Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

X. Silentium.

Eine alte Bettlerin stieß als erste auf Elenas Leiche. Sie erhielt jeden Morgen die Reste der Abendmahlzeit an der Pforte und fand sich immer so früh als möglich ein, in der steten Sorge, daß die bucklige Oliva, die mit ihr das Forum belagerte, ihr einmal auch hieher nachschleichen könne. Dann wäre von den guten Bissen der Zöglingstafel nur mehr die Hälfte auf sie gekommen. Wenn sie ihr Töpfchen voll hatte, ließ sie sich im Frieden der Klostermauer nieder und hielt ein Mahl, von dessen Herrlichkeit sich die Oliva nichts träumen ließ. War das Mahl aber beendet, schlich sie sofort auf einem Umweg zurück und tat auf dem Forum wieder so erbärmlich, als hätte sie nie von der Tafel der jungen Prinzessinnen genascht.

Wie erstarrt stand sie eine Weile vor der Toten. Allmählich begann das zersplitterte Fensterkreuz und das von den blassen Händen Elenas noch immer krampfhaft festgehaltene Seil ihr die traurige Geschichte dieser Nacht zu erzählen. Mit einem Schrei stürzte sie an die Pforte, um die drinnen aus ihrer Beschaulichkeit emporzureißen.

Auf halbem Weg besann sie sich jedoch, daß man in der allgemeinen Aufregung vielleicht vergessen könnte, ihr die gewohnten Reste zu reichen. Weshalb sie, vor der Pforte angelangt, so bescheiden und sachte wie sonst anpochte, sich unter den üblichen frommen Redensarten ihr Töpfchen füllen ließ, und darauf wieder scheinbar unbefangen zur Seite schlich, um an der gewohnten Stelle ihr Mahl einzunehmen. Die guten Sachen dufteten wieder so verlockend, daß die Alte nicht umhin konnte, wenigstens ein paar Bissen zu sich zu nehmen, wenn ihre Hände auch bebten und das Grauen mit ihrem Hunger eine entsetzliche Mahlzeit hielt. Aber was sollte man tun, wenn man so arm war? Gott und die heilige Jungfrau würden es gewiß verzeihen. Für sie war es ja schon schlimm genug, in aller Frühe einen solchen Fund zu machen. Wenn sich ihr Aberglaube auch wohl gehütet hatte, die Leiche zu berühren – ganz gewiß würde sie heute keine zehn Soldi erbetteln.

Doch alles half nichts; die Brocken blieben ihr förmlich in der Kehle stecken. Wohin sie auch sehen mochte – die weit und groß zum Himmel starrenden Augen der Toten wollten ihr nicht aus dem Sinn. » Mal occhio – mal occhio« murmelte sie in ihr Töpfchen. Und ... war es nicht ihre Pflicht, die Schwestern so schnell als möglich von dem Entsetzlichen zu verständigen? Bevor andere kamen und sahen, was der Konvent vielleicht nicht gerne gesehen und besprochen haben wollte? Und sicher würde auch für sie dabei etwas herausschauen!

So stürzte sie endlich mit zitternden Beinen zurück und schrie der entsetzten Pförtnerin alles auf einmal ins Gesicht. Die Pförtnerin stand und stand und wußte nicht, ob dies plötzlicher Wahnsinn sei oder ein böser Streich, den man dem Kloster gespielt, oder wirkliche, grauenvolle Wahrheit.

Und dabei durfte keine der Schwestern auch nur den Fuß über die Schwelle setzen.

Aber der Frau Oberin mußte man es natürlich melden.

Mater Renée hatte wieder eine wilde Fiebernacht hinter sich, voll spukhafter Träume und körperlicher Qualen. Als die Pförtnerin in ihre Zelle trat, erhob sie sich gerade vom Schreibtisch, an dem sie einige wichtige Briefe erledigt. Die Bewegung, mit der ihre zitternde Rechte nach einem Halt tastete, um dem erschöpften Leib die nötige Stütze zu gewähren, war so müde und hilflos, daß die Pförtnerin im ersten Augenblick nicht einmal den Mut fand, ihr alles zu sagen. So blaß, so hinfällig und schattenhaft, wie die Kranke dort vor ihr stand, mußte sie fürchten, sie durch diese Nachricht einer Ohnmacht nahe zu bringen. Wenn jemals aber, war es in dieser Stunde notwendig, daß die Oberin des Klosters in voller Ruhe und Geistesklarheit das Nötige verfüge.

Die Pförtnerin stammelte also erst etwas von einem »großen, großen Unglück«, das in dieser Nacht geschehen wäre, worauf sie, die Wirkung ihrer Nachricht abwartend, voll ängstlicher Spannung in das Antlitz Mater Renées blickte.

Aber seltsam ... Mater Renée blieb ganz unbewegt. Machte sie ihre Krankheit so gleichgiltig oder war es die durch nichts mehr zu erschütternde Ruhe einer Heiligen? Wie fröstelnd zog sie mit beiden Händen ihren Schleier über der Brust zusammen, gerade dort, wo ihr Kreuz hing. »In Gottes Namen!« murmelte sie dabei. Und sie fragte: »Hat man vielleicht Mater Dominika nicht gut genug bewacht?« Sie fragte es so ruhig, so ohne jede Spur eines Unwillens oder einer Erregung, als wäre auch damit nur etwas geschehen, was sie schon lange erwartet.

»Sie muß doch sehr krank sein,« dachte die Pförtnerin, die auch einmal an der Malaria gelitten hatte und daher wußte, wie gleichgiltig einen das Fieber machen konnte. Aber schließlich – die Sache hatte Eile! Und war die Oberin stark oder gleichgiltig genug, so ruhig von dem Selbstmord einer – Nonne zu sprechen, würde ihr der eines Zöglings auch nicht die Besinnung rauben.

»Nein, nein,« erwiderte sie aufatmend. »Mater Dominika lebt noch, Gott sei Dank! Aber eine unserer Pensionärinnen ...«

»Nun, nun –?« drängte die Oberin, sichtlich abgespannt.

»Wollte – wollte durchs Fenster hinaus, diese Nacht, und liegt jetzt tot unten!«

Mater Renée griff sich an den Kopf. »Zum Fenster?« murmelte sie dann mechanisch nach ... »zum – Fenster? Unsere Fenster haben doch alle Gitter. Oder nicht?« Und der stiere Blick ihrer fieberglühenden Augen nahm plötzlich einen unbestimmten Ausdruck an. Als wisse sie nun nicht, ob sie der Wirklichkeit ins Antlitz sähe oder wieder nur eines jener entsetzlichen Gesichte vor sich habe, die ihr seit einigen Wochen Traum und Wirklichkeit so spukhaft ineinandergleiten ließen.

»Die Mansarde hat keine Gitter,« erinnerte die Schwester devot.

»Ich weiß ... ich weiß!« stammelte Mater Renée. »Aber – wie kam sie denn in die Mansarde?«

»Sie wollte eben fort!« suchte die Schwester zu erklären, »und da muß sie sich in der Nacht hinaufgeschlichen haben. Ein Seil fand sich auch zum Unglück, unsere alte Wäscheleine. Aber das Fensterkreuz war schon morsch. So ist sie abgestürzt. Und nun liegt sie unten auf der Straße ...« setzte die Schwester mit erhobener Stimme hinzu. Wie um der Oberin verständlich zu machen, daß der Konvent an der ganzen Sache nur mehr ein Interesse habe: die rasche Bergung der Leiche, damit der Skandal nicht allzu öffentlich werde.

Aber Mater Renée schien nicht hören zu wollen. Und vielleicht stand jetzt schon einer dieser Kustoden der verruchten Cäsarenpaläste unten und sah, was die alte Bettlerin gesehen und machte sich noch einen ganz anderen Vers darauf. Und »Regno d'Italia« bekam den neuesten Klosterroman frischgedruckt zum Nachmittagskaffee. Es war entsetzlich ...

In die fieberglastenden Augen der Oberin aber kam plötzlich ein seltsamer Ausdruck, ein Blick, der Neugierde war und Spannung, jedenfalls das erste Zeichen eines Interesses. »Und welche war es denn, die durchaus – fort wollte?« fragte sie mit erhobener Stimme.

»Sie ist doch recht wunderlich heute!« dachte die Pförtnerin. »Selbst wenn man ihre Krankheit in Betracht zieht. Das ist ja, als wenn wir alle sie nichts mehr angingen!«

Und laut erwiderte sie: »Ich weiß auch nur, was mir unsere Hausarme gesagt hat. Und die hat nur von einer jungen Signorina gesprochen. Die Hauptsache denk' ich, ist jetzt doch –«

»Was?« fiel Mater Renée ein. Dabei lächelte sie so fremd und seltsam, wie die Pförtnerin sie noch niemals lächeln gesehen. Fast – spöttisch.

»Daß wir – daß wir die Leiche schnell hereinbringen lassen!« drängte die Schwester.

Jäh, fast schroff kehrte sich die Oberin ab. Selbst ihre Stimme schien eine fremde, wie sie erwiderte: »Die Tote bleibt liegen, bis die Polizei kommt!«

Die Pförtnerin ließ beide Hände zugleich herabfallen, mit ihnen ihr Gürtelkreuz, das sie während der ganzen Meldung fromm und wie betend zwischen den Fingern gehalten.

»Aber – aber ...« stammelte sie bloß.

»Ja,« kam es heftig zurück. »Entweder sind wir unschuldig ... dann kann auch diese Leiche nicht wider uns zeugen. Oder wir sind schuldig, dann wird alle Klugheit der Welt nicht die Schmach von uns nehmen, durch irgend eine Unnatur ein Kind – ein Kind so weit gebracht zu haben!«

»Durch eine Unnatur?« stotterte die Pförtnerin. Sie staunte – keines Wortes mächtig, und schien nichts mehr zu sehen, als diese hohe fürstliche Gestalt. Die einmal des Klosters ergebenste Dienerin war und nun so fremd und stolz und unnahbar vor ihr stand, daß es der armen Schwester ganz seltsam zumute wurde.

»Unnatur – Unnatur?« schwirrte es durch ihren Kopf. War denn das überhaupt noch ein christliches Wort? So eines, das man sprechen konnte, ohne dabei an den Teufel denken zu müssen und an all die andern Fallstricke dieser Welt?

Doch Mater Renée ließ ihr nicht Zeit, darüber nachzudenken.

»Holen Sie mir die Präfektin!« gebot sie kurz.

Und die Pförtnerin verbeugte sich so tief, als stünde sie nicht vor ihrer Mitschwester, sondern vor einer hohen, hohen Dame, die noch dazu ein Mensch war, wie sie zeitlebens keinen gesehen. So ganz, ganz anders als alle, die fromm waren! Es konnte ja Täuschung sein ... Aber! sprach so die Oberin eines Klosters, wenn ihr sein Wohl nur ein bischen am Herzen lag?

Damit eilte sie zur Präfektin.

Hinter ihr sank Mater Renée wie gebrochen auf ihren Stuhl zurück. Noch wußte sie nicht, welche Pensionärin aus dem Weg in die Freiheit den Tod gefunden. Aber eines fühlte sie mit allen Fasern ihres Herzens, daß es eine tief Unglückliche sein mußte! Eine, die den Druck dieser Mauern und den Zwang ihrer Gesetze härter empfunden denn alle Schrecknisse, die ihr den Weg in die Freiheit verstellt. Die in scheuer Heimlichkeit einen großen, nagenden Schmerz in sich getragen, von niemandem verstanden – von niemandem getröstet. So einen Schmerz, der klar empfunden, daß all dies Getue christlicher Milde auch nicht ein Fünkchen Liebe oder Verständnis für ihn übrig habe. So herb es empfunden, daß er sogar die Schrecken der Nacht für erträglicher – selbst den Tod für barmherziger gehalten als diese ganze christliche Liebe!

Eine, die gerade so unglücklich war wie sie ...

Und in dem zermarterten Herzen der fürstlichen Nonne quoll plötzlich ein heißes Mitgefühl auf und Tränen, die sie auch der eigenen Verlassenheit weinte, indem sie jener Unglücklichen gedachte. Welche aber war es?

Wenn sie aufrichtig sein wollte, mußte sie sich gestehen, daß sie während des vergangenen Jahres nur einen Gedanken gehabt – nur einer Empfindung gelebt: ihrer Liebe und der heißen Sehnsucht, mit der diese unselige Leidenschaft nach und nach ihre ganze Seele erfüllt. Wie eine schleichende Vergiftung war es. Und die Leidenschaft hatte sie um so wehrloser gefunden, als es die erste ihres Lebens war. Hätte Fra Clemente nicht Rom verlassen, wäre diese Neigung vielleicht die scheue Passionsblume geblieben, die sie so lang gewesen. Mystisch weiterblühend im Schatten des Kreuzes, das seine Gnade über so viel Entsagung und stumm getragenes Herzeleid ausstrahlte und auch für den kindlichen Selbstbetrug eines reinen Gemütes noch eine göttliche Duldung hatte, für die sehnsüchtigen Halluzinationen unerweckter Sinne noch alle Wunder der Legende.

Da kam die Stunde des Scheidens, jene harte, plötzliche, noch heute unvergessene Stunde! Und mit ihr das grelle Licht einer Erkenntnis, die mit brutaler Gewalt auch den letzten Schleier von dieser Seele riß. Das war ihr Gott gewesen – und dort ging er hin ... für immer! So viel Nächte auch seither vergangen – nicht eine gab es, die sie nicht immer wieder die Passion derselben Stunde durchkosten ließ. In Träumen, die die verschiedenste Gestalt annahmen, aber doch stets die gleiche Qual mit sich brachten. Eine Qual, die sich aus Schwermut und Sehnsucht und herzblutvergießender Angst mischte und merkwürdigerweise auch im Traum gerade so stumm blieb wie in jener Stunde des Scheidens, nicht ein Wort des Gestehens fand, nicht einen erlösenden Schrei. Und doch hundertfach empfunden wurde unter dem Druck der Magie, mit der ein Traum uns zwingen kann, ihn qualvoller oder seliger zu durchkosten denn alle Wonnen und Schauer des Lebens.

Nicht ein Zug aus dem blassen Antlitz Fra Clementes war dem Gedächtnis ihrer Liebe entglitten. Und der Ton seiner Stimme schlief wie ein Echo in den dunklen Gärten ihrer Seele. Sein letzter Blick, die Kadenz des letzten Wortes, das er zu ihr gesprochen, die Neigung seines Hauptes beim letzten Gruß ... und wie er dann hinausgeschritten war – so demutsvoll unter der Last seines Kreuzes und doch auch stolz, es tragen zu können ... Nichts, nichts hatte sie vergessen! Nichts anderes gehört und gesehen seit damals. Wie fahle Schatten waren die Geschehnisse eines ganzen Jahres an ihr vorübergeglitten. Und hatte sie irgendwo ihre Hände dabei gehabt – ihre Seele wußte von all dem nichts! Aber ein Traum – immer derselbe Traum war ihr zur Wirklichkeit geworden. Und darüber hatte sie vergessen, was ihre Pflicht war.

Und nun lag eine drunten, mit zerschmetterten Gliedern und starrte zum Himmel mit Augen, die anklagten. Noch ein halbes Kind! Sie aber ahnte nicht einmal, wer es sein mochte!

Da trat die Präfektin ein, blaß bis in die Lippen, trotz aller Beherrschung doch so verstört, daß Mater Renée im ersten Augenblick nicht wußte, ob sie eine Mitschuldige oder Mitleidende vor sich habe.

»Die Pförtnerin hat Ihnen gesagt, was geschehen ist?«

»Ja,« klang es kaum hörbar zurück.

»Haben Sie schon unter den Zöglingen Nachschau gehalten?«

»Nein.«

»Dann tun Sie es sofort. Wir müssen doch wissen, wer es ist.«

Die Präfektin bewegte die Lippen, brachte aber keinen Ton hervor.

»Nun?« drängte Mater Renée. »Wir müssen doch in der Lage sein, der Polizei das Nähere anzugeben ... wenn schon – wenn schon nicht die – Gründe!« setzte sie mit einem herben Lächeln hinzu.

Mater Zenobia machte einen neuen Versuch, zu reden – umsonst! Es war nicht bloß die Feigheit, die sie verstummen ließ; die Angst, mit dem Namen des Opfers auch ihre eigene Schuld an diesem Blute bekennen zu müssen ... Eine Empfindung, die sie bisher noch nie gekannt, schnürte ihr die Kehle zusammen: das Gefühl, daß keine der frommen Waffen, die sie so trefflich zu gebrauchen verstand, diesmal für ihre Verteidigung stark genug sein, keine der salbungsvollen Redensarten ausreichen werde, dieses Blut von ihrer Seele zu waschen. Ihr Gott selbst ließ sie im Stiche; lieferte sie nicht nur dem Gerichte der Menschen aus, sondern auch dem höllischen Gezischel in der eigenen Brust. Und war es eine Prüfung, war es die entsetzlichste ihres ganzen Lebens, eines Lebens, das sich so lang in der pharisäischen Selbsttäuschung gefallen, daß alles, was sie tue, in Gott getan sei und darum wohlgetan.

Die Oberin hatte sie erst befremdet, dann mit steigender Aufmerksamkeit betrachtet. Und plötzlich schoß ihr eine Erinnerung durch das fieberschwere Haupt, leuchtete vor ihr auf – so grell und blitzartig, daß sie im ersten Schreck fast umzusinken meinte. Wenn sie auf der rechten Spur war? Aber nein, nein. Es mußte nicht diese sein! Das Schweigen der Präfektin war vielleicht doch nur Ergriffenheit.

Aber sie mußte endlich Gewißheit haben.

»So viel ich mich erinnere, haben Sie gestern die Ziani von den Exerzitien ausgeschlossen,« begann sie »und es mir auch gemeldet. Ich habe nicht weiter gefragt. Aber ... die Ziani wird es ja nicht sein?«

Da war er heraußen – der Name! Und sein bloßer Klang hallte wie ein Donnerschlag in der Seele der Schuldigen wider. Wäre die Tote selbst vor die Elende getreten, deren herzloser Fanatismus sie so weit getrieben – das Grauen der Unseligen hätte nicht stärker sein können. War es denn möglich, daß ein bloßer Name, ein Wort – solche Gewalten in sich barg?

Und das Antlitz der Präfektin verzerrte sich plötzlich, ihre Lippen zuckten. Der gelbe Pferdezahn fletschte zum erstenmal in boshafter Ohnmacht einem Schicksal entgegen, das stärker war und zwingender als der ganze fromme Dünkel dieser »Heiligen«.

Entsetzt fuhr die Oberin zurück. Wenn die Präfektin auch noch schwieg – dieses Antlitz hatte ihr alles verraten. In einem Augenblick – alles! Hätte sich die Hölle geöffnet, um die Fratze eines Verdammten herauszuspeien – seine Züge hätten nicht gräßlicher sein können, als dieses Antlitz.

»So reden Sie doch!« schrie sie erregt. Und den zwingenden Blick der fieberglühenden Augen wie bannend auf sie geheftet, trat sie dicht und fast drohend an die Schweigende heran.

»Können Sie mir sagen, daß es nicht die Ziani ist?«

»Doch, sie – sie wird es sein!« stieß Mater Zenobia endlich mühsam hervor.

»Sie – wird es sein!« wiederholte die Oberin tonlos. »Sie wird es sein!« Und mit einem Lächeln voll toter Verachtung: »Freilich ... für wen hätte dieses Haus auch weniger Platz gehabt!«

Die Präfektin hob wie aufhorchend das Haupt. Noch zu verstört, um auf den Ton zu achten, in dem diese Worte gesprochen worden, glaubte sie eine, wenn auch nur angedeutete Mißachtung des »Bastards« darin zu finden. Und der von der Schuld fast erdrückte Hochmut der »Vollkommenen« schnellte im Augenblick zu seiner ganzen Genugtuung empor.

»Das hab' ich ja immer gesagt!« winselte sie ... »Daß es mit der noch einmal so weit kommen wird! Ein Kind, das auf solche Weise ins Leben gerufen wird, ohne die Gnade des Sakramentes ... So etwas hat keinen Schutzengel, kann ihn nicht haben und geht heut' oder morgen auch anders aus dem Leben!«

Mater Renée sah sie bloß an. Ihre Augen wurden immer größer, ihr Blick höhnisch und fremd. Endlich lachte sie auf, kalt, hart ... »Und uns – nicht wahr? Uns hat der liebe Gott eigens angestellt, damit wir es so weit kommen lassen? Und Sie tragen das Kreuz – Sie? An Ihrer Brust und da – an Ihrem Gürtel? Und schämen sich nicht, das zu sagen? Im Angesichte Ihres Heilandes, der selbst die Magdalenerin von der Straße emporgehoben? Sie freuen sich am Ende noch? Und deuten es als einen – ›Fingerzeig?‹ Sorgen Sie sofort, daß die Polizei verständigt wird.«

Die Präfektin schien noch etwas erwidern zu wollen, aber ihre Stimme versagte. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, schlich sie langsam hinaus, von einer Angst geschüttelt, die noch einmal so groß war, seit sie das Wort »Polizei« gehört. Alle Strafen, die das Kloster über widerspenstige Nonnen verhängte – und es waren ebenso schwere als schimpfliche darunter – hätte sie gern auf sich genommen, wenn die »Polizei« zu umgehen gewesen wäre! Was der liebe Gott ihr tun konnte, glaubte sie zu wissen. Was man vom Teufel zu befürchten hatte, stand in tausend frommen Büchern verzeichnet. Wie ein Beamter dieses »gottlosen Königreiches« aber hier seines Amtes walten würde, davon hatte sie keine Ahnung! Und gab es noch einen Trost für sie, so war es nur der, daß sie bei der Aufnahme des Tatbestandes »hinter der Klausur zu erscheinen« hatte. Diesem Wall, hinter dem sich so viel Heiligkeit und Weltflucht verschanzte und zuweilen – ja, zuweilen auch irgend eine fromme, notwendige Lüge!

Als die Präfektin draußen war, schlug Mater Renée beide Hände vors Antlitz. Und aus dem Dunkel ihres Innern, aus dem Brand des Fiebers, das ihr Blut zu immer rascheren Pulsen peitschte, stieg wie ein erschütterndes Traumbild die Gestalt Elenas empor, dieses unglücklichen Kindes, dem sie eine zweite, eine wirkliche Mutter hätte sein können, wenn ...

Und sie hatte sich »Mater« nennen lassen!

Warum hatte sie früher nie der tragische Ausdruck dieses Antlitzes erschüttert – still und herb und schmerzgeadelt, wie es nun plötzlich vor ihr aufleuchtete? Über den knospenhaften Zügen schon den dunklen Flor frühen Wissens vom Leben ... um die bleiche Stirn die blutigen Male seines Martyriums. Wußte sie denn, ob diese vereinsamte Seele nicht auch nach ihr zuweilen die Arme gestreckt? In stummem Flehen, wie zu einer letzten Zuflucht, wenn die Verachtung und das Mißtrauen dieser Frommen sie allzu tief verletzt, sie bis ins Innerste beleidigt hatten! Aber damals war auch sie »vollkommen« gewesen, hatte nur den Makel an der Unglücklichen gesehen, nur die Mittel bedacht, mit denen der böse Wille bekämpft werden sollte, der ihr im Blute liegen mußte. Verfolgt, verdächtigt, verachtet von allen, war ihr zuletzt nur dieser eine Ausweg geblieben: die Flucht zwischen Leben und Tod ... Und wie oft hatte die Unselige auch zu der Herrin dieses Hauses »Mater« gesagt!

»Mater!«

Wie groß und feierlich, wie geheimnisvoll und mächtig dieses Wort jetzt in der Seele der Nonne widerhallte. Jetzt – da sie die Liebe kannte!

Aber was half es, daß auch ihre Seele nun die Mutterarme nach dem Kinde streckte, das auf den marmornen Trümmern unten verblutet war? Von der Stirne der Verlassenen leuchtete jetzt der bleiche Widerschein der Gefilde, die der Tod hütet. Er, der kein Erbarmen kennt und keine Antwort mehr gibt, weder der Liebe, noch der Reue.

Ein lautes Pochen schreckte sie empor. Als sie sich wandte, stand Alba vor ihr, totenbleich auch sie. In dem blassen Antlitz aber ein Ausdruck solch feindseliger Kälte und herber Entschlossenheit, daß die Kranke ihr schüchtern und fast beklommen entgegentrat.

»Wer schickt Sie, liebe Chietti?«

Den Blick der dunklen Augen unverwandt auf sie gerichtet, stand Alba eine ganze Weile stumm. Hart und kurz erwiderte sie: »Eine Tote!«

In tiefster Bewegung streckte Mater Renée ihr beide Hände entgegen. Und die Art, in der dies geschah, der Ausdruck ihres Antlitzes, die plötzlich aus ihren Augen hervorbrechenden Tränen, atmeten eine solche Demut und Zärtlichkeit, daß sich Alba wie entwaffnet vorkam.

Als Anklägerin war sie gekommen und hier empfing sie eine – Mitfühlende. Welches Wunder war geschehen mit dieser stillen, stolzen, unnahbaren Dulderin, die eine Fürstin geblieben war immer und trotz allem? Und welche Macht wirkte plötzlich von ihr herüber? Daß es auch dieser einsamen Kindesseele mit einem Male war, als müsse sie nun der bleichen Nonne ans Herz sinken und ihr alles, alles sagen, wie nur je ihrer Mutter.

Doch sie beherrschte sich. Zu schwer lag es auf ihrer Seele, zu düster vor ihrem Blick, um einstweilen anderes sehen und empfinden zu können, als den großen Zorn ihrer Jugend. Nur daß sie plötzlich keine Worte mehr fand, wenigstens nicht die herben und beleidigenden, die ihr der erste Schmerz eingegeben und die edle Rachsucht ihrer Jahre so schön und pathetisch gesetzt.

Aber was nun von einem Aug' zum andern hinüberging ... was Seele zu Seele sprach, hatte eine Gewalt, die auch ihren Trotz löste. Und plötzlich schluchzte sie auf und warf sich, immer weiter schluchzend, auf das Taburett des Betschemels, wo sie, die Arme wie in einem Krampf von sich streckend, leise weinend, sitzen blieb.

»Wenn Sie die Tote schickt, haben Sie mir auch von ihr etwas zu sagen?« fragte Mater Renée nach einer Weile.

Alba nickte bloß.

»Sagen Sie es!« rief die Kranke wie eine Flehende, »und vor allem: Glauben Sie, daß Sie mir alles sagen dürfen. Alles

Langsam hob Alba das tränenüberströmte Antlitz. Ihr Auge leuchtete auf. Ein Blick tiefsten Dankes und innersten Wohlgefallens glitt über die fürstliche Gestalt hin, die im dunklen Nonnenkleide vor ihr stand, ein Blick, wie ihn nur die Jugend schenkt, deren reiner Glaube so gut weihen kann wie Gott.

»Ich dank' Ihnen!« brach es unter Tränen aus ihr hervor, »o, wie ich Ihnen danke!«

»Haben Sie denn anderes von mir erwartet?« fragte die Kranke leise. Aber plötzlich verstummte sie. Und in die fahlen Wangen stieg ein Rot, das nicht von der Glut des Fiebers kam, vielmehr aus einer innersten Scham ihrer Seele hervorbrach ... Mit welchem Recht hatte denn Alba dieses andere von ihr erwarten sollen? Von ihr, die nie ein Wort der Milde für Elena gefunden, sich nicht einmal bemüht hatte, mit einem Blick gütigen Verständnisses in diese arme, gepeinigte Seele zu tauchen! Da ließ sich nichts mehr gut machen. Das waren Schatten, die schwarz und unerbittlich vor ihr standen – auch ihre Schuld. Kam die junge Novize in stiller Stunde zu ruhigem Nachdenken, mußte ihr das, was sie nun gesagt hatte, viel, viel seltsamer erscheinen denn alles, was sie versäumt. Die Angst, mit ihren Worten vielleicht noch mehr verraten zu haben, als sie wollte, flüchtete sich in einen Blick, der mit scheuer Beklommenheit rasch und wie prüfend über das Antlitz des jungen Mädchens glitt.

Aber nein ... diese Alba Chietti, die so ungelenk vor ihr stand und plötzlich fast mit einem Ausdruck von Verlegenheit zum Fenster hinaussah – die war doch wohl noch viel zu unreif, um solchen Gedanken nachzuhängen, solche Vergleiche anzustellen. Wenn sie mit einem Male befangen war, kam es eben von der Einsicht, ihr doch unrecht getan zu haben. Darum schwieg sie wohl auch noch immer; fand nicht den Mut, ihrem Blick zu begegnen. Diesem scheuen Blick, der voll ängstlicher Qual ein Geheimnis hütete, von dem die Seele dieses halben Kindes noch keine Ahnung haben konnte.

Alba aber dachte im selben Augenblick: »Welch' ein Wunder muß doch die Liebe sein, wenn sie Menschen so verwandeln kann! Ein Wunder, wie der Frühling da draußen!«

Und ihre Seele wurde plötzlich weit und groß wie nie zuvor, schien die Arme nach einem Glück zu breiten, das sie nicht kannte und doch langsam näher kommen fühlte – immer näher. Von irgend woher ... Wo auch die Primeln blühten und der Krokus leuchtete wie draußen auf den Beeten des Gartens. Nur noch viel, viel schöner und ein mailicher Hauch die Sehnsucht herüberwehte, bis das Blut zu singen begann und zu ahnen – Nächstes und Fernstes. Alles plötzlich anders ward in einem, man selbst ein anderer, wie dort die blasse Nonne, der die Liebe den Heiligenschein vom Haupt genommen, um ihr die Krone eines Martyriums auszudrücken, das auch vor ihrem Gott bestehen konnte.

O, wie sie diese Scham und Angst der Totgeweihten plötzlich verstand! Nein, nein, mit keinem Blick würde sie verraten, was sie wußte. Von jener wußte, die mit blutgeröteten Lippen jetzt draußen lag und auch für immer schwieg. Wie die todtraurigen Augen für immer geschlossen waren, die so tief in der Seele der unglücklichen Nonne gelesen – Elena! Da war er wieder, der dunkle, unversöhnliche Schatten! Und Liebe, Sehnsucht und Frühlingsglück wichen in Ehrfurcht vor dem kalten Schauer, der von ihm herwehte.

»Sie war so tief unglücklich ...« murmelte Alba vor sich hin. »Darum bin ich gekommen, damit nicht auch noch ihre Flucht häßlich gedeutet werde und ihr Tod zu einer Schande mehr.«

»Haben Sie das von mir befürchtet, liebe Chietti?« fragte die Oberin sanft.

»Nein. Aber von der, die zuerst Ihr Ohr hat und gewiß nichts unterlassen wird, um die Unglückliche noch abscheulicher hinzustellen.«

»Sie meinen die Präfektin?«

Alba nickte bloß; machte zugleich eine Schulterbewegung, die schlimmer war als jedes Wort der Verachtung.

Mater Renée ließ sich wieder auf ihren Stuhl zurücksinken. Und während sie die Hand vor die brennenden Augen legte, sprach sie: »Es ist ja möglich, daß sie in der Unkenntnis von Elenas eigentümlichem Charakter sich in der Art und dem Maß der Strafe etwas – etwas vergriffen hat. Mir selbst fällt es schwer genug aufs Herz, daß ich mich nicht auch noch darum gekümmert habe, obwohl die Ziani mir niemals mit einer Klage gekommen ist. Wenn Sie aber wirklich mehr zu wissen glauben ... und das, was Sie zu wissen glauben, wahr ist, werd' ich Ihnen dankbar sein, wenn Sie mir alles sagen. Nur etwas langsam, bitte, damit ich Ihnen folgen kann. Ich habe wieder Fieber und da geht einem alles so wunderlich im Kopf herum.«

»Dann ist jetzt nicht die rechte Stunde!« erwiderte Alba mit einem besorgten Blick. »Mir genügt es ja, wenn Sie mit glauben und mich anhören wollen, sei es, wann immer.«

»Nein, nein, schonen Sie mich nicht!« wehrte Mater Renée fast heftig ab. »Ich will das nicht, hören Sie! ... Es hätte ja auch gar keinen Zweck mehr!« setzte sie mit einem seltsamen Lächeln hinzu.

»Wieso?« fragte Alba betroffen.

Langsam zog die Kranke die Hände vom Antlitz. Und während sie ihr Haupt voll und ganz der Novize zukehrte, sprach sie dumpf: »Sehn Sie mich einmal genau an, liebe Chietti, ganz genau. Wie lange glauben Sie, daß ein Mensch, der so aussieht, noch zu leben hat?«

»Um Gottes willen« ... wehrte Alba ab. Sie wollte noch etwas hinzufügen. Aber in das Antlitz der Kranken trat im selben Augenblick ein solch' erschütternder Ausdruck hinfälliger Schwäche und resignierten Wissens, daß sie im tiefsten Innern erschauerte.

»Sehn Sie!« lächelte die Kranke mit unheimlicher Genugtuung, »so seh' ich aus, wenn ich mich einen Moment nicht beherrsche!«

»Es – es wird wieder anders werden! Es muß besser werden!« stieß Alba gequält hervor. Doch die Tränen, die bei diesen Worten aus ihren Augen stürzten, straften sie selbst Lügen.

»Lassen wir also mich,« sagte Mater Renée kurz. »Helfen Sie mir, meine Pflicht erfüllen, damit ich ruhig sterben kann! Es handelt sich um eine Tote.«

Alba blieb eine Weile still. Der vornehmen Art dieser fürstlichen Dulderin gegenüber war es ihr mit einem Male fast peinlich, eingestehen zu müssen, daß alles, was sie wußte, erlauscht war. Sie hätte sich zwar mit der, auch von den Frommen dieses Klosters zeitweise geübten » reservatio mentalis« helfen können. Denn sie hatte nicht nur gelauscht, sie hatte in jener schicksalschweren Stunde auch mit der Ziani gesprochen. Niemand konnte ihr beweisen, daß sie, was sie wußte, nicht einzig und allein von der Ziani gehört. Doch eine solche Zwitterwahrheit erschien ihr angesichts des Todes nicht nur unwürdig, sondern geradezu gemein. Noch gemeiner aber, der Todgeweihten, die so groß und still vor ihr saß, ins Gesicht zu lügen. Aber auch dem Andenken Elenas war damit nur halb gedient. Die Präfektin hatte die Unglückliche so oft eine »Lügnerin« und »Komödiantin« genannt, daß sie vielleicht auch der für immer Verstummten noch diesen Schimpf nachgeschleudert hätte, bloß um sich selbst aus einer schwierigen Lage zu helfen. Auch bei solchen Konflikten war die » reservatio mentalis« gestattet.

Einen Augenblick fühlte sich Alba sogar versucht, das herzlose Weib in diese Schlinge treten zu lassen, um ihr, wenn sie gelogen, mit demselben Wort heimzuzahlen, das sie immer wie eine Peitsche für Elena bereitgehalten ... »Lügnerin!« Auch das wäre eine Genugtuung gewesen. War dies aber nicht auch eine – » reservatio mentalis?« Ihr noch jugendreiner Sinn war zu gerade, ihre Seele zu stolz, sich solcher Mittel zu bedienen. Der bis ins Blut hinein empfundene Gegensatz, in dem sie sich hier allen und allem gegenüber befand, die Moral der Weltanschauung, die sie als ihren Glauben bekannte, sollten voll und ganz zum Ausdruck kommen.

»Was ich weiß, hab' ich mit meinen eigenen Ohren gehört,« begann Alba zögernd, aber freimütig. »Ich kann also für die Wahrheit jedes Wortes einstehen.«

»Sie wird die Arme doch nicht vor ihren Mitschülerinnen beleidigt haben?« rief Mater Renée.

»Was die Ziani immer am schwersten traf, hat sie ihr allerdings nicht vor den anderen gesagt.«

»Dann wissen Sie es von der Ziani?«

Alba atmete tief auf. Nun mußte es gesagt sein! Während sie mit einer entschiedenen Bewegung des Hauptes die falsche Scham gleichsam von sich schüttelte, erwiderte sie fest: »Nein, ich hab' es erlauscht.«

»Wo –?«

»Dort oben. Wo die Ziani die Nacht über bleiben sollte.«

Mater Renée fuhr empor. »Und das hör' ich erst jetzt? Davon hatt' ich ja keine Ahnung! Die ganze Nacht über dort oben!«

»Doch; die Präfektin hat es so verfügt. Es wäre ja auch noch nicht das Schlimmste gewesen, aber sie ging noch einmal hinauf.«

»Sie meinen die Präfektin?«

»Ja.«

»Und Sie – schlichen ihr nach ...«

Alba errötete.

»Schämen Sie sich nicht,« rief die Kranke lebhaft. »Diese Frage soll kein Vorwurf sein. Könnt' ich Ihnen etwas vorwerfen, wär' es höchstens ... Sie hätten mich eben sofort rufen sollen, liebe Chietti. Sofort.«

»Ich – ich wußte nicht ...« stammelte Alba mit einem verwunderten Blick.

»Freilich, freilich,« nickte Mater Renée schmerzlich. »Das ist es. Sie hatten auch in mich kein Vertrauen, sahen nur die strenge Hüterin der Regeln dieses Hauses in mir. Ist es so?«

»Ja,« hauchte Alba.

»Natürlich,« lächelte die Oberin bitter. »Wie konnten Sie auch?« Sie schrak zusammen, legte wieder die Hände vors Antlitz. »Und so ward aus so und so vielen Versäumnissen und Zweifeln ein – Schicksal!« sprach sie dumpf vor sich hin. »Ein Schicksal! Und ich bin mit schuld daran. Nun ... vielleicht hilft das mit,« murmelte sie immer leiser in sich hinein. »Vielleicht hilft das mit. Und die Ziani ...« Sie verstummte.

»Die Präfektin hat doch immer eigenmächtig verfügt. Das brachte ihr Amt mit sich,« warf Alba wie entschuldigend ein.

»Amt, Amt!« lächelte die Kranke herb. »Ja, Gott sei's geklagt, daß es auch in der Kirche Christi nur mehr lauter – Ämter gibt!«

»Ich selbst hab' mir auch einen schweren Vorwurf zu machen –« versuchte Alba abzulenken.

»Sie?«

»Ich hab' das Splittern des Fensterkreuzes gehört. Weil aber ein so heftiger Sturm war, dacht' ich, es wär' ein Baum. Und Furbo hat so entsetzlich geheult ... Da muß sie gestorben sein!« setzte Alba mit einem starren Blick hinzu. Und ein Schauer ging an ihr nieder.

»Gräßlich, gräßlich! Und wir anderen lagen drinnen und schliefen oder ... Was hat ihr diese Unselige nur gesagt, daß sie mitten in der Nacht noch hinauswollte? Zwischen Tod und Leben hindurch!«

»Ihre – Geburt hat sie ihr vorgeworfen!«

»Wieder? Und ich hatte ihr nach der letzten Szene mit der Ziani gerade das so streng untersagt. Aber freilich ... jetzt wußte sie mich krank und – gleichgültig.«

»Sie hätt' es gewiß auch so wieder getan. Aber diesmal brauchte sie Worte dabei ... Und als die Ziani das Andenken ihrer Mutter verteidigte, hat sie mit der Rute nach ihr geschlagen. Bis auf den Gang hab' ich sie zischen gehört.«

Alba setzte einen Augenblick aus; doch Mater Renée gab kein Zeichen von sich. Das Antlitz in den Händen vergraben, saß sie regungslos da. Nur der Frost, der ihren armen, kranken Körper schüttelte, ließ ahnen, in welcher Passion sie Elenas Schicksal durchlitt.

»Wer Elena kannte,« fuhr Alba fort, »mußte fürchten, daß diese Schmach ausreichte, sie in den Tod zu jagen. Und hielte sie nicht noch jetzt das Seil zwischen den Händen, wie man mir sagt – würd' ich auch nur dies glauben. Denn sie hatte mir ja schon einmal gesagt, daß sie sich nur diesen Ausweg wüßte. Drum hab' ich sie auch sofort angerufen, als Mater Zenobia sich entfernt hatte. Aber sie antwortete so lachend, so stolz und zufrieden mit sich selbst ... Und so weiß auch ich jetzt nicht, wie ihr plötzlich dieser Gedanke gekommen ist und wohin sie eigentlich wollte.«

»Zu – Menschen!« schluchzte die Oberin plötzlich auf und mit einem unterdrückten Schrei, noch einmal: »Zu Menschen!« Und dieser Schrei kam so echt, die Qual, die ihn geboren, brach so mitdurchlitten aus ihrem Innersten hervor, daß Alba in tiefster Bewegung zu ihr trat. Was blieb ihr da noch zu sagen? In Ehrfurcht sank sie vor der Totgeweihten nieder und küßte leise, leise ihre fieberglühende Hand.

Als sie sich erhob, stand die Pförtnerin unter der Tür, etwas gerötet, wie nach einem raschen Gang, aber doch auch sichtlich erhoben, wie Jemand, der weiß, daß er eine gute Botschaft zu bringen hat.

»Die Polizei war soeben da, bitte!«

» War? Warum haben Sie mich nicht verständigt?«

»Die Herren meinten, der Augenschein zeige ja ohnedies, daß die Ziani bloß durchgehen wollte. Und als Dr. Tapponi kam und sagte, daß Euer Ehrwürden so krank wären ... die Herren waren merkwürdig höflich,« setzte sie fast verwundert hinzu. »Der Kommendatore Rosa hat die Kustoden des Palatin eigens angewiesen, niemanden heraufzulassen, bevor die Polizei da war. So hat nur unsere Hausarme die Tote gesehen. Und die bekommt so viel von uns.«

»Natürlich,« murmelte die Oberin bitter, »das ist die Hauptsache!«

»Wo soll die Leiche jetzt hingebracht werden?« fragte die Pförtnerin.

»Ins Sprechzimmer.«

Die Pförtnerin schien ihren Ohren nicht zu trauen. »Ins Sprechzimmer?«

»Ja. Damit alle sie sehn, auch die, die ihr unrecht getan haben.«

Die Nonne biß sich in die Lippen, um nicht zu sagen, was sie dachte ... »Unrecht!« Konnte man einem Frauenzimmer, das sich in tiefer Nacht zu den Fenstern herunterließ, überhaupt noch ein Unrecht tun? Schlimm genug, daß so etwas im Hause gewesen! Die Polizei des Königs mußte sich ähnliche Gedanken gemacht haben, woher sonst diese Höflichkeit?! Beamte dieses gottlosen Königreiches höflich! Höflich mit Nonnen und Christgläubigen! Doch wohl nur, weil an der ganzen Sache nichts auszustellen war. Mithin war eigentlich alles in Ordnung.

Vielleicht ahnte Mater Renée, was jetzt hinter der Stirne der Frommen vor sich ging. Denn plötzlich richtete sie sich mit ihrer letzten Kraft auf und während sie Albas Hand ergriff, sprach sie laut: »Kommen Sie, liebe Chietti! Wir wollen der armen Märtyrerin entgegengehn!«

»Märtyrerin?!«

Die Pförtnerin stand wie versteinert, lange nachdem die Oberin schon an ihr vorübergeschritten.

Unterdes hatte der Gärtner draußen Elenas Leiche gehoben. Ein junger Kustode des Palatins half ihm; Kommendatore Rosa, der berühmte Hüter der Cäsarenpaläste, gab der Toten bis an die Pforte des Klosters das Geleite. Den Hut in der Hand, die großen Gelehrtenaugen ernst und versonnen auf Elenas Antlitz gerichtet, schritt er neben der Leiche einher. Sichtlich erschüttert und doch zugleich die Beute von Gedanken, die ihn auch bei dieser Gelegenheit wieder in sein altes Rom zurückführten. Denn das junge Weib, das sie da so stumm vor ihm hertrugen, wies im Tod die Züge jener typischen lateinischen Schönheit, wie sie nur noch von den Reliefs einiger Marmorsarkophage in die Nachwelt hineinleuchtete; nur noch da und dort in dem Antlitz einer Kaiserin aus dem Hause der Julier weiterlebte, deren Büsten nun stolz und unnahbar auf die späten Geschlechter herabsahen, wie Göttinnen auf eine entadelte Welt.

Elenas hohe und mächtig gewölbte Stirn, die dichten Brauen, die wie zwei dunkle Fittiche über den marmorblassen Lidern standen ... der noch im Tode trotzgeschwellte Mund, um dessen sinnlich volle Lippen zugleich auch ein Zug herbster Willenskraft lag ... das vollendete Oval des Antlitzes und die wie mit einem ehernen Griffel eingeritzte, tragische Linie, die sich an den Nasenflügeln zum Mund herabzog ... Nur die stolzen Frauen, die einst ihre edelsteingeschmückten Sandalen über den Mosaik dieser Paläste hinweggetragen, hatten dem Schicksal so herb und unerschrocken, so unnahbar und medusenhaft ins Antlitz geschaut: Livia, Oktavia und Agrippina, die entsetzliche und doch erhabene Mutter Neros.

Ganz seltsam aber, ja fast befremdend mutete das rätselhafte Lächeln an, das selbst die zermalmende Hand des Todes nicht aus dem Antlitz des jungen Weibes zu wischen vermocht hatte. Und daß es das Lächeln einer Glücklichen war, trotz alledem, oder einer, die mitten aus einem beseligenden Traum heraus an die acherontischen Gestade gerissen wurde. War es am Ende gar dieses Lächeln, von dem der unerklärliche Zauber und die wie unnahbare Hoheit der Toten ausging?

Kommendatore Rosa konnte wieder einmal nicht mit sich einig werden.

An der Pforte des Klosters, die außer dem Arzt und dem Geistlichen keines Mannes Fuß überschreiten durfte, wurde die Leiche von drei »Winden« in Empfang genommen. Der greise Gärtner wandte sich fast ärgerlich ab. Seine ganze Familie stand in Abhängigkeit vom Kloster und deshalb war ihm die ganze Geschichte ebenso unangenehm, wie den Frommen da drinnen. Wenigstens hielt er es für klug, dies anzudeuten.

Der junge Kustode aber, ein ehemaliger Bersagliere, schwenkte der Toten wie grüßend seine Kappe nach mit der schönen, freien Bewegung des Alpensohnes. Und während er sich nach dem Kommendatore zurückwandte, rief er hingerissen: » Quanta Bellezza Signore!«

Dann schritt er an sein Tagewerk und Kommendatore Rosa nach dem Haus der Livia. Jeder mit seinen eigenen Gedanken.

Als die »Winden« Elenas Leiche durch die Pforte trugen, war nicht eine Schwester zu sehen. So augenscheinlich suchte es jede zu vermeiden, diesem unseligen Geschöpf noch einmal zu begegnen. Zuletzt nahmen auch die Gesichter der »Winden« einen fast widerwilligen Ausdruck an, als wäre es ihre Pflicht, zu zeigen, daß, was sie taten, in diesem Falle wirklich nur um des heiligen Gehorsams willen geschah. Und ein Frauenzimmer, das sich in solcher Weise aus dem Hause stehlen wollte, eigentlich gar nicht wert sei, wieder in dieses Haus gebracht zu werden, noch dazu von so frommen Händen.

Da wurde am Ende des Korridors plötzlich die vornehme Gestalt der Oberin sichtbar. Sie selbst wie eine dem Grab Entstiegene anzuschauen, nur daß ihr Schritt heute eine seltsame Festigkeit hatte, ihr Aug' von einem Glanz strahlte, dem etwas Fremdes und Bändigendes innewohnte, so daß die »Winden« mit ihrer Last fast erschrocken zur Seite traten. In der Meinung, daß die Herrin dieses frommen Hauses sich plötzlich anders entschlossen habe und die Leiche überhaupt nicht herinnen dulden wolle.

Da blieb Mater Renée stehen. »Warum schleichen Sie so zur Seite?« herrschte sie die dienenden Schwestern an. Eine der »Winden« wollte etwas erwidern, hielt aber wieder ein, so gebietend und bannend war der Blick, der sie traf.

»Stehn bleiben!« gebot die Oberin mit bebender Stimme. Und während sie Alba mit einem fast heftigen Ruck an ihre Seite zog, sprach sie fest: »Nehmen Sie zuerst Abschied von ihr ... Sie, die einzige, die ihr hier ins Gesicht schauen kann.«

Wie ein Schleier legten sich die Tränen plötzlich vor Albas Augen, stürzten über ihre Wangen und benetzten noch das Antlitz der Toten, über das sich die junge Novize beugte – mit einem scheuen, letzten Kuß. Dann schienen diese Augen nur mehr eines zu sehen: den langen dunklen Blutstropfen, der von der Mitte der Stirne gerade zwischen die dunklen Brauen hineinlief und einen rubinenen Glanz über die blasse Stirn hauchte. Gerade dort, wo damals der Familienschmuck der Chietti gelegen, jenes uralte, etruskische Stirnband.

»Wie ist sie schön!« hauchte Alba und trat wie in stummer Ehrfurcht zurück.

Wieder machten die »Winden« eine Bewegung, die Tote weiter zu tragen. Was die eine früher nicht zu sagen gewagt, trat nun der zweiten in einem mehr scheuen als ehrerbietigen Gemurmel über die Lippen: »Die Mater Präfektin haben befohlen –«

»Wer befiehlt hier?« rief die Fürstin, sich plötzlich in ihrer ganzen Höhe ausrichtend. »Wenn ich getan hab', was uns noch zu tun bleibt, können Sie der Mater Präfektin ihr – schlechtes Gewissen aus dem Weg tragen!«

Die »Winden« sahen sich an, als hätten sie nicht recht gehört. Aber wußten sie denn überhaupt, was im Schoß des Konvents vor sich ging? Nur eine ganz leise, ganz innerliche Stimme, die – »warnende Stimme« der Frommen sagte ihnen, daß eine Oberin nicht so sprechen könne – so sprechen dürfe!

Und die Hände, die die Leiche hielten, begannen leise zu zittern.

Mit einem Blick, der wie aus einer anderen Welt kam, trat Mater Renée vor Elenas Leiche, dicht, ganz dicht. Sie legte ihre Hände auf das stumme Herz der Toten: »vergib uns – unsere – Schuld!« schluchzte sie auf.

Wollte sie vor der Unseligen am Ende gar ins Knie sinken? Die »Winden« hatten nicht mehr Zeit, es zu bedenken. So rasch brach die Ohnmächtige zusammen. Über die Stirne, die im Sturz gegen die Fliesen schlug, fielen wie ein Schleier die dunklen Falten von Elenas Kleid.

Als Mater Renée aus ihrer tiefen Ohnmacht wieder zu sich kam, lag sie in ihrer Zelle und vor ihrem Bett stand Alba, während Doktor Tapponi eben daran war, ein Rezept niederzuschreiben. Bei der ersten Regung der Kranken sprang er empor, um den Puls zu fühlen und zum so und so vielten Male in ein Antlitz zu schauen, aus dessen hippokratischen Zügen ihm doch nur mehr das unheimliche Gespenst entgegengrinste, das seiner Kunst so oft ins Gesicht blickte.

»Daß sie überhaupt noch lebt!« dachte er bei sich, machte sich aber pflichteifrig daran, sie aufs neue zu untersuchen. Allein die Kranke kehrte das Haupt ab. Nicht unfreundlich, aber doch mit einer Miene, die ihm deutlich zu verstehen gab, wie wenig sie selbst mehr von seiner Hilfe erwarte. Und während sie die Decke noch höher über die kranke Brust zog, hauchte sie: »Lassen wir das! Ihre Pulver werd' ich wieder nehmen, aber alles weitere ... Sie glauben ja selbst nicht mehr daran!« setzte sie mit einem toten Lächeln hinzu.

Tapponi tat verwundert. »Wer sagt Ihnen das?« Darauf versuchte er zu scherzen. »So seid ihr doch alle! Nicht ein Fältchen des heiligen Kleides soll unsereiner berühren! Sie, Ehrwürdige, waren doch sonst immer klüger als die anderen, hatten sich aus der großen Welt, in der Sie einmal gelebt, einige freie Atemzüge herübergerettet. Nun tun Sie auf einmal, als sollten Sie morgen Präfektin werden!«

Es geschah nicht ohne Absicht, daß er die Kranke wie von ferne an Mater Zenobia erinnerte. Im Hin und Her der Fragen, die er an einige der ratlosen Konventualinnen gestellt, war es klar geworden, daß eine sehr ernste Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Häuptern des Klosters bestand. Da die Oberin ihm nie etwas davon angedeutet, dachte er nun, der Sache in seiner Weise auf den Grund zu kommen. War es für ihn, als behandelnden Arzt, doch nicht gleichgiltig, jemanden in der Umgebung der Leidenden zu wissen, dessen Anblick oder bloße Nähe genügen konnte, ihren Zustand immer wieder zu verschlimmern.

Denn, er ließ es sich nicht nehmen, dieser rasche Verfall hatte auch in der Seele der Kranken seine Wurzel. Irgendwo – irgendwie. Aber sie konnten ja so tödlich schweigen, diese blassen Bräute des Herrn. Und wie helfen, wenn man nicht wußte ...

Deshalb suchte sein Blick fast mit einer gewissen Zudringlichkeit in den Mienen der Kranken zu lesen, als er die Präfektin erwähnte. Doch nicht ein Zug veränderte sich in dem Antlitz, dessen fiebernde Wangen wie dunkle Rosen in dem Schnee der Kissen lagen. Gleichgiltig, wie der geradeaus gerichtete Blick der Kranken blieb auch der Ton ihrer Stimme, als sie erwiderte: »Die Präfektin kann meinetwegen schon morgen Oberin werden. Daß ich nie mehr Präfektin werde, weiß ich!«

»Hat das jetzt unsere verehrte Oberin gesprochen?« versuchte Tapponi weiter zu scherzen.

»Nein,« kam es zurück. »Bloß eine, die bald weder ein Heute noch ein Morgen mehr haben wird!« Ihre Stimme klang um nichts bewegter, als sie es sagte.

»Nun seh' ich, daß Sie mich ernstlich beleidigen wollen!« lachte Tapponi. »Wenn ich Ihnen schon sage ...« Doch zugleich erhob er sich. Während seiner langjährigen Praxis hatte seine Kunst so vielen Kranken ins Gesicht gelogen, so viele sich weiß Gott wie gerne von ihm anlügen lassen ... Warum wurde er vor diesen Augen zu Schanden? Und wieder dachte er: »Du willst sterben und du – wirst sterben!« Er ging fort, um nichts gescheiter, als all die langen Monate her, solch ein feiner Psycholog er auch zu sein wähnte.

Da er bemerkt hatte, daß Alba dem Herzen der Leidenden nahestand, ordnete er draußen an, daß sie auch die Pflege zu übernehmen habe.

»Das soll zwar immer eine Schwester tun,« meinte die Präfektin zögernd.

»Dann also Sie?« fragte Tapponi mit leisem Hohn.

Mater Zenobia errötete und verstummte. So behielt Alba die Pflege.

Mater Renée litt an schweren Atembeklemmungen, deshalb mußte das Fenster ihrer Zelle so oft als möglich geöffnet werden. Was sich um so leichter tun ließ, als der Frühling mit dunkelblauen Cyanenaugen hereinsah. Der erste, wirkliche Frühlingstag! Der wilde Sturm, der die Nacht über Türen und Fenster erzittern gemacht, hatte sich ausgetobt und draußen stand der Park im blanken Grün seiner Steineichen, während Primeln und Krokus von den Beeten leuchteten und die dunklen Veilchen des Palatins förmliche Duftwellen hereinsandten. Knapp vor dem Fenster der Zelle stand ein Mandelbaum, der über und über mit weißen Blüten bedeckt war, die wie flimmernde Schmetterlinge auf den Zweigen saßen, schön und leicht im zitternden Glast der Sonne. Es war die Zeit, da man nicht weit gehen brauchte, um zu fühlen, wie herrlich dieses Leben sein konnte – nicht mehr sehen als ein Fleckchen dieser bräutlich erwachenden Erde, um zu ahnen, daß die ganze Welt jetzt ein einziges Wunder war!

Auch die junge Novize konnte sich diesen Empfindungen kaum entziehen, nur daß die Farben und Lichter ihr doppelt laut und grell erschienen. Zu viele Schatten lagen daneben.

Die Pulver kamen und die Kranke nahm sie, nahm sie mit derselben verächtlichen Gleichgiltigkeit, die sie allem entgegenbrachte, was ihr Leben erhalten sollte. Als sich aber dessenungeachtet ein Hustenanfall einstellte, der sie dem Erstickungstod nahebrachte, sank sie trotz ihrer Erschöpfung mit einem Lächeln unheimlicher Genugtuung in ihre Kissen zurück.

Ohne daß Alba ahnen konnte, was sich Tapponi gedacht, dachte sie Wort um Wort dasselbe: »Du willst sterben und du – wirst sterben!«

So kam der Nachmittag heran und mit ihm das wieder langsam ansteigende Fieber, das die Kranke halb schlummernd, halb in einem Zustand der Betäubung erlitt.

Die Hände im Schoß, saß Alba am Fenster und zergrübelte sich Hirn und Herz, was man denn tun könne, der Sterbenden noch einen Sonnenblick des Lebens, eine letzte, arme Freude zu verschaffen.

Die schräg stehende Sonne füllte die Zelle mit einem kreisenden Lichtkegel, in dem tausend und abertausend goldene Stäubchen wirbelten und dessen Spitze sich gerade auf das Kissen senkte, auf dem die Kranke lag. Und wie Alba so hinsah, gewahrte sie plötzlich ein seliges Lächeln im Antlitz der Schlummernden – einen Ausdruck des Entzückens, der sie um vieles jünger und holder erscheinen ließ.

»Jetzt träumt sie von ihm!« dachte Alba. Dachte – nein, wußte es! So sicher und gewiß, als sie fühlte, daß es auch für die Menschen einen Frühling gab, der ihre Seele so schön machen mußte, wie draußen der Lenz die Erde.

Plötzlich wußte sie, was sie zu tun hatte, um diesen Traum zu aufschauernder Wirklichkeit zu machen – einmal, ein armes, einziges Mal!

Und sie setzte sich an den Schreibtisch Mater Renées und schrieb zwei Briefe: einen langen, langen an ihre Mutter einen zweiten, kürzeren an Fra Clemente. Beide kamen in ein Kuvert, das an die Fürstin Chietti adressiert war. Darauf rief sie eine »Winde« und gab ihr den Auftrag, den Brief expreß zu bestellen.

»Die Frau Oberin weiß?« fragte die »Winde« vorsichtig.

»Natürlich!« log Alba. Was lag ihr jetzt noch daran? Wenn Fra Clemente morgen früh diesen Brief erhielt, konnte er abends da sein!

»Steh' Sonne still!« hätte sie rufen mögen. Denn freilich – auch Mater Renée mußte noch leben!

Die Nacht war schrecklich ... Und draußen stand der Mond und sah in seiner ganzen goldenen Pracht zu der Zelle herein, die das Geröchel der nach Atem ringenden Kranken mit unheimlichen Tönen erfüllte. Alba konnte nicht genug Decken über sie breiten, so heftig begann der Frost sie wieder zu schütteln. Gleich darauf aber mußte wieder das Fenster geöffnet werden, weil die Arme fand, daß keine Luft im Zimmer sei.

»Ich sterbe ja so gerne,« hauchte sie. »Nur etwas barmherziger sollte die Natur sein!«

Die Natur! Wo blieb der Gott, den Mater Renée früher so inbrünstig angerufen? Nun wußte Alba alles, auch das letzte!

Die Natur? dachte sie, als die Kranke wieder einen Augenblick in die Somnolenz des Fiebers zurücksank. Die Natur!

Mater Renée hatte gebeten, daß das Fenster offen bleiben möge. Und Alba schlich wieder zu ihrem Stuhl und sah mit weit und sinnend geöffneten Augen zu dem sternenübersäten Frühlingshimmel empor.

»Dort wohnt der liebe Gott!« hatte man ihr als Kind gesagt und sie war jahrelang selig gewesen in diesem Glauben. Ihr Vertrauen hatte sich mit tausend Blicken immer wieder da hinaufgewendet, was ihr auch geschehen mochte, Gutes oder Übles. Und es war süß gewesen; man konnte einschlafen dabei wie ein Kind, wenn die Mutter am Bettchen saß und leise, ganz leise ein Lied in die Nacht hineinsummte, in die Nacht, mit ihrem Schrecken und ihrem Dunkel.

Nun wußte Alba so viel von den Sternen dort droben und noch mehr von der Erde. Aber kein Glaube war mehr an ihrer Seite und sang leise, leise Schlummerlieder in die Nacht hinein. Die Nacht blieb die Nacht und draußen wirkte unbeirrt eine, die sich weder anrufen noch erbitten ließ, die unentwegt schuf und zerstörte, zerstörte und schuf, die man einfach erdulden und verstehen mußte!

»Die Natur!«

O ja, man mußte stark sein, um nicht in Stunden, wie diese es waren, wieder sehnsüchtig nach dem alten Schlummerlied zu horchen, daß über alle Nächte der Menschheit herkam. Über so viele, viele Nächte, mit ihrem Schrecken und ihrem Dunkel. Aber ... wie fürchterlich, zu denken, daß ein Gott, der alles vorausgesehen, seine Geschöpfe so planmäßig leiden lassen und dabei zusehen konnte. Warum empörte sich alles, was menschlich war in ihr, wenn sie an das Geschick des blassen Mädchens dachte, dessen Leiche nun dort drüben lag? Wenn sie die Qualen betrachtete, mit denen ein tückisches Leiden sein Opfer langsam zu Tode folterte, ohne der Ärmsten auch nur das geringste zu schenken.

»Die Natur!«

Die konnte man nicht erbitten, aber auch nicht anklagen; die mußte man erdulden und verstehen!

Würde Alba Chietti auch immer stark genug sein, dies zu können? Ein armer, hilfloser Mensch, der gerade soviel Weisheit besaß als er brauchte, um von einem Tag auf den andern leben zu können, ein Spielball eherner Gesetze, von allem bedrängt und überwältigt. In dunklen Stunden der Seele selbst von dem unheimlich angeschauert, was als Schönheit und Friede vom Himmel zur Erde sah, von der Erde zum Himmel! Würde ihr nicht wieder bange werden nach dem ur-, uralten leisen Schlummerlied der Menschheit?

Da fuhr sie auf ... Nein, und tausendmal nein! Was ihr ein Gott auch verliehen hatte, was die Natur ihr nehmen konnte – das tiefe Mitleid und den Glauben an das Gute, der eines Tages Gott selbst zur Rechenschaft zog – die waren wie leuchtende Wunderblumen aus dem Schoß der Menschheit selbst emporgewachsen. Im Dunkel ohnmächtiger Vergangenheiten wurzelnd, von den Tränen aller Generationen betaut, leise sich hin und her wiegend im Flüsterhauch der Seufzer, mit denen ein Mensch dem anderen seine Qualen geklagt und noch klagt. Und dieses Mitleid, diese Güte, war die eigenste Schöpfung des Menschen, mühsam und nur allmählich sich entfaltend, aber nun nicht mehr zu entwurzeln, das Schönste und Höchste und Stärkste, was er aus sich herausgeboren. Ja – auch das Stärkste! Als eigenste Potenz waltend zwischen einem Gott, dessen Gesetze zu hart erschienen, weil man sie – nicht verstand, und jenen der Natur, die zu grausam waren, weil man sie verstand.

In frühester Morgenstunde pochte jemand leis' an die Tür. Es war die Präfektin.

»Wie geht es?« fragte sie mit einem scheuen Blick nach der Kranken.

»Nun schläft sie etwas,« erwiderte die Novize kühl. »Aber die Nacht war schlecht und das Fieber immer gleich hoch.«

Mater Zenobia schien nach irgend einer frommen und schwesterlichen Phrase zu suchen. Doch Albas feindseliger Blick nahm ihr den Mut. »Ja, was ich noch sagen wollte,« setzte sie zuletzt geschäftsmäßig hinzu, »bitte, sagen Sie der Frau Oberin, daß wir der Tante der Ziani natürlich telegraphiert haben und jeden Augenblick ihre Antwort erwarten ...« Damit glitt sie wieder hinaus.

»Die Antwort!« dachte Alba bitter. »Eine Messe wird sie stiften, vielleicht täglich um ein Ave Maria mehr beten zum Seelentroste der Verstorbenen und natürlich auch das Leichenbegängnis bezahlen. Die Antwort! Wie hatte man denn Elenas Mutter sterben lassen? Ciriako würde ein paar alte Kleider mehr in seinen Koffer stopfen. Damit war alles aus und endgiltig vergessen. Diese ganze »Schande« des Hauses Ziani! »Die Antwort!«

Wie sicher Mater Zenobia das gesagt hatte! Vielleicht wußte sie am besten, wie wenig diese Tante zu fürchten war!

So verging der Vormittag und das Leben im Hause nahm seinen gewöhnlichen Verlauf. In den Lehrsälen wurde der Unterricht erteilt, die Mater Wirtschafterin lief wie sonst treppauf und treppab – die Stunden gingen und die Uhren schlugen. Niemand tat, als läge in einem Zimmer eine Tote, in einem anderen eine Sterbende. Daß die Sterbende zufällig die Oberin war, änderte auch nichts an dem Gepräge eines Hauses, das für diejenigen, die seinen Regeln folgten, nur wie zufällig innerhalb der Zeit stand. Wer ganz vollkommen war, aß und schlief und arbeitete hier, weil er nicht anders konnte. Alles andere aber ging wie spurlos an diesen Seelen vorüber, die sich zu jeder Stunde auf die ewige Seligkeit vorbereiteten und diesem »Jammertal« um keinen Preis mehr gaben, als unbedingt notwendig war.

Von ihrem Fenster bemerkte Alba, wie zwei Schwestern blumenpflückend die Beete abschritten. Sollten es Sträuße für den Altar werden oder ein Kranz für Elena? Für Elena?! Alba mußte lächeln. Wohl eher für die Tante, die jeden Augenblick eintreffen konnte oder – auch nicht.

Endlich fiel es ihr ein, daß abends das Fest der Auferstehung des Herrn gefeiert wurde. Nun begriff sie auch das ewige Hin und Her vor der Türe der Kranken. Die Kapelle wurde geschmückt! Ob sie auch heuer mit der Prozession die Korridore durchwandeln würden wie sonst?

An dem Zimmer vorüber, in dem Elenas Leiche lag!?

»Wieviel überflüssige Gedanken ich mir mache,« dachte Alba plötzlich wie eine Erwachende. »So wie diese Augen dort sich schließen, bin ich keinen Tag mehr hier. Und meiner Mutter sag' ich es noch heute.«

Draußen wurde leise an die Tür gepocht. Als Alba öffnete, stand Erminia vor ihr. »O Alba mia – Alba mia!« schluchzte sie unaufhörlich. Sie kam gerade von der Leiche Elenas.

Endlich fand sie wieder Worte ... »Ich soll dir das geben und fragen, wie es der Frau Oberin geht?«

»Schlecht, sehr schlecht!« raunte Alba. »Jetzt schläft die Arme, aber – Gott weiß, wie es sein wird, wenn sie wieder erwacht.«

Damit griff sie nach dem Brief ihrer Mutter, den sie sofort öffnete, um ihn noch draußen zu lesen. Als sie den Brief aber aufriß, fiel ihr eine Depesche daraus entgegen. Sie war an die Fürstin Chietti gerichtet und enthielt bloß die Worte: »Ich komme. Clemente.«

Alba mußte beide Hände ans Herz drücken, so laut und heftig begann es plötzlich zu pochen ... »Ich komme – Clemente.« Sie selbst hatte es nicht mehr zu hoffen gewagt. Nun hielt sie in Händen, was ein armes Menschenherz noch einmal selig machen konnte!

»Zu – Menschen wollte sie!« hatte Mater Renée von Elena gesagt. Sie sollte fühlen, daß wenigstens an ihrem Sterbelager ein Mensch gestanden. Aber der andere – der Heilige?

Wie wird es werden? dachte Alba erschauernd.

Da fuhr Erminia in ihre Gedanken. »Hat es die Mama also doch geschrieben?«

»Was?« fragte Alba befremdet.

»Was? Daß Onkel Bartolo heute zurückgekommen ist, weil der Herzog von Aosta unterwegs krank wurde!«

»Onkel Bartolo?« staunte Alba.

»Da kommst du doch wieder heraus und zu uns? Nicht wahr, süße Tochter?!« schmeichelte Erminia zärtlich. Alba lächelte ihr unter Tränen zu, legte aber dabei den Finger an die Lippen.

»Natürlich sag' ich noch nichts!« blinzte Erminia. »Steig uns um Gotteswillen nur nicht auch bei einem Fenster heraus ...« Den Finger auf den Lippen, ging auch sie hinweg.

So leise als möglich trat Alba in die Zelle zurück. Brief und Depesche in der Hand. Dabei noch so ganz von ihren Gedanken benommen, daß sie nicht gleich nach der Kranken sah, vielmehr mit einem aufleuchtenden Blick den Frühling suchte, der draußen grünte und blühte und für sie jetzt die – Freiheit war, schön und herrlich wie noch nie!

»Haben Sie etwas für mich?«

Wahrhaftig! Da lehnte die Kranke in ihren Kissen, vom Fieber gerötet, doch sonst ganz klar, und heftete den brennenden Blick mit einem Ausdruck solch rührender Sehnsucht und Erwartung aus die Depesche in Albas Hand, daß dem jungen Mädchen ganz eigen zu Mute wurde ...

»Ja ...« hauchte sie erst. »Ja,« brach es dann wie ein Freudenruf von den jungen Lippen. Und sie entfaltete die Depesche und legte sie leise und zart in die Hände der Kranken.

»Ich komme,« las Mater Renée. »Cle – Clemente!« Und mit fast versagender Stimme noch einmal: »Ich – komme!« Und plötzlich öffnete sie die Augen, weit und groß, wie es Kinder tun, und sah mit einem Blick zu Alba empor ... Mit dem Blick eines Menschen, der ein Wunder erlebt.

»Wirklich?« hauchte sie.

»Wirklich!« rief Alba, so unbefangen als möglich. »Und nun wollen wir das Fenster weit, weit auftun, damit es hier schön und licht wird, wenn Fra Clemente kommt.«

Wieder sah die Kranke zu ihr empor und in ihrem Blick stand deutlich zu lesen, was zu fragen ihren Lippen die Scham verbot ... »Dank' ich es dir?!«

Doch Alba kehrte sich ab und trat ans Fenster. Sah hinaus und immer wieder hinaus, als ob sie gar nichts anderes mehr zu tun hätte.

Vom Bett her kam ein leises, ersticktes Schluchzen ... Als die Sonne schräg hinter den Steineichen stand und die Nonnen und Zöglinge nach der Kapelle eilten, um das »Hallelujah« anzustimmen, trat Fra Clemente an das Lager der Sterbenden. Alba hatte sie noch sorgsam in den Kissen aufgesetzt. Nun wollte sie sich lautlos davonstehlen. »Sonst hätte das ganze ja überhaupt keinen Sinn,« dachte sie. »Wenn sich die zwei nicht ein Wort allein sagen könnten!«

Und war im brennenden Blick der Kranken nicht derselbe Wunsch zu lesen?

Dieser letzte, arme Wunsch!

Doch der Mönch schien Albas Absicht zu erraten. Und während er sich rasch nach ihr wandte, sprach er fest: »Bitte, bleiben Sie!«

»Ich wollte nur,« stammelte Alba mit einem leisen Erröten.

»Bleiben Sie!« rief Fra Clemente noch einmal. Und diesmal klang es fast wie ein Befehl.

»Natürlich,« stammelte die Kranke in hilfloser Verwirrung. Aber die Fieberglut ihrer Wangen wich für einen Augenblick einer tiefen, tödlichen Blässe.

»Ich bin gekommen, weil ich gehört habe, daß Sie so schwer leiden,« begann Fra Clemente. Alba hatte ihm einen Stuhl an das Lager gerückt. Er aber blieb am Fußende des Bettes stehen, unbeweglich, die Hände kreuzweise unter dem Skapulier.

Die Kranke schwieg eine Weile. Nur ihr Blick umfing ihn, wie er dort stand ... So nah, wie schon lange nicht und doch immer gleich ferne. Umfing ihn mit dem Ausdruck einer Sehnsucht, die Hingebung und Vorwurf zugleich war.

»Ich leide – gerne!« sprach sie endlich leise.

O, wie Alba es verstand! Wie es ihr fast das Herz brach, dieses »ich leide gerne!« Verstand es bloß dieser Heilige nicht? Nur ein wärmerer Blick – ein weicherer Ton ... und die Sterbende war eine – Selige!

Aber ... die Hände kreuzweise unter dem Skapulier, stand er gleich regungslos am Fußende des Bettes. Und während seine Augen dem werbenden Blick der Sehnsucht auswichen, erwiderte er: »Das ist die Gnade aller, die Christum lieben.«

Wieder war es einen Augenblick still. Durch die klare Abendluft kam das eherne »Hallelujah« der Glocken Roms. Von der Kapelle scholl der Gesang der Schwestern herüber.

»Heilig – heilig – heilig ... Heilig, immer heilig ...«

Draußen winkte der Frühling mit tausend grünen Auferstehungsfahnen.

»Und ich leide schon so lange!« schluchzte die Kranke auf.

War es möglich, daß er auch jetzt kein Wort des Verstehens fand? Jetzt, wo ein armes Menschenherz zwischen Scham und zager Sehnsucht ihm gestand, daß sein Mut, zu leiden, nicht von der Liebe zu Christus kam?

Schon wagte Alba zu hoffen, denn über seine Stirn ging es wie ein Geleucht, um seine Lippen trat plötzlich ein weiches, unsäglich verschönerndes Lächeln. Sein Blick ruhte voll und ganz auf der Kranken, hell und wie verzückt.

»Es wird einmal wie nichts sein vor den Wonnen der Ewigkeit!« sprach er. Sprach es laut, unerschüttert, im Ton einer Gewißheit, die wie ein helles Schwert durch die Stille schnitt.

Die Kranke wollte etwas erwidern, machte aber nur eine hilflose Bewegung und sank mit einem fast entsetzten Ausdruck in ihr Kissen zurück.

Fühlte sie einen neuen Hustenanfall, oder ...

»Haben Sie schon gebeichtet?« forschte Fra Clemente.

»Noch nicht,« kam es kaum vernehmbar zurück und wie vom Strahl einer jäh aufleuchtenden Hoffnung durchsonnt: »Aber wenn Sie deshalb gekommen sind?«

»Jetzt geh' ich hinaus!« dachte Alba wieder.

Aber ... War dieser Mönch wirklich ein Heiliger, daß er selbst von den Gedanken wußte, die hinter den Stirnen der Menschen dämmerten, noch eh' die Lippen sie aussprachen?

»Bleiben Sie!« rief er aufs neue laut, hastig. »Nicht ich kann Mater Renées Beichte hören.

Aber Sie sollten beichten,« meinte er, der Kranken zugewendet, eindringlich, »am besten gleich jetzt! In dieser schönen einzigen Stunde, da unser Heiland wieder aufersteht und das Verdienst seines Leidens und Sterbens wie eine einzige Sonne der Gnade über die ganze Welt hinleuchtet. Wollen Sie?« bat er mit erhobener Stimme.

Die Kranke schwieg, sah zur Seite, nur ihre Brust begann wieder heftig zu arbeiten. Die Atemstöße kamen rasch und pfeifend, ihre Wangen wurden blässer. Und dieser erschreckende Zug jähen Verfalls von den Backenknochen gegen das Kinn ...

Wie beschwörend hob Fra Clemente beide Hände empor: »Denken Sie ... welch' ein Trost auch für mich, der so lang Ihre Seele geweidet! Mein Prior hat mir nur wenige Stunden Urlaub gegeben,« setzte er immer hastiger hinzu. »Mit dem nächsten Zug soll ich wieder zurück. O lassen Sie es eine Stunde der Gnade sein, auch für mich!«

» Te deum laudamus ...«

Es war der Gesang der Nonnen, der näher und näher kam. Die Prozession hatte die Kapelle verlassen und wandelte durch die Korridore langsam dem frühlingsgrünen Park entgegen.

»Hören Sie?« drängte Fra Clemente mit einer verzückten Gebärde. »Nicht mehr lange und der Herr wird hier vorüberwandeln. Versprechen Sie ihm, daß Sie sich zum letztenmal seiner Gnade empfehlen! Wenn der Hausgeistliche die Monstranz in meine Hände gibt, kann er Ihnen sofort die Beichte abnehmen. Und ich erteil' Ihnen dann die Generalabsolution. Wollen Sie?«

Mater Renée schwieg noch immer. Aber sie sah ihn an, lange, lange. Ja, er war heilig geblieben! Nichts Menschliches an ihm, das ihr eine Antwort geben wollte oder konnte. Nichts, nichts, als die Angst um ihre Seele!

Und wenn ihm diese Seele nun entglitt? Nach seinem Glauben auch für die Ewigkeit entglitt? Sie hatte nicht mehr viel Zeit, sich zu entscheiden. Mit jedem Atemzug fühlte sie es nahen ... das Letzte, das Entsetzlichste.

Das Entsetzlichste?

Nein!

Das hatte sie soeben erlebt.

»Nur noch ein Weilchen,« bat sie mit einem eigenen Lächeln. Und Alba hätte aufschreien mögen. Denn es war das Lächeln, mit dem sie schon so oft nach dem Tode verlangt. Fühlte sie, daß er nahe war?

»Jetzt!« nickte die Kranke schwach.

Und schon eilte Fra Clemente auf den Gang hinaus.

Hinter ihm warf Mater Renée mit einer heftigen Gebärde beide Arme in die Lust, sie röchelte auf – der Kopf fiel zur Seite, die Augen bekamen einen gläsernen Ausdruck. Von schrecklichen Konvulsionen geschüttelt, brach sie in den Kissen zusammen.

Entsetzt wollte Alba um Hilfe eilen, überwältigt von der Brutalität des Todes, den sie zum erstenmal sah und gleich in seiner fürchterlichsten Gestalt. Als sie aber das Haupt der Sterbenden höher betten wollte, brach plötzlich ein Strom dunkelroten Blutes zwischen den weitgeöffneten Lippen hervor: floß erst über das fahle Kinn, dann auf die weiße Decke – immer weiter, immer rascher.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Draußen stand die Prozession, und der Goldglanz der hocherhobenen Monstranze flutete dem Glanz der untergehenden Sonne entgegen – daß es wie ein Blitz durch die Zelle fuhr. Es war das letzte Licht, das die Sterbende sah.

Als der Hausgeistliche an das Lager trat, machte Alba bloß eine verzweifelte Gebärde.

Noch einmal blitzte die Monstranze auf; die Nonnen fielen ins Knie. Tiefes, lastendes Schweigen.

Leise, ganz leise sang draußen eine Amsel ihr Frühlingslied.


 << zurück weiter >>