Paul Grabein
Die vom Rauhen Grund
Paul Grabein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Gerhard Bertsch schlug die Augen auf. Schon voller Tag? Verwundert blickte er auf die Uhr neben seinem Bett. Wie kam das? Sonst saß er um diese Zeit doch schon längst droben in seinem Bureau.

Seine Rechte strich langsam über die Stirn. Ein dumpfer Druck lag da. Wie nach einem schweren Gelage. Er mußte einen bleiernen Schlaf gehabt haben. Was war denn nur gewesen gestern?

Aber plötzlich fuhr er empor. Seine Augen starrten ins Leere.

Dann warf er den Arm vors Gesicht, als wollte er einen schrecklichen Anblick abwehren, und schwer sank er in die Kissen zurück.

So lag er lange. Geschüttelt wie von Fieberschauern. Abwechselnd ein Rasen gegen sich selber, daß er die geballten Fäuste sich hätte gegen die Stirn schmettern mögen, und dann wieder völlige Gebrochenheit, verpfuscht hatte er sich sein Leben in dieser unseligen Stunde gestern.

Er selber! Mit grausamer Klarheit übersah er es heute, wo sein blinder Zorn auf Eke verrauscht war. Der Zwist mit ihr war an sich nicht unheilbar gewesen. Er erst hatte ihn dazu gemacht. Denn darüber, was dann nachher geschehen, kam sie natürlich niemals hinweg. Und selbst, wenn sie es vermocht hätte – es half nichts mehr. Marga Reusch hatte ein Recht auf ihn seit dieser Stunde gestern. Es gab kein Zurück mehr, wollte er nicht wie ein Ehrloser handeln. Also vorbei!

In stumpfer Bewegungslosigkeit lag Bertsch so. Endlich aber mahnte ihn das Schlagen einer Uhr im Hause; das Leben ging weiter, trotzdem – seinen gewohnten Gang. Da erhob er sich und kleidete sich an.

Gerade als er fertig war, klopfte es an seiner Wohnzimmertür. Er ging hin und öffnete. Der Briefträger mit der Morgenpost. Gleichgültig nahm er die Eingänge und warf sie auf den Tisch. Aber da fiel ein einzelner Brief zu Boden. Er hob ihn auf, und seine Hand zuckte zusammen – Ekes Handschrift.

Eine Weile stand er, das geschlossene Kuvert in der Hand, als enthielt es eine Entscheidung über Leben und Tod. Dann riß er es mit einem Ruck auseinander und las nun den Brief:

»Lieber Gerhard!

Schwere Stunden liegen hinter mir. Aber nun ist es wieder ruhig und klar in mir. Es fällt mir nicht ganz leicht, an dich zu schreiben. Was sich zwischen uns gestellt hat, das ist so etwas Besonderes, daß es mir schwer wird, Dir davon zu sprechen.

Ich bin eine eigene Natur, Gerhard. Vielleicht, weil ich so ganz anders als Mädchen sonst, hier aufgewachsen bin, einsam und mir selber überlassen. Ich weiß wohl, es ist manches Schroffe an mir, und mein Selbstbewußtsein lehnt sich leicht auf. So ging es mir auch in diesem unglücklichen Augenblick. Und überdies – ich war so verwirrt, erschreckt. Du wirst das gewiß schwer begreifen; aber vielleicht rechnet das auch zu den Besonderheiten meiner Natur.

Nun, wie dem auch ist, ich sage mir nun, wo ich wieder ruhiger geworden bin, selber, daß ich zu schroff gegen Dich gewesen bin. Besonders mit jenem einen häßlichen Wort. Es tut mir jetzt aufrichtig leid, Gerhard, verzeih' es mir! Es war nur in der Erregung gesprochen, und gern machte ich es ungeschehen. Und ganz besonders schmerzt mich bei allem der Gedanke, daß gerade der Tag, wo Du mich teilnehmen ließest an dem Höchsten, das Dich bewegt, wo ich Dir nah kam wie noch nie, daß dieser schöne, große Tag nun einen solch trüben Ausgang gefunden hat.

Aber wir müssen darüber hinwegkommen, Gerhard. Und so bald wie möglich, nicht wahr? Heute nachmittag will ich noch einmal hinauf zum Buchenhof. Den Rückweg nehme ich über den Fischbacher Weiher. Dort kannst Du mich also treffen. Laß uns dann alles vergessen!

Herzlich       Deine Eke.«

Bertschs Rechte, die das Schreiben hielt, begann zu zittern. Noch einmal brach er los. Ein rasendes Wüten gegen sich selber. Der Brief in seiner zusammengekrampften Faust ward zu einem festen Knäuel.

Dann aber kam eine starre Ruhe über ihn. Eine eisige, hohnvolle Selbstverachtung. Was sollte das Toben? Nun hinterher!

Da strich er den Brief in seiner Hand wieder glatt und zerriß ihn dann in hundert winzige Fetzen. Langsam flatterten sie in den Papierkorb – zu spät.

Und er machte sich zum Ausgehen fertig. Er hatte nun gerade genug Zeit auf seine Privatangelegenheiten verwandt. Droben auf dem Bureau wartete die Arbeit.

So trat er aus dem Hause und schlug beschleunigten Schrittes den Weg zur Zeche ein. Aber unwillkürlich streifte vorher noch ein Blick zu dem Hause hin, das er verließ. Zum Erdgeschoß. Dort war noch ein Fenster verschlossen. Als einziges. Der rote Vorhang drinnen war tief herabgelassen, trotz der vorgeschrittenen Tagesstunde. Da glomm es auf in seinen Augen. Wie ein wilder Haß. – – – –

Marga Reusch hatte mit besonderer Sorgfalt Toilette gemacht. Sie trug jenes fliederfarbene Seidenkleid, das Bertsch damals im Auto so entzückt hatte. Ihre dunkle Schönheit hatte heute etwas Sieghaftes, fast Übermütiges. Sie scherzte und lachte mit jedem im Haus. Die alte blinde Frau hob in ihrer Ecke verwundert das Haupt. Was hatte das zu bedeuten? Und wie so oft schon seit jener Gewitterstunde kamen ihr Gedanken, drückend schwer. Ein Gefühl der Verantwortung. Wenn sie doch nur einmal Gelegenheit fände, Bertsch allein zu sprechen. Es wurde Zeit – hohe Zeit.

Aber die Reusch-Mutter wartete auch diesen Mittag wieder vergeblich auf eine solche Gelegenheit. Gerhard Bertsch erschien überhaupt nicht zu Tisch.

Mit ihr überkam da Marga Enttäuschung. Eine starke Verstimmung. Ließ er sich so viel Zeit bis zum Wiedersehen? Sie hatte erwartet, daß er heute mittag mit ihrem Vater sprechen würde. Abends sollte es ja schon jeder hier im Ort wissen, daß er ihr gehörte – auch die drunten im Adligen Hause!

Aber er kam nicht. Selbst am Nachmittag und nun auch zum Abendessen nicht. Da wandelte sich ihre Gereiztheit in eine dunkle Unruhe. –

Es war überhaupt ein grauer Tag gewesen. Auch draußen in der Natur. Früh schon spann jetzt die Dämmerung im Tal. Zwischen den schwarzen Tannenwänden lag schweigsam der Fischbacher Weiher. Düster strich das Abendgewölk darüber. Wie ein Seufzen ging es durch die Wipfel.

Auf der altersmorschen Bank unter dem tief überhängenden Schutzdach der Eiche saß Eke von Grund, den Kopf in die Hand gelehnt. Ihr Blick hing auf dem Wasser, über dessen dunkeln Spiegel ein helles Gekräusel hinglitt. Wie von einer Geisterhand aufgerührt.

Wer mochte hier alles schon gesessen und gleich ihr so ins Wasser geblickt haben? Heimliches Sehnen wie ratlose Verzweiflung, die ihren letzten Trost suchte – auf dem geheimnisvoll schwarzen Grund da drunten.

Unheimlich huschend strich es ihr am Haar vorbei. Als wollte es nach ihr greifen. Sie schrak auf. Nur eine Fledermaus, die jetzt weiter taumelte in ihrem Zickzackflug. Doch ein Bangen blieb in Ekes Seele zurück. Dunkel und ahnungsvoll.

Wie anhaltend das Käuzchen drinnen in den Tannen klagte! Und nun ein jähes Aufzucken weit hinten am düsteren Himmel. Ein fernes Wetter.

Der schwefelgelbe Schein blendete ihr das Auge. Für ein paar Momente senkte sie die Lider. Als sie wieder aufsah, stand eine Gestalt vor ihr, die unhörbar auf dem weichen Boden herangekommen sein mußte. Dunkel und groß. Erschrocken fuhr sie von der Bank empor. Doch nun erkannte sie den Mann.

»Gerhard – du!«

In einem Gefühl des Geborgenseins wollte sie sich zu ihm flüchten. Aber da trat er von ihr zurück.

Kalt griff es ihr ans Herz. Ihre Augen drangen durch die Dämmerung in seine Züge.

»Du hast meinen Brief doch erhalten?«

Er neigte das Haupt, langsam und schwer. Dann kam es von seinen Lippen:

»Ja, ich erhielt den Brief. Und ich danke dir dafür – aber es ist zu spät.«

»Zu spät?« Still stand ihr plötzlich das Herz, »Wie meinst du das?«

»Eke,« noch tiefer sank ihm der Kopf, »ich – bin deiner nicht mehr wert.«

Nichts. Keinen Laut.

Da suchten seine brennenden Augen sie.

»Du sagst gar nichts –?«

Ein langsames Regen. Ein Erwachen aus furchtbarer Erstarrung.

»Was soll ich sagen?«

Wieder das Schweigen, so todesbang in den Schauern der dämmernden Einsamkeit, und dann ihre Frage, kaum vernehmbar, tonlos:

»Mit wem?«

»Marga Reusch –«

Ein Zusammenzucken Ekes, als wollte sie zu Boden stürzen. Seine Hand streckte sich ihr helfend entgegen. Doch da stand sie bereits wieder vor ihm, fest und aufrecht. Nur blaß war das Antlitz, das ihm durch die Dämmerung entgegenleuchtete.

Es würgte ihm in der Kehle. Sein Leben hätte er hingegeben, hätte er damit die Stunde gestern ungeschehen machen können. So bohrten sich seine Augen ins Dunkel, daß es schmerzte.

Und immer drüben bei ihr dies marternde, lautlose Schweigen. Doch nun ein leises Rauschen ihres Kleides. Sie kehrte ihm den Rücken. Da fuhr er auf.

»Eke – hast du kein Wort mehr für mich?«

»Ich habe dir nichts mehr zu sagen, als das: Tu deine Pflicht, wenigstens bei der anderen.«

Eine fremde Stimme sprach es zu ihm aus dem Dunkel. Dann war er allein.

Er stieß die Fäuste von sich, die Adern zum Zerspringen gestrafft. In seinen Ohren gellte ein ungelachtes Lachen. Wild und zerrissen. Da ging etwas zuschanden in ihm, in dieser Minute – das konnte ein ganzes Leben nicht wieder heilen.

Aber dann war es vorbei. Ein finsteres, entschlossenes Antlitz hob sich ins Dunkel. Dem Weg entgegen, der ihm nun vorgeschrieben war. Es hätte ihrer Weisung nicht bedurft. –

Zu Haus angelangt, trat Bertsch in sein Schlafzimmer. Das kühle Wasserbad tat seinen heißen Schläfen wohl. Dann machte er sich fertig, hinuntergehen. Noch heute wollte er mit Margas Vater sprechen. Ins reine kommen auch damit. Und dann wieder seine Arbeit, nur noch seine Arbeit! Das andere war vorüber. Der törichte Glückstraum wie der unsinnige Rausch seines fiebernden Blutes, der ihn gestern in Margas Arme getrieben hatte. Was war sie ihm heute? Ein wilder Zorn packte ihn, wenn er nur an sie dachte. An ihre verführerische Schönheit, die ihn betört hatte. Er haßte in ihr seine eigene Mannesschwachheit.

Aber dann kämpfte er auch das noch nieder. Sinnlos und ungerecht war das. Wollte er ihr die Verantwortung zuwälzen, die er selber zu tragen hatte? Und er zwang sich, anders an sie zu denken. Gelassen wollte er ihr gegenübertreten. Beherrscht und ruhig, wie es nun immer fortab zwischen ihnen sein sollte. Auch nachher in ihrer Ehe. Mit völliger Ruhe begann er sich dies Zusammenleben vorzustellen. Aber auch ganz gleichgültig. Als ginge ihn das im Grunde gar nichts an. Was auch weiter? Es würde eben eine Ehe werden, wie so viele. Nur, daß er den Launen seiner schönen Frau sehr energisch Zügel anlegen würde. Dachte sie etwa das Regiment zu führen, so hatte sie sich stark verrechnet.

Geflissentlich gab er sich diesem Gedanken hin. Wie um das andere zu übertönen, das er noch immer in der Tiefe zucken fühlte. Doch ein leises Anpochen an seine Wohnzimmertür rief ihn jetzt ins Nebengemach.

»Sie, Mutter Reusch?«

Erstaunt begrüßte er den ungewöhnlichen Besuch.

»Ja, ich muß Sie einmal sprechen, Herr Bertsch. Schon seit Wochen warte ich auf die Gelegenheit, aber ich treff' Sie ja nimmer allein an.«

»Nun, was haben Sie denn, liebe Frau Reusch? So – hier ist das Sofa, und jetzt erzählen Sie mir.«

»Es ist wegen des Mädels, meiner Enkelin.«

»Margas wegen?«

»Ja – es geht mir nicht mehr aus dem Kopf, seitdem mir neulich so allerlei Gedanken gekommen sind. Es ist ja wunderlich, daß ich gerad' mit Ihnen darüber sprechen soll – aber es geht doch auch Sie an.«

»Auch mich?«

Sollte Marga etwa schon von gestern gesprochen haben hier im Hause? Seine Stirn zog sich zusammen.

»Gerad' Sie, Herr Bertsch,« nickte leise die Blinde. »Und darum bin ich's Ihnen sogar wohl schuldig, daß ich rede. In Ihrem wie in Margas eigenem Interesse.«

»Sie sehen mich wirklich verwundert, Frau Reusch. Was ist's denn nur?«

»Ich bin eine alte Frau, die Ihre gute Mutter noch gekannt hat, da darf ich ja wohl frei zu Ihnen sprechen. Also: Das Kind, die Marga, hat's sich in den Kopf gesetzt, Sie wären gerad' der rechte Mann für sie und sollten sie heiraten.«

»Nun, Mutter Reusch – haben Sie denn solche Bedenken gegen mich?«

»Nicht gegen Sie, lieber Herr Bertsch. Aber gegen eine Ehe zwischen ihnen beiden.«

»Und warum das?«

»Ja, sehen Sie – die Marga hat gar so ihre eigenen Ansichten über das Heiraten. So ganz anders, als Mädchen sonst. Was sie sucht in der Ehe, das ist ja nicht das Glück.«

»Was denn sonst?« Und er horchte auf.

»Ihr Leben möcht' sie genießen, so recht nach Herzenslust. Dazu soll ihr die Ehe taugen.«

»So – dazu also?«

»Ja, und darum spreche ich offen zu Ihnen. Und weil ich es gut mit Ihnen meine, lieber Herr Bertsch. Die Magri hat ja wohl etwas an sich, daß sie einen Mann leicht an sich ziehen kann. Aber es wär' nicht Ihr Glück, Sie brauchen eine andere Frau. Und die Magri einen andern Mann. Denn so einen gehorsamen Sklaven, wie sie ihn sich wünscht, den täten Sie doch nimmer abgeben.«

»Allerdings wohl nicht.«

»Das weiß ich doch. Und so gäb's denn eine Ehe voller Unfrieden, von früh bis spät. Das hab' ich der Magri auch schon alles gesagt; aber sie hat's sich einmal in den Kopf gesetzt. Und das Mädel hat so was – ich fürchte manchmal ordentlich für sie. Sie könnt's fertig bringen mit ihrem heißen Blut, mit irgendeiner Unüberlegtheit ihren Willen durchzusetzen. Es geradezu abzulegen darauf!«

»So – trauen Sie ihr das zu?«

»Leider Gottes – ja. Und darum, lieber Herr Bertsch, sage ich Ihnen das alles. Sie sind ein ruhiger, verständiger Mann, wenn's jemand anders wär', ich tät's ja nimmer. Denn es könnt' dem heißen jungen Ding dann erst recht zum Schaden sein. Aber Sie –«

»Mja –«

Bertsch wandte den Kopf, trotzdem die lichtlosen Augen vor ihm ihn ja nicht zu erkennen vermochten. Aber dann erhob er sich unvermittelt und tat ein paar Schritte. Ein Gedanke kam ihm plötzlich. Hohnvoll grausam. Wenn das gestern abend vielleicht gar kein Zufall war?

Wild schlug sein Herz auf.

Doch da vernahm er wieder die Stimme der Greisin.

»Nicht wahr? Sie verstehen schon alles recht, was ich Ihnen gesagt habe?«

»Gewiß – gewiß.«

Aber ein Beben war in seinem Ton. Und nun drehte er sich um, mit einem Ruck.

»Das beste ist, ich spreche einmal selber mit ihr – gleich!«

»Wie? – Mit der Magri?«

»Doch! Es ist entschieden das Richtigste. Das gibt Klarheit zwischen uns mit einem Schlage!«

Und ehe noch die alte Frau ein Wort erwidern konnte, war er schon aus dem Zimmer.

Drunten auf dem Flur traf er auf das Mädchen und fragte nach Marga. Die Magd verschwand und kam wieder. Das Fräulein werde gleich kommen, und sie ließ ihn schon immer ins Familienzimmer eintreten, wo sie Licht machte. Ein nur schlecht verhehltes Lächeln, zudringlich und ahnend, spielte ihr dabei um den breiten Mund. Eine Röte trat ihm da auf die Stirn. Scharf schallten seine Schritte durch das stille Gemach. Am Fenster blieb er stehen, die Hände auf dem Rücken verschränkt.

Dann verließ ihn die Magd. Draußen war es inzwischen völlig dunkel geworden. Doch der Mond war sichtbar, zwischen dunkeln Wolkenschleiern. Sein Silber rieselte in den Garten. Weiß schimmerte es dort aus dichtem Buschwerk auf. Da zuckte Bertschs Auge zusammen: die Bank unter dem Jasminstrauch – an der Mauerbrüstung. Mit einem Ruck warf er sich wieder herum.

Dann nahten leichte Schritte im Nebenzimmer, die Tür öffnete und schloß sich wieder. Ein leises, seidiges Rascheln, und nun Stille. Ein Abwarten bei ihr. Kühl, wortlos. Vorwurf und Strafe zugleich.

Da kehrte er sich ihr zu. Seine Brauen waren tief herabgezogen und verdeckten fast seinen Blick, der nun zu ihr kam, langsam – wie zu einem Feinde.

»Ich hatte eben eine Unterhaltung mit deiner Großmutter. Sie suchte mich auf.«

Rauh klang es zu ihr hin.

War das dieselbe Stimme, die gestern abend so weich und dunkel flüstern konnte? Erschrocken blickte sie auf ihn. Verständnislos. Doch nun sprach er weiter:

»Die alte Frau erzählte mir allerhand. In bester Absicht – sie konnte ja nicht ahnen. Nun – ganz gleich auch. Bloß eins muß ich wissen. Willst du mir eine Frage beantworten – auf Ehre und Gewissen?«

Ihre Augen, die auf ihn gerichtet waren, groß und weit, bekamen etwas Starres.

»Frag'!«

»Also – ist es wahr? Du hattest es dir vorgesetzt, mit allen Mitteln dein Ziel zu erreichen, mir gegenüber?«

Ein flammendes Rot schoß ihr aus dem Ausschnitt des Kleides, an dem weißen Hals empor.

»Hat dir das meine Großmutter gesagt?«

»Deine Antwort! Mit allen Mitteln! Nötigenfalls auch – mit dem letzten?«

Der heißen Glut folgte ein ebenso jähes Erblassen. Aber ihre Lippen preßten sich aufeinander zu einer schmalen, harten Linie. So stand sie regungslos, die Augen geschlossen. Und erlitt in diesem Moment tiefste Frauenschmach.

Wohl war es ja so gewesen, wie er sagte. Aber sollte sie ihm bekennen, daß da noch etwas anderes sie getrieben hatte? Stärker wohl noch ausschließlich als alle kühle Vernunft und drängender Ehrgeiz. Dies bekennen ihm – der vor ihr stand, eiseskalt, nur ihr Ankläger und Richter?

Da warf sie den Kopf in den Nacken zurück.

»Nimm an, was du willst! Es ist unter meiner Würde, dir auf diese Frage etwas zu erwidern.«

»So –« Ein harter Glanz war in seinen Augen, wie sie nun in die ihren drangen, gleich zwei unbarmherzigen Schneiden. »Diese Erwiderung ist mir allerdings Antwort genug. Ich weiß jetzt, was ich zu halten habe – von dem – Zufall gestern.«

»Gerhard!«

Sie taumelte fast zurück. So blieb sie an der Tür stehen, beide Hände hinter sich ausgebreitet, wie einen Halt suchend, und den Kopf weit vorgestreckt, zu ihm hin, der jetzt fortfuhr in dem gleichen, grausam kalten Ton.

»Sei ohne Sorge, du hast dein Ziel erreicht. Heiraten werde ich dich natürlich, aber –«

Wie ein Peitschenhieb traf sie dies letzte Wort, mit seiner abgrundtiefen Verachtung. Da riß sie sich empor. Fiebernd brannten ihre dunkeln Augen in dem blutleeren Antlitz, wie sie nun die Hand gegen ihn ausstreckte mit einer befehlenden Gebärde.

»Genug! Du hast keinerlei Verpflichtung mir gegenüber – keine. Und wenn ich in dieser Minute etwas bedaure, so ist es nur, daß ich kein Mann bin – um dir die Antwort zu geben, die du verdienst.«

Zitternd am ganzen Leibe stieß sie es hervor. Dann war er allein.

Still war es in dem Zimmer. Seine Augen starrten immer noch mit wildem Glühen nach der Stelle, wo sie eben gestanden. Endlich aber blickte er um sich. Wie ein Erwachen aus wirrem Traum. Langsam tastete seine Rechte zur Stirn. Sie war kalt und feucht. Wie grauenhaft war das alles! Ein Ekel überkam ihn, vor dem Leben – vor sich selber. Und er verließ das Zimmer, ging hinauf in seine eigenen Räume.

Stundenlang blieb er da noch auf in ruhelosem Hin- und Herschreiten. Bis endlich die zuckenden Nerven ruhiger wurden. Ein Bedürfnis nach frischer Luft überkam ihn, und er trat hinaus auf den Balkon vor seinem Wohnzimmer.

Draußen lag der Mondschein in dem weiten Talgrund. Langsam glitt sein Blick darüber hin. Nun tauchte es drunten in der Tiefe auf: ein schwarzer Spiegel mit mattem Silberglanz – der Fischbacher Weiher. Dunkel lagerten sich um ihn die Berge. Geduckt, lauernd wie riesige Ungeheuer.

Da umklammerte es ihm noch einmal die Brust, mit eiserner Faust. Und er wandte den Blick in entgegengesetzter Richtung. Zu den Haubergen drüben. Der Wind stand von dort her. Herb schlug ihm die Nachtluft aus den jungen Eichen droben entgegen. Aber es tat ihm wohl. Das war Geruch des Heimatbodens. Rauh und kräftig. Wie eine Mahnung.

Wohl hatte ihn ein Sturm geschüttelt, dicht am Umbrechen. Aber noch saßen die Wurzeln fest. Da hob er wieder das Haupt und schickte den Blick weiter hin über den Talgrund.

Dort hinten blinkte es hell auf am Nachthimmel. Wohl ein Stern. Und da noch einer? Nein, Lichter waren es, droben von seinem Werk. Die ganze Nacht hindurch strahlten dort ja die elektrischen Bogenlampen.

Leuchtfeuer schienen sie ihm, die seiner Lebensfahrt wieder Richtung und Ziel gaben. Ein paar Schritte weiter tat er da auf dem Balkon, bis hart an die Brüstung. Nun sah er dort drüben am Hang einen rötlich-dunstigen Nebel schweben. Dunkel stieg es daraus empor. Die Schattenrisse von Hallen und Essen. Ein dumpfes Brausen zitterte herüber durch die Talweite. Dann ein blutrotes Aufflackern oben an einer der Turmbauten – ein Hochofen, der gischtete. Und jetzt Lichter über Lichter, strahlend, ein ganzes Heer von Sternen, die menschliche Schöpfungskraft gezeugt. Dazu ein Rasseln, Fauchen, Dröhnen –, der Kampfruf der Arbeit, die auch des Nachts nicht schlummert, der ernsten aber segensreichen Arbeit, die dem Menschen das Beste gab im Leben: Das große Vergessen.

Eine rauhe Musik. Aber sie scheuchte die finsteren Dämonen, die Gerhard Bertsch verfolgt hatten, zurück in ihr Nachtreich. Da wich endlich das Düster von seinen Zügen. Ernst waren sie noch immer. Sehr ernst. Doch die Ruhe stand wieder darin. Jetzt gehörte er von neuem der, die sein Leben so lange ausgefüllt hatte – der Arbeit. Gehörte ihr ganz und ungeteilt.

* * *

In dem Hirschen war wieder einmal die wilde Jagd eingefallen. So sagten sie lachend in Rödig, wenn der Übach-Fritz im Ort zu Besuch war, beim Reusch-Hannes, der sein alter Jugendfreund und Jagdbruder war.

Der Übach war ein Rödiger Kind, obwohl er jetzt drunten in Köln lebte. Als einfacher Schlosser hatte er angefangen und es dann draußen in der Welt zum großen Fabrikbesitzer gebracht und nun gar zum Kommerzienrat seit dem vorigen Jahre.

Aber er war darum nicht stolz geworden, der Übach-Fritz, und verleugnete seine alten Freunde von früher nicht. Das war so guter Brauch im Rauhen Grund, an dem er mit seinem ganzen Herzen hing. Darum kam er auch alle Jahre zur Herbstzeit hier, wo er eine Jagd gepachtet, für ein paar Tage herauf.

Toll ging's dann immer her im Hirschen, seinem Standquartier. Tagsüber Weidwerk und Nacht für Nacht ein wüstes Gelage. Der Übach-Fritz war der nüchternste Mann das ganze Jahr zu Hause in seiner Fabrik. Aber die paar Tage hier raste er sich aus. »Das muß ich einmal so haben,« gestand er selber mit seinem breiten Lachen, und er fand im Rauhen Grund wackere Kumpane, die ehrlich mithielten.

Seine »wilden Jäger« nannte sie der Übach-Fritz. Und wild genug sahen sie aus mit ihrem verschlissenen Zeug, den geflickten Hosen, verschwitzten Filzhüten und verrosteten Gewehren. Schlichte Bergleute waren ja die meisten, Jagdgäste und Treiber zugleich, vielfach kamen sie am Morgen zum Rendezvous geradenwegs von der Grube, wo sie die Nachtschicht hindurch gearbeitet. Ohne Schlaf ging es so ans Weidwerk, und die nächste Nacht wieder in die Grube. So trieben es einige von ihnen volle drei Tage hindurch.

»Schießen aber trotzdem wie's Gewitter!« lachend rühmte es der Kommerzienrat am ersten Tage beim Rendezvous zu einem Geschäftsfreund, den er mitgebracht zur Jagd. »Und treu wie Gold sind mir die Kerls. Keiner wildert in meiner Jagd – da laß ich meinen Kopf für zum Pfand!«

Der Geschäftsfreund wußte freilich nicht recht was er mit diesen rauhen Gesellen anfangen sollte. Er war ein steifleinener Herr und steckte in einem sehr feinen Jagddreß. Als er sie die ersten paar Minuten schwatzen hörte, in ihrer Mundart, wandte er sich herablassend an einen von ihnen, einen mächtigen Graubart.

»Sie sprechen wohl gar Englisch, mein Lieber?«

»Ach wat, Englisch, Sie dummer Tribes!« Geringschätzig sah der vom Rauhen Grund die aufgeputzte Vogelscheuche aus der Stadt an, die diese Sprache nicht einmal kannte. »Siegerländer Platt sprechen wir!«

Entrüstet kam der Fremdling zu Übach und wies auf den Grobian. Aber der Kommerzienrat lachte nur schallend.

»Das ist Vatter Harr! Von dem dürfen Sie nichts Besseres verlangen. Bei dem ist's noch ganz anderen Leuten so gegangen. Im vorigen Jahr hatten wir 'ne Jagdhundausstellung drunten in Siegen. Und der Prinz von Horst-Hessenstein hatte den Ehrenvorsitz. Beim Festessen, wo der Prinz mit seinem Adjutanten auch dabei war, mußte Vatter Harr auf allgemeinen Wunsch eins singen. Er hat nämlich 'ne Mordsstimme! Na, Sie werden ja heute abend selber hören. Kurzum, wie er fertig ist mit seinem ›Ich schieß den Hirsch‹ und der Prinz ihm danken will, da klopft er der Erlaucht mit seiner Bärenpratze ganz gemütlich auf die Schulter. ›Was, Prinzche? Wir könnt' singe!‹ Und als der Adjutant dabei steht, vor Schreck ganz entgeistert, zeigt er auf diesen mit dem Daumen: ›Hat denn der auch was zu sagen?‹ Also, trösten Sie sich, mein Lieber. Vatter Harr darf man so was nicht übelnehmen.«

Aber der Geschäftsfreund zeigte wenig Sinn für solchen Humor. Noch am selben Abend reiste er wieder ab. Dringender Angelegenheiten wegen. Indessen, keiner vermißte ihn. Im Gegenteil!

So war es denn heute nun schon der dritte Tag, daß die »Wilde Jagd« im Hirschen ihr Wesen trieb. Es war gegen Abend. In der Küche draußen regten sich alle Hände, selbst Marga Reusch und auch die blinde Reusch-Mutter halfen an ihrem Teil, soweit sie's vermochten. Zum Abendessen waren ja nach altem Brauch alle Jagdteilnehmer eingeladen als Gäste des Übach-Fritz. An dreißig Mann galt es zu versorgen. Und der Kommerzienrat hatte für heute etwas Extragutes bestellt. Galt es doch den Abschied zu feiern.

Zwischen der Mamsell, der Magd und der Hilfsfrau gedieh trotz der emsigen Arbeit ein eifriger Schwatz. Wenn die »Wilde Jagd« wieder aus dem Haus fuhr – morgen sollte es ja geschehen – blieben immer ein paar Goldstücke auch in der Küche hängen.

»Ein guter Mann ist er, der Herr Übach, das muß man ihm lassen. So leutselig. Als gestern abend der Tillmann eintrieb ins Dorf, hat er selbst ihn eingeladen zu heute, zum Essen in den Hirschen.«

»Ja, ein gutes Herz hat er wohl – nur das viele Trinken! Ich mein', das muß doch einmal ein schlecht' Ende nehmen mit ihm.«

»Oh – der ist stark. Der verträgt schon was.«

»Ich weiß nicht –« das Kathrinche, die alte Hilfsfrau, schüttelte bedenklich ihren grauen Kopf und hielt mit dem Kartoffelschälen inne. »Es ist mir da heut' was begegnet – so was Absonderliches.«

»Was denn, Kathrinche?«

Neugierig steckten die beiden andern die Köpfe vor.

»Also, wie ich vorhin in den Garten ging, nach dem Gemüse, da fand ich im Beet eine weiße Tomate.«

»Kathrinche!« erschrak die Mamsell. »Man spricht doch, dann stirbt immer jemand im Hause.«

»Ja –« nickte das Kathrinche geheimnisvoll. »Das soll wohl wahr sein. Als das Lisettche damals hinmachte vom Bäcker Wittmann, da hat ihre Mutter am Morgen auch eine weiße Tomate im Garten gefunden. Sie hat mir's selbst erzählt.«

»Wie graulich!«

Und die junge Magd rückte unwillkürlich näher mit ihrem Schemel.

»Nun ist's aber genug mit eurem albernen Geschwätz! Denkt lieber an eure Arbeit.«

Scharf klang es vom Vorratsschrank am Fenster her, wo Marga die Einmachbüchsen herausgab. Aber die Reusch-Mutter in ihrer Ecke nickte still herüber.

»Es gibt schon Dinge, die über unsern Verstand gehen. Darum soll der Mensch nicht hoffärtig sein und allzeit daran denken, daß es auch ihn einmal treffen kann – eh', daß er's denkt.«

Marga schwieg. Seitdem all ihr Hoffen zerstört durch die Schuld der Großmutter, stand es hart und feindlich in ihren Mienen, wo sie die alte Frau sah.

Es war überhaupt ein scharfer Zug in das schöne Antlitz gekommen. Fühlte sie doch nur zu deutlich, wie man im Hause und auch im Ort wohl allerlei ahnte. Es war ja auch auffällig genug, daß Gerhard Bertsch so plötzlich aus dem Hirschen ausgezogen war, noch ehe das Direktorenhaus fertig war, das als letztes Gebäude nun auch droben bei dem Werk errichtet wurde, und daß er sich im Unterdorf einquartiert hatte. Trotzdem er nun einen viel weiteren Weg zur Zeche hatte. Marga ließ sich daher kaum noch im Ort draußen blicken. Wie eine Gefangene lebte sie.

Fast war es ihr daher lieb, daß jetzt die wilden Tage hier im Hause sie ein wenig ablenkten von sich selber.

Aus dem großen Wirtszimmer scholl inzwischen schon das Lärmen der heimgekehrten Männer. Wüst wie die Jägersleut selber war auch ihr Treiben. Beißender Tabaksqualm aus dreißig Pfeifen stand bald im Zimmer, faustdick. Dazu der Blutgeruch des aufgebrochenen Wildes, die Ausdünstungen von Menschen und Hunden nach dem anstrengenden, regnerischen Tag – es war eine rauhe Atmosphäre. Aber so liebte es der Übach-Fritz.

»Kerls, hol' mich der Teufel!« Laut dröhnte seine Stimme durch den Lärm. »Das ist hier doch ein ander Ding, als wenn ich daheim in meiner Villa die aufgeputzten Hansnarren seh', in Frack und Smoking. Bei euch da ist mir's wohl zumut', da kann man reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Wir vertragen 'nen Hieb. Was, Kerls? Na, denn also – prost zusammen!«

Und die durstigen Kehlen schütteten den edlen Rheinwein, der ihnen vorgesetzt war, hinunter, als wär's Wasser. Bald fingen die Köpfe, die noch dumpf waren von dem Rausch der letzten Nacht, schon wieder von neuem an zu glühen. Rauhe Lachsalven schütterten von Zeit zu Zeit durch das ganze Haus. Das Treiben war schon auf der Höhe, als die Tür aufging und noch ein verspäteter Gast erschien.

»Hurra, der Hasenpeter!«

Brausendes Hallo und Gelächter begrüßte den Mann, der bedrückt an der Schwelle stehenblieb. Es war ein Bergmann, der auch mit zu den Jagdgästen gehörte. Doch seit gestern morgen hatte ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen. Aus gutem Grunde. Von dem ersten Gelage, vorgestern nacht, hatte sich der Hasenpeter, wiewohl schwer geladen, aufgemacht, morgens gegen vier, um zur Grube zu gehen. Er hatte sich's in den dicken Schädel gesetzt, er wollte bergen – trotzdem. Aber er war nicht dazu gekommen. Eine Stunde später hatten Kameraden droben im Hauberg seine Flinte liegen sehen, ein Stück davon, mitten auf dem Weg, ihn selber. Alles Wachrütteln war umsonst gewesen. Da hatten sie schließlich nur das Gewehr in Sicherheit gebracht und ihn liegen lassen. Ihre Arbeit rief sie in die Grube. Die Flinte, die Reusch gehörte und dem Peter nur geliehen war für die Jagdtage, hatten sie dann mittags im Hirschen abgegeben; der Peter aber blieb verschwunden seitdem, gestern und heute.

»Hallo – Hasenpeter! Wo hast du denn nur gesteckt?« Lachend sprang Übach auf und ihm entgegen. »Deine Frau war ja schon ein paarmal hier. Und – Donnerwetter, ja – Kerl, wo hast du denn dem Reusch-Hannes sein Gewehr gelassen?«

Verstohlen zwinkerte er dem Wirt zu. Der ging auf den Scherz ein.

Der Peter kratzte sich in tödlicher Verlegenheit den Kopf unter dem grünverschossenen Filz, den eine Hasenpfote als Jagdtrophäe schmückte.

»Ja, ich muß Sie was sagen, Herr Reusch. Mir is dat Leben leid. Schießen Sie mich vorn Kopf – ich hab' das Gewehr nit mehr.«

»Was? Mein Gewehr ist weg?«

»Ja – ich war vorgestern so strippenvoll, da is mich dat passiert. Den ganzen Tag gestern hab' ich den Wald nach abgesucht, bis zur Nacht. Da bin ich erst in die Tänncher gekrochen.«

»Was, Kerl, du hast geschlafen im Wald, diese Nacht? Es hat ja beinahe gefroren droben auf den Bergen!«

»Was sollt' ich machen? Ich mußte doch früh gleich wieder am Suchen sein, eh' daß noch ein anderer kam.«

Ein dröhnendes Gelächter, dann aber schlug ihm Übach auf die Schulter.

»Na, beruhige dich, Peter, das Gewehrchen haben wir schon längst. Aber die Hauptsache ist, daß wir nun auch dich wiederhaben, du alter Raubschütz. Bist ein Prachtkerl, Peter, hast mir Laune gemacht! Überhaupt –« Übachs weingerötetes Antlitz kehrte sich auch den andern zu – »allesamt seid ihr Staatskerls, ihr rauhen Brüder. Sekt sollt ihr haben – Sekt, soviel ihr wollt. He – Hannes! Her, was du im Keller hast. Aber deinen besten! Der Übach-Fritz läßt sich nicht lumpen.«

Ein wilder Jubel brach los. Und ein Bechern hub an, das die Gelage der vergangenen beiden Nächte noch übertraf. Nur einer blieb still und nüchtern. Das war Tillmann von Grund, der Hirt, am unteren Ende der langen Tafel. Würdig saß er da, in dem verschlissenen, alten Gehrock, den ihm Pfarrer Burgmann einmal vor langen Jahren geschenkt, den er aber wie eine Kostbarkeit gehütet. Er nahm die Ehre ernst, von einem Kommerzienrat zur Tafel geladen zu sein, und mißbilligend blickte er auf das immer wildere Treiben um ihn her. Aber seinen Tischnachbarn, einen der Treiber, trieb der Schalk, daß er heimlich dem Tillmann einen guten Schuß Kognak in den Sekt schüttete. Da trat bald eine leise Röte in das verwitterte Antlitz des Hirten, und seine Zunge löste sich. Er begann zu schwatzen, allerlei Dinge, die er sonst stolz für sich behielt.

»Oh – ich kann auch schießen! Als ich in Frankfurt beim Militär war, da hat sich einer einen Schabernack mit mir machen wollen. Wie ich nachts auf Posten stand, bei den Schießständen draußen, da tat er sich ein Bettlaken um und wollt' mich verschrecken als Gespenst. Aber ich schoß stracks drauf los; hab' ihn zwar nicht getroffen, aber vor's Kriegsgericht bin ich doch gekommen. Sie haben mich auf die Festung bringen wollen, aber dann haben sie mich auf meinen Geisteszustand untersuchen lassen, und da haben sie mich freigesprochen.«

»Dat glaub' ich stracks!« höhnte der Nachbar, »dat sie dich da haben laufen lassen!«

Trotz seines Zustandes ging Tillmann eine Ahnung auf, daß man sich über ihn lustig machte. Schroff wandte er dem Spötter den Rücken.

»Mit dir red' ich nicht mehr. Bin mir zu gut dazu.«

»Hoho!« brach der andere los, mit roher Lache. »Nun, wo du voll bist, hast du wohl wieder den Adel im Kopf?«

Steil in die Höhe fuhr da der Tillmann von seinem Stuhl, und in Scherben flog sein Glas. Ohne ein Wort ging er zur Tür.

»He – Tillmann – versteh' doch einen Spaß!«

Beschwichtigend rief es ihm Übach zu. Aber mit finsterem Kopfschütteln verschwand der Alte.

Doch die Stimmung litt nicht darunter. Vatter Harr mußte eins singen, und sein dröhnender Baß, der die Fensterscheiben erklirren machte, ließ die wilde Lust bald wieder hoch aufschlagen. Weithin scholl das rauhe Grölen der Sänger durchs stille Dorf.

Stunde um Stunde verrann. Im Hause war längst alles zur Ruhe gegangen, auf der Tafel der Zecher häuften sich die Sektflaschen zu langen Kolonnen. Mit schwimmenden Augen blinzelte der Reusch-Hannes von Zeit zu Zeit vergnügt zu ihnen hin. In all seiner Weinseligkeit blieb er doch der kluge Rechner und überschlug sich's. Ein paar runde Nullen würde das Geschäft mit Freund Übach auch diesmal wieder abwerfen. Und gerührt stieß er mit dem alten Duzbruder an. Dessen Gesicht glühte; aber er war nicht klein zu kriegen.

»Gottverdammich, Hannes. Ich hab' das labbrige Zeugs, den Sekt, jetzt aber satt. Wollen mal was Anständiges trinken, 'ne solide Männersache! Hast nicht 'nen schweren alten Rotspon im Keller? Oder noch besser – 'nen Burgunder?«

»Ob ich den hab'! 'nen Burgunder, 'nen Sechsundneunziger, Schloßabzug – Fritz, ich sag' dir!« Und Reusch schnalzte mit verklärtem Augenaufschlag andachtsvoll mit der Zunge.

»Na also – her damit!«

Der Reusch-Hannes erhob sich und griff nach dem gewichtigen Schlüsselbund. Doch gleich beim ersten Schritt kam er etwas ins Schwanken. Ein Riesenhallo der ausgelassenen Zechkumpane, aber ärgerlich winkte der Hannes.

»Nur ausgeglitscht! Da seht doch die Näß am Boden. Untern Tisch trink ich euch grünes Volk, noch allzusammen.«

Und würdevoll schritt er zur Tür, aber hielt sich doch vorsichtig nahe der Wand.

Ein paar Minuten vergingen wieder in Lachen und Schwatzen. Doch da rief Übach ungeduldig:

»Wo bleibt denn der Hannes mit seinem Burgunder? Geht doch mal eins nachsehen!«

Einer der Kumpane verschwand. Nicht lange darauf kam er wieder und winkte lachend schon von weitem:

»Dunnerlittchen, den Hannes hat's gepackt! Der liegt im Keller – voll wie 'ne Haubitze.«

Ein brüllendes Gelächter. Dann schlug Übach auf den Tisch.

»Kerls, das müssen wir sehen.« Er sprang auf und mit ihm die ganze Runde. Lärmend polterten sie hinaus, auf den Flur und die Kellertreppe hinab. Die Hunde hatten sich mit ihren Herren erhoben. So auch Diana, Reuschs brauner Setter. Mit den ersten lief sie nun die Stufen hinab.

Ein Halbdunkel herrschte in dem weiten Kellerraum. Nur schwach gelichtet von der am Weinverschlag aufgehängten Laterne. Aber jetzt hatten sie den Hannes entdeckt. Da lag er ja, gerade vor ihnen – unterhalb der letzten Stufen. Und wieder dröhnte ihr wildes Lachen auf. Dumpf scholl es in dem kahlen Gewölbe zurück. Fast schauerlich.

»He – Hannes! Altes Weinfaß – sollen wir dich etwa raufrollen die Trepp'?«

Und in seiner wüsten Zecherlaune wollte Übach dem guten Kumpan scherzend einen Stoß mit dem Fuß geben. Aber Diana, die inzwischen an den daliegenden Herrn nahe herangekommen war, mit vorgestreckter Nase, heulte plötzlich auf und wich zurück – den Schwanz zwischen die Beine geklemmt.

Der schrille Angstlaut des Tieres fuhr allen durch Mark und Bein, selbst in ihrer Trunkenheit. Übachs schon erhobener Fuß zuckte zurück.

»Gebt doch mal die Laterne da her!« befahl er. Aber seine Stimme klang merkwürdig unsicher. Totenstill war es mit einem Schlage geworden. So umdrängten sie den Hannes, der stocksteif lag, ohne sich zu rühren. Ganz unheimlich war es. Und dazu immer das leise Heulen des Hundes – langgezogen, im höchsten Ton. So schauerlich klagend.

Einer hatte jetzt die Laterne drüben vom Nagel gehoben und brachte sie her. Aber er leuchtete nicht selber. Dem Übach-Fritz gab er sie weiter. Der nahm sie und beugte sich über den Liegenden. Nun fiel der Lichtschein voll auf sein Antlitz. Im selben Moment ein Klirren der Laterne. Jäh streckte sich die Linke Übachs aus.

»Da!«

Aller Augen folgten der weisenden Hand und rissen im gleichen Moment sich weit auf: Dort an der unteren Schläfenseite des Hannes eine kleine, dunkelrote Spur – hinab zu den Steinfliesen des Kellers.

Aschfahl stand Übach da, das Kinn schlaff herabgesunken. Verflogen wie Dunst aller wilder Zecherübermut. Statt dessen ein dumpfes, zu Boden schmetterndes Gefühl, das ihm jeden Halt nahm. Und so ging es ihnen allen. Wie ein grauenhaftes Warn- und Strafgericht lag da der starre, leblose Leib des Mannes, der noch vor wenigen Minuten gelacht und gescherzt.

Und scheu schlichen sie sich davon, aus dem Keller und aus dem Hause. Als wären sie mitschuldig an dem vergossenen Blut dort. Kaum, daß der Übach-Fritz noch ihrer zwei fand, die ihm halfen, den Verunglückten hinaufzutragen. Er war doch nur ein kleiner Mann, der Reusch-Hannes, aber was er schwer geworden war mit einem Male, nun er ihnen so steif und reglos in den Händen lag, mit niederhängenden Armen.

So schafften sie ihn ins Gastzimmer und betteten ihn auf dem Sofa. Dann standen sie eine Weile und sahen sich an, verstört und ratlos.

»Es müßten's wohl wer den Frauensleuten sagen.«

Einer meinte es endlich, aber sie sahen einander nur an. Keiner mochte derjenige sein. So blieb es bei Übach.

»Ich will's übernehmen – aber nicht jetzt, mitten in der Nacht. Ich will's ihnen schonend beibringen – morgen früh.«

Und er war froh, wenigstens diese Galgenfrist noch gewonnen zu haben.

Da gingen auch diese letzten drei noch. Ganz allein und verlassen lag der Reusch-Hannes in dem weiten Raum, in dessen Winkeln es noch hing wie ein jäh abgerissenes Lachen. Nur die Diana hatten sie bei ihm gelassen. Die aber verkroch sich unterm Sofa, ganz weit nach hinten, und winselte kläglich vor sich hin. Sonst war es still in dem plötzlich verödeten Hause – totenstill.

Drüben, in ihrem Zimmer, lag Marga Reusch. Lange hatte sie am Abend noch wach gelegen. Das wilde Lärmen aus der Gaststube vorn verscheuchte den Schlaf. Aber endlich war er der Übermüdeten doch gekommen, und um so tiefer nun.

Erschrocken fuhr sie daher jetzt von ihrem Lager empor, als eine Hand sie berührte, ihr mitten in das Gesicht tastete.

»Wer ist da?«

Und sie griff zum Licht auf dem Nachttischchen, mit bebenden Fingern.

»Ich bin's.«

Aufatmend unterschied sie die Stimme der Großmutter, und das entflammte Zündholz zeigte ihr die alte Frau, angekleidet, im Morgengewand.

»Was ist denn, Großmutter?« Die Augen halb schließend vor dem plötzlichen Licht, sah Marga zu der Blinden hin. »Ich hatte gerade fest geschlafen – endlich!«

»Geschlafen? So warst du es also nicht, die klopfte?«

»Klopfte? Wo denn?«

»Bei mir an der Tür. Eben vor ein paar Minuten.«

Ein Kopfschütteln Margas.

»Ich habe mich nicht aus dem Bett gerührt.«

»Aber ich hörte es doch. Dreimal klopfte es – ganz laut und deutlich.«

»Du wirst geträumt haben, Großmutter.«

»Ich hatte ja noch kein Auge zugetan. Wegen des Lärms drüben. Also warst du es doch nicht! Aber was war es dann? Magri – das Pochen war so eigen.«

»Ja, du lieber Gott, was soll es denn nur gewesen sein?«

Und mißmutig drehte sich Marga Reusch vom Licht ab, nach der Wand zu. Sie schloß wieder die Augen.

»Was es war? – Kind, sie sprechen doch: wenn es so klopft, dreimal! – in der Stunde stirbt eins im Hause.«

»Ach, fängst du auch wieder an mit dem Unsinn?«

Und enger zog Marga die Bettdecke um sich.

»Ich weiß nicht, Magri – es ist auch mit einemmal so still geworden im Hause. Bis vor einer Viertelstunde noch dies Getobe drüben in der Gaststube, und dann mit eins wie abgeschnitten. Sie sind gegangen, alle miteinander ganz plötzlich. Und jetzt wimmert der Hund da drüben so jämmerlich. Immerfort – hör' doch nur, wie er sich reut!«

Marga lauschte, und deutlich vernahm sie jetzt die leisen, langgezogenen Klagetöne. Da lief es kalt über sie hin.

»Ja – das hört sich wirklich ganz schauerlich an.«

Und sie richtete sich vom Lager auf. Ihr Blick suchte in plötzlicher Angst das Antlitz der Greisin.

»Was sollen wir denn nun tun, Großmutter?«

»Den Mannes wecken.«

»Der ist ja heute wieder in Köln geblieben.«

»Dann den Vater.«

Marga nickte. Hastig erhob sie sich und hüllte sich in die notwendigsten Kleider. So eilte sie mit dem Licht aus dem Zimmer. Doch gleich war sie wieder da.

»Großmutter – der Vater ist nicht in seinem Zimmer!«

»Nicht?«

»Nein! Als er auf mein Klopfen nicht antwortete, trat ich ein – aber sein Bett ist noch unberührt.«

»Wo soll er denn aber nur sein?«

Ein Schweigen. Aus den dunkeln Winkeln des Gemachs, das nur die Kerze in dem Leuchter spärlich erhellte, kroch es an Marga heran. Aber noch einmal entwand sie sich dem Grauen.

»Vielleicht ist er mitgegangen mit den andern?«

Die Reusch-Mutter schüttelte langsam das Haupt. Ein schwerer Ernst lag plötzlich auf dem alten Antlitz. Und nun erhob sie sich.

»Komm!«

»Wohin denn?«

»Hinüber ins Gastzimmer, wo der Hund so heult.«

»Großmutter – ich hab' solche Angst!«

»Komm!«

Fast streng klang es. Da gehorchte Marga. Aber ihre Hand griff nach dem Arm der Blinden. Bebend drängte sie sich an die alte, hilflose Frau.

So schritten sie hinüber nach dem Gastzimmer und öffneten.

Noch Licht in der Hängelampe? Trotzdem kein Mensch mehr hier war! Und Margas Auge drang durch den schweren, bläulichen Tabaksdunst über die lange Tafel hin. Die Angst wich im Moment einem Ekel. Dieser kalte Dunst von Tabak und verschüttetem Wein, die Batterien von Flaschen, umgestürzte Stühle – wie widerwärtig das alles!

Doch nun ein Aufwinseln und Scharren, hinten unterm Sofa. Diana kam eilig hervorgekrochen und jetzt zu ihnen, hell aufheulend – wie um Schutz zu suchen.

Da fiel es Marga Reusch von neuem an. Eine würgende Angst. Ihre Augen, die sich jetzt an den Qualm gewöhnt hatten, richteten sich nach dem Sofa, in einem Suchen, einem grauenvollen Ahnen, und plötzlich krallten sich ihre Finger um den Arm der Großmutter.

»Was siehst du?«

»Der Vater! – Da – auf dem Sofa!«

Und sie warf den Kopf gegen die Schulter der alten Frau, um dem schrecklichen Anblick zu entgehen, klammerte sich zitternd fest an der schwachen Greisin.

Eine Weile stand die Blinde, ohne sich zu rühren. Dann sagte sie seltsam ruhig:

»Ich wußte es.«

Und nun löste sie sich von der Enkelin.

»Führ' mich hin zu ihm.«

»Ich kann nicht!«

»Bist du so feige?«

Da leitete Marga die Großmutter zum Sofa hin, die Augen starr weggewandt. Doch dann riß sie sich los, geschüttelt von Grauen.

»Ich wecke die andern!«

Und sie stürzte davon.

Die Blinde aber tastete nach den Händen des Toten, fand sie und legte sie übereinander. Dann stand sie neben dem Lager, stumm und unbeweglich, und dicht neben ihr der Hund. Still war er jetzt geworden. Und es war etwas Ergreifendes in dem trauervollen Blick, den er auf den toten Herrn heftete. Wie wenn die gefangene Seele in seinem tierischen Leib den letzten Geheimnissen der Natur doch näher stand, als Menschenhochmut ahnte. Die Reusch-Mutter aber litt verstehend den armseligen Hund am Lager des Toten. Sie hatte ihre mageren Finger gefaltet und die lichtlosen Augen niedergesenkt auf den hingeschiedenen Sohn, als vermöchten sie ihn zu sehen.

Und sie sahen ihn auch. Als kleines, unmündiges Kind, das ihrem Mutterherzen und ihrer Muttersorge nahe gewesen – lange Jahre hindurch. Da bewegten sich ihre welken Lippen leise.

»Hannes.«

Durch die Fenster des wüsten Zechgemachs drang lautlos von draußen der erste Schein des Tags. Fernher aus der Ewigkeit. Und er legte sich auf die fahle Stirn dort auf dem Lager wie eine ernste, feierliche Hand: Jetzt bist du mein!

* * *


 << zurück weiter >>