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Durch die Kirche, die sich allmählich leerte, schritt Fra Clemente langsam seinem Beichtstuhl zu. Man feierte den Monat der Maienkönigin, und der Marienaltar von San Domenico e Sisto leuchtete wie eine Blumeninsel aus dem Dämmergrau der alten Kirche. In der Höhe verschwelten noch die letzten Weihrauchwölkchen des abendlichen Gottesdienstes, und der rote Kragen des Mesners, der mit dem Löschhorn von Kerze zu Kerze schlurfte, hob sich grell von dem Weiß der Blüten ab, die den Altar schmückten und die Statue der Gottesmutter bis zum Saum ihres blauen Sternenmantels in eine Wolke duftigen Schnees hüllten.
Hinter der Klausur auf dem Chor glitten wie dunkle Schatten die Gestalten der Mönche vorüber, die nun wieder in ihre Zellen zurückkehrten, stumm und paarweise, wie sie gekommen. Dann wurde es plötzlich still, ganz still. Die Andächtigen hatten die Kirche verlassen. Die Wenigen, die noch zurückgeblieben, warteten auf Fra Clemente.
Die Arme unter dem Skapulier gekreuzt, das geschorene Haupt demutsvoll geneigt, schritt er an den Menschen vorüber, denen er im nächsten Augenblick die Last ihrer Sünden von der Seele nehmen sollte. Er, dem es gegeben war, »zu binden und zu lösen«. Soviel Jahre auch vergangen waren, seit er die Priesterweihe empfangen – der Weg zum Beichtstuhl erschütterte seine Seele immer aufs neue ... Das Geflüster der Stimmen, die er nicht kannte, die Schatten der Häupter, in deren Antlitz er nicht blicken durfte, die wie in Krämpfen losgerissenen Geständnisse und Anklagen der Sünder erfüllten ihn mit einer mystischen Angst vor seiner eigenen Verantwortlichkeit. Wer war er, daß sie so kamen und vor ihm niedersanken und bekannten ...? »Vor Gott dem Allmächtigen, und Ihnen, Priester, an Gottes Statt.«
Dann fielen all diese Worte in das schweigende Meer seiner Seele, rangen sich diese Bekenntnisse los ... Verbrechen und Laster, von bleichen Lippen in sein aufhorchendes Ohr gemurmelt, schwankten die Schatten all der demutsvoll geneigten Häupter über den Goldglanz seiner Stola. Manches darunter, das sich da draußen im Leben weiß Gott wie stolz trug; in dem sicheren Gefühl, daß da drinnen im »Holz der Buße« ein Mensch saß, der all dies vergeben konnte und vergessen mußte ...
Fra Clemente hatte eine reine Jugend hinter sich, und so erfüllte ihn die Verderbnis der Welt und die Gnade seines Gottes immer wieder mit demselben Staunen. »Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.« Saß er an Gottes Statt hier, hatte er auch an Gottes Statt so zu wirken. Darum ging keiner ungetröstet von ihm.
Wie ein Dichter den Eindrücken des Lebens, so gab er sich diesen Worten und Geständnissen hin. Suchte sich daraus die Gestalt der Seele zu formen, die seiner Hilfe bedurfte – gab aus der eigenen Seele dazu, was jeder Priester dem Beichtenden entgegenbringen soll: die Geduld mit allem Menschlichen und den nie versiegenden Glauben an die Gnade. Ihm war die Beichte nicht mit der lossprechenden Formel und den nötigen Bußübungen abgetan. Wie er selbst noch in der Einsamkeit seiner Zelle dem Wohl und Wehe der ihm anvertrauten Seelen nachsann, so suchte er auch die Menschen zur Erkenntnis ihres innersten Wesens zu bringen; nicht bloß ihre Reue und Angst, sondern auch ihre Vernunft vor die Pforten ihrer »Begehrlichkeit« zu stellen. Sie sollten ernüchtert über das Verderben der Sünde nachdenken, sich selbst klar machen, wie töricht jede Leidenschaft an sich sei. Wie die natürliche Ermüdung des Körpers nach einem heftigen Zornanfall, der stumpfe Ekel der Sinne selbst die Physis des Menschen mit Widerwillen erfülle. Wie alles durch die Sünde litt und entwürdigt wurde ...
Als treuer Schüler des großen Philosophen seines Ordens war ihm die ganze »Summa« des heiligen Thomas von Aquino geläufig, und so gab es für ihn keinen Winkel der Seele oder des Denkens, in den der »englische Lehrer der Kirche« nicht schon hineingeleuchtet hatte. Was man brauchte, war da; nur nehmen mußte man es und diejenigen, die es noch nicht gefunden, anleiten, es zu suchen. Und wie großartig dieses Genie des Thomas, das durch die Übernahme der Denkformen des Aristoteles auch die Ungläubigsten zu der Anerkennung zwang, daß die Folgerungen der von Gott erleuchteten Vernunft in ihren letzten Konsequenzen dieselben seien, gleichgültig, ob ein Getaufter oder Ungetaufter sie zog! Das Gute ergab sich von selbst als das Notwendige. Konnte die Wahl da noch schwer – die Existenz eines allgütigen Wesens noch fraglich sein? Das kam ihm alles so klar, so selbstverständlich vor. Ihm, der ferne von der Welt im engen Geviert seiner Zelle saß, über Büchern und heiligen Schriften, und im Beichtstuhl nur mit wehmütigem Kopfschütteln die letzten Wogen der schmutzigen Flut heranschäumen sah, die sie draußen »das Leben« nannten. Das Leben! Diese kurze, armselige Spanne Zeit, in der sich ein Tag so lang dehnen konnte ... und die Jahrzehnte so traumhaft dahinschwanden, daß man sich zuletzt wie ein Erwachender die Augen rieb und Wiege und Grab fast nebeneinander sah. »O, daß du doch erkenntest, was dir zum Frieden dient!« hätte er jeder Seele zurufen mögen. Jeder dieser armen, verirrten Seelen, die zu ihm kamen mit der schmutzigen Last ihrer Tage. Zuweilen aber war ihm auch, als säh' er lauter Wahnsinnige und ein eisiges Grauen kroch ihm über das Herz. Glaubte er drohend emporgereckte Hände zu sehen, die ihn von seiner weißen Friedensinsel herabzerren wollten, mitten in das Gewühl, aus dem er die Hölle aufbrüllen hörte.
Besonders der Frühling brachte solche Beklemmungen, seltsame Wallungen seines Blutes, die sich nicht hinwegbeten ließen, eine Müdigkeit, die ihn gereizt und unfroh machte. Und glaubte er, endlich das innere Gleichgewicht wieder gefunden zu haben, kamen diese unseligen Kinder der Welt und schütteten ihre Geständnisse in seine Seele; warfen in das kühle Dämmerreich seiner Vorstellungen den heißen Purpurbrand der Sünde, daß er Bilder und Gestalten sah, die ihm wie aus schwülen Fieberträumen entgegenwinkten, lockend und schreckend zugleich. Nicht, daß der »Teufel« ihn schwach gefunden hätte. Etwas in dieser naiven Bauernseele blieb immer trotzig und aufrecht. Aber schon die Notwendigkeit eines solchen Kampfes stimmte ihn traurig, ließ seinem Aug' auch die Blütezeit der Erde wie eine Lockung Satans erscheinen.
Mit welcher Sehnsucht schweifte seine Erinnerung dann in die reinen Fernen seiner Kindheit zurück! In die Schluchten der blauen Volskerberge, zwischen denen er seine Knabenjahre verlebt ... Als armer Hirtenjunge inmitten seiner Herde den Rosenkranz betend oder Veilchen und Primeln sammelnd, um sie der »Immaculata« zu Füßen zu legen. Keinen anderen Wunsch in der frühlingsherben Seele, als die Sehnsucht, auch sich selbst einmal so zu den kühlen Füßen der Gottesmutter hinzulegen. In diesen Frieden, der nach Veilchen und Primeln roch und nach den blauen, zitternden Weihrauchwölkchen dämmernder Kirchenhallen.
Deshalb empfahl er sich immer noch einmal so inbrünstig der Maienkönigin. All' seine Unruhe und Angst unter ihren fleckenlosen Mantel flüchtend. »Bitte für uns, o heilige Gottesgebärerin!« Wie ein Kind seiner Mutter stammelte er ihr diese Worte entgegen, der strahlenden Königin des Rosenkranzes und des Maien. Dann war ihm, als lächle die Gebenedeite ihm zu ... leise, gewährend und der Segen ihres Lächelns ging wie eine kühle Welle über ihn nieder, wie ein taufeuchtes Geriesel der weißen Blüten, die rings um sie dufteten und glänzten. Bis ins Blut hinein fühlte er diesen Segen und mit ihm die Kraft, ihn an andere weiterzugeben. Wie ein Frevler wär' er sich erschienen, hätte der Augenblick, da er sich anschickte, anderen ihre Sünden zu vergeben, ihn nicht selbst rein und makellos gefunden.
Auch heute hatte die ganze Inbrunst seines Glaubens sich in die »Lauretanische Litanei« ergossen und die unter dem Skapulier gefalteten Hände bebten noch von dem Schauer des Griffes, mit dem er die Monstranze umklammert. Hinter ihm lag eine schlaflose Nacht, eine Nacht voll Wünschen und Ahnungen, denen er keinen Namen zu geben wagte, Empörungen des Blutes und seiner niedergerungenen Jugend. Aber nun war der heiße Tag zu Ende und wie der Erlöser durfte er sein Kreuz an sich drücken. Fühlten sie, die da harrten, die himmlische Schauer seines Sieges? O, daß er ihnen nur etwas davon in die Seele gießen könnte!
Nun saß er im Beichtstuhl und klappte das Fenster auf. Die Stimme, die sein Ohr traf, war eine ihm völlig fremde. Aber der vage Parfüm, der ihm entgegenschlug, ein feines Geriesel von Spitzen und Seide, das sich bei jeder Bewegung der Knienden bemerkbar machte, verriet die vornehme Dame. Es war sonst nicht seine Art, auf solche Dinge zu achten. Nur die völlig fremde Stimme hatte ihm auch diese Nebensächlichkeit zu Bewußtsein gebracht. Vor allem aber der Name, den die Fremde ihm nannte.
»Die Fürstin Chietti hat die Güte gehabt, mich an Sie zu weisen, ehrwürdiger Vater!«
Fra Clemente nickte; nickte mit geschlossenen Augen, zum Zeichen, daß er bereit sei, die Beichte entgegenzunehmen. Aber es blieb still. Nur die Seide begann noch heftiger zu knistern, die Brust der Hingesunkenen schien mühsam nach Atem zu ringen und plötzlich schluchzte sie auf.
Die kleine Schar, die sich um den Beichtstuhl versammelt hatte, wich instinktiv zurück. Wie um eine Reue zu schonen, die sich hier so impulsiv hingab, ein Geheimnis zu achten, das vielleicht das einer großen Sünderin war, durch das Ohr des Priesters aber nun auch vor den Thron Gottes kam, der allen verzieh, die ihm also nahten. Und sahn sie nicht ihre Tränen auf die kalten Steine fallen? Tränen, die der Stolz und die Unbußfertigkeit vielleicht jahrzehntelang zurückgehalten. Die aber nun plötzlich hervorsprangen, wie ein Quell, den der Heiland gehütet.
Auch Fra Clemente war tief erschüttert. Hatte es die Maienkönigin so gemeint, als sie ihn gestärkt und gereinigt von ihrem Altar entließ? Wohlan, sie sollte ihn bereit finden! Und während er sein Haupt der Schluchzenden entgegenneigte, sprach er väterlich: »Versuchen Sie, wenigstens die ersten Worte des Confiteor zu sagen so gut Sie können und im festen Vertrauen auf Ihren Erlöser; das wird Ihnen Ruhe geben!«
Ein heftiges Nicken war die Antwort. Die weiche Feder des Hutes strich über das Holzgitter hin. Die Kniende hatte das Haupt erhoben ... »Ich armer sündiger Mensch beichte und bekenne vor Gott dem Allmächtigen und Ihnen Priester an Gottes Statt, daß ich seit meiner letzten Beichte, die vor zwanzig Jahren geschehn ist ...« Wieder verstummte die Beichtende. Fra Clemente, der sie nicht aus der Fassung bringen wollte, hielt den Atem an und senkte das Haupt noch tiefer. Kein Hauch, keine Bewegung sollte sie fühlen lassen, daß ein Mensch hier an Gottes Statt saß. So mußte ihre Reue auch die letzte falsche Scham überwinden.
Da schluchzte die Ercolani wieder auf; so laut und heftig, daß es wie ein niedergerungener Schrei aus ihrer Brust hervorbrach und ihren ganzen Körper erschütterte. Fra Clemente hatte schon viele Sünder zu seinen Füßen gesehen, aber der elementare Ausbruch dieser Reue fand ihn ganz unvorbereitet. Wie nun, wenn er eine Hysterische vor sich hatte, deren Weinkrampf zuletzt in einen Anfall ausartete? Da galt es doch, das rechte Wort zu sprechen. Abzulenken oder den kranken Willen wieder liebevoll aufzurichten; und geschah dies nicht am besten, indem er dieser Wollust der Selbstqual scheinbar entgegenkam? Er hatte schon genug Frauen Beichte gehört, um zu wissen, daß ihnen auch der Kult des eigenen Schmerzes zuweilen ein Bedürfnis ist.
»Es reut Sie wohl sehr, sich so lange von Gott ferne gehalten zu haben?« fragte er mit einer Stimme, deren himmlische Milde fast etwas Geschlechtsloses hatte.
»O,« zitterte es zurück. Mehr ein Herzstoß als ein Geständnis, aber doch eine Antwort.
»Warum taten Sie es?« fragte er rasch. Und plötzlich lag wieder die ganze Strenge des Mannes in seinem Ton und mit ihr etwas von der suggestiven Gewalt des Stärkeren, der das Weib, wenn auch widerstrebend, gehorcht.
Wieder hob die Ercolani das Haupt, strich die nickende Feder ihres Hutes über das Holz hin, mit einem Geräusch, das, so leise es war, in der zitternden Stille des engen Raumes fast etwas Aufreizendes hatte, etwas Mondänes, das die Pedanterie des Asketen reizte, der sich so viel Reue nicht unter einem modischen Federhut vorstellen konnte ... »Warum?« fragte er noch eindringlicher und nicht ohne eine gewisse Schärfe setzte er hinzu: »Da Sie ja doch zu so vielen anderen Dingen Zeit hatten!«
Die Beichtende mußte die Hand vor die Augen gelegt haben, denn der Schatten ihres erhobenen Armes fiel durch das Holzgitter auf die weiße Kutte des Mönches. Trocknete sie die Tränen oder verhüllte sie das Antlitz vor dem eigenen Geständnis? Und schon schlugen ihre Worte an sein Gehör, Worte, die kein Schluchzen mehr begleitete, die mit kalter Festigkeit und fast rauher Härte gesprochen wurden. Worte, die nach all dem, was vorausgegangen, so rasch und unerwartet kamen, auch für ihn, daß seine noch immer gefalteten Hände plötzlich auseinander fielen, als wären es nicht mehr seine Hände.
»Weil ich einen Priester geliebt habe!«
Einen Augenblick herrschte tiefe Stille. War es möglich? Aber ja: das Geständnis dieses Weibes hatte sich wie Bergeslast auf die Seele desjenigen gewälzt, der da saß, um anderen die Sünden zu vergeben. Er wußte noch nicht, warum er keine Antwort fand. Warum etwas in ihm sich hob und senkte, als säße ein dunkler Nachtvogel in seiner Seele, von dem er selbst bisher keine Ahnung gehabt und schlüge mit den Flügeln und wehrte sich gegen das schmerzende Licht, das nun so plötzlich und unerwartet hereinbrach. Aber wenn er auch die Augen schloß ... hinter dem Purpur seiner Lider stiegen die schwülen Träume seiner Nächte auf. Die Gesichte, die seine Wünsche gestaltet, ihm selbst unbewußt, aber doch seine Wünsche. Und warum trugen sie alle das eine Antlitz? Warum konnte er sich nicht wehren, daß die Versuchung immer in derselben Gestalt vor ihm erschien? Ihm zuflüsterte, was seine aus Sehnsucht und Angst gemischten Träume zugleich wünschten und fürchteten.
Noch gestern war Mater Renée so vor ihm gekniet wie heute die Fremde. Kein Wort in ihrer Beichte hatte ihm ein Recht gegeben, sie anders in seine Träume hinüberzunehmen, als sie bis heute vor ihm gestanden: rein, fromm, unnahbar. Wie konnte es geschehn, daß er in einem Traum dieser Nacht ihre Lippen ähnliche Worte murmeln hörte, nah, ganz nah an seinem Ohr? »Ich liebe einen Priester!«
»O, Maria!« seufzte er auf. Nun nahm sie ja ganz die Binde von seinen Augen, zeigte ihm, wie nah er dem Abgrund stand. Er, der sich bis heute für vollkommen gehalten, der dasaß – »an Gottes Statt!« Indem sie diese Sünderin zu ihm führte, strafte sie seinen Hochmut, öffnete seine Augen, warf ihn selbst der Reue hin – wirkte ein Wunder, um ihn vor der Sünde zurückzureißen.
»O, Maria!« seufzte er noch einmal, heiß, inbrünstig und sein aufleuchtender Blick flog zu der Unbefleckten hinüber, die aus den weißen Blütenwolken dort so geisterhaft emporstieg und mit dem Lächeln eines Kindes die alte Schlange niedertrat. »Du Zuflucht der Sünder!« Einer, an dem sie ein lautloses Wunder getan, betete es ihr ekstatisch entgegen.
Die Kniende machte eine Bewegung. Vielleicht wartete sie auf eine Frage oder hatte sie seine Verstörtheit bemerkt? Fra Clemente schrak zusammen und während er die Hand vor die Augen legte, fragte er fast rauh: »Hat Ihnen dieser Priester nicht den rechten Weg gewiesen?«
»Das lag nicht in seinem Interesse!« kam es herb zurück.
Fra Clemente fühlte, wie ihm eine heiße Blutwelle ins Antlitz stieg. Warum? Aber jetzt war nicht Zeit über sich selbst nachzudenken.
»Er unterhielt also ein sträfliches Verhältnis mit Ihnen?«
»Nein.«
»Welches Interesse hätte er sonst haben können?« fragte der Mönch weiter und mit einer ihm selbst fremden Gereiztheit setzte er hinzu: »Überlegen Sie wohl, was Sie sagen; Sie sprechen von einem Priester.«
»Immerhin gab er vor, mich zu lieben.«
»Hat er das jemals ausgesprochen?«
»Ja. Und dann hat er mich geküßt.«
»Öfter?«
»So oft ich zu ihm kam. Aber nur während des ersten Jahres.«
»Da hat er Sie wohl auch zurückgehalten, sich einem anderen Seelsorger anzuvertrauen?«
»Das hatte er nicht nötig.«
»Warum?«
»Weil er meine Leidenschaft sah und wußte, daß ich meine Liebe niemandem und um nichts preisgeben würde.«
»Nun sagten Sie aber selbst, daß Sie kein Verhältnis mit ihm hatten, daß er aufrecht blieb, Sie nicht verführte und zu Fall brachte. Hab' ich recht verstanden?«
»Sehn Sie! Er hat also wenigstens im letzten Augenblick immer das Heil seiner Seele bedacht. Warum taten Sie nicht das gleiche? Gingen immer wieder hin und führten ihn immer wieder in Versuchung? Wie alt waren Sie damals?«
»Achtzehn Jahre.«
»Und der mit Ihnen sündigte?«
»Dreißig.«
»Nun sagten Sie früher, daß auch der Kuß nur während des ersten Jahres getauscht wurde. Bleiben noch neunzehn Jahre, die Sie sich von Ihrem Gott ferne hielten. Warum?«
»Weil ich Gott durch ihn hassen lernte.«
»Durch ihn?«
»Den ich nicht besitzen durfte, weil er Gottes war. Und mit dem ich doch fiel, so oft er mich in die Arme nahm. In Gedanken fiel,« setzte sie rasch hinzu, da der Mönch eine plötzliche Bewegung machte.
Aber es war nicht ihr Geständnis, das ihn so heftig zusammenschrecken ließ. Nur die Schauer seiner Seele, die sich langsam desselben heimlichen Frevels bewußte wurde, dessen die Ercolani sich anklagte. Und mit dieser schmerzhaften Heiligkeit des Bewußtseins paarte sich eine Angst, die zugleich Neugierde war und aus dem Geständnis der Sünderin das Richtmaß für den eigenen Fall holen wollte. Rein wie er war und voll Rücksicht auch für die Scham einer fremden Seele, hatte Fra Clemente es sonst immer vermieden, um die näheren Umstände zu fragen, unter denen eine Sünde begangen worden war. Wurde ihm das Bekenntnis unter den Zeichen einer vollkommenen Reue abgelegt, erließ er sich und dem Sünder die Peinlichkeit von Worten, die in ihrer Art doch wieder den Teufel an die Wand malten. Und indem sie den Bußfertigen von der Zerknirschung ablenkten, die Sinne leicht wieder zu einem frevlen Spiel verleiten konnten. Heute aber gaukelte ihm seine Angst die Notwendigkeit einer solchen Frage vor und das eigene, bebende Gewissen verdammte ihn, sie zu stellen; vorsichtig, schonend, aber doch mit der lauernden Neugierde des Mitbetroffenen. »Wie konnten Sie in Gedanken fallen?« fragte er kaum vernehmbar, »Sie, die bis dahin noch keinen Mann erkannt hatten?«
»Seine Umarmungen weckten die Sehnsucht in mir. Die Sehnsucht hat mich wissend gemacht.«
»Und als er Sie nicht mehr umarmte?«
»Jeder Blick in sein Antlitz führte mich in Versuchung,« antwortete die Ercolani dumpf. Und unter leisem Weinen fuhr sie fort: »O, ehrwürdiger Vater, könnt' ich Ihnen meine Scham schildern, als ich mir dieser Wünsche bewußt wurde! Zuerst in meinen Träumen und als ich die Süßigkeit dieser Träume ausgekostet hatte, auch im wachen Zustand. Da war keine Rettung. Tage und Nächte und Wochen und Jahre glitten vorüber ... und ich lebte mitten drinnen, dumpf und verloren, das ohnmächtige Spielzeug meines Blutes. In dieser Passion, in dieser Glut, die wie von der Hölle auf mich losgelassen wurde, hab' ich alles durchlitten, alles genossen. Monatelang wiegte ich mich in der Seligkeit des Gefühls, wie süß es wäre, ein Kind von ihm zu tragen. Die bloße Berührung seiner Hand machte mich unzüchtig. Und das Kreuz, das er mir gab, als meine Neigung ihm langsam lästig wurde, hab' ich mit Füßen getreten. Alles ist geschehn, ohne daß dieser Priester gefallen ist. Und er wußte, daß dies alles geschah, und ließ es geschehn. Er, der mich nicht einen Augenblick geliebt hat.«
Sie schluchzte auf und in das Schluchzen mischte sich plötzlich ein Lachen – ein leises, herbes, selbstzerfleischendes Lachen, das dem Mönch durch Mark und Bein ging.
»Er war Gottes. Vergessen Sie das nicht!« sprach Fra Clemente streng.
»Er war es nie!« zischte die Ercolani zurück. »Er, der immer nur dem Ehrgeiz gehört hat und mit ihm dem Teufel, der Gott zuerst widersprach. Aus Selbstsucht hat er sich mir genähert, aus Selbstsucht mich so lange hingehalten, weil mein Onkel damals noch lebte und Kardinal war und für ihn tat, was ich und meine Mutter für ihn erbaten. Meine arme Mutter, die keine Ahnung hatte, für wen sie bat. Nun hat er alle Stufen erklommen. Nicht mehr lang und er steht in der Reihe der »Porporati«. Kann es die Kirche so weit kommen lassen, daß ein solcher Mensch Kardinal wird? Vielleicht sogar einmal Papst? Und, ehrwürdiger Vater, nicht allen Weibern, die ihm so weit geholfen, hat er bloß – ein Kreuz geschenkt. Da ist die Fürstin ...«
»Still,« sagte Fra Clemente und legte beide Hände vors Antlitz. Ihn schwindelte ... Was sollte er dieser sagen, konnte er ihr sagen? Aus der Erkenntnis einer Seele heraus, die sich schaudernd am Beginn desselben Weges stehn sah, auf dem diese endlich zusammengebrochen war. Auch bei ihm hatte es wie bei der Ercolani mit den Träumen begonnen. Mit diesen verstohlenen Atemzügen der Sünde, die kamen und gingen, ohne daß man ihnen gebieten konnte. Aber waren sie darum weniger Kinder des Wunsches? Da unten, zu tiefst am Grunde der Seele, gab es also ein Reich, das ganz dem Bösen gehörte, der Garten seiner wuchernden Giftpflanzen war, seit dem Tag der ersten Sünde! Und wie herrlich sie prunkten, diese Giftpflanzen! Welch süße Düfte sie ausatmeten, wie sie täuschten und trogen! Hatte er früher eine Ahnung gehabt, warum ihm die gottseligen Gespräche mit Mater Renée immer mehr zum Bedürfnis wurden? Warum die Erde unter seinen Füßen förmlich zu schwinden schien vor dem Entzücken, das seine Seele fühlte, wenn er dort zum Altar trat? Warum selbst die Orgel dort für ihn einen süßeren Klang hatte? Alles wie in eine Sphäre gehoben war, aus der es ihn wie Paradiesesluft anwehte. Nun hatten ihm ein Traum und die Beichte eines Weibes enthüllt, in welch' dunklen Tiefen diese Seligkeiten wurzelten. Hatte er dabei jemals an die Empfindungen der »Braut Christi« gedacht?
Welch ein Heil für seine Seele, daß sie noch rein war und nicht gefallen, auch nicht in Gedanken, wie diese! Um wie viel wäre er dann besser als der andere? Ob ein Priester aus Berechnung oder Frömmigkeit tugendhaft blieb – war es für das Weib, das an ihm fiel, nicht gleichgültig? Die Gelegenheit galt es zu meiden. All die feinen, tausend Fäden zu zerreißen, die sich so zitternd von Seele zu Seele spannten, erst unsichtbar, bis sie eines Tages die Stärke eherner Fesseln hatten und der Herr betrogen war und die Kreatur.
Und während er des Unseligen dachte, der den Fall dieser Seele dereinst zu verantworten hatte, doppelt zu verantworten, weil der Herr seine Hände gesalbt, um solche Seelen auszuheben – dankte er der jungfräulichen Gottesmutter noch einmal für all die Zeichen und Wunder, durch die sie ihn erleuchtet.
»Still,« hatte er gesagt, um nicht mit dem Namen der Fürstin auch den jenes unseligen Konfraters zu hören. Aber konnte er hindern, daß er ihn dessenungeachtet erkannte? Ihn, der in letzter Zeit immer häufiger als einer der nächsten »Porporati« genannt wurde? Dem er wie oft begegnet war: in der Antikamera des Papstes, noch häufiger beim Bruder Leos XIII., der ihm offenbar wohlgesinnt schien und einen so großen Einfluß besaß! Hier ein krummer Rücken vor dem Kardinal Camerlengo – dort eine feine Bemerkung über die Jesuiten, die wiederum zu lieben sich Leos Bruder noch immer nicht entschließen konnte ... und im Rücken so und so viele schmutzige Schleichwege, durch Klöster und Paläste und Alkoven! O ja, wenn man es so machte, kam man rasch vorwärts in der Kirche. Rascher schon, als ein Mönch, der da saß und sich quälte und seine Gedanken bis an die dunklen Pforten des Bewußtseins unerbittlich verfolgte. Immer mit der Empfindung, als leuchte ihm der durchdringende Christusblick in die Seele hinein.
Fra Clemente fühlte, daß er bitter wurde. Wozu? Er beneidete jenen doch nicht? Mochte er sich den Purpur holen! Wenn er ihn am Tage des Gerichtes auseinanderschlug, würde seine Seele daraus hervortreten, mit all ihren Malen und Schwären, und mit dem Haß gegen den Tempelschänder quoll ein unendliches Mitleid in ihm auf für jene, die sich wieder zu ihrem Schöpfer zurückgefunden. War ihr Herz schon so voll der Bitterkeit – er wollte sie nicht um einen Tropfen herber machen. War sie an dem Priester Gottes irre geworden – mußte er ihr die Glorie des Herrn in ihrer ganzen Herrlichkeit zeigen. Daß nur der heilige Geist ihm die rechten Worte lieh'! Das Geheimnis des Paraklet von ihm zu ihr hinüberwirkte.
Die Hände, die sein Antlitz verhüllten, glitten herab und falteten sich wieder. Wie ein Vater neigte er sein Haupt der Harrenden entgegen und sprach: »Der ausübenden Christin, die Sie einmal waren, werden die »geistlichen Übungen« und »Insinuationen« der heiligen Gertrud vielleicht noch gegenwärtig sein. Vielleicht entsinnen Sie sich auch des herrlichen Zwiegespräches, das sie den Herrn und die in ihn verzückte Seele darin halten läßt; des süßen Rufes der Gottheit an die von ihr geheiligte Kreatur ... »Blicke mich an, wer ich bin, o, meine Taube! Ich bin Jesus, dein süßer Freund! Öffne mir das Brautgemach deines Herzens. Denn ich bin aus dem Lande der Engel, an Schönheit unvergleichbar!«
»Ja, ja ...« schluchzte die Ercolani auf. Durch den wunderbaren Zufall, der den ihr fremden Mönch gerade eines der Lieblingsgebete ihrer Jugend finden ließ, bis ins Innerste erschüttert.
»Nun wohl,« fuhr Fra Clemente fort, »dann kennen Sie ja auch die Antwort, mit der die Heilige sich selbst zur Liebe aufruft?« Und während Fra Clemente seine Hände noch inniger faltete, betete er im Ton eines Verzückten: »Auf, o Seele, wach' auf! Wie lange willst du schlafen? Vernimm das Wort, das ich dir kund tue! Über dem Himmel ist ein König, der nach dir Verlangen trägt. Aus ganzem Herzen sehnt er sich nach dir und liebt dich über die Maßen. So milde liebt er dich, so treulich minnet er dich, daß er sich verdemütigend sein Reich für dich verließ. Beim Suchen nach dir duldete er, einem Diebe gleich erfaßt zu werden. Er ist's, der dich in seinem Blut gewaschen, in seinem Tod erlöset hat. Wie lange soll er harren, bis du ihn wieder liebst?«
»Mein Heiland!« schluchzte die Ercolani auf. Wie ein Schauer ging die wiedererweckte Sehnsucht nach ihrem Gott an ihr nieder.
»Rufen Sie ihn immerzu,« sprach Fra Clemente wie hingerissen. »Mit ganzer Seele, aus tiefstem Herzen. Und wenn Sie ihn wiedergefunden zu haben glauben und ihn vor sich sehn in seiner unbegreiflichen Schönheit und Glorie, dann fragen Sie Ihre Seele, für wen sie ihn verlassen? Wie es ihr möglich gewesen, Ihren Heiland hinzugeben für seinen gefallenen Priester? Den Schöpfer für eine seiner letzten Kreaturen! Und er selbst wird Ihnen zeigen, was auszudrücken mir die Worte fehlen. Bis das ganze Blendwerk des Teufels von Ihren Sinnen fällt und farblos sein wird, was ehemals geprunkt, und schal und ekel der Trank, der Sie berauscht. »Alles Fleisch hat seinen Weg verdorben!« sagt schon Moses. Und darum findet es immer und immer nur zum Fleische. So schwer aber auch der Geist des Menschen durch den Sündenfall geschädigt und getrübt wurde, so weit reicht selbst unsere Vernunft noch, um zu erkennen, wie töricht es ist, im Widerspruch mit seinem Gott zu leben und zu handeln. Auf der einen Seite ist alles Gesetz und Klarheit: ein Ziel, ein Wille, ein Weg. Jede Freude ist rein, jeder Genuß geadelt. Alles Menschliche durch die Heiligkeit der Sakramente gewürdigt. Ob Sie nun zum Himmel sehn, wo der Gestirne ungezählte Myriaden kreisen, oder sich die von Geschöpfen wimmelnden Meere denken, deren Tiefe kein Senkblei ausmißt, oder die Herzen der Menschen, dies alles ist eine einzige Einheit, die in Gott versiegelt ruht. Ein Geheimnis für die Lebenden, wohl, für die Seligen aber dereinst eine einzige jubelnde Erkenntnis: Ein Genießen der Schöpfung im Schöpfer. Muß ich Ihnen da erst sagen, daß die Sünde ebenso verwerflich als töricht ist? Doppelt töricht dort, wo sie das Geschöpf über den Schöpfer stellt? Und welches Geschöpf! Wie konnte Sie der Druck einer Hand beglücken, deren Fläche bei der Priesterweihe mit dem heiligen Öl gesalbt worden – an derselben Stelle, an der einst die Nägel im Fleische Christi saßen? Wie konnten Sie einer Stimme glauben, die Gott selbst angelogen in dem heiligen Eid, den sie erst gelobt und dann gebrochen? Was hatte Ihnen der liebewerbende Blick von Augen zu sagen, in deren Tiefe schon die Verzweiflung des Betrügers lauerte und der Wahnsinn einer Seele, die sich selbst verneinte, indem sie ihren Schöpfer also verriet? Welche Genüsse konnten Sie sich erhoffen, wo jeder Gang dahin von zitternder Angst begleitet wurde. Ihr eigenes Gewissen Ihnen auf Schritt und Tritt sagte: kann so viel Scham und Furcht noch Genuß sein? Sie erwähnten früher, daß Ihre Mutter von dem allen keine Ahnung hatte. Warum sagten Sie sich nicht selbst, was Sie zurückhielt, sich ihr anzuvertrauen? Mit einem Geheimnis, das jede Tochter sonst zuerst an die Brust der Mutter flüchtet. Weil Sie fühlten, daß Ihr Geheimnis die Sünde war und instinktiv zurückscheuten vor der Reinheit des Weibes, das seine Liebe wie eine heilige Flamme dahingetragen – vor Gott und den Menschen!
Sie selbst sagten, daß Ihr Versucher sich als Betrüger entpuppt. Aber was gab Ihnen ein Recht, etwas anderes von ihm zu erwarten – Ihnen, die Sie ihm betrügen halfen?
Schwer haben Sie sich gegen Ihren Schöpfer vergangen. Aber Gott hat Sie auch doppelt heimgesucht: in der Erkenntnis dieses Unwürdigen und der Reue über eine verlorene Jugend, und alles, was das Weib sonst adelt und glücklich macht. Ich will Ihnen keine besonderen Bußübungen vorschreiben, denn mein Herz sagt mir, daß Sie jetzt stundenlang zu Füßen Ihres Erlösers knien werden. Vom Kreuze herab streckt er die Arme nach Ihnen, von dem Kreuz, an das auch Sie ihn geschlagen haben. Waschen Sie die heiligen Male seiner Füße mit Ihren Tränen, wie einst die Magdalenerin diese Füße gesalbt hat und beten Sie mit der heiligen Gertrud: »Du richtest auf die Gebeugten, du lösest die Gefesselten, du verachtest keinen in der Trübsal. Mach' mich deinem Willen gleichförmig, damit ich mein Leben in dich umgestalte. Mach' mich ganz so, wie du mich haben willst, damit ich nach diesem Leben, wenn der Wolkenschleier des Körpers gefallen, frohlockend dein holdes Antlitz schaue!«
»Amen!« hauchte die Ercolani. Und als der Mönch, nach kurzem Gebet das erlösende Kreuz über sie schlug, brach sie förmlich zusammen unter der Liebeswucht der Gnade. » Ego te absolvo!« Nur drei kurze Worte waren es, aber der ganze Himmel wurde ihr damit wieder geschenkt.
In der Nacht, die diesem Abend folgte, schloß Fra Clemente kein Auge. Vom Abendtisch hatte er sich ferne gehalten, was nicht auffiel, da er die ohnedies strenge Regel des heiligen Dominik für sich noch immer nicht streng genug fand. Unter dem Vorwand, zu studieren, pflegte er sich oft so zurückzuziehen, um sich noch mehr Abbruch zu tun. Das Fenster seiner Zelle ging auf den Kreuzgang des Klosters hinaus, der einen alten Garten umhegte, in dem ein einsamer Brunnen auch die Nacht durch plätscherte und die von den Mönchen mit Vorliebe gezogenen Lilien eben in voller Blüte standen.
Da Fra Clemente von seinem Orden ausersehen war, heute oder morgen eine geistliche Lehrtätigkeit zu üben, befand sich auch ein Schreibpult in seiner Zelle. Es stand knapp vor dem Fenster und ließ ihm einen lieben Blick in den Garten frei, dies Stückchen grüner Natur, dem der ehemalige Hirtenknabe noch immer anhing, weil es mit den reinsten und innigsten Erinnerungen seiner Kindheit zusammenhing. Auf dem Pult lag ein Band der » Summa theologiae« aufgeschlagen, alt und in Schweinsleder gebunden, von Mönchshand gar zierlich abgeschrieben. Eines der ehrwürdigsten Exemplare seines Ordens, das aus der Bibliothek von San Domenico in Neapel stammte und vielleicht noch vom heiligen Thomas durchblättert worden war. Daneben glänzte das weiße Schreibheft, in das Fra Clemente seine eigenen Bemerkungen einzutragen pflegte. Von der Höhe des Pultes blickte ihn der gekreuzigte Heiland an – ein dürftiges, aber nicht ohne Talent geschnitztes Kruzifix, das er in den einsamen Schluchten der Volskerberge sich selbst zurechtgemacht, unter dem Gesang der Vögel und dem Getos der brausenden Alpenwässer. Er hatte es in einem moosigen Felsblock festgerammt, der im Frühling immer die ersten Veilchen, im Sommer die schönsten Zyklamen trug, und an diesem ersten Altar – Messelesen gespielt! » Il piccolo prete«, wie die alten Hirten ihn nannten. Und mit welcher Andacht wurde dieser einsame Gottesdienst gehalten! Welche Schauer der Ahnung eines Höchsten rieselten dabei durch die keusche Vogelseele des kraushaarigen Bübchens. Wie selig machte es ihn, nun seinen Gott auch dort immer um sich zu haben, wo er ihn zuerst geahnt und immer am tiefsten empfunden hatte: in der großen, schweigenden Einsamkeit seiner geliebten Berge!
»Lass mich in Wahrheit dein Priester werden, o Herr!« betete er jeden Tag vor diesem Kruzifix. Es war ein Gebet, in dem eine ganze Seele sich hingab. Ein wirkliches Opfer, mit all seinem Glauben und der bergeversetzenden Zuversicht der Jugend. Und als der Zufall es eines Tages fügte, daß ein Mönch von Monte Cassino vorüberkam, der den betenden Knaben so traf, wie er, ins Fell des Zickleins gehüllt, vor seinem Kruzifix kniete: Arme und Beine in rührender Nacktheit, in den großen, dunklen Augen einen merkwürdigen Glanz, das Ganze wie ein in dunklen Samttönen gehaltenes Bild des Guercino – da war das Schicksal des armen Hirtenjungen entschieden.
»Wie heißt du?« fragte der Mönch.
»Giovanni Arbo, ehrwürdiger Vater.«
Ein Lächeln glitt über das Antlitz des Benediktiners und neckend sagte er: » Piccolo Battista!« mit Beziehung auf den in Tierfelle gehüllten Hirtenknaben, der ihn an ein Bild des kleinen Täufers erinnerte. Giovanni verstand ihn sofort. Und während er das jüngste seiner Lämmchen der Mutter wegnahm und feierlich auf seinen Altar setzte, rief er freudestrahlend: » Ecco il mio Redentore!«
Lange blieb der Mönch damals bei dem Kleinen, sprach dieses und jenes mit ihm, freute sich der klugen Antworten, der sehnsüchtigen Fragen des Kindes, die ein Herz voll trunkener Gottesliebe ahnen ließen. Als er sich endlich erhob, lud er den Kleinen ein, ihn nächsten Sonntag in Monte Cassino zu besuchen. »Frag' nur nach dem Padre Tosti!«
Padre Tosti aber war kein Geringerer als der Abt von Monte Cassino.
Ihm verdankte der arme Hirtenbub alles, was er geworden. Nur in dem Habit des Dominikaners hätte der aufgeklärte Benediktiner, der selbst ein berühmter Gelehrter war, ihn nicht gerne gesehen. Als Giovanni Arbo sich aber für die Wahl dieses Ordens entschied, war sein Beschützer schon tot. Und so konnte er ruhig dem zweiten Traum seines Lebens folgen und Dominikaner werden, ganz wie sein Lieblingsheiliger, Thomas von Aquino!
Auch die Vorliebe für diesen Heiligen, unter dessen Patronanz er sein ganzes Leben stellte, hing mit einer echt heimatlichen Empfindung dieses Kindes der Volskerberge zusammen. Lange bevor er eine Ahnung von der geistigen Größe des heiligen Thomas haben konnte, klang ihm sein Name aus den Sagen und Legenden entgegen, die sich um Rocca Secca spannen, den Ruinen des Schlosses, in dem der kleine Thomas das Licht der Welt erblickte. Wie oft hatte Giovanni Arbo auf dem Abhang jenes Felsens seine Lämmer gehütet und dabei voll Ehrfurcht zu den grauen Trümmern emporgeblickt. Da war der große Mann ein Kind gewesen, wie er! » Il nostro Santo«, wie die Hirten und Bauern mit lokalpatriotischem Stolz ihn zu nennen pflegten. Und wenn Giovannis Blick von dem sonnenbeglänzten Gipfel in die stille, lateinische Landschaft hinausschweifte, die die Ketten der Berge hoheitsvoll und doch nirgends schroff umrahmen: jede Linie anmutvolle Klarheit, blau die Höhen, terrakottafarben die sommerliche Campagna, da und dort ein silbern aufglänzender Streifen Wassers und fern, ferne die heilige Stätte, wo Rom liegen mußte – dann dämmerte auch in der Seele des einfachen Hirtenknaben eine Ahnung von der Größe und Herrlichkeit der Welt und der Macht einer Persönlichkeit, die den Mut fand, ihr so streng und verachtungsvoll den Rücken zu kehren, wie der große Heilige der Volskerberge.
Auch der junge Thomas war zuerst nach Monte Cassino gebracht worden, auf die Prophezeiungen eines Mönches hin, der der Gräfin von Rocca Secca die große Zukunft des Kindes voraussagte, mit dem sie gerade schwanger ging. Und auch Thomas war zuletzt – Dominikaner geworden! So formten Gewohnheit, Überlieferung und Neigung langsam an dem Schicksal des kleinen Arbo. Wie sie an allem formen, das lebt und wird. Ihm aber schien alles ein Wunder. Und je mehr der Wunder er zu erleben glaubte, desto inniger fühlte er sich seinem Gotte verpflichtet, nicht zuletzt auch deshalb, weil er aus dem armen, barfüßigen Bauernjungen einen »Signore« gemacht. Aber das war eine Genugtuung, über die er sich nie Rechenschaft gab. Schlummerte sie doch ebenso naiv als ungeweckt in dem dunkelsten Winkel einer gesunden Bauernseele.
Hatte Fra Clemente den Gottesdienst gehalten und sein karges Abendbrot eingenommen, pflegte er immer noch ein wenig in seinem geliebten Thomas zu lesen. Ja, er las oft so lange darin, bis der schrille Klang des Mettenglöckchens ihn zur nächtlichen Andacht in den Chor rief. Und dann war es erst recht vorbei mit dem Schlaf.
Nur während der letzten Wochen hatte er aus einer ihm sonst fremden, tiefen körperlichen Ermüdung heraus das volle Maß der nächtlichen Ruhe genossen. Da kamen aber jene Träume. Und nun sagte er sich mit stiller Beschämung, daß die üppige Ruhe, die er sich gegönnt, vielleicht mitschuldig sei an seinen Anfechtungen. Hätte er immer noch ein paar Stunden über dem Werk seines Heiligen gebrütet, wäre sein erschöpfter Körper nicht zum Versucher geworden.
Langsam trat er an sein ärmliches Lager und machte es für die Nacht zurecht, aber bloß, weil es zu seinen täglichen Obliegenheiten gehörte. An die Möglichkeit eines Schlafes dachte er gar nicht, so aufgeregt und beklommen fühlte er sich. Er kniete an seinem Pult nieder und begann zu beten.
Aber ihm, dem sonst jedes Wort, das er zu seinem Gotte sprach, zum innersten Erlebnis wurde, genügte zum erstenmal auch das Gebet nicht. Wie Blitze zuckten seine Gedanken hin und her: drohende Boten des Gewitters, das aus der dunkelsten Tiefe seiner Seele langsam emporstieg – da, wo seine mißhandelte Jugend wohnte und ein armes Herz nach seinem Frühling schrie. Und er konnte sich nicht wehren. Nicht der Hunger, nicht die Erschütterung des eben Erlebten, weder seine Selbstanklage noch seine asketische Verachtung aller Fleischesregungen hielten von ihm ab, was plötzlich klar und furchtbar vor seiner Seele stand: »Du liebst!«
Wie im Fieber wiederholte er sich Wort um Wort, was er der Pönitentin gesagt. Aber voll Schrecken gewahrte er, daß die Bitterkeiten und das Pathos, das man für andere aufbringt, im Kampfe mit den eigenen Wünschen ohnmächtig waren. Sein hieratischer Eifer hatte ihn fortgerissen, das Gefühl der eigenen Unsicherheit ihn so beredt gemacht. Nun der erste Rausch vorüber war, empfand er sich so recht als das, was er gewesen: eine »tönende Schelle«! Wie der böse Geist überfiel ihn diese geistliche Mutlosigkeit. Und ihr gesellte sich jenes verräterische Mitleid mit sich selbst, das den Ringenden doppelt schwach macht und doppelt willig.
War sie denn wirklich so verwerflich diese scheue, zitternde Liebe? Bloß deshalb, weil sie ihm endlich zum Bewußtsein gekommen? Hatte er sie jetzt nicht doppelt in der Gewalt und würde sich ein Feind, den man immer vor Augen hatte, nicht leichter bekämpfen lassen, als jener, der ihn bisher aus dem Dunkel angefallen und darum wehrlos gefunden? Blieb er auf Schritt und Tritt vor sich selbst auf der Hut, war es ja ganz unmöglich zu fallen. Bis in den Traum hinein konnte die Suggestion des Willens wirken, heilen, umbilden und sein endlicher Sieg war doppelt gottgefällig!
Mit der bis zur Finesse ausgebildeten Dialektik seines großen Lehrers suchte er diese Annahme vor sich selbst zu rechtfertigen und den Teufel mit allen Ruten der Logik aus seinem Wunsch hinauszupeitschen, bis er sich plötzlich, eben so ferne von seinem Heiligen als von seinem michaelischen Furor, vor einer Halluzination der Geliebten fand, die alle Glut des Mannes in ihm entfachte. Wenn das nun künftig immer geschah, so ehrlich er auch kämpfte? Wie stark würde erst ihre Gegenwart wirken, wenn seine Sinne schon solche Sklaven der Vorstellung waren.
Mit einem Ruck sprang er auf. »Ablenkung bis zur Veränderung der körperlichen Lage«, empfahlen die Asketen für solche Fälle. Und er war doch auf seinen Knien gelegen! Wohin sollte er flüchten, wenn der Teufel ihn bis ins Gebet verfolgte?
Immer rascher durchmaß er das enge Geviert seiner Zelle. Endlich riß er sich das Skapulier vom Leib. War er noch würdig, es zu tragen? In einer solchen Stunde? Als er es aber vor sich liegen sah, auf dem dürftigen Bette des Mönchs, über dem das blutende Herz Jesu hing, da war ihm, als hätt' er seinen letzten Talisman von sich geworfen. Wieder sank er ins Knie und rang die Hände und betete. Aber von seinem Lager stieg ein Geruch auf ... der Geruch, den ein junger, gesunder Menschenleib in Kissen und Decken zurückläßt. Und während er ihn einatmete, kam wieder dieses Gefühl rein physischer Verlassenheit über ihn. Was hatte er nicht schon erlitten auf diesem harten, einsamen Lager! Immer das Leben vor Augen und die Hölle im Rücken. War er allein so verworfen oder ging es den anderen Brüdern auch so und sie heuchelten bloß? Alle, alle ...
Wieder sprang er empor, stürzte ans Fenster, riß es auf. Weißes Nachtgewölk glitt draußen über den Abend hin. Der Brunnen plätscherte. Hoch und blaß standen die Lilien da.
»Wie eine Engelschar!« dachte Fra Clemente unwillkürlich. Und die hereinschlagende Kühle der Nacht, das tiefe Friedensbild des schlummernden Gartens, in dem er die schönsten und reinsten Stunden seines Lebens verträumt, atmeten für einen Augenblick Ruhe und Linderung in seine Seele; gewannen ihm einen Teil seiner geistigen Klarheit zurück.
»Nun ans Studium!« fuhr es ihm durch den Sinn. »Arbeiten, arbeiten, bis die Glocke zur Mattutin ruft.« Hatte er sich in der Arbeit wiedergefunden, brach wohl auch dieser widerspenstige Körper zusammen und er fand die Ruhe eines dumpfen, traumlosen Schlafes.
Tief aufatmend trat er an sein Pult. Mit einem Blick nach dem Kruzifix schlug er die nächste »Quaestio« des ersten Teiles der » Summa theologiae« auf. Es war Quaestio 50, Artikel 1. Der »englische Lehrer« spricht hier von den Engeln. Konnte es eine schönere Zuflucht geben für die ringende Seele eines bedrängten Priesters, als in die reine Sphäre des Geistes und der Geister?
Seinen Willen auf jedes einzelne Wort konzentrierend, las er Satz um Satz. Als er aber am Ende der ersten Seite hielt, war ihm, als hätte er nur eines gelesen: »Soll deine Seele gerettet werden, darfst du die Geliebte nicht länger sehen!«
Und die Hände fielen ihm herab. Wie sinnlos stierte er den Gekreuzigten an, als warte er auf ein Lächeln, auf irgend ein Zeichen, das diese grausame Erkenntnis des Notwendigen in ihr Gegenteil verkehrte. Aber er regte sich nicht, blieb stumm. Stumm und grausam wie die langsam erwachende Erkenntnis des Asketen. Dieser Richter, den einst der nichtsahnende Giovanni Arbo sich selbst geschaffen.
Und er brach vor dem Pult ins Knie und schlug die Hände vors Antlitz und weinte, wie er seit seinen Kindertagen nicht wieder geweint. Leis' knisterten im Frühlingswind die pergamentenen Blätter der kostbaren Handschrift. Immer tiefer brannte die Kerze herab. Ein Nachtschmetterling flog zum Fenster herein, umkreiste das Licht ... zweimal, dreimal, immer rascher, immer enger, bis ein trunkenes Häuflein Leben in der Flamme verzuckte.
Aber Fra Clemente sah es nicht mehr. Langsam, langsam fiel ihm das Haupt auf die Brust, dann sank er zur Seite. Aber wie er dalag: in der rauhen Mönchskutte, mitten auf dem harten Ziegelboden, hatte er einen Traum, den ihm nicht sein Richter sandte, sondern sein Erlöser.
Eine weite, smaragdene Wiese sah er vor sich, so grün, wie sie nur neben den stäubenden Wildwassern der Volskerberge gedeihen. Und über diese Wiese kam Christus auf ihn zu: in einem weißen Gewande, von dem ein Licht ausstrahlte, wie sein Auge es bisher noch nicht gesehen. Rechts und links von dem Herrn blühten Lilien, die so hoch waren wie junge Bäumchen. Seine Füße aber schritten über wilde Hyazinthen einher – über jene dunkelblaue Frühlingsblume seiner heimatlichen Wiesen, die Fra Clemente seit den Tagen von Monte Cassino nicht wieder gesehen. Und der Heiland streckte ihm die Hände entgegen. Als Giovanni aber näher hinblickte, sah er, daß es sein Skapulier war, das Christus ihm entgegenhielt und während er es ihm aufs neue um die Schultern legte, sprach der Herr mit sanfter Stimme: »Gehst du nach Neapel?«
Fra Clemente hörte sich selbst »Ja« sagen und war es ein unendliches Weh, aber auch eine unendliche Seligkeit, die ihn bei diesen Worten durchzuckte. Als leiste er ein Gelöbnis, in dem er alles Glück hingab, um dafür ein Heil zu gewinnen, über das die Füße des Heilands einherkamen wie über die blauen Hyazinthenwiesen seiner Heimat.
Erst als das Glöcklein zur Mattutin rief, erwachte Fra Clemente. Seine Glieder waren wie zerschlagen und ein leises Frösteln schauerte durch den mißhandelten Leib, der nach einem Tag voll Arbeit auf kalten Fliesen sein hartes Lager gefunden. Aber seine Seele war wieder hell und morgenfrisch. Klarer denn je stand vor seinem Geist, was er zu tun habe und als er mit zitternden Händen nach seinem Skapulier griff, stand sein Traum wieder so greifbar vor ihm, daß er ins Knie sank. Und während seine Lippen die Stelle küßten, auf der ihm der Heiland erschienen, hauchte er demütig: »Dein Wille geschehe!« Dann eilte er, sich den Brüdern anzuschließen, deren Schritte schon durch die langen Korridore hallten, ihrem Gott entgegen, während die Erde noch schlief.
Seit Clemente das Mönchskleid trug, war gerade diese Stunde des Tages ihm immer die liebste gewesen, diejenige, die seine noch immer staunende Kinderseele der Andacht und Ehrfurcht vor Gott und seiner Schöpfung am offensten fand. Ihre tiefe Stille, die noch halb der Nacht gehörte, halb schon dem schauernden Morgen ... der Gedanke an die Millionen und Millionen von Geschöpfen, die da draußen in der Hut Gottes schlummerten; an die Myriaden der Sterne, die nach seinem Gesetz wandelten ... die Empfindung, hier knien und ihm huldigen zu dürfen, durch sein Sakrament und die Gnade ihm näher als Menschen und Sterne – sie hatten ihn immer mit einer mystischen Inbrunst erfüllt, in seine betende Stimme einen Jubel gelegt, dem etwas von der aufschauernden Freude innewohnte, mit der die Vögel den grauenden Tag begrüßen. Hatten ihre Rufe nicht auch einen anderen Ton um diese Stunde? Etwas geheimnisvoll Drängendes, sehnsüchtig Werbendes, ahnungsvoll Grüßendes? Sie fühlten, daß es der Schöpfer war, der da jeden Tag aufs neue heraufkam und den Schleier der Nacht hinwegzog von der Erde und seiner Kreatur. Wie ein »Halleluja« war's, das seine Himmel stürmte. Wohl ihm, der mit einstimmen durfte!
So andächtig und weltvergessen wie heute aber hatte Fra Clemente noch niemals gebetet, noch nie solche Worte gefunden. Auch war es nicht bloß die Andacht des Verzückten, die seine Seele so hinnahm. Die gottdurchleuchtete Ordnung der Welt und der Dinge, die der heilige Thomas so grandios zu schildern, so flammend zu verteidigen weiß – sie war ihm nie herrlicher, nie selbstverständlicher erschienen. Noch zerfleischt vom Schmerz seines Opfers, küßte er die leuchtende Hand, die es ihm auferlegte.
Längst schon war der Gesang der Brüder verstummt, hatte der letzte den Chor verlassen. Aber Fra Clemente lag noch immer auf den Knien, bis der erste Strahl der Sonne in die vielfarbige Dämmerung der Kirche fiel und der Bruder Sakristan mit rasselndem Schlüsselbund über die Fliesen schlürfte.
Als der Prior mit seiner Messe zu Ende war, trat Fra Clemente vor ihn. »Ob er in aller Demut eine Bitte wagen dürfe?«
Der Prior nickte. Darauf bat Clemente, seine Studien in Neapel beenden zu dürfen: in San Domenico, dem Kloster des heiligen Thomas.
»Haben Sie, lieber Bruder, einen besonderen Grund für diese Bitte?« fragte der Prior mit einem aufmerksamen Blick in das übernächtige Antlitz des Mönchs.
Und ohne die Augen zu heben, erwiderte Clemente: »Ich hätte dort keine Seelsorge, könnte leichter arbeiten und rascher fertig werden. Aber wie es meinem Oberen gefällt!«
Eine kleine Pause trat ein. Dann sprach der Prior langsam: »Sie haben sich, soviel ich weiß, besonders das Seelenheil der ehrwürdigen Salesianerinnen angelegen sein lassen. Tut es Ihnen nicht leid, diese Pflanzstätte Ihres Wirkens aufzugeben?«
»Der Weinberg des Herrn hat viele Arbeiter!« erwiderte Fra Clemente leise und demütig.
Wieder sah ihn der Prior an. Diesmal schärfer, durchdringender, aber zugleich auch mit dem Wohlwollen des Vollendeten, der Kampf und Jugend gerade so weit hinter sich hat, um sie liebevoll zu verstehn und weise zu leiten. »Nun gut,« sagte er endlich. »So wird es Sie vielleicht freuen, zu hören, daß ich gerade gestern abends einen Brief erhielt, in dem der hochwürdigste General unseres Ordens im gleichen Sinn über Sie verfügt. So kommt Ihr Wunsch seinem Befehl entgegen!«
Ein leises Beben ging durch die Gestalt des Mönches. Und der Blick, mit dem er plötzlich zu seinem Oberen aufsah, hatte etwas so Ekstatisches, die unter dem Skapulier gefalteten Hände preßten sich so krampfhaft wider die Brust, das Lächeln seiner Lippen nahm einen so süßen und zugleich vergeistigten Ausdruck an, daß dem Prior ganz eigen ums Herz wurde. »Es macht Sie wohl recht glücklich?« fragte er väterlich.
Mit tief gesenktem Haupt erwiderte Fra Clemente: »Weil ich fühle, daß mein Heiland es will!« Und seine Augen schlossen sich, wie vor der Gewalt eines inneren Gesichtes.
»Ziehen Sie in Frieden!«
»Noch heute?« stotterte Fra Clemente in freudiger Überraschung.
»Ihr Reisegeld wird Ihnen der Bruder Wirtschafter ausfolgen. Das Gepäck geht Ihnen nach.«
Fra Clemente hob das Haupt, schien etwas sagen zu wollen – zögerte wieder ... »Nun?« ermunterte ihn der Prior.
»Dürfte ich bis Monte Cassino zu Fuß gehen? Ich hab' es einmal gelobt!«
»Um so näher wird Ihnen der Herr sein,« nickte der Prior. Und schon beugte sich Fra Clemente über seine Hand, über diese Hand, die nicht wußte, welch ein Kreuz sie ihm auflud, indem sie gewährte, um was er bat.
»Halt, noch eines!« erinnerte sich der Prior. »Wenn Sie Ihre Reise zu Fuß antreten, kommen Sie ja auch bei den ehrwürdigen Salesianerinnen vorüber. Treten Sie dort ein und melden Sie der Frau Oberin, daß ich für Ihren Nachfolger bestens Sorge tragen werde!«
»Es – wird geschehn ...« murmelte Fra Clemente mit einem hilflosen Blick. Er wandte sich langsam zum Gehen. Schwer war es, arm zu sein, noch schwerer, rein zu bleiben. Wie hart es aber oft sei, zu gehorchen, war ihm nie so fürchterlich auf die Seele gefallen wie in diesem Augenblick. Doch – es war sein Kreuz, das da vor ihm aus dem Boden wuchs.
Wie im Traum schritt er in seine Zelle zurück, nahm sein Brevier und seinen Stab, warf einen letzten, leeren Blick über den lieben Raum, von dem er noch gestern gewähnt, er werde noch lange seine Heimat sein. Der Garten funkelte im Morgentau. Auf dem Pult lag noch sein Thomas aufgeschlagen. Das liebe Buch würde ihm ja nachgesandt werden mit seinem selbstgeschnitzten Kruzifix und all den kleinen Devotionalien, die ihm den kahlen Raum wohnlich gemacht. Aber er konnte nicht hindern, daß ihm eine Träne in die Augen trat, um das Stück Menschlichkeit, das er hier zurückließ.
Dann ging er in den Morgen hinaus.
Die Glocke seiner Kirche läutete hinter ihm her. Auf der Straße begegneten ihm dieselben Menschen, die er alltäglich zu sehn gewohnt war, seit er von San Sisto zu den Salesianerinnen hinüberging. Auf dem Forum trieben sich dieselben Straßenjungen herum. Was hatte er an sich, daß sie ihn heute so scheu anblickten, ihm nicht nachschimpften wie sonst? Aber er wollte sich keine Gedanken machen, am wenigsten den, daß er dies alles zum letztenmal sah. Für lange Zeit – vielleicht für immer. So trat er bei den Salesianerinnen ein.
Aus den Lehrsälen tönte das Gebet der jungen Mädchen, aus den Wirtschaftsräumen das Gezänk zweier »Winden«, die sich nur »im Herrn« liebten. Von der Kapelle her kamen die weihevollen Klänge eines Bachschen Präludiums. Es war diejenige Stunde des Tages, in der fast jede Schwester an der Arbeit war und nur die Oberin rechnend und schreibend in ihrem Bureau saß. Er würde also ganz allein sein mit ihr, durch das Gitter getrennt, aber doch allein.
»Die Frau Oberin wird gleich erscheinen!« sagte die Pförtnerin, als sie ihn in das Sprechzimmer führte. So blieb er eine Weile allein. Die Mater admirabilis, die Schwester Domenicas Hand an die Tapete gezeichnet, sah mit starren Augen auf ihn herab. Eine alte eiserne Klosteruhr maß mit hartem Pendelschlag die Sekunden ab ... » Una ex his ultima,« hatte ein Mönch an ihre Stirnseite geschrieben. Und Fra Clemente sah sich die Stunde an, die hier für ihn die letzte sein würde. Erschüttert schloß er die Augen.
Das Fenster nach dem Garten stand offen und ließ die ganze Pracht des Maimorgens herein. All den Duft der Blumen, die draußen blühten. Wie schön und sonnig dieser Frühling war, wie hell und goldig er alles machte! Sollte seine Fülle nicht auch für ihn ein Heilkräutlein aufsprießen lassen? Irgendwo ... irgendwann?
Da stahl sich ein eigener Duft an ihn heran, leise, scheu, als bekäme plötzlich die Erinnerung selbst einen Atem und erfülle ihn mit Seligkeiten, die er bisher nicht geahnt. »Das sind ja – wilde Hyazinthen!« schoß es ihm durch den Sinn. Erst wie eine vage Empfindung, bis die Empfindung sich zur Aufmerksamkeit verdichtete und diese zum Gedanken. »Da müssen irgendwo wilde Hyazinthen blühen!« sagte er sich endlich. Oder träumte er wieder denselben Traum? Dann würde ja auch der Herr wieder vor ihm stehen, wenn er die Augen ausschlug! Ein Schauer ging an ihm nieder.
Da schollen leichte Schritte an sein Ohr. Gleich darauf wurde das Fenster des Sprechgitters zurückgeschoben. »Bleib' bei uns Herr!« betete Fra Clemente leise und schlug die Augen auf.
Als er sich aber erhob, um derjenigen entgegenzuschreiten, die er liebte, da fiel sein Blick auf eine Kristallschale, die knapp neben dem Sprechgitter stand. Blaue Blumen blühten ihm daraus entgegen: die Blume seiner heimatlichen Wiesen, die Blume des Traumes, der ihn erlöst – wilde Hyazinthen!
Und plötzlich schien Fra Clemente nur mehr diese Blumen zu sehen, starrte sie so verzückt und unentwegt an, daß ihm das Wort versagte, der Atem ausblieb, die Seligkeit seines Traumes zur Wirklichkeit wurde, die alles hinnahm, was sein Herz bedrängte: Qual und Sehnsucht und die Angst vor dieser letzten, schwersten Stunde, bis nichts darin zurückblieb als die geheimnisvolle Gewißheit seines Heils.
»Fra Clemente –?« klang es vom Sprechgitter her. Unsicher, betreten ...
»Woher – haben Sie – diese Blumen?« fragte der Mönch mit bebender Stimme.
»Sie meinen die Hyazinthen? Die haben einige Schülerinnen heimgebracht, von einem Sonntagsausflug nach Monte Cassino. Leider welken sie schon.«
» Glauben Sie?« lächelte Fra Clemente eigentümlich, und er beugte sich über die Schale und begann den Duft der Blumen einzusaugen, sehnsüchtig-langsam, immer tiefer, immer tiefer, bis seine Wangen sich leise röteten und seine Augen von einem Glänze widerstrahlten, wie Mater Renée ihn noch niemals darin gesehen.
»Lieben Sie denn diese Blume so sehr?« fragte sie lächelnd. Es sollte nebenher gesagt sein, bloß um das Schweigen auszufüllen, das so bang zwischen ihnen zitterte. Und doch hörte er plötzlich die Zärtlichkeit heraus, die darin für ihn bebte und auch einen Duft zu haben schien, aber einen, vor dem ihm jetzt graute. »Nun ist es an der Zeit!« sagte er sich hart. Er hob das Haupt und sah sie an, ruhig, klar.
»Ich komme Abschied nehmen, Frau Oberin!«
Sie starrte ihn an, sagte kein Wort, aber ihre Hände griffen rechts und links nach dem Gitter.
»Meine Oberen wünschen, daß ich in San Domenico meine Studien vollende,« fuhr Fra Clemente fort. »Und da es auch mein Wunsch ist –«
»Sie wollen uns also verlassen?« stammelte sie tonlos. »Und – « Sie wollte noch etwas sagen, doch ihre Stimme brach und ihr Aug' hing mit dem Ausdruck solcher Qual an ihm, als wär' er gekommen, ihr das Leben zu nehmen.
»Sie liebt mich!« dachte er erschüttert. Aber es war nicht mehr das Weh der Kreatur, das ihm ans Herz griff, nur das Heil ihrer Seele, die sein steter Anblick zum Straucheln gebracht. »Versuchst du uns beide, Herr?« schrie es in ihm auf. »Nun wohl, so will ich für beide stark sein.«
Und mit voller Ruhe erwiderte er: »Frau Oberin dürfen ganz unbesorgt sein. Der Herr Prior wird sich bemühen, dem ehrwürdigen Konvent wieder einen gewissenhaften Seelsorger zur Verfügung zu stellen. Dies zu sagen hat er mich noch einmal hergeschickt.«
» Sie wären also ohne Lebewohl von uns gegangen?« kam es bitter zurück.
»Wir gehen und kommen, wohin der Herr uns ruft,« erwiderte Fra Clemente, ohne den Blick zu heben. Wie sein Aug' aber so auf dem Boden hastete, sah er einen Sonnenstreifen, der zwischen ihm und der Geliebten lag und so oft zwischen ihnen gelegen war ... im Frühling, wenn sie an derselben Stelle standen und plauderten. Und alle Kraft des Herrn konnte ihn nicht hindern, zu denken: »Der wird mit dir gehen, auch nach San Domenico!«
Und in demselben Augenblick sprach Schwester Renée leise: »Aber wenn der Herr uns so ruft, wissen wir, daß wir uns nie mehr wiedersehen. Geben Sie mir Ihren Segen, Fra Clemente!«
Schon kniete sie vor ihm und von seinen Lippen fielen die Worte der lateinischen Formel – jedes ein Stein, der sie traf. Seine Hand zeichnete das Kreuz über sie ... das harte Kreuz, das sie hinfort allein tragen mußte. Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloß und eine Weile später die Pforte des Klosters.
Lang sah er sich die Straße an, bevor er seinen Stab daraufsetzte. Es war »der königliche Weg des heiligen Kreuzes«, der da für ihn begann.