Paul Grabein
Die vom Rauhen Grund
Paul Grabein

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Die Monde kamen und gingen. In ihrem Wechsel schritt das große Werk im Rauhen Grunde vorwärts, unaufhaltsam. Schon wuchs die Sperrmauer empor, quer über das Tal hin. Ein ungeheurer Steinwall von erdrückender Wucht; wie von Zyklopen gefügt. Und man vermeinte das ungebärdige Dröhnen und Schnaufen ihrer Arbeit zu vernehmen.

Dumpf krachten die Sprengschüsse von den fernen Steinbrüchen her und warfen rollende Donner von der Bergwand zurück. Schrill kreischend surrten die Kabel, an denen, hoch durch die Luft, in ununterbrochenem Kreisen die Wagen der Seilbahn glitten und über die Baugrube ihre Steinlasten mit ohrenbetäubendem Prasseln fallen ließen. Lokomotiven gellten und schleppten keuchend endlose Wagenzüge mit Sand fort. Gewaltige, haushohe Laufkräne, stählerne Ungetüme mit seltsamen Greifarmen und Klauen, schoben sich hier- und dorthin, packten und schwenkten kolossale Blöcke herum, als wär's ein Kinderspielzeug.

So wuchs und wuchs die Sperrmauer empor. Nicht lange mehr, und sie würde ihre Bestimmung erfüllen. Einmal noch würde sich der Ring des Jahres schließen. Wenn es dann wieder Lenz wurde, kamen die Wasser und taten ihr Werk der Vernichtung. Schon warf es seine Schatten über das Tal.

Das große Sterben hatte bereits den Wald ergriffen. Hoch hinauf an den umschließenden Bergwänden würden ja die Fluten steigen. Da mußte jetzt der Baumbestand in diesem Überflutungsgürtel fallen.

Auch der Waldbesitz des Adligen Hauses war hiervon betroffen. Als Henner von Grund das erste Anschreiben der Talsperrengesellschaft in dieser Angelegenheit bekam, brandete es noch einmal in ihm auf. Ein letzter Ausbruch seiner vulkanischen Natur. Sein Wald – das war, als ginge es ihm selber ans Leben. Er raste in furchtbarem Grimm, lehnte jede Verhandlung in der Sache ab und drohte: wer seinen Wald auch nur zu betreten wagte, den würde er niederschießen wie einen tollen Hund! Man mußte so das Enteignungsverfahren gegen ihn einleiten. Aber auch hier trieb er den Widerstand bis zum Äußersten. Doch als es endlich kam, wie es mußte, und ihm auf behördliche Verfügung das Besitzrecht an dem betroffenen Waldteil entzogen wurde gegen eine angemessene Entschädigung, da brach Henner von Grund völlig zusammen. Nun mochten sie machen, was sie wollten – ihm war alles gleich!

Aber als dann eines Tages ein seltsamer, dumpf hallender Ton von fernher durchs offene Fenster des Adligen Hauses scholl, hob der in sich zusammengesunkene Mann im Lehnsessel doch lauschend das graue Haupt. Das war die Holzaxt, die da oben ihr Mordwerk begann. In seinem Walde. Und er zuckte zusammen, als träfe der Schlag ihn selber ins Mark.

Seitdem saß Henner von Grund Tag für Tag so bei offenem Fenster und horchte hinaus, wie sein Wald starb. Und von Tag zu Tag verfiel sein mächtiger Körper mehr. Ein hilfloser, alter Mann, eine Menschenruine, lag da nur noch im Sessel. Ohne Zeichen von Teilnahme an seiner Umgebung.

Nur in seinen Augen, tief eingesunken unter den buschigen Brauen, stand etwas, das schnitt Eke ins Herz, wenn sie ihn so still vor sich hinbrüten sah. Sie fühlte sich dem Onkel nahe wie nie in ihrem Leben. Aber wenn sie zu ihm trat und sanft hinstrich über seine abgefallene Rechte, vor deren Gewalttätigkeit sie einst gezittert hatte, dann fuhr er auf in alter Barschheit.

So ging der Sommer hin. Doch eines Tages verstummte das dumpfe Hallen droben vom Walde her. Vergebens hob Henner von Grund den Kopf. Alles blieb still. Da lief ihm ein leises Zittern von den Mundwinkeln aus durch den langen, grauen Bart. Tief sank er ihm zur Brust. Nun war es geschehen!

Diesen ganzen Tag hindurch war der Herr vom Adligen Hause für niemanden zu sehen. Auch Eke ließ er nicht vor sich. Um so mehr überraschte sie am späten Nachmittag ein geräuschvolles Treiben auf dem Hofe. Sie sah hinaus. Kallmann hatte den Pürschwagen aus der Remise gezogen und spannte ein. Sie öffnete das Fenster:

»Will mein Mann denn ausfahren?«

»Nein, aber der alte Herr haben befohlen.«

»Wie – mein Onkel?«

Verwundert blickte Eke eine Weile vor sich hin. Dann ging sie zur Tür. Sie wollte doch noch einmal hinüber zu des Oheims Zimmer. Aber schon in der Halle kam er ihr entgegen, fertig zum Ausfahren, in seinem Jagdanzug. Seit mehr denn Jahresfrist hatte sie ihn nicht mehr so gesehen, und eine Besorgnis befiel sie.

»Willst du wirklich allein hinaus, Onkel? Soll dich nicht lieber Eberhard begleiten? Oder ich, wenn es dir recht ist?«

»Ach was – Unsinn! Ich bin doch noch nicht solch Jammergestell.«

Zornig reckte sich Henner von Grund auf. Aber die Joppe hing ihm schlotterig um den abgefallenen Leib.

Wie Eke noch zögernd stand, kam aus dem dunkeln Winkel unter dem Altan, seinem Lieblingsplatz, Tell hervor. Als er den Herrn in dem wohlbekannten grünen Jagdrock sah, lief er schweifwedelnd herzu und rieb den Kopf an seinem Knie.

Henner von Grund blickte zu ihm hinab.

»Denkst wohl, es soll wieder hinausgehen – wie früher? was?«

Heftiger schlug der Hund mit der Rute und winselte voll Eifer. Da flog ein sonderbarer, wehmütiger Schein über Henner von Grunds finsteres Antlitz. Seine Rechte griff nieder und tätschelte dem Tier den Kopf.

»Nein, mein Alter – das ist vorbei.«

Eke blickte überrascht. Noch nie, so lange sie denken konnte, hatte sie das je gesehen, daß der Onkel den Hund liebkoste.

Auch Tell brachte die Zärtlichkeit des stets gestrengen Herrn ganz außer Fassung. So ungestüm sprang er plötzlich an diesem hoch, daß er wankte. Doch da fuhr der alte, wohlbekannte Zornblitz unter den grauen Brauenbüschen hervor.

»Pack dich, du Lümmel – down!«

Wie niedergeschmettert duckte sich der Hund zu Boden, ganz regungslos. Nur die Augen folgten bekümmert dem ungnädigen Gebieter, der jetzt, ohne einen Blick für ihn, mit wieder finsterem Gesicht zum Ausgang schritt. Auch Eke bekam keinen Gruß mehr. So trat sie nur ans Fenster und sah, wie der Oheim mühsam auf den Wagen stieg. Nie war ihr seine Gebrechlichkeit stärker aufgefallen. Da wuchs die geheime Sorge in ihr.

Der Kutscher aber sah jetzt fragend zu dem Herrn zurück.

»Ins Revier!«

Barsch kam der Befehl. Mit einem Ruck zogen die schon ungeduldigen Pferde an. Und nun griffen sie weit aus vor dem leichten Wagen auf der ebenen Chaussee.

Da sandte Henner von Grund seinen Blick aus, hinüber zu den Bergwänden, die den weiten Grund rings säumten. Etwas Ängstliches, Gespanntes lag in diesem Blick, und nun zuckte sein Auge zusammen. Kahl, bis fast zum Drittel hinauf lagen überall die Hänge, die vordem dichtes Waldgrün bedeckt, solange ein Menschenfuß hier wandelte über die Erde des Rauhen Grunds.

Rasch schloß Henner von Grund die Augen. Fest preßten sich seine Lippen unter dem bebenden Bart zusammen.

Als er wieder aufsah, waren sie ein gut Stück weiter das Tal hinab. Drunten, wo der Fluß austrat, wurde jetzt auf der Höhe ein merkwürdig großes Gerüst sichtbar. Dunkel ragte es empor mit weit ausgestrecktem Arm.

Henners Eichenstock tippte dem Kutscher gegen die Schulter.

»Was ist das – da vorn?«

»Ein Hebemast von der Sperrmauer, gnäd'ger Herr.«

Grimmig fuhr es über Henners Stirn.

»Wie ein Galgen. Daran sollte man all die Kerls hängen – den Bertsch vornweg!«

Und weiter ging die Fahrt. Still lag der weite Grund. Nur hin und wieder ein rollender Donner. Sprengschüsse aus den Steinbrüchen drüben. Oder das gellende Aufschrillen der Lokomotiven der Feldbahnen, die kreuz und quer ihre weißen Dampfspuren an den dunkeln Berghängen entlang zogen.

Unwillig wandte Henner von Grund den Kopf. Aber da fiel sein Auge auf den Rain längs der Chaussee. Erst jetzt sah er es ja: wo bisher die schattenspendenden Kirschbäume gestanden, erhob sich nur noch eine lange Reihe niederer Stümpfe aus dem Boden. Traurige Stummel. Die Bäume alle schon abgehauen. Frucht würden sie doch nicht mehr tragen, wenn die Wasser über ihnen waren, so hatte man sie wenigstens noch als Brennholz genützt.

»Abbiegen – rechts, den Feldweg hinauf!«

Rauh befahl es Henner, und alsbald trabten die Pferde auf dem weichen Sandboden dahin. Rechts und links dehnten sich Äcker. Aber brach, unbestellt. Wozu sich auch mühen? Man hatte ja seine Abfindung schon erhalten, nun mochte der Acker verkommen. Im nächsten Jahre war er doch schon verschlammter Seeboden, für immer abgeschieden von dem befruchtenden Sonnenlicht.

Nur auf einem Feldstück ging noch ein Pflug. Einsam arbeitete hier ein alter Mann als einziger in der weiten Flur. Düster hing Henners Blick an dem Acker. Einmal würde hier noch die Saat keimen, dann nimmermehr. Und er mußte all der Menschengeschlechter denken, die über diesen Boden hinterm Pflug gegangen waren, im Schweiße ihres Angesichts. In Hoffen und Säen, in Mühen und Ernten waren ihre Erdentage hingegangen, einer nach dem andern waren sie in den dunkeln Schoß der Erde zurückgekehrt, aber stets hatte dieser Boden wieder dem Sohn und Enkel sein täglich Brot gegeben, in Treuen; in allem Wechsel der Zeiten. Und nun schritt hier der Letzte ihres Geschlechts über die Scholle der Väter – wo würde der einmal sein müdes Haupt zur Ruhe legen?

»Halten!« befahl Henner von Grund, und er wartete still in seinem Wagen, bis der Pflüger von oben her das Feld heruntergekommen war. Nun erkannte der aufblickend den Wagen vom Adligen Hause und griff grüßend zur Mütze.

»'n Tag, Stähler,« nickte Henner zu dem Alten hin. Der war in seinen Jahren. Sie hatten einander schon als Kinder gekannt. »Nun – doch noch bei der Arbeit?«

»Ja – das letztemal,« und der Alte lehnte sich auf den Pfluggriff. Ernst blickte er über die braune Ackererde hin.

»Habt Ihr's denn wenigstens gut bezahlt bekommen?«

»Wie man's nimmt. Es war wohl recht so, aber es hat mir doch in der Hand gebrannt, das Geld für meinen Acker.«

Düster nickte Henner von Grund vor sich hin. Dann fragte er weiter:

»Was werdet Ihr nun machen? Euch anderwärts ankaufen?«

Der Alte am Pflug schüttelte schwer den Kopf.

»Neu anfangen auf meine alten Tage? Nein, Herr, das lohnt wohl nimmer. Ich will zu meinem Sohn ziehen. Der hat jetzt Arbeit gefunden, droben auf dem Werk. Freilich – es ist andere Arbeit. Unsere Väter und Vätersväter haben nichts gewußt davon. Nun, es mußte wohl halt so kommen. Es ist bei allem nur ein Trost: man wird's ja nicht lang mehr mitanzusehen brauchen.«

Und sein Blick glitt langsam zu dem Herrn vom Adligen Hause. Der neigte leise sein Haupt. Einen Moment trafen sich die Augen der beiden in einem stummen Verstehen. Dann gab Henner dem Kutscher ein Zeichen. Weiter ging es hin über das todgeweihte Gefilde, über dem ahnungslos eine Lerche froh schmetternd ihr Loblied sang.

Nun war der Wagen am Waldsaum angelangt. Henner ließ halten und stieg ab. Schwerfällig kam er zu Boden.

»Fahren Sie weiter. Ich will zu Fuß durchs Revier. Hinten am Fischbacher Weiher warten Sie auf mich, verstanden?«

Der Kutscher bejahte und fuhr davon. Henner von Grund aber ging quer über den Hang. Mühsam, Schritt um Schritt wand er sich durch Astwerk und Gezweig, die abgetrennten Häupter der Waldriesen, die die Mordaxt gefällt. Im Sturz hatten sie die Wurzeln aus dem Boden gerissen. Tiefe Löcher gähnten, aufgewühlt wie im Todeskampf. Vielfach war das Erdreich, der schwarze Waldboden mit den Wurzeln herausgefetzt worden. Gleich einer Brustwehr ragte er nun senkrecht auf. Dunkel dräuend, wie von Geschossen durchlöchert. Einem Schlachtfeld glich so der Hang. Und stieg es nicht aus dem Moderduft der abgestorbenen Blätter noch wie ein bang verhallendes, letztes Seufzen?

Den Kopf tief gesenkt, schritt Henner von Grund dahin. Aber als er nun mitten drin war in dieser Wirrnis und jedem menschlichen Auge entzogen, stand er still.

In dem erloschenen Blick blinkte es, trüb und feucht. Da lag er nun, sein Wald, der sein bester Freund gewesen war in seinem Leben. Was sollte er nun noch auf der Welt? Und eine Müdigkeit kam plötzlich über den Herrn vom Adligen Hause, daß er sich niederlassen mußte auf einen der gefällten Stämme, schlaff in sich zusammengesunken.

So saß er mit geschlossenen Augen, und durch seinen Geist, den eine dämmernde Mattigkeit befallen, zogen all die langen, langen Jahre, die er zugebracht, in Sommers- und Winterszeit hier im Schweigen des Waldes. Immer weiter zurück ging dies Erinnern, bis es sich verlor in ungewissem Grau. Ein schwermütiges Sinnen befiel ihn. Wald und Mensch, Natur und Leben, war es nicht ein ewiger Kreislauf? Aus dem Dunkel kam es und führte wieder dahin zurück. Und keiner war, der hätte sagen können, zu welchem Ziele.

Lautes Peitschenknallen, Räderknarren und harte Laute einer Menschenstimme rissen Henner von Grund aus seiner Versunkenheit. Ein Wagen kam auf ihn zu, eine Holzfuhre. Mühsam ächzte der Karren durch den tiefen Sand des Waldbodens. Doch nun saß er fest. Mit aller Kraft zerrte das Pferd, ein alter, abgetriebener Gaul. Er lag keuchend in den Strängen, aber vergebens. Wilder und roher fluchte da der Mann neben ihm. Ein landfremder Geselle, offenbar drunten vom Sperrenbau. Sein scharfklingendes Kauderwelsch konnte Henner von Grund nicht verstehen, wohl aber seinen wutentbrannten drohenden Blick. Da erhob er sich von seinem Platz.

Zeit seines Lebens hatte er es nie geduldet, nie ruhig mitansehen können, daß man Tiere quälte. Und als sich jetzt der Mann nach einem armdicken Ast bückte und damit ausholte nach dem angstvoll schnaubenden Pferd hin, trat Henner schnell aus dem Buschwerk hervor.

»Halt!«

Mit zornigem Blick hob er gebietend die Hand.

Einen Augenblick stutzte der Mensch, dann aber stieß er ein Wort hervor in seiner fremden Sprache, unverständlich für Henner von Grund, aber der freche Ausdruck seiner rohen Züge sagte genug, und abermals schwang er den Ast nach dem armen Tier.

Alles Blut schoß dem Herrn vom Adligen Hause zum Kopf. Das ihm? Auf seinem Grund und Boden? Und noch einmal loderte der wilde Jähzorn seines Geschlechts in ihm auf. Die Rechte mit dem derben Eichenstock zuckte empor. Aber ehe sie niedersauste, ein Wanken, Schwanken, und vornüber fiel der schwere Leib – dumpf und hart.

Der Mann neben dem Pferd hatte seinen Knüppel fester gepackt. Bereit zu Abwehr und Gegenhieb. Doch nun ließ er den trotzig erhobenen Arm sinken. Sein Kopf neigte sich vor. Erst neugierig, dann beunruhigt. Was war denn das? Der da vor ihm wollte ja gar nicht wieder aufstehen?

Langsam trat er näher. Indessen doch noch immer den Ast in der Hand; man konnte ja nicht wissen.

Die Vorsicht erwies sich überflüssig. Der hitzige Graukopf machte keinerlei Anstalten, sich zu rühren. Sollte er wirklich –?

Näher beugte er sich über das dem Boden zugeneigte Gesicht. Aber fuhr alsbald wieder zurück. Er hatte genug gesehen. Und sich aufrichtend spähte der Mann über die Lichtung, mit scheuem Blick, wenn man ihn hier sah bei dem Toten, noch den Knüppel in der Hand!

Rasch warf er den Ast von sich, weit weg, und eilte zu seinem Fuhrwerk. Doch kein Schlag, kein lautes Schimpfwort mehr traf das Tier. Schweigend stemmte er sich gegen das Hinterrad, mit aller Kraft, ein halblauter Anruf nur, und dem vereinten Bemühen von Mensch und Tier gelang es. Knarrend mahlte der Wagen weiter in dem tiefen Sande.

Nun war sein letztes Ächzen verhallt.

Still ward es wieder. Ganz still. Der Abendschein kam und goß sein Gold über die Rodung. Über Boden und Stämme. Das in die Luft ragende Wurzelwerk warf seltsame, tiefe Schatten über den verwühlten Boden. Als wären es die Geister des gestorbenen Waldes, ihrer Heimstätte beraubt, die nun hier kauerten; verlorene, dunkle Schemen, wie eine stumme Klage lief es durch das Zittergras, das im kühlen Abendhauch erschauerte. Und horch – nun ein weiches, bangsüßes Singen fern vom Waldrand droben auf der oberen Grenze der Holzung – einer Drossel herbstliches Scheidelied. So lag zwischen den gefällten Bäumen seines Waldes Henner von Grund, starr und stumm, wie sie selber.

Tiefer sank die Sonne, verblutete über dem Bergsaum. Die Dämmerung schlich mit leisen Sohlen durch die Stille. Weich breitete sie die Schleier über die Dinge. Was sie streiften, das sank sanft in Schlummer. Da klang es aus der Ferne und kam allmählich näher. Ein glockenreines, friedvolles Geläut. Durch die Wirrnis des toten Waldes schoben sich hellbraune Flecken. Die Herde war es und mit ihr Tillmann, der Hirt. Langsam schritt er hinter seinen Tieren. Die in sich gekehrten Augen schweiften über das Bild der Verwüstung um ihn her, und er nickte. Stumm und geheimnisvoll.

Doch nun ließ ihn ein Laut von dem Leitstier vorn aufhorchen. Ein erschrecktes, kurzes Aufbrüllen, und dann ein heftiges Schnaufen mit hochgeworfenem Kopf. Wild glänzte das Weiße im Augenwinkel des Tieres. Da kam Leben in den Alten. Schnell eilten die hageren Glieder hin zu der Stelle. Und nun sah er: dort vor den Füßen des Stiers ein menschlicher Körper. Regungslos – ein Toter.

Langsamer tat Tillmann von Grund die letzten Schritte, und jetzt stockte sein Fuß. Der dort am Boden lag, im grünen Jägerkleid – er kannte ihn, nur zu gut. Hoch hatte er all sein Lebtag sein Haupt getragen, mit kalter Verachtung an ihm vorbeigesehen, dem armseligen Hirten – und nun lag dieses Haupt doch auch im Staube, wie alles Erdgeborene.

Da nahm Tillmann von Grund den verschlissenen, wettergeblichenen Hut vom Kopfe und faltete die knochigen Hände. Lange stand er, den Blick am Boden, bei dem Toten, und der Abendhauch spielte leise in dem spärlichen Grauhaar. So hielt doch einer derer von Grund Trauerwacht beim letzten Herrn vom Adligen Hause. Bis die Schatten des Abends immer tiefer wurden und die Tiere Tillmanns unruhig brüllten, heim verlangend.

Da trieb er ins Dorf, und dann ging er den Weg hinab zu dem alten Herrenhause drunten im Grund. Zum erstenmal in seinem Leben klopfte er an, dort an dem grauverwitterten Steinportal. Und auch jetzt nicht für sich. Noch einer stand hinter ihm, ein dunkler, schweigender Gast. Und als der über die Schwelle trat, wehte es durch das Haus – kalt und schaurig. Wie ein Hauch aus Modergrüften.

* * *

In der Halle hatten sie Henner von Grund aufgebahrt. Von jeher hatte sie mit angesehen, was von bedeutungsvollen Ereignissen das Adlige Haus betraf, Freud' und Leid. Nun barg sie auch den dahingeschiedenen Herrn des Hauses zur letzten Rast unter seinem Dach.

Trotz der frühen Nachmittagsstunde war tiefe Dämmerung in der Halle. Nur der Schein der Kerzen um den Sarg durchbrach sie, feierlich gedämpft.

Gedrängt voll war der weite Raum. Wohl kein Mann aus dem ganzen Rauhen Grunde, der noch rüstig genug war zum Weg hierher, war fern geblieben. Hatten sich auch die Zeiten geändert, es war doch noch etwas wie ein unsichtbares Band geblieben, das den Herrn vom Adligen Hause verband mit den Ortseingesessenen draußen im Gau. Nun gaben sie ihm auch das letzte Geleit, vereint mit den Dienstleuten des Gutshofes.

Der Altan, hinten in der Ecke, wo Henner von Grund zu Lebzeiten so gern gesessen, war schwarz ausgeschlagen worden, wie eine Kanzel, und Pfarrer Burgmann stand jetzt dort. Mit mattem Glanz hob sich sein Greisenantlitz aus dem tiefen Schatten. Ein ernster, weihevoller Duft von Lorbeer und Tannengrün, vermischt mit dem Hauch der Wachskerzen wehte von der Bahre her, die zu Füßen des Altans stand. Davor saßen in der ersten Reihe der Stühle Eke und Eberhard von Selbach, nun die Herren in dem alten Hause.

Laut hallte Burgmanns Stimme über die Trauergemeinde hin. Aber wer näher zuhörte, der merkte wohl: es war nicht mehr die alte Kraft darin, die ehedem wie ein stürmender Waldbach sich grollend und donnernd auf sie ergossen. Wie eine Glocke schwang sie, die durch lange Seiten ihren ehernen Ruf geschickt, nun aber den ersten Sprung erlitten. Tiefe Bewegung bebte, wenn auch verhalten, in der Brust des greisen Priesters. Sein getreuester Mitkämpfer für die Sache des Rauhen Grundes lag dort auf der Bahre. Als ob es die Sache selber sei – so war es ihm. Und es klang das auch aus seinen Worten:

»Ihr Männer vom Rauhen Grund, von nah und fern seid ihr hergekommen, keiner wollte zurückbleiben, und mit ernster Trauer steht ihr vor diesem Sarge. Und das mit vollem Fug. Denn der hier liegt, er war der eure!

Mehr denn vier Jahrhunderte steht dies alte Haus, trutzig und wehrhaft, als ein Wahrzeichen des Rauhen Grundes. Und ebensolange sitzt in diesem Hause das Geschlecht der Grunds, selber trutzig und wehrhaft wie sein Haus. Ein rechtes Herrengeschlecht. Allzeit sind sie hocherhobenen Hauptes über ihr Eigen geschritten – selbstherrlich und hart. Gar oftmals haben wir es verspürt, auch an ihm, dem nun ein Stärkerer die Hand aufs Haupt gelegt hat. Manchen Strauß haben wir ausfechten müssen mit ihm, manchen heißen Zorn haben wir auf ihn gehabt.

Aber dennoch, ihr Männer, er war der unsere! Heute, an seiner Bahre, fühlt es auch der, der ihm vielleicht bei Lebzeiten grollend ferngestanden. Denn keiner, wie wir hier auch alle stehen, keiner, sag' ich, hat mehr unsere Heimat geliebt, denn er! Das war es, was ihn mit uns verband, was ihn uns verbindet auch noch übers Grab hinaus, Liebe zur Heimat – sie ist uns das Teuerste, was wir haben. Darum ist uns auch der teuer, der diese Liebe hegt und pflegt wie wir selber. Ein deutscher Dichter – kein Sänger aus unserem westfälischen Gau, aber dennoch ein kernig deutscher Mann, unserer Art wesensverwandt – hat es einmal gesagt in einem seiner schönsten Werke: »Der ist in tiefster Seele treu, der so die Heimat liebt!« – Ja, treu in tiefster Seele, wie rauh auch oft ihr äußerer Anstrich war, das war er, der Tote da. Und, ihr Leute vom Rauhen Grund, ich frage euch: Was kann man einem Manne Besseres nachrühmen als Treue?

So laßt uns denn auch ihm die Treue halten, im Erinnern übers Grab hinaus! Treue um Treue – das Wort hat ja von jeher gegolten hier bei uns im Rauhen Grund.

Ihr Männer – besonders ernst und tief ist unsere Trauer an dieser Bahre. Der dort liegt, er ist der letzte seines Hauses. Mit ihm erstirbt sein Geschlecht. Nur eine Frau ist es, in deren Adern noch weiter etwas fließt von seinem Blut.«

Ein Blick glitt hinunter zu Eke von Selbach, die ernst, aber mit Haltung in ihrem Stuhl saß. Aufrecht, dessen sich bewußt, was sie sich schuldig war als Hüterin der Familientradition. Doch dann sprach Bergmann weiter:

»Aber diese Frau trägt einen andern Namen. Der Name derer von Grund sinkt ins Grab mit dem letzten ihres Geschlechts. Ihr Männer – das will uns seltsam schwer ankommen. Die von Grund – das gehörte zu uns, das gehörte zur Heimat, wie draußen Wald und Berg. Und nun ist es damit vorbei – für immer.

Ist es uns nicht allen, als trüge man mit diesem Toten ein Stück von uns selber zu Grabe?«

Ein Zittern schwang hörbar aus der Stimme des greisen Priesters, auch wie er nun fortfuhr, in innerster Bewegung:

»Wahrlich, es ist vielleicht kein Zufall, daß Henner von Grund in die Gruft sinkt, und mit ihm sein Geschlecht, zur selben Stunde, wo all das um uns her zu versinken beginnt, an dem unsere Herzen gehangen haben mit unerschütterlicher Liebe. Wie ein Wahrzeichen ist es, daß jedermann offenbar werde: ›Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit!‹ –«

Ein Verhalten der bebenden Stimme, dann sprach Burgmann von neuem, doch fester nun. Etwas von der einstigen Wucht lag in seinen Worten:

»Ihr Männer, es ist ein schwer Ding, zu leben an zweier Zeiten Wende. Uns ist es beschieden, das an uns zu erfahren. Wir sehen die Welt unserer Vorväter versinken, die unserem Fuß festen Halt gab. Solche Zeit braucht doppelt aufrechte Männer, um festzustehen. Wir haben den Kampf aufgenommen gegen die neue Zeit, die mit rücksichtsloser Gewalt eingebrochen ist in unser stilles Tal, die uns den Frieden unserer Herdfeuer gestört hat. Wir haben gekämpft, solange es in unseren Kräften stand. Wir haben gekämpft und verloren.

Ihr Männer, das ist bitter, aber es ist keine Schmach. Es ist nicht immer die bessere Sache, die siegt, wir weichen einer Übermacht, einem Gegner, an dem unsere Waffen machtlos abprallen. Hocherhobenen Hauptes gehen wir von der Walstatt. Wohlan, so mögen sie uns denn unserer Väter Scholle nehmen – wenn es Gott nicht noch gefällt, in letzter Stunde sich unserer guten Sache zu erbarmen. Wir räumen das Feld in Ehren. Schmachvoll wäre es nur, beugten wir uns vor dem Sieger, vergönnten wir dem Geist der neuen Zeit, Besitz zu ergreifen auch von unserem Herzen.

Aber das, ihr Männer vom Rauhen Grund,« – gewaltig dröhnte jetzt die Stimme Burgmanns durch die weite Halle –, »das sei fern von uns! Und darum laßt uns jetzt hier an dieser Bahre alle miteinander ein heiliges Gelübde tun: Treue zu halten, wie dieser Tote, uns selber! – Das walte Gott, Amen!«

So klang es machtvoll hin über den Sarg Henner von Grunds, und dann trugen sie ihn hinaus in endlos langem Zuge, hin zum Erbbegräbnis bei der Kirche am Unterdorf.

Fromme Choräle spielten sie auf dem Wege zum Friedhof. Aber als das ernste Werk getan, als sich die Heimaterde wieder geschlossen über dem Leibe ihres Sohnes und der Zug nun zurückkehrte, da schmetterten helle Klänge weithin durch die herbstliche Flur: »Im Wald und auf der Heide –« und andere frische Jägerweisen. Die Kapelle der Grünen Gilde. Ein tiefblauer Himmel wölbte sich dabei über den abgeernteten Feldern. Weiße Wolken wanderten eilends, durch die Stoppeln pfiff der Wind. Und plötzlich flog, vom Geschmetter der Jagdhörner aufgeschreckt, aus dem Ackerstück dicht neben der Straße ein Volk Rebhühner auf, mit scharfem Schwirren. Da sahen sich alle an und nickten sich zu. Wie wenn sie sagen wollten: Könnt' er's noch hören – so wär's ihm recht!

So nahmen die vom Rauhen Grund Abschied vom letzten Herrn des Adligen Hauses. – – –

Am dritten Tage darauf war es. Gerhard Bertsch kam heim von seiner Reise. Es war also nicht die Unwahrheit gewesen, als er den Kranz an Eberhard von Selbach hinuntergeschickt hatte mit den paar Zeilen, die sein Fernbleiben vom Begräbnis mit beruflicher Abwesenheit entschuldigten. Nur daß er diese Fahrt nicht gerade auf diese Tage hätte zu verlegen brauchen.

Gern hätte er auch Henner von Grund die letzte Ehre erwiesen. Gerade, weil es hart auf hart gegangen war zwischen ihnen beiden. Er wußte den ebenbürtigen Gegner zu achten. Dazu war er selber zu sehr Sohn seiner Heimat. Aber durfte er Eke die stille Weihe dieser Stunde mit seinem Anblick stören?

Also war er denn ferngeblieben. Erst heute kam er wieder zurück, wo die Kränze draußen auf dem neuen Grabhügel schon zu welken begannen.

Nachdem er abgelegt, trat er zum Schreibtisch. Die Post, die in seiner Abwesenheit eingelaufen war, harrte dort bereits seiner. Er sichtete die Eingänge. Ein Kuvert mit Trauerrand war darunter. Er erbrach es. Eine gedruckte Danksagung für die anläßlich des Trauerfalls erwiesene Aufmerksamkeit, erstattet von Eke von Selbach geb. Grund und Eberhard von Selbach.

Sein Auge blieb auf dieser Unterschrift hängen, mit einem starren Ernst. Da gehörte sie nun zu dem andern, eng und unauflöslich, die einmal sein eigen hatte werden sollen. Jetzt wäre die Stunde dagewesen, auf die sie damals so sehnsuchtsvoll gewartet hatte. Frei von jedem fremden Willen hätte sie an seine Seite treten können, vor aller Welt! Und nun?

Hart lachte er auf. Aber die Hand, die das Blatt hielt, zitterte. Dann warf er die Anzeige beiseite, zu dem Erledigten, und griff nach andern Eingängen.

Es gab gleich zu tun. Wenn man einmal ein paar Tage fort war, sofort war es zu merken. Nun, es war gut.

Doch die Wirtschafterin störte ihn bald wieder: ein Besuch, Doktor Herling. Er stand auf und trat dem Freunde entgegen. Der begrüßte ihn mit frischer Stimme. Er sah überhaupt verjüngt aus, froh und zufrieden. Recht wie ein junger Ehemann soll. Im Februar hatte der Doktor nämlich beim Wintersport auf dem Astenberge ein Mädchen kennengelernt, nicht ganz jung mehr und keine Schönheit, aber ein guter Kamerad; das hatte er sich nun heimgeholt vor ein paar Wochen. Und freute sich jeden Tag, den Gott werden ließ, von neuem dieses gescheiten Einfalls. Auch jetzt, wie er sich nach erfolgter Begrüßung Gerhard im Sessel gegenüber niedergelassen hatte.

»Ich sage dir, alter Junge, es geht nichts über die Ehe! Man wird ja erst richtig ein Mensch, wenn man sein eigen Haus hat, eine Frau darin. Ich versteh' dich nicht, wie du es noch immer so aushalten kannst.«

Bertsch zuckte die Achseln. Er sah nicht auf dabei. Seine Hand ordnete wie gedankenverloren an dem Briefstoß vor ihm. Der andere aber ließ nicht ab.

»Du mußt auch heiraten! Herrgott, ein Kerl wie du der findet doch bald jemanden.«

»Gewiß, eine Frau zu finden, die einen heiraten will, das wäre wohl nicht allzu schwer. Aber – man muß doch auch sie wollen.«

»Ach so, die Liebe meinst du? Ja, mein Bester, da will ich dir mal was sagen. Das mit der großen Leidenschaft, das ist ja alles Überspanntheit! Braucht's denn das zur Ehe? Wenn man sich nur sympathisch ist und beiderseits den guten Willen hat, das genügt vollkommen. Das andere findet sich schon. Man gewöhnt sich aneinander und verwächst zusammen ganz von selbst.«

»Ich weiß nicht – ich denke da doch anders, vielleicht bin ich recht altmodisch, aber eine Ehe ohne Liebe – nein! Für den faden Haustrunk, den du mir da anpreisen willst, bin ich nicht zu haben. Die Frau, die ich in mein Haus, in meine Arme nehme, die –«

Mit steigender Erregung hatte Bertsch gesprochen, doch jäh brach er ab.

Verwundert sah der Freund auf ihn.

»Das hätte ich nie von dir erwartet. Ich hatte dich immer für ganz kühl gehalten den Frauen gegenüber. Nur einmal –« Er verstummte nachdenklich. Dann fragte er plötzlich: »Sag' mal: hast du eigentlich nie daran gedacht, daß Eke von Grund wohl eine Frau für dich gewesen wäre?«

»Eke von Grund? Nein – nie.«

Ohne Besinnen kam die Antwort. Aber wohl etwas zu hart und schroff. Der Doktor schwieg. Doch die klugen Augen hinter der goldnen Brille ruhten beobachtend auf Bertsch, der sich jetzt tiefer über seine Briefe gebeugt hatte. Da trat ein Verstehen in des Arztes Blick, und ein Mitleid zugleich.

Er ließ das Thema fallen. Von diesem und jenem plauderte er noch. Dann sah er nach der Uhr und erhob sich.

»Abendbrotzeit – meine Frau wird mich schon erwarten. Ich muß heim. Aber, weißt du was, komm mit!«

Ein Kopfschütteln.

»Ich will euer junges Glück nicht stören.«

»Ach, Unsinn, du störst uns nicht. Im Gegenteil, meine Frau wird sich freuen.«

»Vielen Dank, mein Alter.« Bertsch drückte dem Freunde die Hand, »aber es geht wirklich nicht. Hier – du siehst ja, das will alles noch heute aufgearbeitet sein.«

Da gab Doktor Herling es auf.

»Wie du willst. Nun, dann bald ein andermal. Hörst du?«

Wohl nickte Bertsch, aber als er den Freund hinausgeleitet und wieder ins Zimmer zurückkehrte, stand in seinen Zügen ein finster entschlossenes Nein. Allein sein, gut – damit wurde man fertig. Es mußte ja sein. Aber das Glück zweier anderer mitansehen und dabeistehen mit leeren Händen, im Herzen das brennende Sehnen – nein, das konnte niemand verlangen!

Gerhard Bertsch setzte sich wieder an seinen Schreibtisch; aber statt nach den zu bearbeitenden Eingängen, griff die Rechte in dunkelm Zwang nach dem Briefkorb: Erledigtes, und wieder starrte sein Auge auf den schwarzumränderten Bogen.

Eke von Selbach – die Frau des andern. Nie würde er es vergessen, nie verwinden können, daß sie einst ihm angelobt war, daß er sie verloren durch eigene Schuld. Nie würde eine fremde Frau in diese Räume hier einziehen, die bestimmt gewesen waren, sie als Herrin zu begrüßen, denn er – er liebte sie und würde nie aufhören, sie zu lieben.

* * *

November war es. Grau die Luft. Schwer flatterten die dunkeln Vögel mit mißtönendem Gekrächze über die Flur. Unheilkündend. Und ebenso schwirrten im Rauhen Grunde Gerüchte.

Schon seit einiger Zeit war ein Raunen umgegangen: Mit dem Reusch-Mannes stimmt es nicht mehr. Er wirtschaftete hintenaus. Daran konnte all sein großartiges Auftreten nichts ändern. Das Auto, der kostbare Pelz, der Sekt bei jeder Gelegenheit. Aber nun sprach sich noch ein anderes herum: Auch mit seiner Gründung Reuschfelde und der ganzen Baugenossenschaft sollte es schlecht stehen – sehr schlecht sogar.

Da zog Unruhe und Sorge ein in manches Haus im Rauhen Grund und immer häufiger kamen die Nachfragen in die Bureaus der Baugenossenschaft, aber sie fanden hier nur verlegene Gesichter, ein Achselzucken und stets den Bescheid, Direktor Reusch wäre nicht da. Er sei auf einer geschäftlichen Reise.

Dunkler, drohender zog sich das Unheilsgewölk zusammen über dem Rauhen Grund, und eines Tages kam das erste Wetterleuchten. Eine Zeitung draußen in Köln hätte die Notiz gebracht: Ein großer wirtschaftlicher Krach stände bevor im Rauhen Grund, wo demnächst die Talsperre eröffnet werden sollte. Reuschfelde, die neue Industriekolonie, die der bekannte Unternehmer Reusch aus dem Boden gestampft – eine allzu kühne Zukunftsspekulation – stände vor dem Zusammenbruch und mit ihr die Baugenossenschaft. Zahlreiche mittlere und kleinere Existenzen gerade würden davon in Mitleidenschaft gezogen und vielfach ruiniert werden. Ja, es hieß aber auch, daß nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Die Seele der ganzen Gründung, eben jener Unternehmer Hermann Reusch, dürfte einer gerichtlichen Untersuchung wegen betrügerischen Bankrotts entgegensehen.

Schwül zuckte dies Wetterleuchten über das Land hin. Allenthalben sah man bestürzte, tief erschrockene Gesichter. Von allen Seiten kamen die Leute nach Rödig geeilt, zu den Geschäftsräumen der Genossenschaft. Aber sie waren geschlossen. Da brach es los. Ein Sturm, ein Rasen der Empörung: Schwindel – Lug und Trug alles! Und verloren sein bißchen schwer erworbenes Geld! Am Bettelstab so mancher, der sein Alter hatte bequem und sorgenfrei gestalten wollen durch die Beteiligung bei dem Reuschschen Unternehmen. Ah – wenn man ihn nur hier gehabt hätte, den Elenden, der ihnen mit großsprecherischer Miene das Geld aus der Tasche geholt – er sollte es ihnen büßen! Aber er hatte sich rechtzeitig davongemacht mit seinem Raub. Wer wußte, wo er jetzt praßte mit ihren sauer verdienten Groschen!

Auch nach Christiansglück war die Runde gedrungen. Nicht überraschend für Bertsch. Er war von der Landesbank in Köln schon längst gewarnt worden. Mit Reusch stände es faul – oberfaul, aber es berührte ihn ja nicht. Er hatte weder geschäftlich noch persönlich mit der Gründung Reuschs etwas zu tun. Um so verwunderter war er daher, als man ihm zu später Abendstunde in seinem Hause plötzlich noch einen Besuch meldete – Hermann Reusch. Er ließ ihn schließlich vor, aber ganz kühlste Zurückhaltung. Stehend empfing und fertigte er ihn ab, der mit verstörter Miene hereinkam.

»Sie wünschen?«

»Herr Bertsch!« Und Hermann Reusch, äußerlich noch immer der Mann des schweren Geldes mit seiner übertriebenen Eleganz, trat näher. Nervös erregt. »Ich komme zu Ihnen in momentaner Notlage. Sie dürften schon gehört haben –«

»Allerdings, ich bin unterrichtet von Ihrem Ruin.«

»Bitte – so steht es doch nicht. Eben nur eine Krisis, wie sie jedes Unternehmen einmal durchmachen kann. Es kommt nur darauf an, daß wir durchkommen. Und darum eben –«

»Pardon, da wenden Sie sich an die falsche Adresse. Ich bin doch kein Geldmann.«

»Aber Sie genießen das unbegrenzte Vertrauen der Landesbank. Wenn Sie den Herren dort die Sache nahelegen wollten! Unsere Interessen gehen doch Hand in Hand, wir –«

Eine kalte Bewegung der Abwehr.

»Wenn ich wirklich das Vertrauen der Bank in dem Maße besäße, wie Sie annehmen, so hieße es dieses aufs schwerste mißbrauchen, wollte ich eine Unterstützung Ihres Unternehmens anempfehlen.«

»Herr Bertsch?«

»Beliebt?«

»Was berechtigt Sie zu diesem Ton mir gegenüber? Haben Sie nicht genau so gewagt wie ich? Nur daß Sie eben mehr Glück hatten!«

»Da ist wohl auch sonst noch ein kleiner Unterschied. Wenn ich wagte, geschah es um der Sache willen, nicht für mich. Sie aber riskierten, um sich die Tasche zu füllen.«

»Sie sind gefühllos und undankbar. Denken Sie doch daran, daß Sie schließlich meinem Vater Ihren ganzen Erfolg verdanken! Ich weiß es von ihm selber.«

»Auch das ist falsch. Ich habe Ihrem Vater nichts zu danken. Auch er suchte nur seinen Vorteil. Allerdings war er ein nüchternerer Rechner als Sie.«

Reusch machte eine heftige Gebärde.

»Also Sie lehnen jede Hilfe ab?«

»Jede.«

»Dann drücken Sie mir den Revolver in die Hand.«

Ein Achselzucken. Da stürzte Hermann Reusch verzweifelt aus dem Zimmer.

Auch in das stille Haus drunten im Unterdorf, wo die Reusch-Mutter nun bei ihrem Bruder, dem pensionierten Bergverwalter Manskopf, wohnte, war die dunkle Runde gedrungen. Eine Nachbarin hatte es geschwätzig der Blinden hinterbracht, was man sich erzählte von ihrem Enkel, dem Reusch-Mannes. Aber in dem alten, welken Gesicht hatte sich kein Nerv bewegt. Gelassen, ja mit einem abweisenden Stolz, hatte die Reusch-Mutter nur erwidert:

»Laßt die Leute schwätzen, was sie wollen. Es wird so manches geredet. Und eines Menschen ehrlicher Name ist schneller in den Schmutz gezogen als wieder reingewaschen. Warten Sie's ab, was daran ist.«

Aber dann war sie ins Haus gegangen. Dort saß sie nun allein für sich, den ganzen Nachmittag, mit tiefem Kummer in dem alten, müden Antlitz, bis der Abend einbrach. Fast war es schon Nachtzeit, da pochte es plötzlich leise am Fensterladen draußen. Sie fuhr erschreckt auf aus ihrem trüben Sinnen und tastete sich zum Fenster. Leise öffnete sie, von einem dunkeln Ahnen befallen.

»Wer ist da, noch so spät?«

»Ich, Großmutter – der Mannes.« Eine Flüsterstimme antwortete es, in höchster Erregung, »laß mich ein. Nur schnell.«

Der alten Frau zitterten die Hände. Als ob ihm schon die Verfolger auf den Fersen wären, klang das. Aber sie raffte sich auf.

»Ja, ich komme!«

Und sie fand sich hinaus auf den Flur und entriegelte die Haustür. Ungestüm drängte sich etwas an ihr vorüber, der Riegel wurde wieder vorgeschoben, dann ein heftiges Aufatmen. Mehr ein Keuchen schon wie ein gehetztes Wild.

»Mannes, was ist geschehen?«

»Nicht hier – drinnen, Großmutter!«

Immer noch stieß er es hervor, in scheuem Flüsterton, dann zog sie seine Hand mit sich fort, wieder ins Zimmer hinein. Sie hörte ihn den noch offenen Laden schließen, und nun erst kamen die Schritte des Enkels zu ihr.

»Großmutter – ich bin verloren, wenn du mir nicht hilfst!«

Und plötzlich traf ein Schluchzen an ihr Ohr, ein furchtbares, stöhnendes Schluchzen aus verzweifelter Mannesbrust. Der Laut weckte in dem alten Herzen längst verschollene Erinnerungen an die Zeiten, wo der, der vor ihr stand als ein mit schwerer Schuld Beladener, noch ein unschuldiges Kind war, ihre ganze Freude und Lebenshoffnung. Wie oft hatte da die kleine Brust in ihrem kindlichen Leid sich nicht auch so schluchzend Trost und Rat geholt bei der alten Großmutter? Da suchten die welken Finger nach seiner Hand.

»Mannes – was kann ich tun für dich?«

»Gib mir Geld, Großmutter, daß ich fort kann. Außer Landes. Denn, wenn ich hierbleibe, wenn sie mich fassen –!«

Wieder dieses krampfhafte Aufschluchzen, das so schrecklich durch das stille Gemach schüttelte.

Schweigend erhob sich die alte Frau, tastete sich zum Nachttisch, zur Schublade und kam wieder.

»Hier – nimm den Schlüssel. Dort im Sekretär, gleich oben, liegt, was ich mir erspart hab'. Es ist nicht viel, aber es langt wohl, daß du fortkommst – und noch einmal ein neues Leben anfängst.«

»Großmutter!«

Wild preßten sich ein paar feuchtkalte Hände um die ihren, aber plötzlich ließen sie ab, wie in einem jähen Erschrecken.

»Was ist dir?«

»Still! Hörst du nichts?«

Beide hielten sie den Atem an, und nun vernahm es auch die Blinde: Schritte draußen, fest und drohend, und jetzt ein scharfes Pochen an der Haustür.

»Aufgemacht! Im Namen des Gesetzes!«

»Zu spät – der Gendarm!« Zusammenbrechend sank Hermann Reusch auf den nächsten Stuhl.

Wieder das Pochen, dröhnender, fordernder. Da richtete sich die Blinde hoch auf. Ihre Hand suchte das Haupt des Enkels.

»Trag's wie ein Mann. Und vergiß das eine nicht: Jede Schuld läßt sich sühnen!«

Dann ging sie zur Haustür und öffnete selber dem Häscher.

Im Dunkel der Nacht wurde der Sohn des reichen Reusch-Hannes fortgeführt, seinen Richtern entgegen. In dem wieder stillen Hause aber falteten sich ein paar Hände, noch müder als sonst, und welke Lippen sprachen leise:

»Nun kann ich nur noch für dich beten, Mannes!«

* * *

Der Reusch-Mannes im Gefängnis, als ein Bankrotteur und Schwindler! Tagelang sprach man von nichts anderem im Rauhen Grund. Und ein wildes Frohlocken ging um bei allen denen, die es mit Pastor Burgmann hielten. War es nicht gekommen, wie er es so oft vorausgesagt? Ein Ende mit Schrecken hatte die neue Herrlichkeit genommen. Wer wußte, ob nun nicht auch bald der andere an die Reihe kam? Und mancher Blick flog hinauf zu den ragenden Essen von Christiansglück, zu dem prächtigen, villenähnlichen Gebäude, in dem Bertsch wohnte, jetzt nun schon Jahr und Tag.

Auch in das Adlige Haus drunten im Grunde war die aufregende Kunde gedrungen und hatte die Stille aufgestört, die dort über dem düsteren Gemäuer lastete, seitdem sie den alten Herrn an einem strahlenden Herbsttag hinausgetragen hatten zur letzten Ruhe, in die Familiengruft der Grunds neben dem Rödiger Gotteshause. Eke zwar hatte die Nachricht ohne tieferes Empfinden hingenommen. Was ging sie dieser Mensch an, den sie da in Haft genommen? Mochte er mit sich und seinen Richtern abmachen, was er verschuldet. Nur die armen Leute taten ihr leid, die ihm allzu vertrauensvoll zum Opfer gefallen waren, und sie beschloß, die Not zu lindern, soweit das in ihren Kräften stand. Jetzt, wo sie nach des Oheims Tode Miterbin des ansehnlichen Familienbesitzes geworden war, konnte sie ja dem Triebe ihres Herzens folgen in solchen Dingen – ungehindert. Und dieses Bewußtsein trug zum ersten Male wieder einen lichteren Schein in ihr Leben, das sonst grau vor ihr lag.

Jenes Hoffen, das sich noch einmal in ihr hatte regen wollen, im eigenen Hause Wärme zu verbreiten, hatte sie aufgegeben, seit dem Fehlschlag des ersten Versuchs. Ihr Stolz setzte sich keiner zweiten Ablehnung mehr aus, und ihr Gatte tat ihr seinerseits keinen Schritt entgegen. Sie nahm es hin ohne Vorwurf. Vielmehr mit dem klaren Bewußtsein: sie selber trug die Schuld daran. Lange genug hatte er ja um sie geworben, still und zart; aber sie hatte sich ihm verschlossen. Nun war es eben zu spät.

In diesem Bewußtsein ertrug sie auch noch anderes. Eines Tages war ihr ein Brief zugegangen. Von einer anonymen Schreiberin. Darin stand, daß die häufigen Fahrten ihres Mannes nach Köln einen andern Grund hätten als seine angeblichen Geschäfte. Sie möchte auf ihrer Hut sein. Ihr Mann habe eine Geliebte in Köln.

Tief erblaßt war Eke im ersten Augenblick. Also das war es: Bei einer andern suchte Eberhard, was er nicht gefunden im eigenen Hause. Und ihre erbebende Hand griff nach dem Schreiben. In sein Zimmer wollte sie es legen, ihm auf den Tisch. Schweigend, ohne ein Wort. Daß er es fand, wenn er wiederkam von seinem heimlichen Wege.

Aber schon an der Schwelle kehrte sie um. Nein – und ihr Stolz kam ihr wieder. Wollte sie auf eine Verleumdung hin glauben und verurteilen, die feige im Dunkeln schlich?

Da verbrannte sie den Brief, und nie kam ihr ein Wort davon zu Eberhard über die Lippen. Aber im tiefsten Herzen saß doch der Stachel. Und wenn sie so manchmal ihren Mann ansah, und er dann seltsam unsicher ward unter ihren stummen, ernsten Blick, dann fühlte sie ein schneidendes Weh: Es war wohl doch so! Indessen, hatte sie ein Recht, den Stab über ihn zu brechen, daß er bei einer andern suchte, was er nicht gefunden bei dem eigenen Weibe? Da trug sie ihr Frauenleid, still und stolz.

Fremd lebten so die beiden im Adligen Hause nebeneinander hin. Ein jeder ging seine eigenen Wege. Eke die des Wohltuns und der Nächstenliebe. Besonders die Kleinsten der Kleinen waren ihre Schützlinge. Wenn sie in einem Hause, wo die Mutter krank lag, für Wochen ein paar solcher Blondköpfchen betreuen durfte, dann empfand sie manchmal fast etwas wie ein Glück.

Auch heute abend war sie erst spät wiedergekommen von einem solchen Liebeswerk draußen. Aber selbst jetzt noch galt ihre Sorge den kleinen Schutzbefohlenen. Sie stand vor dem großen, schweren Eichenschrank in der Halle und suchte in ihren Leinenschätzen, was sie wohl davon verwenden könnte zur Linderung der Not in einem Hause ihrer Pflegschaft.

Das Anschlagen des Klopfers am Portal drang da plötzlich durch die Stille. Anne-Marie ging und kam wieder.

Eke sah zu ihr hin.

»Wer kam denn noch so spät?«

Und das Mädchen wollte ihr den Brief hinreichen. Unwillkürlich warf Eke einen Blick darauf. Ein modisches Format von fliederfarbenem Leinenpapier, darauf Schriftzüge, steil und groß, aber unverkennbar von einer Frauenhand. Da wehrte Eke kurz ab.

»Gib ihn nur selbst dem Herrn.«

Ruhig tat sie die Arbeit am Schrank weiter. Nur der herbe Zug um ihre Mundwinkel hatte sich noch verschärft.

Gleich darauf kam das Mädchen wieder zurück, in großer Eile, und verschwand im hinteren Ausgang nach dem Wirtschaftshof zu. Nicht lange danach, und der Wagen rollte aus der Remise. Dumpf klapperten die Hufe auf dem Pflaster.

Dann erschien ihr Mann. In Hut und Mantel, eine kleine Handtasche in der Linken. Als er sie gewahrte, zuckte er zusammen. Er hatte sie wohl hier unten nicht erwartet. Nun trat er auf sie zu:

»Ich muß sofort nach Köln – in geschäftlicher Angelegenheit.«

Sie nickte nur, aber unter ihrem Blick verwirrten sich seine Mienen.

»Es ist wirklich so. Es hängt mit der unglücklichen Geschichte zusammen – mit der Reusch'schen Gründung. Auch ich hatte mich leider verleiten lassen, mich zu beteiligen. Nur, ich hatte dir bisher nichts davon gesagt – um dich nicht zu beunruhigen.«

Wieder traf ihn der tiefdringende Blick. Dann kam ihre Antwort.

»Du bist mir keine Rechenschaft schuldig. Weder über deine Geschäfte noch über deine sonstigen Angelegenheiten.«

Eberhard von Selbach flatterte ein Rot über die aufgestörten Züge. Sein Antlitz senkte sich. Wie unschlüssig stand er einen Augenblick. Doch jetzt schlug draußen vom Hof ein ungeduldiges Stampfen an sein Ohr. Da gab er sich einen Ruck.

»Es ist die höchste Zeit, wenn ich den Zug noch erreichen will!«

Er reichte ihr hastig die Rechte.

Sie erwiderte leicht den flüchtigen Gruß.

»Und wann kommst du wieder? Es ist des Wagens wegen.«

»Ja so – natürlich! Also – schick mir Heinrich morgen zum Mittagszug. Bis dahin wird alles in Ordnung sein – denk' ich.«

Wieder nur ihr ruhiges Nicken. Da riß er den noch immer zögernden Fuß gewaltsam vom Boden.

»Also dann – leb' wohl!«

Und er eilte hinaus. Fast ein Flüchten vor ihrem stummen, ernsten Blick.

Eine Weile stand Eke von Selbach noch vor ihrem Linnen. Als aber das dumpfe Rollen über die Bohlen der Grabenbrücke in der Abendstille verhallt war, ging sie langsam zu dem Sessel in der Nische und ließ sich nieder. Das Antlitz in der aufgestützten Hand verborgen, sann sie vor sich hin. Bitter lag es jetzt auf ihrem Antlitz. Als habe etwas Niederes, Häßliches ihr lichtes Frauengewand gestreift.

Lange saß sie so, bis eine leise Berührung am Knie sie aufsehen machte. Tell war es. Still war er aus seiner dunkeln Ecke unter dem Altan hervorgekommen, und unverwandt hatte er die Herrin angesehen, die seiner nicht achtete. Das alte Tier hatte sich nach seines Herrn Tode ganz an sie angeschlossen, als gehörten nun sie beide zusammen.

Zurückkehrend aus ihrem traurigen Sinnen begegnete Ekes Blick den Augen des Hundes. Klar waren die, ein treuer Spiegel der Seele. Da senkte sich ihre Hand zu ihm nieder.

»Du wenigstens kannst nicht lügen.«

Und sie drückte des Hundes Kopf an sich mit einer Gebärde fröstelnder Verlassenheit. – –

Am andern Mittag kam der Wagen von der Station zurück ohne den Herrn. Der Kutscher war verwundert, aber Eke sagte ruhig: »So kommt er mit dem Abendzuge!« Und aufrecht ging sie vor dem Gesinde einher, trotzdem sie es fühlte mit dumpf lastender Schwere: auch dann würde er nicht kommen; er kam nie mehr. Das Lebewohl gestern abend, das ihr gleich so seltsam geklungen – es war sein Abschied gewesen von ihr.

Ekes Ahnen erfüllte sich. Auch der Abendzug brachte Eberhard von Selbach nicht zurück. Dafür traf ein Brief von ihm ein. Der lautete:

Liebe Eke,

nun ist gekommen, was kommen mußte. Das Verhängnis ist im Anzug, und nichts wird es mehr aufhalten.

Was ich Dir gestern abend sagte, es ist die Wahrheit gewesen. Ich habe mich durch Reusch zur Beteiligung an seinen Gründungen verleiten lassen. Mit seinem Zusammenbruch ist alles verloren, auch für mich. Soweit ich es bis jetzt übersehen kann, werden die gegen mich geltend gemachten Forderungen bis zum letzten Pfennig aufzehren, was mein Anteil ist an unserm gemeinschaftlichen Besitz.

Aber das ist nicht das Schlimmste, was ich Dir angetan habe! Ich habe Dir die Treue gebrochen, seit Monaten schon. Aber seit gestern abend erst weiß ich es: Du ahntest es, schon lange wohl, und schwiegst trotzdem. Das ist, was mich jetzt zu Boden drückt, vor solcher Gesinnung scheint mir mein Verhalten, meine notgedrungene Heimlichkeit – ich durfte ja nicht reden um jener Frau willen – so schlecht, daß ich kein Wort vorbringen kann, nicht einmal zur Erklärung, wie alles gekommen. Denn ich habe Dich einmal sehr lieb gehabt. Aber verzeih', daß ich es wage, jetzt noch davon zu reden.

Die Frau, die mein Schicksal geworden ist, kennst auch Du. Es ist Marga Steinsiefen. Ihre Ehe ist unglücklich geworden, wie es die unsere ist. So fanden wir uns. Und nun gehöre ich zu ihr und kann nicht mehr von ihr lassen. Schon längst planten wir einen entscheidenden Schritt. Jetzt gab die Katastrophe mit ihrem Bruder den Anstoß. Marga will der Schande aus dem Wege gehen, die ihre Familie betroffen. Da rief sie mich, und ich folgte. Wenn Du diese Zeilen liest, sitzen wir schon im Expreß, der uns an die Riviera führt.

Damit ist denn der Schritt getan, der uns auch äußerlich trennt, nachdem wir innerlich längst nicht mehr zueinander gehörten. Du wirst, ohne daß ich Dich besonders darum bitten müßte, die Scheidung gegen mich beantragen, und so wird in wenigen Monaten auch das letzte Band von Dir abfallen, das Dich noch der Form nach an mich bindet.

Manchmal frage ich mich, wie das alles geschehen konnte. Ich bin doch stets als ein Mensch ohne große Leidenschaften ruhig meinen Weg gegangen. Warum nun so? – Aber was nutzt das Fragen; es hat wohl nicht anders kommen sollen.

Und was ich Dir damit angetan – ich erbitte und erhoffe keine Verzeihung. Deinem Herzen habe ich ja keine Wunden geschlagen. Es hat mir nie gehört. Deinen Frauenstolz freilich habe ich mißhandelt. Aber wer kann gegen sein Schicksal? Und Du bist noch jung. Du wirst verwinden und vergessen, was Dir von mir geschehen, wie mich selber, den ein verhängnisvoller Irrtum in Deine Lebensbahn geführt hat.

Eberhard.«

Eke hob die Augen von dem Schreiben. Nun sah sie erst: da stand ja noch Anne-Marie, die ihr den Brief gebracht.

Mit fester Hand faltete sie das Schreiben wieder zusammen.

»Es ist gut. Ich brauche dich nicht mehr. Übrigens –« das Mädchen war schon zur Türe hin –, »der Herr schreibt eben, daß seine Geschäfte ihn noch länger fernhalten – und ich soll nachkommen. Ich reise also auch, morgen früh. Leg' mir alles zurecht.«

Dann war sie allein. Still war es um sie her, die nun ganz einsam geworden. Nur ein leises, zitterndes Knistern klang von dem Brief, den ihre Rechte zusammengepreßt hielt.

So stand sie lange. Doch dann schritt sie zum Kamin. Die rot aufzüngelnde Glut verzehrte Eberhard von Selbachs Brief. Ein Häuflein grauer Asche – es war alles, was verblieb.

Danach ging sie zum Schreibtisch, wo sein Bild stand, in schlichtem, dunkelm Bronzerahmen. Seine Gabe zu ihrer Verlobung. Lange blickte sie auf seine Züge. Es war etwas Gutes, Offenes darin. Da atmete sie tief, wie unter einer schweren Last. Hatte sie ein Recht, hier zu verdammen? Hätte er in seiner Ehe die Frau gefunden, die ihm ihre Liebe gegeben, so wäre er nie auf die Bahn geraten, die ihn nun ins Verderben zog.

Da setzte sie das Bild auf den Tisch zurück und ging hinauf in ihr Schlafzimmer. Aber in der letzten Nacht, die Eke von Selbach unter dem Dach des Adligem Hauses verbrachte, ohne eine Stunde Schlummer, in dieser Nacht brach der hochgespannte Stolz, alle Selbstgerechtigkeit ihres Wesens zusammen. Eine blasse, müde Frau schied am andern Morgen, um hinauszugehen in die Welt – weit fort, irgendwohin. Eine Frau, der nichts Menschliches mehr fremd, der das große Verstehen gekommen war für das Irren armer, von ihrem Dämon getriebener Herzen.

* * *

Der Winter war hingegangen über die Erde. Ein heißer Sommer war ihm gefolgt, und wieder war es Winter geworden. Hart und lang hatte eine frostklirrende Fessel das Land gedrückt. Endlich aber war auch er gewichen vor dem Befreier Lenz, und nun lächelte selige Sommerbläue über der neu ergrünten Flur.

Ein großes Sehnen und Drängen nach Reife, nach Vollendung ging wieder durch die Natur. Vor seiner Vollendung stand da auch das gewaltige Werk von Menschenhand, das den Namen des Rauhen Grundes weithin trug durch alle deutschen Gaue.

Seit Monaten schon meldeten es immer wieder die Zeitungen. Der Talsperrenbau dort oben im Siegerland, der einer der größten auf dem Kontinent sein würde, in kurzer Frist würde er seiner Bestimmung übergeben werden.

Und nun waren es nur noch Tage bis dahin. Mit fiebernder Eile mühten sich Hunderte von Händen, noch die letzten Griffe zu tun an dem vollendeten großen Werke, um würdig alles vorzubereiten für die Feier, mit der es eröffnet werden sollte.

Zahlreiche Gäste und Neugierige waren schon herbeigeströmt von nah und fern, um dem grandiosen Schauspiel beizuwohnen, das sich dort vollziehen würde: erst die Sprengung eines ganzen Dorfes mitsamt seiner Kirche, dann das Anstauen der Wasserfluten an der Sperre; höher, immer höher, bis ein Riesensee entstehen würde, meilenlang, so breit wie das ganze, gewaltige Tal des Rauhen Grundes.

Unter denen, die in diesen Tagen gekommen, war auch Eke von Selbach. Doch es war nicht Schaulust, die sie hergelockt. Es galt den Abschied von dem Haus ihrer Väter, das mit dem ganzen Unterdorf nun eine Beute der großen Wasser werden sollte. Schon von Bozen aus, wo sie zuletzt geweilt, hatte sie ihrem Bevollmächtigten die nötigen Anweisungen wegen der Räumung brieflich erteilt.

Die Zeit, wo sie fern von hier gewesen, war still und ernst für Eke gewesen. Sie hatte auf ihr blondes Haupt den schwarzen Witwenschleier gelegt.

Schneller und anders, als sie beide es gedacht, war so die Lösung ihrer zerstörten Ehe erfolgt, und ganz unvorbereitet hatte es sie getroffen, schon wenige Monate nach ihrer Trennung. Drunten im kunstgeweihten Florenz, wo sie im Anblick erhabener Schönheit alles Häßliche der Vergangenheit zu vergessen suchte, hatte sie das Telegramm ereilt, das sie an das Bett des Sterbenden berief. Zur selben Stunde war sie in den Zug gestiegen, der sie nach Bordighera führte, aber dennoch war sie zu spät gekommen. So hatte sich das Auge schon geschlossen, das wohl noch einmal Frieden suchend in das ihre hatte blicken wollen, ehe es erstarrte vor den Schauern des großen Nichts. Nur von der aufgeregt jammernden, redseligen Padrona des kleinen Häuschens inmitten üppig wuchernder Lorbeerbüsche und sanft wedelnder Palmen hatte sie das Nähere gehört.

Vor kaum vierzehn Tagen erst waren sie zugezogen, droben von Nizza her, der Herr, der nun dort drinnen lag so starr und stumm, und die Dame, die mit ihm war. Für seine Frau hatte sie sie ja gehalten, die schöne Fremde. O ja, schön war sie gewesen, bei der Madonna! Aber nicht gut zu dem armen Herrn – nein, nein, gar nicht gut! Gleich hatte sie es gemerkt von der ersten Stunde an.

Sie habe auch bald gewußt, warum es zwischen den beiden nicht stimmte. Nicht etwa, daß sie an der Tür gelauscht – o pfui, nie täte sie das! – aber die Fremde habe so laut und heftig gesprochen, daß man es im ganzen Hause habe hören können. Um des Geldes willen habe es Unfrieden gegeben. Die beiden hätten wohl große Verluste gehabt, da drüben, an der Spielbank, und nun paßte es der Dame nicht, hier ganz einfach und zurückgezogen zu leben. Vergebens habe der arme Herr auf sie eingesprochen mit seiner ruhigen Stimme, die immer so weich und traurig geklungen hatte. Die schöne Fremde wäre dadurch stets nur noch mehr gereizt worden, und schließlich wäre es denn zu der Katastrophe gekommen. Die Signora habe heimlich ihre Koffer gepackt und wäre davongefahren, gerade in der Morgenstunde, wo der Herr immer seinen Spaziergang am Strand gemacht habe. Als er dann wiederkehrte und das Haus leer fand – dio mio! ganz schrecklich wäre das gewesen. Kein Wort habe er gesagt, ohne einen Laut wäre er in sein Zimmer gegangen, aber mit einem Blick – bei allen Heiligen, nie in ihrem Leben würde sie diesen Blick vergessen! So leer und trostlos. Hierauf habe er sich eingeschlossen in seinem Zimmer. Eine Weile habe sie ihn drinnen kramen und packen hören. Dann aber sei es still geworden, so schrecklich still, bis plötzlich der Schuß –

Von neuem verfiel die Padrona in ihr lautes, haltloses Gejammer. Da hatte Eke von Selbach sie sanft beiseite geschoben und war eingetreten zu dem Toten.

Ruhevoll war der Ausdruck seiner Züge. Der eines Erlösten. Um die Lippen stand es fast wie ein Lächeln. Als ob ihm im Scheiden alle Nichtigkeit menschlichen Sehnens und Wähnens voll bewußt gewesen wäre. Nun waren für ihn die Rätsel gelöst, um die wir Lebenden noch bangen.

Lange hatte Eke vor dem Toten gestanden, der ihr fremd gewesen, da er bei ihr war, und dem sie sich so nahe fühlte, nun er ihr entrückt war in ewige Fernen. Und am Tage darauf war sie ihm zur Gruft gefolgt, als einzige, auf dem kleinen Friedhof, wo der linde Atem des blauen Südens die feierlich duftenden Zypressen fächelte und die Düfte von Oleander und Orangen die Gräber umschmeichelten. Hier war es gut ruhen für eine müde Seele, die sich nach Weichheit und Schönheit gesehnt in ihren Erdentagen.

Von der Frau aber, die ihn in den Tod getrieben, von Marga Steinsiefen, war kein letzter Gruß für ihn gekommen. Sie war verschwunden, wie ein gleißender Meteor in schwüler Sommernacht. Nur einmal noch drang eine ungewisse Kunde von ihr zu Eke. Bekannte von dieser wollten sie in Cannes gesehen haben. Seidenrauschend und sinnverwirrend schön wie immer, und in ihrer Begleitung einen sehr reichen, russischen Aristokraten. Nachdem ihre Scheidung ausgesprochen, würden die beiden sich heiraten – so flüsterte man es sich auf der Promenade beim Anblick des Paares zu und lächelte diskret.

Wie ein Traum, ein schwerer dunkler Traum, lag das alles nun schon hinter Eke. Der düstere Krepp, der ihren jungen Frauenleib so lange umhüllt, war wieder lichteren Farben gewichen, und manch bewundernder Blick war ihrer vollerblühten Schönheit gefolgt, drunten in St. Moritz und dann in Bozen. Aber der herbe Ernst auf ihrem Antlitz wehrte jede Annäherung ab.

Und nun war sie wieder daheim. Freilich nur ein flüchtiges Verweilen, ein Abschiednehmen von dem todgeweihten Boden der Heimat.

Langsam schritt Eke heute da noch einmal all die wohlvertrauten Wege. Ein leis zitterndes Weh im Herzen; denn allenthalben umwitterte sie der Hauch dieses großen Sterbens. Und morgen würde es geschehen: mit der feierlichen Einweihung der Talsperre verfiel der Rauhe Grund seinem Schicksal.

Schon heute flatterte es drüben am Staudamm lustig im Winde. Hunderte von Fahnen und Wimpeln, Girlanden mit leuchtenden Rosen schaukelten sich an den hohen Masten. Weithin leuchtete das große Ehrenzelt, das all die vornehmen Gäste bei dem weihevollen Festakt aufnehmen sollte. Mit peinlicher Sauberkeit war die riesige Baugrube aufgeräumt, kein Steinchen am Boden zu sehen, ganz hell leuchteten die Quadern der Sperrmauer im Sonnenlicht. Schlank und keck sprang der Turm mit der Wärterwohnung mitten auf dem Mauerwall vor. In gesammelter Kraft und doch feierlich mit seinen hohen, schmalen Fenstern zwischen den säulenähnlichen Mauerpfeilern erhob sich seitlich der monumentale Bau des Kraftwerks. Heitere Festesfreude lag schon heute über dieser Stätte, wo jahrelang nur das keuchende Stöhnen der Arbeit geächzt hatte.

Um so ergreifender wirkte die schwere Stimmung hier im Unterdorf, durch das Eke jetzt noch einmal hinschritt. Das Schweigen des Todes lastete über dem Ort. Verlassen waren die meisten Häuser schon seit Monaten, die leeren Fensterhöhlen starrten schauerlich wie erloschene Augen. Halb verfallen waren die Wohnstätten, überall Risse im Mauerwerk, Dächer mit hervorspießenden Sparren, Fenster und Türen herausgerissen wie alles, was nicht niet- und nagelfest war. Wie wenn der Landfeind hier gehaust mit Mord und Brand.

Eke trat in eines der verlassenen Gehöfte. Sie kannte es gut. Hier hatte damals die kranke Frau vom Schmied gelegen, deren Kinderchen sich bald so zutraulich an sie geschmiegt hatten. Wo mochten die Leute jetzt wohl sein? Bedrückt blickte sie um sich. So eigen hatte hier einst alles ausgeschaut – und nun? Ein großer Schutthaufen mitten auf dem Hofe; allerlei Gerümpel, verrotteter Hausrat. Und drinnen im Innern ein wüstes Chaos von herabgestürztem Wandputz, Gebälk und Mauersteinen. Dort lugte sogar der freie Himmel durch ein klaffendes Loch in der Decke. Beklemmend legte es sich Eke auf die Brust. Und jetzt scholl ein verirrter dunkler Laut an ihr Ohr. Das dumpfe Brüllen einer Kuh, wohl der letzten noch hier in dem sterbenden Dorf. Wie Angst klang es aus dem Schrei, daß man sie vergessen könnte auf der Flucht vor dem großen Verderben.

Da kam es auch über Eke, ein Bangen, als ob die morsche Decke über ihrem Haupt sich drohend bewegte, und sie kehrte zurück zur Straße, an dem Gärtchen vorbei. Üppig wucherte hier noch alles. Aber ein Bild der Verwilderung. Und überall diese Sterbensstille. Nur aus der dichten Rotdornhecke am verfallenen Staket klang jetzt ein helles Zwitschern. Doppelstimmig, fröhlich und unbesorgt. Ein Vogelpärchen, das dort nistete, ahnungslos, voller Vertrauen seine Brut barg an der Stätte, die dem Tode geweiht war. Ein Schauer griff Eke ans Herz. Waren es auch nur armselige kleine Tierchen – es war doch hoffnungsvolles, junges Leben, das dort morgen vernichtet werden würde. All das Schwere, Ungeheuerliche dieses düsteren Zerstörungswerkes, mitten im Frieden der lebenatmenden Erde kam Eke da plötzlich zum Bewußtsein.

Wie eingeschnürt war ihr die Brust. Und nun schlug es plötzlich auch an ihr Ohr. Ein Zittern, hoch oben in der Luft, dann ein Hallen, dumpf und bang – kurze, abgestoßene Laute. Die Glocke vom Kirchturm. Zum letztenmal ließ sie ihre Stimme über das Dorf hinschallen.

Einem dunklen Zwange gehorchend, folgte auch Eke dem Rufe. Nun stand sie vor der Kirche, der alten, wohlvertrauten – aber nein – nur eine Ruine ragte ja dort. Allein der Turm stand noch und ein Teil des Chors. Alles übrige war verschwunden, abgetragen. Ein Unternehmer hatte das brauchbare Baumaterial aufgekauft.

Inmitten der traurigen Ruine, unter den öden Fensterhöhlen des Chors, stand erhöht auf den Trümmern ein Notaltar und vor ihm Pfarrer Burgmann. Ringsherum zwischen Schutt und Mauerresten, was noch an Menschen sich barg in dem todgeweihten Orte.

Im Innersten ergriffen trat Eke näher. Ihr Blick suchte den alten Mann, der dort zum letztenmal stand im Priesterrock. Der starre Eiferer war nie ihr Freund gewesen. Aber wie sie ihn jetzt stehen sah, mit dem verfallenen Greisenantlitz und dem spärlichen Silberhaar, in den Trümmern seiner Kirche, überkam sie ein Mitleid. Sie begriff. Was ihn zerbrochen hatte, das war nicht die kurze Spanne Zeit, die inzwischen über seinen Scheitel hingegangen. Sein lodernder Glaube, der mit seinem Gott gerungen wie ein zweiter Jakob, er war ihm in Stücke geschlagen wie seine Kirche hier. Das Neue, gegen das er angerungen, es war hinweggegangen über ihn mit ehernem Tritt.

Bewegt lauschte Eke da der zitternden Greisenstimme, die durch die Ruine schwang, tief und hohl. Burgmann hatte zum Text seiner letzten Predigt, am Tage, bevor die vernichtenden Wasser kamen, die Worte aus dem ersten Buch Mosis gewählt, von der Sintflut:

»Aber die Erde war verderbet vor Gottes Augen und voll Frevels. –

Da sprach Gott zu Noah: Alles Fleisches Ende ist vor mich kommen; denn die Erde ist voll Frevels von ihnen, und siehe da, ich will sie verderben mit der Erde.

Und da die sieben Tage vergangen waren, kam das Gewässer Sintflut auf die Erde. Das ist der Tag, da aufbrachen alle Brunnen der großen Tiefe. Und das Gewässer nahm überhand und wuchs so sehr auf Erden, daß alle hohen Berge unter dem ganzen Himmel bedeckt wurden. Da ging alles Fleisch unter, das auf Erden kriecht, an Vögeln, an Vieh, an Tieren und allem, das sich regt auf Erden, und alle Menschen. Alles, was einen lebendigen Odem hatte auf Erden, das starb.« –

Still lauschten die Hörer dem, was Burgmann zu ihnen sprach. Auch dann, als seine eigentliche Predigt zu Ende. Abschied nahm er von seiner Kirche hier, von seinem Amt und von seiner Gemeinde, der er an fünfzig Jahre gedient mit allem, das in ihm war. Er würde nicht mehr mit hinaufziehen in das neue Gotteshaus, das sie droben im Oberdorf erbaut hatten im letzten Jahre. Da mochte ein anderer, ein jüngerer, seines Amtes walten. Er trat in den Ruhestand. In der Ferne wollte er den Rest seiner Tage hinbringen, wo ihn nichts erinnerte an Zeiten, die einstmals waren.

Tief ging es zu Herzen, selbst für Eke, wie sie nun alle zu ihm drängten, Greise im Silberhaar wie er, Männer harter Arbeit und weinende Frauen, die ihre unmündigen Kindlein noch einmal der segnenden welken Hand darboten.

Und diesem Abschied folgte ein andrer. Noch ergreifender vielleicht. Zum letzten Male waren sie ja hier alle beisammen in der Dorfgemeinde, die friedlich miteinander gehaust, solange man denken konnte. Durch Bande der Verwandtschaft und Freundschaft waren sie fast alle untereinander verknüpft, eng verwachsen seit Geschlechtern schon. Nun kam der Tag, der sie voneinander riß und hinausstreute in alle Winde wie eine Handvoll Spreu. Denn hier und da hin trieb die heimatlos Gewordenen nun das Schicksal. Einige wenige nur hatten noch Platz zum Siedeln gefunden droben im Oberdorf oder unten in dem neu erstandenen Industrieort Reuschfelde. Die meisten fegte das Leben hinweg, nie wieder würden ihre Wege sich kreuzen, von Scholle und Haus, von Freundschaft und Familie gerissen –, das war das Los derer von Rödig. Und in ernsten, wetterharten Männergesichtern glänzte es feucht, wie es nun an dieses Scheiden ging in den Trümmern des alten Gotteshauses.

Da wandte sich Eke von Selbach still ab. Es kam ihr ein Gedanken. Noch einen andern Abschied gab es, an den sie alle nicht dachten in ihrem Leid da drüben! So schritt sie hinaus, zu dem Friedhof, der die Kirche umgab. Da lagen sie, unter blühendem Hollunder und ernstem Taxusgrün, die stillen Schläfer, die vordem über diese Erde geschritten. Nun würden auch über ihre Hügel die dunkeln Wasser rauschen und ihnen ein Schlummerlied singen.

Langsam ging Eke so über den Gottesacker, bis hinten zu der besonders umfriedeten Familiengruft, wo »die wohledlen und ehrenwerten Herren von und zu Grund« lagen, seit mehr denn vier Jahrhunderten. Und sie wandelte die lange Reihe der hohen Grabplatten an der Mauer entlang, moosbedeckt, mit seltsam verschnörkelten Ornamenten und verwitterten Inschriften. Bis hin zu der letzten in der Reihe, die den Namen »Henner von Grund« trug. Lange stand sie dort und blickte auf die Züge der Inschrift. Nun würde auch dieser Name ins Dunkel versinken wie der Boden, über den seine Träger dahingeschritten mit starken Herrenschritten.

Doch endlich wandte sich Eke ab und ging zurück durchs Dorf. Überall begegneten ihr jetzt Familien, das Bündel in der Hand, oder auf hochbeladenem Wagen neben ihrer Habe. Denn es galt, sich zu eilen. Noch heute würden die Leute kommen, die alles für die Sprengung morgen vorbereiten sollten. In derselben Stunde, wo morgen drunten das neu erstandene Riesenwerk der Sperre seine feierliche Weihe empfangen sollte, würde hier die Vernichtung ihr Werk vollenden.

Einer Flucht vor dem hereinbrechenden Feinde glich das Hasten in der letzten Stunde des Orts. Staunend hielt Eke daher bei ihrem Abschiedsgange jetzt den Schritt an. Vor einem Hause stand noch ein Wagen, nahezu voll beladen. Nur letztes Gerät trugen ein paar Männer noch herzu, in größter Eile. Der Spitz vor seiner Hütte sah es mit steigender Erregung an. Bei jedem Gegenstand, den sie aus dem Hause trugen, heulte er kläglich auf, als würde ihm damit ein Stück des festen Bodens nach dem andern unter den Füßen fortgerissen. Und nun verkroch er sich mit klirrender Kette, ängstlich winselnd, in der hintersten Ecke seiner Hütte.

Im seltsamen Gegensatz zu all dem stand die Ruhe einer alten Frau, die auf dem Bänkchen unter der Linde vorm Hause saß mit still gefalteten Händen. So blickte sie geneigten Hauptes vor sich hin, als berühre sie das hastende Treiben um sie her gar nicht.

Genauer unterschied Eke jetzt die Züge der Greisin und erkannte die Reusch-Mutter. Da trat sie zu ihr hin mit freundlichem Gruß.

Die Blinde hob fragend den Kopf.

»Ich bin Eke von Selbach.«

Die Greisin nahm ohne Überraschung die ihr gebotene Hand.

»So sind Sie doch auch gekommen, um Abschied zu nehmen? Ja, ja – es hat sich vieles geändert seitdem.«

Und das Kinn sank ihr müde auf die Brust.

Eke blickte sie an in mitleidsvollem Verstehen.

»Sie haben Schweres durchmachen müssen auf Ihre alten Tage, liebe Frau Reusch.«

Die Blinde nickte traurig.

»Ich hab's ja immer gesagt: es bringt kein Glück. Nun hat es ihnen auch keines gebracht – allen dreien nicht. Ich alte Frau bin allein hier übrig, die längst schon hätte gehen sollen. Aber wie Gott will.«

Beide schwiegen sie in ernstem Sinnen, dann aber beugte die Blinde ihr Haupt vor und atmete tief. Ein sanft verklärender Schein flog über ihre Züge.

»Was die Linde schön duftet! Das ist alle Jahr' um diese Zeit immer meine größte Freude gewesen. Seit meinen Kindertagen an. Nun nehme ich diesen Duft in Erinnerung mit mir fort, als letztes Geschenk der Heimat, in die Stadt.«

»Wie? Sie wollen in die Stadt ziehen?«

»Mein Bruder will es so. Er langweilt sich hier, jetzt, wo er nichts mehr zu tun hat.«

»Aber das wird Ihnen schwerfallen, liebe Mutter Reusch. Auf Ihre alten Tage noch.«

»Freilich. Und ich hätt's ja auch nicht gebraucht. Der Herr Bertsch hat mir Unterkunft angeboten in seinem Hause, aber ich mochte doch meinen Bruder nicht allein lassen.«

»So, der Herr Bertsch –«

»Ja, wir haben uns nämlich etwas aneinander gewöhnt, diesen Winter. Am Weihnachtsabend war's, da kam er zu uns. ›Lassen Sie mich ein Stündchen bei Ihnen bleiben, Reusch-Mutter,‹ sagte er zu mir, ›sonst packt mich noch das graue Elend, da droben in meinem einsamen Hause; man sitzt ja so schon genug allein. Abend für Abend.‹«

Von Eke von Selbach kam kein Laut, da fuhr die Blinde fort:

»Da hat sich's denn halt so gemacht. Er ist öfter einmal gekommen, der Herr Bertsch, und schließlich hat er beinahe jeden Abend hier gesessen. ›Sie sind doch wenigstens ein Mensch, Reusch-Mutter, mit dem man reden kann. Über alles, wenn's sein muß,‹ sagte er mir einmal. Und er hat mir denn auch so manches erzählt, wovon er wohl sonst nie zu einem Menschen ein Wörtlein gesagt. Bin ja freilich auch schon seiner Mutter selig die beste Freundin gewesen.«

Noch immer schwieg Eke. Aber ein schwerer Atemzug klang herüber zu der Greisin. Da wandte diese die lichtlosen Augen zu der jungen Frau hin.

»Er ist ein guter Mensch, der Herr Bertsch. Es verkennt ihn wohl so mancher. Denn er ist hart und rauh nach außen. Es ist wahr – auch er hat seine Schwächen, und es ist heißes Blut in ihm. Das hat ihm wohl schon manchmal bitter Leid eingebracht. Ihm und andern. Aber ich meine: das kann halt nicht anders sein. Leute wie er, die so Großes vollbringen im Leben, haben eben eine überschäumende Kraft. Die macht sich einmal Luft, hier und da. Aber wer ihm das zur schweren Schuld anrechnet, der tut ihm unrecht. Ganz gewiß.«

Wie ein leises, eindringliches Mahnen klang es. Da ging ein Regen durch Eke von Selbach.

»Ja, wenn jeder dächte wie Sie –.«

Und sie reichte der Greisin die Hand.

»Leben Sie wohl, liebe Frau Reusch. Sie werden glücklich sein, wo Sie auch weilen, denn Sie haben das Beste in sich, was uns Menschen gegeben werden kann – die Güte, die alles versteht.«

Mit einem langen, schmerzlichen Pressen umfing die junge Hand die welken Finger, dann ein leises Aufrauschen der Gewänder – die Reusch-Mutter saß wieder allein unter der Linde.

* * *


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