer hat es mir denn gesagt?« brach es immer jauchzender aus ihr hervor. »Niemand! und doch hab' ich's da drinnen getragen, seit ich denken kann ... immer! Ist das nicht Adel? Seit ich denken kann, bin ich wieder und wieder gezüchtigt worden, hab' ich nichts gesehn und nichts gehört als beten, beten und wieder beten! Warum hab' denn ich nie beten wollen? Mich wie eine Närrin gewehrt, trotz aller Schläge ... und nichts geliebt als dieses Land und das tote Weib, das mich einem Manne geboren, der für dieses Land gestorben ist?«

»Elena, um Gotteswillen,« stammelte Alba wie betäubt von dem elementaren Ausbruch, der ihrer, trotz allem noch kindlichen Seele ebenso fremd als schrecklich erschien. Aber die dämonische Grazie der Gestalt, die noch immer mit zum Himmel gereckten Armen dastand, der wilde Sturmpfiff des nahenden Gewitters, der ihr Antwort zu geben schien, ein dumpfer Laut, der aus der Ferne über das Meer herkam und sich gerade in der Woge brach, die plötzlich knapp vor Elena emporsprang, erfüllten das Herz der jungen Römerin mit einem fast andächtigen Schauer. Als vollzöge sich da etwas Heiliges, das Menschen und Dinge und Vergangenheit und Gegenwart zu einem geheimnisvollen Kreis schloß und weit über die Alltäglichkeit hinaushob.

»Ja!« hauchte Elena mit einem seltsamen Lächeln in den Sturm hinein. Eine geisterhafte Blässe kroch über ihr Antlitz und während sie mit gefalteten Händen ins Knie sank, murmelte sie: »Und hier ist es geschehen ... hier, in Sorrent!«

»Was ist in Sorrent geschehen, Elena?«

»Ins Leben haben sie mich hier gerufen!« kam es leise zurück. »Hier!« Ihre Hände glitten herab und strichen mit einer Gebärde unendlicher Zärtlichkeit über die Erde hin, während ihre Tränen langsam nachrollten ... »Begreifst du jetzt, Alba, warum ich heute kaum ans Ufer steigen konnte, an dieses Ufer, von dem mich meine Mutter ins Leben hineintrug?«

»Wie schön, daß du ihr so dankbar dafür bist!« hauchte Alba mit fortgerissen, »du, die so viel leiden mußte, deshalb!«

»Leiden, leiden!« wiederholte die Ziani, während sie sich langsam erhob. »Deshalb hab' ich die andern doch immer ausgelacht. Und, siehst du: wenn sie mich auch totschlagen würden, meine Mutter und meinen Vater schlagen sie doch nicht aus mir heraus. Auch nicht mit dem Kreuz!« setzte sie leise hinzu. Und ihre Lippen preßten sich aufeinander, in ihre Augen trat wieder der Blick, der die Präfektin so maßlos reizte.

»Hat dir das alles euer alter Ciriako erzählt?« fragte Alba wie auf der Flucht vor den eigenen Gedanken.

»Der gute Ciriako!« sprach die Ziani vor sich hin. »Ja, der hat mir wohl manches erzählt und was er mir nicht ins Gesicht sagen wollte, das hat er mich dann – finden lassen ...«

»Finden?«

»Ja. Auf eine so zarte, leise Art, daß ich mich zeitlebens vor ihm schämen werde. Denn wir haben ihn doch immer nur angeschrien und ausgelacht, jeden Tag, all die langen, langen Jahre her. Unterdes ist er herumgegangen und hat alles gesehn und alles gewußt und doch immer geschwiegen. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber ... o Alba! Als er so zu sprechen begann, von – damals, war mir, als riefen mich noch zwei andere Stimmen an und dieser da wäre nur zurückgeblieben, um mir einmal von ihnen zu erzählen. Dazu dieses tote, einsame Haus, mit den zerbröckelnden Plafonds und den weiten, hallenden Gemächern, in denen jedes Wort wie aus einem Grab kommt und wie in ein Grab fällt.«

Sie atmete tief auf und sah wieder aufs Meer hinaus, das immer rascher und rascher heranzukommen schien, im schäumenden Hochgang seiner sturmgetragenen Wellen. Leise zog sie das rechte Knie empor und während sie beide Arme darum legte, sprach sie: »Zu denken, daß auch sie einmal so dagesessen ist. Hier, irgendwo und hinausgeschaut hat, während diese Wellen kamen und gingen ...« Ihre Stimme zitterte.

»War denn Ciriako damals bei deiner Mutter?« fragte Alba.

»Er war nur einmal bei ihr,« kam es kaum hörbar zurück, »in der alten, schmutzigen Vorstadt, in der ich geboren wurde; Bei einer Hebamme. Um mich meiner Mutter wegzunehmen, war er bei ihr.«

»Hat sie denn das geduldet?«

»Sie mußte wohl; da sie im Sterben lag.«

»Entsetzlich,« flüsterte Alba. »Und so kamst du zu deiner Tante?«

»O, nicht gleich. Erst kam ich zu fremden Leuten; später in ein Kloster, wo sie eine »Krippe« hatten. Natürlich hat Tante immer alles für mich bezahlt. So wurde ich von einem Arm zum andern weitergegeben – scheu, heimlich, verstohlen. Bis die Schande endlich vergessen war und ich oft genug gebadet und geprügelt, um zur Tante meiner Mutter kommen zu dürfen.«

»Da hat Ciriako deine Mutter auch zum letztenmal gesehen?«

»Ja ... Und als er mir von dem Kuß erzählte, den sie mir auf die Stinte gab, und wie sie in die Kissen zurücksank ... vernichtet, daß man selbst der Sterbenden nur einen Diener gesandt ... da weinte selbst er. Ja, Alba! Nach fünfzehn Jahren hat dieser arme, alte Narr noch die Tränen gefunden, die keines ihrer Angehörigen für meine Mutter geweint hat. Kannst du dir vorstellen, was es heißt, so zu sterben und so geboren zu werden? Aber nein, wie könntest du's!« Die dunklen Augen der Ziani öffneten sich und schienen immer größer und größer zu werden, als stiege eine ganze Nacht von Traurigkeit daraus hervor und breite sich aus – schwarz und trostlos, wie das Meer und die Wolken.

»Daß man jemanden so ganz verlassen kann!« stammelte Alba fassungslos und als ein kalter Hauch des Sturmes, der draußen vorüberfegte, auch zur Grotte hereinfand, schauerte sie plötzlich zusammen und stierte mit einem scheuen Blick hinter sich. Als hätte sich irgendwo ein großes Tor aufgetan, durch das jeden Augenblick etwas Fürchterliches hereintreten könne – auch in ihr Leben.

»Verlassen!« wiederholte die Ziani bitter. »Wegtreten hättest du sagen sollen, wie ein armes, halbverkommenes Tier, an dem alles unrein ist. Nicht einmal die Kleider der Toten wollten sie mehr sehen.«

»Elena!«

»Hab' ich sie doch selbst in einem der alten Koffer Ciriakos gefunden. Stück für Stück, wie meine Mutter sie hineingelegt, mit ihren armen, müden Händen. Ja, Alba! Ein alter, plundersüchtiger Diener mußte mir die Kleider meiner Mutter bewahren, damit ich einmal das hier fände.«

»Briefe!« rief Alba fast atemlos.

»Ja, die Briefe meines Vaters,« erwiderte die Ziani, das kleine Päckchen, das sie aus ihrer Tasche hervorgezogen, mit einer Bewegung voll zärtlicher Andacht in ihren Schoß legend. »Briefe, die niemand gelesen hat, außer meiner Mutter, nicht einmal der alte Ciriako, dem sie ihre Kleider schenkten, um mit dem Plunder der ›Sünderin‹ auch die Sünderin zu vergessen. Denn Ciriako kann ja weder lesen noch schreiben. Freilich ... daß diese Briefe da drinnen staken, das mußte er doch wohl gewußt haben. Hätt' er mich sonst auf den Boden geführt und mir diesen Koffer geöffnet? › Robé ve!‹ sagte er bloß, › robe vé!‹ Aber wie er mich dabei ansah und nickte und wie still er hinausging und mich allein ließ ... Und ich hab' meinen Kopf in diese Kleider gesteckt und hab' daran gerochen und hab' sie mit meinen Tränen naß gemacht. Und das, in dem ich die Briefe fand, hab' ich nachts unter mein Kissen gelegt und – glaubst du mir's? Da hab' ich meine Mutter zum erstenmal gesehn!«

»Elena!«

» Gesehn hab' ich sie!« rief die Ziani mit einem unheimlichen Blick. »Ge–se–hen! Und nun soll mir diese Hexe noch einmal etwas sagen über sie!«

»Du meinst die Präfektin?«

Elena schien es zu überhören. Ihre Finger lösten ein verblaßtes Lilaband, das die Briefe zusammenhielt, weich, langsam. Sie zog einen dünnen Bogen hervor, faltete ihn auseinander und strich ihn wie liebkosend zurecht. »Den da ... den sollst du lesen!« sprach sie, und die Tränen, die ihre herbe Seele zurückdrängte, schienen in ihrer Stimme zu zittern.

Alba nahm den Brief an sich. »Lies ihn laut!« bat die Ziani, indem sie den Kopf auf die Hand des aufgestützten Armes legte. »So oft hab' ich ihn schon gelesen, seit Sonntag. Bei Tag und bei Nacht, und kann doch nicht müde werden, diese Worte in mich zu trinken ...

Und Alba las:

»2. November 1867.

Meine Süßeste!

Ich schreib Dir diesen Brief im Angesicht des Todes. Denn morgen dürft' es zur Entscheidung kommen. Vielleicht lächelt mir auch der Genius des Sieges über die Schultern, während ich diese Zeilen schreibe. Wer kann es wissen? Auch er ist ein Bruder des Todes.

Glaube nicht, daß ich Dir mit diesen Worten das Herz schwer machen will. Dieses Herz, unter dem ein Leben wird, das ich schon ebenso heiß liebe wie Dich, wie die Erinnerung an die blaue Vollmondnacht in Sorrent, in der Du mir alles gabst. ›Damit der Tod mich nicht nehme, eh' ich Dich besessen ... und das Leben mir nichts Schöneres mehr zu bieten habe als die – Befreiung Roms.‹ Glaubst Du, ich könnte diese Worte jemals vergessen? Welch eine Seligkeit für den Mann, zu wissen, daß die Frau, die er in den Armen gehalten, zugleich eine Heldin war!

So hast Du mich für den Tod und für das Leben zugleich geweiht.

Vielleicht liegt es daran, daß ich nun von dem einen so ruhig rede – und dem andern fast bang ins Antlitz schaue, obwohl es das Leben ist. Denn es stirbt sich viel schöner auf seiner Höhe als im schrittweisen Niedergang. Und werd' ich Dir immer als der erscheinen, den Du heute in mir siehst? O meine Elena, wenn du wüßtest, wie groß Du vor mir stehst!

Aber da ist unser Kind. Dein Kind! Ich muß also kämpfen wie ein Löwe morgen, und nicht mehr für Rom allein.

Freilich, wenn Begeisterung, Tollkühnheit und Todesverachtung den Sieg herbeizwingen könnten – wären wir seiner schon heute sicher. Welch ein Lager das und was für Soldaten! Man muß unter diesen Menschen gelebt haben, um verstehn zu lernen, daß sie für ihre Taten so wenig verantwortlich sind wie das Meer für den Sturm. Ich sage das nur, weil der Bauer uns natürlich wieder von Meile zu Meile nachflucht. Armes Volk, das die Pfaffen so ganz um die Heimat betrogen haben.

Und nun er selbst – Garibaldi!

Ist das ein Mensch, ein Dämon, ein Gott oder ein – Wahnsinniger? Du weißt, daß die Regierung gegen diesen neuen Vorstoß war. Daß man Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um den alten Seelöwen auf seinem Caprera festzuhalten. Und daß man ihn, als er sich nicht festhalten ließ, in Sinalunge verhaftete und wie Prometheus wieder an seinen Fels schmiedete.

Er aber warf sich in eine Barke und kehrte, das ist buchstäblich zu nehmen, mitten durch das italienische Geschwader zurück, in einer Fahrt, deren tollkühne List und waghalsige Frechheit bisher unerreicht dasteht.

Die Menschen machten ihm nicht bange, die Natur war ihm willig wie eine Geliebte. Und er wußte es. Denn als sich ein schwerer Sturm erhob und schon nah dem Ziel seine Fahrt bedrohte – da beugte er sich über den Rand der Barke, schöpfte Wasser in seine behaarte Hand ... und während er es langsam über seine weißen Haare ausgoß, sprach er knirschend: ›Du wirst mich tragen. Du mußt mich tragen Meer, das die Gestade Latiums bespült!‹

Und es trug ihn.

Wie ein Dämon des alten Rom erscheint er uns allen. Sein Aussehn, seine Gestalt, die Blitze seiner Augen, die Wut seiner Anfälle, sein Haß gegen das Papsttum und diese ganze Invasion Judäas haben in der Tat etwas Elementares an sich, als wäre der Genius der alten Italer da irgendwo angeschmiedet gelegen, vom Kreuze gebannt, vom Weihwasser behext ... und hätte durch die Jahrhunderte mitansehn müssen, wie Rom verkam. Bis er eines Tages seine Ketten brach.

Glaube nicht, daß der Alte keinen Gott hat. Aber ich möchte seinen Gott nicht sehn. Ich fürchte, daß er dem Jupiter Stator ähnelt.

Nur einundzwanzig Kilometer trennen uns mehr von Rom. Wenn wir abends vors Zelt treten, während die Höhen des Sabinergebirges ihre blauen Schatten über die Täler werfen, meinen wir, seine Fata Morgana zu sehn, dort im Südwesten. Und der Fluß, der an unserm Lager vorübereilt, trägt seine Wasser dem Tiber zu.

» Ecce-Roma!« sagt Garibaldi, so oft er dahinsieht und er sagt es nie, ohne sein Haupt zu entblößen.

Die Franzosen rücken näher und näher. Bald stehn sie vor Mentana. O, wie Garibaldi ihnen flucht! ›Brüder gegen Brüder!‹ knurrt er immer. Eine Union der Lateiner, das ist der Traum seines Lebens.

Also morgen ... oder wann?

Wenn nur nicht diese tottraurigen Novembernächte um uns wären und diese eine, die den Toten gehört ... ›Allerseelen!‹ Auf dem Friedhof von Mentana flackern ihre Lichter und Lämpchen und die Erde scheint Verwesung zu riechen ...

O Sorrent, wo bist du?

An meinem Herzen ruht eine der Schleifen des lila Mousselinekleides, das Du an jenem Abend trugst. Ein Talisman der Liebe! Fall' ich, dann nehm' ich doch etwas von Dir in diese dunkle Erde hinab. Mög' es wenigstens eine freie Erde sein – dann!

Aber nein, was sag' ich?

Dieses Kind sollen meine Arme ins Licht heben.

Gute Nacht, Du meine Süßeste!

Dort, wo Dein Herz pocht, küßt Dich Dein
Ugo.«

Alba faltete den Brief wieder zusammen; sie schüttelte langsam das Haupt. In der großen Verwunderung der Jugend über den reichen Inhalt des Sehens. »Muß das schön gewesen sein!« sprach sie wie träumend vor sich hin und immer wieder: »Muß das schön gewesen sein!«

Mit ihrem herben Lächeln nickte die Ziani: »Ja das sieht sich so an, jetzt. Aber was meine Mutter gelitten hat ... Ich komm darüber nicht weg, Alba!«

»Was willst du tun?«

»Wollen!« höhnte die Ziani selbstquälerisch. »Ich! Wenn ich mich nicht aus einem Fenster werfen will oder mit einem Artisten durchgehn und irgendwo am Weg verkommen, wie meine arme Mutter – werd' ich wohl in dieser Hölle bleiben müssen.«

»Aber wenn du deiner Tante sagst, daß du nicht willst, nicht kannst ...«

»Und wenn meine Tante glaubt, daß meine Mutter sonst nicht selig werden kann?«

»Deine Mutter?«

»Drum steckt man doch solche Kinder ins Kloster. Immer ...«

»Da–rum?« Alba wollte noch etwas hinzusetzen, aber plötzlich war ihr, als hätte sie von einer unsichtbaren Hand einen Stoß empfangen – gerade dort, wo ihr Herz saß. Ihre Augen wurden weiter, ihr Blick irrte wie in einer namenlosen Angst auf das Meer hinaus. Die blassen Lippen begannen erst zu zittern, dann zu zucken, bis sie im Versuch eines Lächelns erstarrten, das etwas so Verstörtes und Sinnloses hatte, daß es selbst der Ziani auffiel.

»Was hast du denn?«

»Also – darum!« murmelte Alba ... Und plötzlich begannen auch ihre Hände zu zittern; ihr ganzer Leib, während ihre Seele wie ein gehetztes Tier noch immer aus diesen großen bangen Augen stierte.

»Gott, das ist doch so alltäglich,« fuhr die Ziani fort. »Da hast du gleich die Gemma. Sie selbst weiß es natürlich nicht, und ihr Vater, der Esel, noch weniger. Aber weil sie aus einem Ehebruch hervorgegangen ist, muß sie ins Kloster. Vielleicht ahnt sie es selbst; vielleicht auch nicht. Aber jedenfalls hat sie es ihrer Mutter versprechen müssen.«

» Glaubst du?« stotterte Alba.

Die Ziani sah sie verwundert an. »Das hat sie uns doch schon so oft erzählt, dir und mir. Warum sie Nonne werden will! Diese ganze rührende Szene am Bett ihrer sterbenden Mutter!«

In diesem Augenblick flammte ein Blitz auf. Der Donner, der bisher nur in der Ferne gemurrt, schlug krachend nach und plötzlich schienen die Bäume ihre Zweige nach oben zu werfen – tausend grüne Arme, die wie gepeitscht durcheinanderfuhren, während die eisengrauen Wolken förmlich barsten. Wie eine Flut strömte der Regen herab, in langen, flatternden Schleiern, die der Sturm über das Meer hinjagte, als sänken Himmel und Erde in einem einzigen Schwall zusammen. Die Woge, die die Marmorstufe des Bades bespülte, schnellte plötzlich hoch und schlank empor und fiel dann klatschend in sich zurück.

»Kinder, um Gotteswillen – wo seid ihr?«

Es war Lucrezias Stimme, die von der Terrasse herabscholl.

»Hier!« wollte die Ziani rufen.

Da legte sich Albas Hand auf ihre Lippen: »Gib keine Antwort!«

Elena sah sie verblüfft an.

»Nicht jetzt!« bat Alba.

»Aber deine Mutter wird sich ängstigen. Hör' doch nur, wie sie ruft!«

In diesem Augenblick hörte man lange Schritte anklatschen, dann ein hastiges Springen von Stufe zu Stufe.

»Dein Bruder!« rief die Ziani, die einen Augenblick hinausgespäht hatte. Unmittelbar darauf stand Flavio vor den beiden. »Wo bleibt ihr denn?«

»Hier – regnet es ja nicht herein,« versuchte Alba sich auszureden.

»Herein! Aber die Bäche, die von oben geschossen kommen,« drängte Flavio »und auch hierher ihren Weg finden werden, ... die muß man gesehen haben. Also schnell, schnell! Da sind zwei Schirme, nun, Alba?«

»Gib mir deinen Arm,« bat Alba leise. Und sie, die sonst immer zwei Stufen nahm, wenn sie diese Treppe hinabsprang, schleppte sich heute so blaß und mühsam empor, als stiege sie aus einem Abgrund, in dem sie etwas Grauenhaftes gesehen.

Der Tag, der diesem Unwetter folgte, war kühl und leuchtend wie ein einziger Frühlingsmorgen. Das Meer blieb glatt und die tiefen Schatten der Orangenwälder lagen wie grüner Samt auf seinem Spiegel. Klar und rein schimmerten die fernen Küsten herüber und das leichte Rauchwölkchen, das immer über dem Vesuv steht, hing wie ein silberner Schleier zwischen Erde und Himmel.

»Nun werden wir lange schönes Wetter haben,« sagte Lucrezia, während sie langsam ihre Nadel aus dem weißen Damast des Meßkleides zog, an dem sie gerade stickte. Sie ertrug die sommerliche Hitze nur schwer und ging deshalb selten vor dem Abend aus. Kam aber ein Morgen wie dieser, pflegte sie den ganzen Vormittag im Schatten der breitästigen Steineichen zu sitzen, die knapp über dem Meere standen und ihre dunklen Wipfel wie zu einer natürlichen Laube zusammenschlössen. Sie stickte emsig, plauderte noch eifriger und hatte in solchen Stunden immer gern ihre Lieben um sich.

Auch heute war man lang nach dem Frühstück hier beisammengesessen. Endlich hatte sich der Prinzipe entfernt, um seine Korrespondenz zu erledigen; Mademoiselle Ange, um bei den » frati grigi« zu beichten. Anita tollte irgendwo mit ihrem Hund herum, »dieser armen Kreatur,« wie Erminia sagte, »der Gott zu den langen Haaren auch noch diese Herrin gegeben hatte.« Elena und Flavio aber schritten längs der Terrasse auf und nieder, und das herbe Lachen Elenas, wie das leichte Klatschen der Gerte, mit der Flavio von Zeit zu Zeit in den Kies schlug, waren die einzigen Laute in der tiefen Stille dieser morgendlichen Stunde.

»Fehlt dir etwas?« fragte Lucrezia, als sie von Alba keine Antwort erhielt.

»Was sollte mir denn fehlen?« entgegnete Alba, ohne den Blick von der Arbeit zu heben.

»Ich meinte bloß ... weil du so schweigsam bist seit gestern.«

In diesem Augenblick sah Alba auf und während sie scheinbar zerstreut aufs Meer hinausblickte, sprach sie langsam: »Wie scharf du mich beobachtest, Mama!«

»Weil es mir auffällt,« bemerkte Lucrezia. Zum erstenmal war es Alba, als schwänge eine gewisse Unsicherheit im Ton dieser Stimme; etwas Fremdes, das sich aus Gereiztheit und Angst mischte und einer Neugierde, die sich nicht zeigen wollte. Und während sie dieser Empfindung nachsann, fühlte Alba deutlich, wie sich auch in ihrer Seele plötzlich eine ähnliche Neugierde erhob und sich hinter ihren Worten förmlich auf die Lauer legte; wie ein Jäger hinter seine Schlingen. Nie früher hatte sie ähnliches empfunden, ähnliches geübt, sie, die die Welt und die Menschen bisher mit dem naiven Blick des Kindes angeschaut. Nun stak es ihr aber plötzlich wie ein Stachel in der Seele und bohrte und wühlte und gab ihrem Blick eine Helligkeit, ihren Worten eine Absicht, über die sie selbst erschrak.

»Mir fehlt gar nichts,« erwiderte sie mit einem vagen Lächeln. »Aber über Elena muß ich seit gestern viel nachdenken.«

»Siehst du, daß ich recht hatte,« nickte Lucrezia förmlich erleichtert; »und warum?«

»Sie ist doch sehr unglücklich,« sprach Alba mit einem langen Blick in die Feme.

Lucrezia vermied es, eine Antwort zu geben und obwohl Alba noch immer auf das Meer hinauszublicken schien, gewahrte sie doch deutlich, wie der Schatten ihres Hauptes plötzlich nach vorwärts sank. So tief hatte sich Lucrezia über ihre Arbeit gebeugt.

»Sie, die so gute Augen hat!« dachte Alba und während sie mit einemmal das volle Antlitz gegen die Mutter kehrte, sprach sie laut: »Sie hat endlich alles erfahren!«

»Ah?!« machte Lucrezia, und dieses »Ah!« kam mit einer solch gemachten Gleichgültigkeit heraus, daß Alba sofort fühlte, ihre Mutter werde nicht weiterfragen.

»Sie, die so neugierig ist,« sagte sich Alba mit wachsendem Staunen. Sollte sie schweigen? Aber da war wieder dieser Stachel, der so reizte und quälte ... »Ich stell' mir das fürchterlich vor!« begann sie aufs neue.

»Was?« fragte Lucrezia mit verschleierter Stimme.

»Nun – eines Tages so zu erfahren, daß man nicht dasselbe Recht hat, da zu sein, wie all die anderen.«

Lucrezia machte einen Versuch, ihr Haupt zu heben, wandte aber das Antlitz und begann in ihrem Necessaire nach irgend etwas zu suchen und ihre Stimme zitterte, als sie erwiderte: »Für die Mutter wird es wohl nicht weniger fürchterlich gewesen sein. Drum ist es gut –« Sie stockte und begann noch angelegentlicher herumzukramen.

»Was suchst du denn, Mama?« fragte Alba mit lauernder Überlegenheit.

»Meine Schere.«

»Sie liegt ja vor dir!«

»Vor mir?«

»Gerade neben deiner Hand.«

»Wahrhaftig,« lachte Lucrezia hell, gleichsam über sich selbst belustigt. Aber die Finger, die nach dem zierlichen Ding griffen, bebten so heftig, daß Albas Augen mit dem Ausdruck des Entsetzens auf der Hand hafteten, die sie so oft und ach wie innig geküßt.

Und mit einemmale schien die Angst der Mutter auch zu ihr hinüberzuwirken, auch nach ihr die Arme auszustrecken ... »Frag' nicht weiter, laß es!« schrie etwas in ihrer Seele auf. »Lieber die Dunkelheit als dieses Licht!«

Aber der Stachel war stärker. Die Neugierde schon von allen Dualen der verletzten Eigenliebe vergiftet. Und mit einer Ruhe, über die sie selbst erschrak, warf sie hin: »Du wolltest noch etwas sagen, Mama?«

»Ich –?«

»Ja, zuvor. Aber über dieses Suchen kamst du dann nicht zu Ende.«

Lucrezia schien sich einen Augenblick zu besinnen. Endlich nickte sie müde vor sich hin. »Ach ja, ich weiß schon, was das war!« Und während sie unter dem bohrenden Blick Albas langsam die zarten Schultern emporzog und mit der Hand eine fast hilflose Bewegung machte, sprach sie leise: »Daß es für eine solche Mutter immer das beste ist, zu sterben. Das wollt' ich sagen.«

Da kam Anita angesprungen. »Mama, Mama, der Kollie hat mich gebissen!«

»Es wird so schlimm nicht sein. Laß einmal sehn!«

Aber wie oft Lucrezia die kleine Hand auch drehn und wenden mochte, Kollies Zähne hatten keine Spur darin zurückgelassen.

»Was hast du denn mit ihm gehabt?«

»Seine Haare haben so geglänzt und –«. Sie stockte und führte den Finger in den Mund, wie sie immer tat, bevor sie ein Unrecht eingestand.

»Und?« forschte Lucrezia mit einem Eifer, dem man es anmerkte, wie gelegen ihr der kleine Zwischenfall kam.

»Da wollt' ich ihm ein paar ausrupfen,« gab Anita zu. »Weil Pepinas Zopf schon so dünn ist!«

Pepina war eine der Lieblingspuppen Anitas und da sie, wie jede Lieblingspuppe, oft »frisiert« wurde, fast ganz kahlköpfig. Blond war sie auch ... und Kollie besaß eine so schöne, semmelfarbige Rute!

Die Sache war wirklich drollig. So drollig, daß Lucrezia auflachen mußte; laut, herzlich, förmlich befreit. Und während sie, ohne ein Wort des Tadels zu finden, die kleine Missetäterin an sich zog, glitt ihr Blick zum erstenmal wieder zu Alba hinüber, wie erstaunt, daß sie nicht mitlache.

Alba war noch zu jung, um die Sache nicht auch drollig zu finden. Aber die Zärtlichkeit zwischen Mutter und Kind erfüllte sie plötzlich mit einer tiefen Bitterkeit, rief ihr wie mit einem Schlag all die hundert Fälle ins Gedächtnis, die Anitas Bevorzugung erwiesen. Von den lächelnd nachgesehenen Strafen angefangen, bis zu den besseren Kleidern, den rascher erfüllten Wünschen und der Auslieferung ihrer geliebten »Arrazzi«. Hatte ihre Mutter sie jemals so an sich gezogen? Mit dieser ruhigen, sicheren Zärtlichkeit? Sie nur einmal so lang und verweilend geküßt? Mit Lippen, deren sanfter Druck den ganzen Segen des Himmels herabzuflehen schien? Geküßt schon ... aber wie? Und, o der Gebärde, mit der sie dann gleichsam fortgeschoben wurde! Wie jemand, der nicht alles bekommen durfte, weil ihm nicht alles gebührte.

Als hätte ein Blitz die Dunkelheit erleuchtet, in der sie bisher, noch immer hoffend, herumgetastet, daß sie mit einem Male alles sah, alles wußte, sich an Worte und Strafen und Geschehnisse erinnerte, die sie längst vergessen geglaubt und die nun wie neu erlebt vor ihr standen – ein einziges Unrecht, dem sie endlich, endlich den rechten Namen geben konnte!

Nein; Anita mußte auch nicht Nonne werden. Für sie war gesorgt; von Gott und den Menschen.

Und aus dem ganzen Haß dieser plötzlich aufquellenden Bitterkeit heraus sagte sie herb: »Du findest doch alles reizend, was Anita tut.«

»Mein Gott ... sie ist ja noch so klein!« versuchte Lucrezia sich zu rechtfertigen. Aber ihr Blick, der zufällig dem Albas begegnete, flackerte unsicher auf, ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das für Alba nicht mehr neu war, seit sie selbst da unten in der Grotte so gelächelt hatte, um eine andere zu täuschen.

Eine Pause tiefster Beklemmung trat ein und mitten in ihr Schweigen hinein sprach Alba kalt und hart: »Auch ich bin einmal so klein gewesen.«

»Was – willst du damit sagen?« brachte Lucrezia mühsam hervor.

»Daß ich jetzt erst sehe, um wie viel besser es Anita hat und immer hatte.«

Lucrezia affektierte ein leichtes Lachen. »Aber Alba ... du wirst doch nicht eifern? Mit deiner eigenen Schwester! Geh', geh',« wandte sie sich dann an Anita, die noch immer an ihrer Brust lag und mit weit aufgerissenen Augen bald zur Mutter empor, bald zu Alba hinübersah, wie ahnungsvoll betroffen von dem Ton der Worte, deren Sinn sie noch nicht verstand ... »Geh' zu Mademoiselle Ange; sie muß jetzt schon zurück sein.«

Und Anita schüttelte sich förmlich, als sie davonlief.

Wieder blieb es eine Weile still. Plötzlich erhob Lucrezia forschend den Blick: »Du bist jetzt stundenlang immer mit dieser Ziani allein. Sollten die Schwestern doch Recht haben und diese Ziani ein böses Geschöpf sein, das nichts als Unruhe und Unzufriedenheit um sich verbreitet? Dann tät es mir leid, sie hergenommen zu haben ...«

Alba begann die Spitze einzurollen, an der sie bisher gestichelt hatte. Sie sah nicht empor und doch fühlte sie deutlich, daß der Blick, der jetzt auf ihrem Antlitz ruhte, ein Blick innerster Angst und Seelenqual war.

»Was hat denn meine Eifersucht auf Anita mit der Ziani zu tun?« fragte sie scheinbar ausweichend.

»O nichts, ich dachte bloß,« lenkte Lucrezia wie ausatmend ein, »weil ihr so viel beisammensteckt.«

Alba hatte sich erhoben und während ihr Blick wieder auf das Meer hinausirrte, sprach sie leise: »Da tätest du der Ziani bitter Unrecht, Mama!«

»Wovon redet ihr denn?« fragte Lucrezia. Und wieder war es Alba, als laure jene Neugierde hinter ihren Worten, die auch sie so gut jetzt kannte, diese Neugierde einer Qual, die erlöst sein will, ohne sich zu enthüllen.

Mit einem hastigen Griff steckte sie ihre Arbeit in das Nähkörbchen und ohne ihrer Mutter ins Antlitz zu schauen, entgegnete sie: »Wovon – wovon! Von diesem traurigen Schicksal eines Kindes, das man ins Kloster steckt, weil es kein Recht hat, da zu sein. Also wieder nur von der Ziani.« Sie sagte es nicht bitter, sagte es nicht lauter, als sie sonst sprach. Nicht einmal das Beben ihrer Stimme verriet, daß sie sich bewußt war, wie viel sie eben auf einmal gesagt hatte, und mit der monotonen Liebenswürdigkeit der guten Erziehung setzte sie hinzu: »Bist du jetzt beruhigt, Mama?«

Darauf nahm sie ihr Körbchen und schritt langsam dem Hause zu. Lucrezia lächelte sie wie geistesabwesend an. Als sie jedoch Alba außer Hörweite wußte, warf sie mit einem erstickten Aufschrei beide Arme auf den Tisch und während ihr Antlitz vornübersank, weinte sie, wie noch keine Magd in ihrem Hause geweint hatte.

Elena und Flavio schritten noch immer vor der Terrasse auf und nieder und hatten schon über alles Mögliche gesprochen; vom Meer angefangen, bis zu dem neuen Reitpferd Flavios und der uneleganten Haltung der Nachbarn beim Tennisspiel. Kurz von allem, nur nicht von dem, was die Ziani eigentlich wissen wollte.

»Vielleicht ist er doch schon ein ganzer Jesuit!« dachte sie bei sich, »und wirklich so fromm, wie sein Vater.« Dann war es jedenfalls am besten, gerade so schlau zu sein und so fromm zu tun, wie er. Albas ausweichende Bemerkung über die eigentliche Gesinnung Flavios wollte ihr zwar nicht aus dem Kopf. Aber warum machte sie aus ihren Studien auch vor ihm ein Geheimnis? Ganz genau wußte also niemand hier, wie es eigentlich um Flavio stand und gerade das reizte die Ziani, der sonst alles an Flavio gefiel. War es doch der erste junge Mann, mit dem sie allein herumgehn und allein sprechen konnte.

Auf Flavio wieder hatte das schöne Geschöpf einen viel stärkeren Eindruck gemacht, als er selbst vorerst merkte. Seit Jahren daran gewöhnt, Tag für Tag nur die frommen Patres und so und so viele junge Leute seines eigenen Geschlechtes um sich zu sehen, war er den »Flegeljahren« eigentlich noch gar nicht entwachsen. Deshalb hatte die Nähe dieses frühreifen jungen Weibes etwas ebenso Bestrickendes als Beängstigendes für ihn. Jeden Augenblick fürchtete er, irgend eine Dummheit zu begehen; irgend etwas zu tun oder zu sagen, das ihn in ihren Augen herabsetzen könnte. Der sichere Ton, den er noch gestern gefunden, war bereits einer Zurückhaltung gewichen, die Elena mit Unrecht für Verstellung hielt. Wenn man nicht die heilige Maske so nennen will, die die Natur selbst vors Antlitz nimmt, um die erste Scham und die ersten Regungen des erwachenden Geschlechtslebens dahinter zu verbergen. Wie gut hatte er dieses junge Mädchen zu kennen geglaubt, weil Alba so viel von ihr erzählt; Gutes und Schlimmes, Trauriges und Seltsames und so viel dabei von dem, was er selbst erfahren und stumm durchlitten! Daraufhin hatte er sie so sicher angesprochen – gestern. Dann war das Gewitter gekommen und eine entzückende Mondnacht, die sie alle von der Terrasse aus genossen. Da war plötzlich das Seltsame geschehen: Elena hatte gelacht, bloß gelacht und ihn angeschaut ... Zum erstenmal voll und ganz, mit ihren großen, feuchten, unheimlichen Augen. Und mit einem Male fühlte er, daß dies ja ein ganz fremdes rätselhaftes Geschöpf sei, trotz allem, was er von ihr zu wissen glaubte, eine, die mit ihrem Lachen wohl- und wehtun konnte – ganz wie sie wollte. Mit ihren Worten bis zur Wut reizen, daß man sie zu hassen glaubte, mit einem einzigen Blick einen so dumm machen, wie ihn, wenn er auch die Schule der Jesuiten hinter sich hatte und die Matura vor sich.

Was war das für ein Geschöpf? Und waren alle Frauen so? Wie seltsam aber, daß er dergleichen nie an Alba bemerkt hatte!

Mit offenen Augen war er die halbe Nacht wachgelegen und hatte von seinem Bett aus aufs Meer hinausgestarrt ... in diese weiche, blausamtene Sommernacht, die so geheimnisvoll draußen brütete, während am Horizont noch immer die Blitze aufleuchteten und das Geschwirr der Zikaden wie die Saiten von tausend Silberharfen die Stille durchzitterte. Als rüste die Natur zu einem Feste, von dem niemand wußte als sie und sein junger Leib, über den plötzlich diese seltsamen Schauer und Gluten krochen.

Erst als die Blütenkühle des nahenden Morgens sein Zimmer füllte und das Meer immer sachter ging, fand er Ruhe und Schlummer. Vor dem Frühstück warf er sich aufs Pferd und legte im Galopp die herrliche Straße nach Castellamare zurück. Als er aber im Hof wieder absprang, kam dieselbe Bangigkeit, dieselbe Trauer und Unbeholfenheit aufs neue über ihn, und nun ... Ja, nun ging er schon eine volle Stunde auf und nieder und sprach unsinniges Zeug. Wie einer, der nicht weiß, was er will, und nicht ahnt, was ihm fehlt.

»Wie bin ich aber schon recht müde!« rief die Ziani plötzlich aus und mit einem boshaften Blick: »Wie oft, glauben Sie, werden wir diesen Weg schon gemacht haben?«

Da war es wieder das Lachen, das ihn so ganz und gar aus der Fassung brachte und doch so wohltat, daß ihn zuweilen die ganz sinnlose Lust überkam, sich vor Wohlbehagen dabei zu schütteln.

»Wie oft?« murmelte er, von ihrem Blicke gleichsam festgenagelt und zugleich von der unklaren Empfindung erfüllt, daß er sicher wieder einen Verstoß begangen.

»Zeigen Sie mir einmal Ihre Reitgerte!« gebot die Ziani überlegen.

Mit einem befremdeten Blick reichte er ihr die Gerte.

»Wie oft sind Sie schon mit der ausgeritten?« forschte sie, das zierliche Ding mit beiden Händen gerade biegend.

»Seit – seit vorgestern.«

Die Lippen der Ziani zuckten. »Dann müssen Sie Ihr Pferd blutig geschlagen haben.«

»Aslan? Den berühr' ich doch kaum!«

»Nun, sehn Sie ...« sie hielt ihm die Gerte entgegen. »Also haben Sie sie hier abgeschlagen, an dem Kies und der Terrasse! Darf ich da nicht endlich müde sein?« Und zwischen den lächelnden Lippen blitzten die Zähne hervor: weiß, klein, einer darunter so seltsam spitz und eigenwillig, daß Flavios Augen gar nicht mehr loskamen.

Die Ziani aber dachte: »Spielt er immer so gut den Dummen?« Und ihre Lust, ihn auszuforschen, wurde noch größer.

»Setzen wir uns da her, unter den Oleander!« gebot sie. Flavio gehorchte. Eine Weile tippte sie mit der Gerte die zierlichen Spitzen ihrer Goldkäferschuhe ab. Stumm und doch ganz mit ihrem Plan beschäftigt. »Am besten ist's, ich komm' ihm plötzlich,« sagte sie sich. »Wenn man ihm plötzlich kommt, ist er wirklich dumm. Das hab' ich jetzt gesehn.« Und mit einer jähen Wendung nach Flavio fragte sie ganz unvermittelt: »Wie viel Stunden beten Sie täglich?«

Flavio riß die Augen auf und starrte sie eine ganze Weile sprachlos an. Langsam stieg eine dunkle Röte in sein gebräuntes Antlitz; höher, immer höher, bis sie unter den schwarzen Haaren verschwand. Das also war es! Sie hielt ihn für einen Betbruder und verachtete ihn deshalb! Darum dies immer wiederkehrende Lachen, dieser spöttische Blick – diese Worte, die wie Schlingen waren, in die er hineintappen sollte! Ihren Spaß wollte sie mit ihm haben – nicht mehr!

Er wußte nicht, welch ein Weh es war, das ihm plötzlich die Kehle zusammenschnürte. Aber deutlich fühlte er, daß sich zum erstenmal ein anderer in ihm regte. Der Flavio, den er bisher versteckt, unterdrückt, verleugnet und immer sein an die Kandare genommen hatte und der sich nun zum erstenmal empörte, um dem Weib, das ihn peinigte, den Mann zu zeigen.

Tief aufatmend beugte er sich vor, so weit, daß er der Ziani gerade ins Gesicht sah, in dieses schöne, herbe, spöttisch lachende Gesicht ... Dann sprach er höhnisch: »Genau so viele Stunden wie Sie, wenn ich – muß

Der Ziani fiel die Gerte aus der Hand. So verblüfft war sie über diese Antwort. Noch verwirrter aber von dem Blick, den Flavio über ihre ganze Fassungslosigkeit hingehn ließ und der etwas so Bannendes und Zwingendes an sich hatte, daß sie mit einem süßen Schauer zum erstenmal den Mann empfand.

»Sie halten mich also für eine Heuchlerin?« fragte sie kleinlaut.

»Es ist uns wohl nichts anderes übrig geblieben bis heute,« erwiderte Flavio, während er sich nach der Gerte bückte.

»Bei einem Weib liegt ja auch nichts daran!« kam es leise zurück. »Aber ...«

»Aber?«

»Sie hätten mir leid getan!«

In seinen Augen blitzte etwas aus, verschwand aber sofort wieder und während ein überlegener Zug um seine Lippen spielte, sprach er ironisch: »Das lassen Sie meine Sorge sein!« Damit erhob er sich, grüßte und ging.

»Alba muß geschwatzt haben!« dachte die Ziani. »Und jetzt sitz' ich da!« Aber so verwirrt sie auch zurückblieb, ihre Augen folgten dem sich Entfernenden, und ihr Herz begann plötzlich so seltsam zu pochen, daß ihr fast der Atem ausblieb.

Als man sich zu Tisch setzte, bemerkte Alba sofort, daß ihre Mutter geweint hatte und ihr Herz preßte sich noch krampfhafter zusammen. Ihre Seele wand sich förmlich unter der Wucht der Erkenntnis, die immer schwerer, immer lastender auf sie herabsank – ihren Verdacht von Minute zu Minute verstärkte.

»Weißt du, meine Liebe, daß du heute gar nicht gut aussiehst?« sagte der Fürst mit einem besorgten Blick in das blasse Antlitz Lucrezias.

»Ich habe nicht gut geschlafen,« erwiderte Lucrezia, ohne auszublicken.

»Aha; daher die geröteten Lider.«

»Und etwas Migräne hab' ich auch,« setzte Lucrezia hinzu.

Alba sah sie nur an ... Dann glitt ihr Blick zu Prospero hinüber. »Ist er mein Vater – ist er es nicht?« dachte sie. Aber merkwürdig! Gerade der Blick in dieses Antlitz machte sie wieder fassungslos. Ließ ihr jeden Verdacht so seltsam und ungeheuerlich erscheinen, daß sie sich wie eine Verbrecherin vorkam, die ausging, um etwas zu morden, das heilig war.

Seit sie denken konnte, hatte sie voll Ehrfurcht und Liebe in dieses Antlitz geblickt. Hatte dies Antlitz immer gleich zärtlich auf sie herabgesehen. Jeden Zug liebte sie, jede Falte kannte sie darin. In guten und bösen Tagen hatte sie Freude und Sorge, Scherz und Qual wie Wolken und Sonnenschein darin wechseln gesehen. Selbst aus Kindheitsfernen, in die ihre Erinnerung kaum mehr zurückreichte, lächelte ihr noch das Antlitz des Vaters entgegen. Wie er sich über ihr kleines Bettchen neigte, wenn sie nicht einschlafen wollte; wie dieser Mund sich öffnete, um ihr Lieder zu singen, die sie liebte; diese Augen ihr schelmisch zuzwinkerten, wenn es galt, Mama einen schlimmen Streich zu spielen. Und nun sollte sie denken, glauben ... nein! Wenn aber doch ... Und eines Tages derjenige käme, der wirklich ihr Vater war? Wie entsetzlich zu denken, daß sie für jenen dann so gar nichts mehr übrig hatte! Daß ihr die Gewohnheit, einen Fremden für ihren Vater zu halten, diesen auch wirklich zum Vater gemacht!

Ihre Mutter war nervös – sie lieblos gewesen. Das konnte so manches erklären, was ihr heute morgens aufgefallen war. Warum aber hatte Lucrezia geweint? Warum war sie jetzt so beflissen, die Spuren ihrer Tränen einem anderen Übel zuzuschreiben? Warum? Ja, sie würden jetzt wohl kein Ende mehr nehmen, diese »warum«. Wer da nur einmal zu fragen begann, bekam zuletzt mehr Antworten, als ihm lieb war und mußte weiterfragen, ob er wollte oder nicht.

Sie waren überhaupt seltsam heute ... Alle, alle! Die Ziani von einer Liebenswürdigkeit, die fast etwas Demütiges hatte. Lucrezia gesprächig wie sonst nie, wenn eine Migräne in Anzug war und Flavio saß da wie einer, der plötzlich um fünf Jahre älter geworden ist. Selbst seine Stimme schien eine andere.

Nur Anita war so laut und ungezwungen wie gewöhnlich. Weilte man in der Sommerfrische, durfte auch sie »mit den Großen« essen und was sie etwa in Rom versäumt hatte, pflegte sie in der Billegiatur reichlich nachzuholen. Jeden Augenblick hatten Mademoiselle Ange oder Prospero etwas an ihr zu tadeln. Mit besonderer Vorliebe mengte sie sich in das Gespräch der Großen. Auch der Klatsch der Dienstboten fand zuweilen eine drollige Chronistin in ihr. Halberlauschte Gespräche und unverstandene Worte fügte sie oft zu Erzählungen zusammen, die schon manchen Verdruß bereitet hatten. Denn Anita horchte auf alles, fragte nach allem und kam überall hin. »Die wird einmal eine gute Hausfrau!« pflegte Prospero zu sagen. Die Domestiken haßten sie schon jetzt wie eine solche. Wollte man Ruhe haben, so war es am besten, sie eine Weile scheinbar anzuhören. Zuletzt wurde sie selbst müde.

Mademoiselle Ange hatte eben von ihrem Beichtvater erzählt, einem in ganz Sorrent verehrten Priester, als Anita laut wurde ... »Da ist ein Stein im Bade!« schrie sie über den Tisch hinüber.

Mademoiselle Ange, noch immer ganz Erbauung, überhörte es und da Nino eben das Eis herumgab, fand sich auch sonst niemand, der Anita sofort ablenkte.

»Da ist ein Stein im Bade,« fuhr Anita hartnäckig fort und während sie mit ihrem Eislöffelchen an den Glasteller schlug, kreischte sie, puterrot im Gesicht: »auf dem ist einmal eine nackige Frau gesessen!«

»Pfui, Anita!« rief Mademoiselle Ange. »Wer wird solche Dinge reden!«

»Aber Erminia hat es doch auch geredet!« schrie Anita zurück. »Und Paolo ist in der Nacht baden gegangen, weil er geglaubt hat, daß er die nackige Frau findet!«

Die kleine Gesellschaft saß eine ganze Weile starr. Paolo war Prosperos Reitknecht. Ein ziemlich alter, durchaus solider, dabei äußerst geiziger Sizilianer, der zu alledem an einer geradezu krankhaften Wasserscheu litt. So daß keiner der Anwesenden sich Paolo in einer Situation denken konnte, die ihn mit einem nackten Weib und dem – frischen Wasser zusammenbrachte. Ja, diese Vorstellung hatte für alle etwas so Belustigendes an sich, daß Prospero, wenn auch wider Willen, in ein herzliches Gelächter ausbrach, in das der Reihe nach auch die anderen einstimmten; selbst Nino, der Bediente. Obwohl er durch eine jähe Verlegenheit verriet, daß er immerhin mehr von der ganzen Angelegenheit wisse.

»Nun sag' mir einer, wie sie das zusammengebracht hat!« lachte Prospero mit Tränen in den Augen und während er sich an Nino wandte, fragte er: »Weißt du etwas davon?«

»Das ist so, Ezzellenza,« berichtete Nino. »Erminia hat neulich in der Küche erzählt, daß Donna Ziani beim Baden einen heidnischen Altar gefunden. Das hat der Paolo gehört, und da hat er sich gedacht: Wo der Altar ist, wird auch die Diva sein! Und dann ist er ins Wasser gestiegen, um die Statue zu suchen, die ja viel wert wäre, wenn man sie fände. Die halbe Nacht hat er herumgefischt in seinem Geiz, aber wenn er auch nichts gefunden hat, gut war es doch!«

»Warum?« fragte Prospero.

» Dio mio!« kam es zurück, »weil er seit der heiligen Taufe nicht wieder gewaschen worden ist!«

»Und das mit dem Altar – ist das richtig?« fragte Prospero mit einem Blick nach der Ziani.

»Sogar die Buchstaben kann man in der Platte greifen!« nickte Elena.

»In dieser Tiefe?«

Elena lächelte. »Ich bin eine gute Taucherin.«

»Dann wollen wir der Sache doch nachgehn,« meinte Prospero ernst. »Selbst wenn wir nur eine Platte herausbringen ... eine Antike ist es doch. Die könnte man hier im Garten aufstellen, etwa zwischen den Schlingrosen. Meinst du nicht auch, Lucrezia?«

»Den Altar einer heidnischen Göttin?«

»Um welche Göttin handelt es sich denn?«

»Um die Schutzgöttin des Julischen Hauses,« erklärte Elena, »deren Tempel auf jenem Vorsprung gestanden ist!«

»Also die Venus Genetrix!« sprach Flavio langsam.

Es war das erstemal, daß er wieder ein Wort der Ziani aufnahm und Elenas schöne Augen dankten ihm dafür mit einem Blick, der eine ganze Weile in dem seinen ruhte.

»Ein Venusaltar in diesem Hause?« wehrte Lucrezia heftig ab. »Nie. Meinetwegen kann er in unsere Antikensammlung kommen. Aber hier ... wo meine Töchter herumgehn ...? Du hast doch eben gehört, welche Vorstellungen sich damit verknüpfen!«

»Denk' an die kapitolinische Venus!« widersprach Prospero, »zu deren Füßen ein Papst seinen Namen eingraben ließ. Aber ... du hast heute deine Kopfschmerzen,« meinte er nachsichtig.

»Auch war die Vorstellung, die sich mit dieser Göttin verknüpfte, eine wirklich reine!« warf Flavio ein. »Da sie zugleich als die Mutter des Äneas galt und Äneas als der Stammvater der Lateiner angesehen wird, ist sie sozusagen unser aller Mutter. Soferne wir nämlich Römer sind! Und wenn Rom jetzt auch christlich ist – seine große Vergangenheit ist im Sonnenglanz dieser Göttin ausgeblüht.«

»Das sagst – du?« stammelte Lucrezia.

Elenas Augen aber leuchteten auf. Und während ihr Blick wieder mit dem Flavios zusammentraf, sprach der junge Chietti feurig: »Das wird jeder sagen, der stolz ist, ein Römer zu sein!«

»Wir haben jetzt doch das Marianische Rom. Du selbst trägst die Medaille!«

Flavio schielte unwillkürlich zu Elena hinüber, als fürchte er aufs neue ihr Lachen. Aber sie saß ganz ruhig da: die Hände im Schoß gefaltet und nickte leise vor sich hin. Und Flavio, noch trunken von ihrem Blick und gierig nach ihrem Beifall, sprach fest: »Liebe Mama ... wenn diese Medaillen oft reden könnten!«

In diesem Augenblick sah Alba gerade zu ihrer Mutter hinüber und merkte, daß Lucrezia erblich, dann errötete und plötzlich wie schwindelnd die Augen schloß. »Ich sagt' es ja! ... der Kopf!« stammelte sie mit einer hilflosen Gebärde.

»Darum wollen wir diese Sitzung aufheben!« rief Prospero. »Schnell, schnell, gib mir deinen Arm!«

Müd und langsam ging sie hinaus.

»Auch sie trägt eine solche Medaille!« dachte Alba verstört.

Flavio hatte für den Nachmittag eine kleine Küstenfahrt vorgeschlagen, die um so angenehmer werden konnte, als die Barke, längs des Nordufers dahingleitend, immer im Schatten blieb. Auch Prospero wollte mitfahren und sich bei dieser Gelegenheit von Elena beiläufig die Stelle zeigen lassen, wo ihrer Meinung nach der versenkte Altar der »Venus genetrix« lag. Morgen mit dem Frühesten wollte er versuchen, das vergessene Heiligtum wieder ans Licht heben zu lassen. So herzlich er auch über den wasserscheuen Sizilianer gelacht hatte, die Aussicht, mit dem Altar vielleicht doch auch die Göttin zu finden, erschien ihm selbst nicht weniger lockend. Denn so fromm Prospero war, seine Antikensammlung betrachtete er als einen Ruhm des Hauses und wenn er der marmornen Schätze gedachte, die die Päpste dem Schoß der Erde und der Tiefe des Meeres entwunden, sah er nicht ein, warum er päpstlicher sein sollte als der Papst.

Als man sich anschickte, die Treppe hinabzusteigen, um zu der Landungsstelle der Barke zu gelangen, fehlte Alba. Mademoiselle Ange, die man der Säumigen entgegensandte, meldete betrübt, daß Alba nun auch nicht ganz wohl sei. Ob vielleicht sie an ihrer Stelle mitfahren dürfe? Die Prinzipessa sei damit einverstanden und Anita bei der Bonne und Erminia gut aufgehoben. So fuhr die kleine Gesellschaft ab.

Im Hause herrschte die dumpfe Stille der Siesta. Dieses wie von einer bangen Erwartung zitternde Schweigen war Alba plötzlich so schwer auf die Seele gefallen, daß sie ein Unwohlsein vorschützte, nur um in der Nähe der Mutter bleiben zu können. Von denen, die munter ins Meer stachen, ahnte ja keines, was in Lucrezias Seele eigentlich vorging. Sie aber wußte es. Sie hatte mit Worten, die schlimmer als vergiftete Dolche waren, kalt und grausam ein Weh hervorgewühlt, das in dem armen Herzen vielleicht schon langsam zur Ruhe gekommen ... eine Wunde wieder geöffnet, über die wer weiß wieviel Tränen hingeflossen, bis Gottes milde Hand sie endlich geschlossen hatte. Was Lucrezia aber auch getan haben mochte – fürchterlicher als das Gefühl ihrer Schuld mußte die Gewißheit sein, vor dem eigenen Kinde nun in der Nacktheit der Sünde dazustehen. Einer Sünde, die die Scham der Mutter und der Frau so todesbang gehütet, so hingebungsvoll bereut – um nun doch von ihrem Fluch ereilt zu werden.

» Wenn es so war ... wenn es so war!« sagte sich Alba noch immer. Welche Anhaltspunkte hatte sie eigentlich? Lucrezia war stets fromm gewesen, hatte in ihrer Gegenwart wie oft den Salesianerinnen ihr Bedauern ausgesprochen, nicht auch »zur rechten Zeit den Schleier genommen zu haben«. Konnte es ihr nicht wirklich ein Herzenswunsch sein, wenigstens ihr Kind dem Himmel gerettet zu wissen?

Nun aber diese seltsame Verwirrung heute morgens. Dieses ängstliche Ausweichen, so oft die Rede darauf kam, warum die Ziani ins Kloster müsse. Diese heimlich geweinten, laut verleugneten Tränen. Und worüber Alba schon ganz und gar nicht hinwegkam: die Erinnerung an die scheue Zärtlichkeit, mit der sie im Gegensatz zu Anita und Flavio behandelt worden war – diese ewige Zurücksetzung! War sie keine Chietti, bekam dies alles erst einen Sinn, ebenso wie Lucrezias Frömmigkeit, die stets mehr Reue und Zerknirschung war, als ein fröhliches Aufgehen der Seele in Gott.

Und es war so still im Hause ... so totenstill.

Was tat die Ärmste jetzt? Jetzt, wo sie alle fort glaubte, auch Alba.

Eine sinnlose Angst bemächtigte sich plötzlich des jungen Geschöpfes und mit der Angst kam eine brennende Reue über sie. Die Sehnsucht, sich der Mutter zu Füßen zu werfen; sie um Verzeihung zu bitten, zu sehn, was sie eigentlich tat. Sie war ja so allein jetzt, so ganz allein, die Arme!

Da kam ihr ein Gedanke. Ihr Zimmer lag gerade über dem Schlafgemach Lucrezias und die Fenster beider sahn nach dem Meer hinaus. Der Fels, auf dem dieser Flügel der Villa stand, fiel hier scharf zum Meer ab und das Stück Gartenland, das man ihm abgewonnen, war so eng und klein, daß nie jemand hierher kam. Schlich Alba also nach ihrer Stube, konnte sie, wenn sie durch das geöffnete Fenster hinablauschte, wenigstens hören, was im Zimmer ihrer Mutter vorging. Denn auch Lucrezias Fenster standen immer offen ... zu ihr hineinzugehen, fand sie noch nicht den Mut.

Langsam schlich Alba die Treppe empor. Vor ihrer Stube angelangt, legte sie auch die Schuhe ab. Leise trat sie ans Fenster und beugte sich lauschend hinab.

Die Luft schrillte vom eintönigen Gezirp der Zikaden. Ab und zu gab das Meer einen dumpfen Laut von sich. Aber – was war das?

Ein herzzerreißendes Geschluchz drang an ihr Ohr. Zuweilen setzte es aus, um in ein klagendes Gewimmer überzugehen, das, so leis' es auch war, nur um so schrecklicher wirkte, weil man ordentlich fühlte, mit welch übermenschlicher Kraft die Weinende an sich hielt, um nicht in laute Schmerzensrufe auszubrechen. Dazwischen kam oft ein Ton, wie durch frostklappernde Zahne hervorgestoßen, und ein Gestöhn – so hoffnungslos und verzweifelt, als bebe die Agonie einer Seele darin. Und das litt ihre Mutter ... stumm, hilflos, allein – ihrethalben!

Im nächsten Augenblick stand Alba wieder draußen. Sie zog ihre Schuhe an und flog die Treppe hinab ... Wie die Arme litt! Und knapp unter ihr rauschte das Meer! Ein Sprung in seine Tiefe wäre ja weniger entsetzlich gewesen, als dieses herzzerfleischende Leid, diese Tränen, die ebenso viele Blutstropfen waren!

Um in das Zimmer ihrer Mutter zu gelangen, mußte Alba erst einige andere Gemächer durchschreiten. Sie ging absichtlich langsam und trat dabei fest auf, so fest als möglich, damit die Weinende sie ja höre und wenigstens Zeit gewinne, sich zu sammeln. Leise pochte sie an.

»Wer ist's?« kam es zurück; laut, fest – mit einer Stimme, die wieder ganz die der Fürstin Chietti war.

»Ich, Mama!«

»Du–u?« Sie dehnte das Wort, offenbar um Zeit zu gewinnen. Aber gerade das erhöhte Albas Angst. Noch konnte die Mutter ihr verbieten, einzutreten, und um diesem Verbot zuvorzukommen, klinkte sie rasch die Tür auf.

»Ich wollte nur sehn, wie es dir geht!« sprach sie, eintretend.

»Ja ... bist du denn nicht mit nach Massa gefahren?«

»Mir war nicht recht wohl,« log Alba. »Aber du ... wie geht es dir?«

»Besser, besser,« murmelte Lucrezia im Vertrauen auf den grünlichen Schatten, den die vor die Fenster gezogenen Marquisen in das Zimmer warfen. Und während sie Alba die blasse Hand entgegenstreckte, lächelte sie mühsam: »Abends bin ich schon wieder bei euch!«

»Darf ich dir nicht einen Umschlag geben, Mama? Du hast so gar nichts gegen dein Übel getan!«

»O, ich hab' mein Pulver genommen und auch ein wenig geschlafen. Der Schlaf, weißt du, ist immer das beste, wenn man Migräne hat.«

Alba erwiderte nichts. Trat aber an den Waschtisch und tauchte ein Handtuch so tief als möglich ins Wasser, wand es sorglich aus und kehrte, immer auf den Fußspitzen dahingleitend, leise ans Bett der Mutter zurück. »Das mußt du dir jetzt schon gefallen lassen,« lächelte sie. Hierauf legte sie das nasse Tuch leise, leise auf die Stirn und auf die armen, brennenden Augen.

»Ach, wie wohl das tut!« atmete Lucrezia auf.

»Warum hast du denn nicht der Kammerfrau geschellt?« fragte Alba wie in vollem Glauben.

Lucrezia schloß unter dem Tuch noch fester die Augen. »Ich wollte – ja schlafen ... Aber – weißt du, es ist doch schön, daß du gekommen bist!«

Plötzlich stürzten ihr förmlich die Tränen hervor und flossen über die blassen Wangen, immer rascher, immer reichlicher, so fest auch ihre Lider geschlossen blieben.

»Mama, du – du machst mir Sorge!« stammelte Alba.

Lucrezia schüttelte bloß das Haupt und mit der Hand, die noch immer Albas Rechte hielt, zog sie langsam ihr Kind an sich und während sie das Haupt des jungen Geschöpfes zärtlich an das ihre bettete, flüsterte sie immer wieder: » Alba mia ... Alba mia! «

»Vielleicht sagt sie mir jetzt, was sie auf der Seele hat!« dachte Alba.

Aber Lucrezia blieb stumm.

Auf's neue empfand Alba, daß dieses tiefe Schuld- und Schamgefühl der Frau immer wieder zwischen ihr und ihrer Mutter emporsteigen werde, ihr ebenso den Mut nahm, zu fragen, wie es ihr das Glück genommen hatte, voll und ganz von dieser Mutter geliebt zu werden.

»Dir fehlt noch etwas, Mama!« sprach sie wie mit leisem Vorwurf.

Lucrezia fuhr auf und trocknete sich die Tränen. »Nein, nein,« wehrte sie fast ängstlich ab. »Es ist nur ... gestern dieser Scirocco und heute meine Nerven. Flavio hat mich auch gekränkt ...«

»Wie sie lügt!« dachte Alba voll Mitleid. »Und wie schrecklich ihr das sein muß, bei ihrer Frömmigkeit!« Laut aber sagte sie: »Flavio ist eben auch wieder älter geworden. Und weißt du ... wenn man seine Eltern auch noch so verehrt – so ganz, wie sie wollen, kann man doch nicht werden.«

»Sagst du – sagst du das auch von dir?« fragte Lucrezia. Ihre geröteten Augen öffneten sich weit und ruhten mit dem Ausdruck solcher Todesangst auf ihr, daß Alba um nichts in der Welt den Mut gefunden hätte, ja zu sagen.

»Ob du das auch von dir sagst?« fragte Lucrezia noch einmal und ihre Hände klammerten sich dabei an Albas Arm – fest und krampfhaft, als läg' es in der Kraft dieses jungen Geschöpfes, sie mit einem einzigen Wort dem Leben zu erhalten oder hinabzustoßen für immer.

»Warum fragst du mich, Mama?« hauchte Alba schwach.

»Weil ... du weißt doch, was du mir versprochen hast, nicht wahr? Das weißt du noch?« stieß Lucrezia hervor, ohne den brennenden Blick von Alba zu lassen.

»Ja,« murmelte Alba, nach Atem ringend, »ja!«

»Und du – du wirst es tun, nicht wahr? Zu deinem Heil und – und deiner armen Mutter zulieb?«

Einen Augenblick war es Alba, als empöre sich mit einem Male alles in ihr, Jugend, Kraft, das dumpfe Ahnen von der Schuld dieses Weibes und das unter Kampf und einsamem Ringen neugewonnene Wissen vom Leben. Und mit der Empörung trat ihr eine Frage auf die Lippen, die ihre Mutter gewiß wehr- und fassungslos gemacht hätte, plötzlich, mit einem Schlag ... »Warum verlangst du nicht von Anita das gleiche? Oder von Flavio? Warum gerade von mir?«

Möglich, daß Lucrezia begriff, was jetzt in ihrer Seele vorging, diese Frage voraussah und um alles in der Welt verhindern wollte. Alba wenigstens erinnerte sich nicht, jemals ein Menschenantlitz gesehen zu haben, in dem die Angst vor dem, was nun kommen könnte, so bleich und fürchterlich gestanden wäre. Dabei zuckten diese blassen Lippen so krampfhaft, daß es Alba unmöglich schien, die Mutter könne jetzt auch nur ein Wort hervorbringen. Und doch, es gelang ihr.

»Wenn du deine Mutter liebst ... wenn dir daran liegt, daß sie weiter leben kann, Alba – tust du es!« stieß sie hervor. Die Hände, die ihren Arm noch immer umklammert hielten, waren so eiskalt, daß ein Schauer von ihnen ausging und ihren Worten förmlich einen drohenden Sinn gab ... einen Sinn, der auch wie eine frostige Hand in Albas Herz griff und ihr dieses arme, schuldgehetzte Weib so erscheinen ließ, wie es vielleicht dann vor ihr läge – tot!

Mit leiser, aber fester Stimme erwiderte sie: »Ja, Mama, ja ... das Probejahr wenigstens mach' ich gewiß, wie ich es dir versprochen habe.«

»Gott wird dir gewiß auch die Kraft für das andere geben!« rief Lucrezia mit einem ekstatischen Blick und während sie die Hände zurückzog und über der Brust zusammenlegte, betete sie, tief aufatmend: »O Gott, habe Dank!«

»Wird es dir jetzt besser werden, Mama?« fragte Alba, da Lucrezia eine ganze Weile schwieg und noch immer totenblaß in den Kissen lag.

»O wie wohl, wie wohl mir jetzt sein wird, meine Alba!« flüsterte Lucrezia wie eine Erlöste und wieder begannen ihre Tränen zu fließen. Aber ihr Mund lächelte dazu, selig, froh, fast naiv und mit diesem Lächeln auf den Lippen schlief sie langsam ein.

Stumm sah Alba auf die Schlummernde nieder, deren Wangen sich wieder leise röteten, deren zarter Leib noch im Schlaf dann und wann von einem leichten Schluchzen erschüttert wurde, wie der Leib eines Kindes, das sich müde geweint. Und plötzlich kam sich Alba nicht nur stärker, sondern auch um vieles älter vor. War dies ihre Mutter, die da lag und schlief? Dieses Weib, das gesündigt, ohne zu wissen, was es tat, sich vor Gott zerfleischte, ohne zu fragen, ob er es begehrte und nun von ihr das Opfer eines Lebens verlangte, um einmal selig zu werden ... sich dann auf die Seite legte und lächelnd einschlief, wie ein Kind, dem man versprochen, die Sterne vom Himmel zu holen?

»So ganz anders als ich,« dachte Alba, an der die eigene Jugend plötzlich mit dem heroischen Schritt der neuen Zeit vorüberging.

Aber wie dieses große Kind da vor ihr lag und schlief, fand sie nicht einmal den Mut, ihren Arm unter dem Polster hervorzuziehen, auf dem dieses lächelnde Antlitz so selig ruhte.

Schon am nächsten Morgen erschienen die Arbeiter, die den Altar zwischen den Klippen des Bades hervorholen mußten; mit ihnen ein Taucher, der noch tiefer hinabsteigen sollte. Hoch auf den Treppen, die zum Bade hinunterführten, stand die ganze Familie Chietti bis auf Anita und ihre Bonne. Nur Lucrezia hielt sich absichtlich ferne. War es ihr schon nicht gelungen, Prospero von seinem Vorhaben abzubringen, so wollte sie wenigstens nicht dazu beitragen, dem heidnischen Fund auch durch ihre Gegenwart zu einer Art Auferstehungsfeier zu verhelfen. Mochte Prospero verantworten, was er tat.

Es war wieder ein schwüler Sciroccomorgen und bald troff den Arbeitern der Schweiß von der Stirn, obwohl sie bis an den Hüften im Wasser standen. Mit Schiffstauen und riesigen Enterhaken ausgerüstet, harrten sie, bis der Taucher die Stricke um den von Elena bezeichneten Block gelegt hatte. Dann schlugen sie die Haken in die Knoten und begannen, Klippe um Klippe und Treppe um Treppe emporsteigend, den schweren Block langsam heraufzufördern. Sie stießen dabei abwechselnd einen langgezogenen Ruf aus, der, monoton und melodisch zugleich, etwas seltsam Erregendes, fast Feierliches in sich hatte, wie der rhythmische Refrain eines Gebetes oder gewisser Wallfahrtsgesänge. Dabei waren es Worte, die nicht nur keinen Sinn hatten, sondern auch einer völlig fremden Sprache anzugehören schienen.

»Weißt du, was sie da rufen?« fragte Alba das Kindermädchen Anitas, die als geborene Neapolitanerin den verrotteten Dialekt ihrer Landsleute gewiß sehr gut kannte. Aber Gilda schüttelte lächelnd das Haupt, wie erstaunt, daß man sich um so etwas kümmern möge.

»Sie rufen ja immer dasselbe hier, wenn sie etwas in die Höhe bringen wollen, seit ich denke!«

»Gut, gut. Aber was rufen sie?«

»Das hat noch kein Mensch gewußt!« lautete die Antwort.

Aber Elena, die dabei stand, meinte ruhig: »Es wird eine orphische Formel sein.«

»Was ist das?«

»Eine uralte und geheimnisvolle Anrufung der Unterirdischen, wie sie bei den eleusynischen Festen üblich war.«

»Aber das sind doch keine Griechen!« lachte Alba.

»Die Worte klingen aber griechisch. Ich hab' mir das schon früher gedacht. Und als ich einmal einen gelehrten Freund meiner Tante fragte, hat er es bestätigt. Und Ciriako sagt es auch.«

»Wie käme man hier zu griechischen Worten?«

»Hier?« Elena lachte auf. »Blättere doch in deiner Geschichte nach. Die alte Parthenope hat wahrscheinlich mehr Griechenblut in sich, als wir ahnen. Und glaubst du, daß die Äneas-Sage wirklich ganz Fabel ist? Ich, siehst du, ich glaube so gewiß eine Trojanerin zu sein, als ich die Festen Trojas in meinen Träumen schon brennen gesehen habe und durch die dunklen Gänge einhergeflohen bin, als hätt' ich sie von klein auf gekannt.«

»Phantastin du!« neckte Alba; »am Ende bist du gar Kassandra selbst?«

Elena sah eine Weile mit einem ihrer starren Blicke vor sich hin. Langsam erwiderte sie: »Und wäre das so viel wunderbarer, als daß ich jetzt dastehe und Elena heiße? Wissen wir, was uns von einem Mutterschoß zum anderen mitgegeben wird und woher diese Träume kommen, von Menschen und Ländern und Räumen, die wir nie gekannt, nie gesehen, nicht einmal bei wachem Bewußtsein uns vorgestellt haben und im Schlaf plötzlich vor uns sehen und so selbstverständlich finden wie unser waches Leben? Weißt du und ich, zu welchem Traum sich nach tausend Jahren im lebendigen Blut unserer Enkel vielleicht der Augenblick gestalten wird, den wir jetzt als Wirklichkeit erleben?«

»Elena,« rief Alba hingerissen – »dich sollte jetzt ... Signore Miller sollte dich jetzt hören!« setzte sie leiser hinzu.

Flavio, der nahebei stand, sagte nichts. Aber seine Augen ruhten mit einem seltsamen Glanz auf Elena und in seinem Blick war eine süße Trunkenheit. Wie um sich nicht allzusehr zu verraten, trat er zwei Stufen tiefer hinab und sprach mit einem gewissen Doppelsinn, dessen Süßigkeit nur von Elena genossen wurde: »Warum soll auch immer nur die Vergangenheit ihre Wunder haben und nie die Gegenwart? Mir kommt es schon wie ein Märchen vor, daß hier uralte Worte lebendig geblieben sind, die kein Lebender mehr versteht. Und daß wir vielleicht noch heute einen toten Stein emporheben werden, dem einmal göttliche Ehren erwiesen wurden und den so und so viel tausend Lebendige dabei vielleicht mit denselben Worten angerufen haben, die wir jetzt nicht verstehen. Wenn aber diese Worte dem toten Stein wieder entgegenschallen, werden Stein und Worte für einen Augenblick wieder genau so lebendig sein wie damals. Denn jedes Wort sagt immer noch einmal so viel, als wir damit zu sagen meinen. Glauben Sie das nicht auch, Donna Elena?«

Wie seine Stimme bebte! Ein Schauer rann durch Elenas junge Seele. Als hätten das Meer und die Erde und alle Himmel zu ihr gesprochen ... O, wie nahe sie war, die Göttin, die sie noch suchten!

Tief aufatmend erwiderte sie: »Warum sollt' ich nicht, da ich es doch eben erlebe?« Auch ihre Antwort barg einen Doppelsinn, der den anderen fremd blieb. So reichten sich ihre Seelen in scheinbar gleichgiltigen Worten die Hände – hoch über die Häupter der anderen hinüber, wie die vergessenen Worte der alten Kultformel den Atem der Lebenden in sich sogen, die den Altar einer versunkenen Göttin ans Licht hoben.

Da – ein mächtiger Zug der hakenbewehrten Stangen ... ein knirschender Ruck: erst an den Klippen, dann an der untersten Stufe des Bades.

» Piano – piano!« schrie Prospero aufgeregt.

Aber schon war die kostbare Last in Sicherheit. Um sie ohne Schaden ganz über Wasser zu heben, mußten nun die Arbeiter von unten nachstemmen.

»Die Inschrift – die Inschrift!« rief Elena wie außer sich. Ihr Kleid leicht emporraffend, war sie auf die unterste Stufe gesprungen und tastete nun mit den schlanken Fingern den Stein ab, über den noch einmal – und vielleicht zum letztenmal – das blaue Naß des Elements rollte, dem Aphrodite entstiegen.

Schon war Flavio hinter ihr. »Kann man das wirklich so deutlich fühlen?« fragte er, mit einem seltsamen Vibrieren in der Stimme.

»Doch – hier!«

Und unter dem Wasser trafen sich ihre Hände und hielten sich eine ganze Weile fest, auf dem Altar der » Venus genetrix«.

In diesem Augenblick stieg der Taucher empor und, seinen Helm lüftend, schrie er voll Erregung: » Eccelenza ... Eccelenza!«

»Ja, ja?« rief Prospero in atemloser Spannung.

Der Neapolitaner spie erst einen Mund voll Salzwasser von sich, pustend, schnaubend wie ein Meergott anzusehen, der mit kupferroter Brust aus der Tiefe emporjappt ... Dann schüttelte er den Tang von sich und während er beide Arme von sich streckte, kreischte er triumphierend: » La Diva e trovata!«

Prospero sprang fast in die Luft vor Entzücken. »Wo – wo?« Es war wie ein Fieber, das alle ergriff, daß sie schrien, lachten, jauchzten und vor Freude weinten.

»Die Göttin ist gefunden!«

Bis zur Terrasse der Villa stieg das Geschrei aus der Tiefe, daß Lucrezia sich unwillig abwandte und in aller Eile ein Kreuz schlug. »Göttin – Göttin?!« Sie wußte zu gut, daß es der Teufel war!

» Le corde – le corde!« rief der Taucher aufs neue.

Rasch warf man ihm die Seile zu und wieder verschwand er in der lapislazuliblauen Tiefe. Nicht lange und ein heftiger Ruck an einem der Seile zeigte den Arbeitern an, daß nun auch die Göttin geborgen werden könne.

» E un diavolo!« kicherte Prospero voll Entzücken über den Taucher. Er war einfach außer sich. Denn, wahrhaftig! Ein schlechtes Kunstwerk würde den Tempel der Julier nicht verunziert haben.

Wieder kam der Taucher empor, riß den Helm vom Haupt, schüttelte Tang und Algen von Armen und Schultern. Seine Augen leuchteten. Er war nur ein schlichter Mann, der als armer Junge in der blauen Grotte von Capri mit dem Tauchen begonnen hatte, für einige Soldi täglich, so oft es die zugereisten » Inglesi« und » Tedeschi« eben wollten. Aber in diesem Augenblick erfüllte dieselbe Andacht seine Seele, die über ihm den Sproß des fürstlichen Hauses in Erwartung eines herrlichen Anblicks erbleichen ließ. Und mit der frommen Ehrfurcht, die auch dem letzten Italiener jedes Kunstwerk als eine Emanation des Göttlichen erscheinen läßt, stammelte er ergriffen: » O Eccellenza, quanta bellezza!«

Er warf seinen Helm von sich und sprang aufs neue in die Flut zurück, wo er, bis an die Hüften im Wasser stehend, mit vier anderen des Augenblicks harrte, der das Kunstwerk bis in die Höhe der Stufen brachte. Darauf sollte es, von ihren kräftigen Nacken langsam emporgestemmt, ohne Fährlichkeit endlich ans Licht gehoben werden.

Wieder diese Minuten fiebernder Aufregung, höchster Spannung.

Noch gehörte der köstliche Schatz den Unterirdischen. Ein Seil konnte reißen, eine machtvoll anschlagende Woge den göttlichen Leib an eine Klippe schleudern – die Nereiden ihn eifersüchtig aufs neue hinabziehn in eine Tiefe, die vielleicht kein Menschenauge mehr maß. War sie verstümmelt oder noch so vollendet, wie sie dereinst aus der Hand des Künstlers hervorgegangen? Prospero wagte nicht zu fragen. Der Kopf saß jedenfalls noch fest. Hätte der Taucher sonst mit einem solchen Entzücken von ihr gesprochen? Wie es geschah, daß sie so heil hinabgekommen war – mitten zwischen die Klippen? Oder waren diese Klippen einmal ein Teil des Strandes gewesen? Zu einer Zeit, da sich die salzige Flut noch nicht so weit ins Land gebissen? Und die göttliche Gestalt lag unten im weichen Sand, jahrzehntelang, vergessen und gemieden, bis eine Woge nach der anderen darüber hinging? Wer konnte es wissen!

In diesem Augenblick stieß Elena einen Schrei aus, wild, kreischend, wie ein Möve ... »Der Kopf, der Kopf!«

Und – ja! Da tauchte es schwankend aus den Fluten empor ... langsam, langsam von den braunen Stiernacken der Arbeiter getragen und geschoben ... noch halb verhüllt von den blaugrünen Schleiern der Wasser, auf- und niederschaukelnd, aber doch schon in göttlicher Schöne das Licht grüßend und die Menschen, die ihm zujubelten: das Antlitz der Göttin! Und unter dem nackten Marmorleib die bronzefarbenen Häupter der keuchenden Neapolitaner, die mit hervorquellenden Augen der schweren Last stand hielten und dabei pustend und schnaubend das Salzwasser von sich spien, das ihnen trotz aller Vorsicht doch immer wieder in die jappenden Mäuler schlug.

Es war ein Anblick als kämen fünf Tritone angeschwommen, die sachte, sachte eine schlummernde Göttin ans Land trugen. Und die Wogen schluchzten einen letzten Abschiedsgruß. Wie zu einem Fest entzündet, funkelte weit hinaus das Meer, das Aphrodite noch einmal gebar.

Dann stand sie da – unter sich ihren Altar und die Erde, diese blühende Erde, die einst ihr gehört!

Das Haupt mit einer Wendung voll entzückender Anmut über die rechte Schulter gekehrt, schien sie noch einmal das Meer zu grüßen, dem sie entstiegen oder irgend ein Gestade olympischer Wonnen, von dem die anderen nichts ahnten. Ihre Lippen lächelten – ein leises, lockendes, göttliches Lächeln, ein Lächeln, das für sich allein anbetungswürdig war. Leicht vorschreitend gedacht und ganz nackt, deckte sie mit den Händen der lose gekreuzten Arme die Scham. Kam sie von Anchises – ging sie zu Anchises? Zwischen Himmel und Erde dahinschreitend, war sie unterwegs, einen Sterblichen unsäglich glücklich zu machen!

Und dort hatten die Nachkommen des Äneas zu ihr gebetet ... ein göttliches Geschlecht, das der Erde Gesetze gab!

Bis in den späten Abend kamen die Freunde des Hauses Chietti, um das Wunder zu bestaunen und manche gingen mit stillem Neid von dannen. Schon in den nächsten Tagen würden alle Blätter der ganzen Welt die Wiederauffindung eines unschätzbaren Meisterwerkes der Antike melden und bloß drei Finger fehlten. Glücklicher Prospero!

» La diva! La diva!« scholl es den ganzen Tag durch den Garten. Bald schlug der Ruf auch von der Straße herein. Selbst die Barken, die draußen vorübersegelten, glitten so nah' als möglich heran, um wenigstens aus der Ferne einen Blick zu gewinnen. Um dem Ärgernis zu entgehn, fuhr Lucrezia nach Neapel zur Beichte. Fra Clemente wußte für alles einen Rat.

Endlich sank die Nacht herab. Hinter rötlichen Dunstschleiern stieg langsam der Vollmond empor. Die Luft zitterte noch von der Schwüle des Tages, aber ein leichter Ostwind, der plötzlich einsetzte, fegte Himmel und Erde rein.

Lucrezia hatte noch mit den Ihren gespeist, bevor sie über Castellamare nach Neapel gefahren und da sie es liebte, auch auf ihren Reisen bis zum letzten Augenblick einen ihrer Angehörigen um sich zu haben, gab ihr Flavio bis Castellamare zu Pferd das Geleite. Wie im Traum ritt er neben dem eleganten Coupé her, totunglücklich, Elena erst am nächsten Morgen wiedersehen zu können. Denn bis er heimkam, war es schon späte Nacht und sie würde schlafen. Ob sie das konnte, heute? Er schlief schon die dritte Nacht nicht!

Trotzdem ritt er sein Pferd auf dem Heimweg fast zu Schanden. Wenn er schon die Geliebte nicht mehr sah, wollte er doch wenigstens den Ort betreten, an dem ihr Blick ihn selig gemacht; ihr Händedruck ihm gestanden, daß sie sein wäre ... O, pfui, dieses endlosen Menschengeschwabbels, das sich fortwährend zwischen ihn und sie gedrängt. Nicht ein Wort mehr hatte er ihr zuflüstern können! Und als es ihm einen Augenblick möglich schien, war sie selbst wie ein scheues Reh vor ihm hergeflogen.

Aber da unten schimmerte jetzt der nackte Leib der Göttin durch die Nacht und zu ihren Füßen lag der Altar, auf dem die Hand Elenas in der seinen geruht, bebend, aber o, wie heiß, eine selige Minute lang!

Ob er noch etwas zu sich nehmen wollte, fragte der Diener, der ihn nach Mitternacht einließ. Er gab nicht einmal eine Antwort, warf dem Stallknecht bloß die Zügel zu und schritt über die Terrasse in den Garten hinab – totenbleich vor Erregung und doch leise, leise, damit niemand ihn höre.

Als er zum Strand hinabging, blieb er eine Weile stehn ... Wer plätscherte noch so spät im Bad herum? Oder täuschte er sich? Wie ärgerlich, wenn er jetzt hinabkam, ganz erfüllt von der Vorstellung der Geliebten und vielleicht den alten Sizilianer traf! Aber die Göttin war ja schon gefunden. Was konnte der hier noch suchen? Immerhin beschleunigte er seine Schritte und schlich zuletzt fast auf den Zehen dahin, von einer plötzlichen Unruhe ergriffen, über die er sich keine Rechenschaft geben konnte und die doch in ihm war und ihm fast den Atem nahm.

Hinter einem knorrigen Myrtengebüsch blieb er stehn, ließ seine Reitgerte zur Erde fallen und begann langsam die Zweige auseinander zu biegen. Es war die Stelle, von der man, ohne auf der Treppe stehn zu müssen, in das Bad hinabsehen konnte und doch selbst nicht gesehen wurde, und da das Meer bis weit hinaus in klarer Vollmondsbläue lag, konnte ihm auch der Badende nicht lange unsichtbar bleiben. Richtig – dort trieb es auf den Fluten einher ... ein schlanker, biegsamer Mädchenleib in Rückenlage – gerade nur die nötigen Tempi markierend: sicher und gewandt, wie eine flutenkundige Nereide – Elena! Fast hätte Flavio aufgeschrien vor Entzücken. Dann sah er nichts mehr als ihr bleiches Antlitz, das unverwandt zum Mond emporstarrte, voll und magisch von seinem Lichte beglänzt: daß man die weitgeöffneten, samtenen Augen darin sah und den entzückenden Mund und das kleine, neckische Baumellöckchen, das sich unter der Badekappe hervorstahl.

Hin und zurück – hin und zurück ging es in lässiger Sicherheit und hoch von der Treppe her zitterte der Schatten über sie hin, den der Marmorleib der Göttin auf die Flut warf. Und diese schlanken, nackten, lilienweißen Arme ... wie die jetzt duften mußten!

Als sänge das ganze Meer in seinen Ohren, so toste das Blut in ihm, daß er wie schwindelnd um sich greifen und sich festhalten mußte an dem bräutlichen Strauch der lavinischen Venus. Seine Lippen öffneten sich, sein Atem stockte, lachen und weinen zugleich hätte er mögen. Aber nein ... süßer als alles war dieses schweigende Genießen. Die ungestörte Ruhe der Geliebten, die ihm in naiver Sicherheit jede Linie ihrer Formen preisgab.

Plötzlich warf sich Elena herum und schwamm mit zwei kurzen, sicheren Stößen auf die Treppe zu. Stufe um Stufe stieg sie empor und von ihren nackten Armen und Beinen fiel langsam Tropfen um Tropfen, blauschimmernd im Mondlicht, daß es wie eine magische Spur hinter ihr herblitzte.

Hatte sie ihre Kleider in der Badehütte abgelegt? Er wollte warten, bis sie wieder hervorkam, um ihr zu sagen, was er nicht länger in sich verschließen konnte.

Aber nun – was tat sie? Schon nestelten ihre Finger an dem Badekleid. Im nächsten Augenblick warf sie es von sich und stand nun da, in der lilienhaften göttlichen Nacktheit ihrer Unschuld und Jugend. Völlig sicher, von niemandem gesehen zu werden, als von der Nacht und von den Sternen, und dort – ja dort entdeckte er jetzt auch das dunkle Häuflein ihrer Kleider.

Einen Augenblick schien es, als wollte sie an die Toilette gehen. Aber plötzlich warf sie das Haupt herum, daß ihre schwarzen Locken sich lösten und in langen Ringeln über ihre Schultern fielen, tiefer, immer tiefer, bis an die schlanken Hüften. Dann hob sie beide Arme der marmornen Göttin entgegen: Hoch, schön, mit der Geberde der Oranten und während sie das Haupt tief in den Nacken zurückbeugte, betete sie in lauter, seliger Verzückung: »Flavio – gib mir Flavio!« Sie bog sich zur Seite und riß die heiß duftenden Riesenglocken eines Daturastrauches herab und warf sie, die Lippen in einem unverständlichen Gemurmel bewegend, langsam zu den Füßen der Göttin hin.

Hatte ihn ein Sturm zu ihr hinabgetragen, daß er alles vergaß, ihre Nacktheit und seine Angst, sie zu verscheuchen? Oder war er wirklich wie ein anderer Mensch da hinuntergekommen? Er fühlte nichts als den weichen Mädchenleib, den er von rückwärts an sich riß ...

»Flavio willst du? Hier ist er!« Und ihr Schrei erstickte unter seinen Küssen.

»Nicht so – nicht so!« wehrte sie ihn ab. Aber ihr Herz pochte an dem seinen, ihre jungen Brüste dufteten wie zwei Daturakelche zu ihm empor, ihre Lippen sagten nein und ließen sich doch immer wieder finden. Ihre samtenen Augen aber schwammen voll mondblauer Tränen ... ihr Haupt fiel zurück, und während diese Tränen langsam zwischen ihren geschlossenen Lidern hervorperlten, murmelte sie gleichsam vergehend: »O meine Mutter – wie du!« Ihr Antlitz erblich, wie eine Sterbende lag sie in seinen Armen.

Das brachte ihn zur Besinnung. Langsam gab er sie frei und mit unsäglich sanfter Stimme sprach er: »Nein, Elena, nicht so ... Verzeih' meiner Leidenschaft, was ich getan, meiner Liebe aber sag', ob du einmal mein Weib sein willst!«

Ihre Augen öffneten sich wieder – starrten ihn an: in stummer, seliger Fassungslosigkeit. Sie sagte nicht ja – sie sagte nicht nein, aber sie riß seine Hand an sich und küßte sie.

»Und jetzt geh'!« murmelte er, all seine heiße Jugend wie mit einem Ruck bändigend, »ich werde dir nicht nachschauen ... von heut' an bist du mir heilig!«

Noch hörte er ihren Schritt. Das leise Rauschen der Gewänder, die sie über sich zog, den flüchtigen Sprung, mit dem sie die Treppe nahm. Dann war er allein. Hatte er gesündigt? Wenn er der stummen Unnatur gedachte, mit der sich so viele seiner Kollegen befleckten, der vielleicht heute oder morgen auch seine ratlosen Sinne zum Opfer gefallen wären, hörte er wie das eigene Gewissen ihm ein lautes Nein entgegenrief. Nun war er gefeit für immer. Der jungfräuliche Leib eines Weibes hatte ihn erlöst.


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