Paul Grabein
Die vom Rauhen Grund
Paul Grabein

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Gerhard Bertsch schritt unten auf der zehnten Sohle durch das Dunkel der Strecke. Die schweigende Nacht der Tiefe umfing ihn. Nur das spärliche Licht der Grubenlampe wies seinem Fuß den Weg, vorüber an den gähnenden Schlünden der Sturzrollen.

Bertschs Schritt, der sonst stets vorwärts drängte in treibender Tatkraft, hatte heute etwas Zögerndes, und der Kopf hatte sich ihm gesenkt. Gedanken wenig froher Art.

Die Reise nach Köln, von der er soeben heimgekommen, hatte ihm noch immer nicht die Entscheidung gebracht. Wohl hatte auf der Landesbank das Gutachten des Sachverständigen über das von ihm festgestellte Erzvorkommen befriedigt. Man war unten auf der zehnten Sohle hinter einer Überschiebung im Gebirge, vor der bisher stets haltgemacht worden war, auf sein Betreiben weiter vorgedrungen und hatte einen ungewöhnlich mächtigen Erzgang angefahren, der offenbar identisch war mit dem wertvollsten und ergiebigsten des alten Abbaufeldes. Aber man hegte trotzdem auf der Bank Bedenken, denn dieser Gang markscheidete mit der Nachbargrube, dem Erbstollen. Rechtsschwierigkeiten waren von dort zu befürchten. »Sobald die Sache auch nach dieser Richtung einwandfrei geklärt ist, sind wir für Sie zu haben, vorher aber – nichts zu machen!« Mit diesem Bescheide des Bankleiters hatte Bertsch abreisen müssen. Das war das ganze Ergebnis der vier Tage in Köln gewesen, auf die er so gebaut hatte, volle Verwirklichung seiner Pläne hatten sie ihm bringen sollen, und nun das!

Diese traurigen Bankmenschen! Kalte Rechenmaschinen. Wenn er ihnen doch von seinem verzehrenden Drang zur Tat, von seinem unerschütterlichen Vertrauen zur Sache etwas in die verschrumpften Adern hätte gießen können. Nur frisch zupacken, und man hatte gewonnen Spiel hier. Aber fing man's so an, wie die in Köln, kam man vor lauter Übervorsicht und Rückendeckung erst gar nicht zum Angriff, dann ließ man ja den andern Zeit, einem vorzukommen. Es wurde gerade schon genug geredet im Grunde von seinem Vorhaben. Da mußten ja selbst Schlafmützen die Augen einmal aufgehen!

In quälender Unzufriedenheit schritt Gerhard Bertsch durch die Einsamkeit der Strecke hin. Das elende Geld! Immer hing's daran. Was nutzte es ihm nun, daß er weiter blickte als die anderen hier und die verborgenen Schätze in diesem Lande sah? Er würde sie ja doch nicht heben können. Da hatte man ein paar Arme wie Stahl, einen Kampfmut, um die Welt aus den Angeln zu rücken, und stand doch mit gebundenen Händen!

In solchen Gedanken näherte sich Gerhard Bertsch dem Grenzgebiet nach dem Erbstollen hin, wo sie das Gesenke niederbrachten, um so den neu gefundenen Erzgang von oben her aufzuschließen. Da tönten von vorn aus dem Dunkel Schritte, bald schwankte auch durch die Grubennacht ein winziger Lichtschein heran, in regelmäßigem Auf und Nieder und wuchs im Näherkommen. Ein Mann kam ihm entgegen, in eiligem Schritt. Jetzt waren sie beieinander.

»Glückauf!«

Er hielt dem andern die Lampe ins Gesicht, und der tat bei ihm ein Gleiches. Es war der alte Manskopf, sein Bergverwalter, der nun auch ihn erkannte.

»Der Herr Bertsch! Gott sei Dank, daß Sie wieder da sind.«

»Nun, was gibt's denn?«

»Die drüben,« – Manskopf wies nach der Richtung des Erbstollens – »sind am Werk, schon seit drei Tagen, sie wollen unsern Gang schnappen – von unten her, von der elften Sohle!«

»Was denn? Doch nicht möglich!«

»Ja, ja, es ist schon so. Und sie arbeiten mit aller Gewalt, selbst die Nachtschicht durch.«

»Also wollen sie uns wirklich ins Feld kommen? Haben Sie denn nicht sofort Einspruch erhoben beim Bergamt?«

»Gewiß, aber der Hannschmidt drüben bestreitet es. Wir sollten es ihm erst nachweisen, meint' er.«

»Hallunke!«

»Ja, sie wollen's offenbarlich auf einen Prozeß ankommen lassen.«

Ah – da sollte es hinaus! Sie hatten drüben wohl schon etwas läuten hören und trafen richtig – gerade an der wunden Stelle. Aber Bertsch wollte es noch nicht glauben.

»Nee, nee, Manskopf! Sie denken sich das eben nur so!«

»Ganz gewiß, Herr Bertsch, es ist, wie ich sage. Und uns lassen sie nicht voran mit der Arbeit. Sie haben auch ein Aufhauen gemacht, grad' unter unserer Grundstrecke, und ziehen uns so die Berge ab. Die laufen uns nun alle aus. Alles geht schon zu Bruch drüben im alten Mann, und wenn wir's nachher dem Revierbeamten nachweisen sollen, was sie uns angerichtet haben, ist's natürlich zu spät.«

In Bertsch schoß es auf. Heiß und jäh, aber er wahrte äußerlich seine Ruhe.

»Kommen Sie.«

Und er ging dem gefährdeten Grenzpunkt zu. Als sie zu dem neuen Gesenke kamen, fanden sie die Leute dort in großer Aufregung vor.

»Was gibt's denn nun schon wieder?« trat Bertsch dazwischen.

»Sie haben eben den Ganter-Philipp gefangen genommen!«

»Gefangen! Unsinn! Wer denn?«

»Die vom Erbstollen drüben! Die Verbindung mit der elften Sohle ist hergestellt, seit dem Schießen heute morgen. Da ist nun der Ganter als erster durchgekrochen. Aber da haben sie ihn drüben zu packen gekriegt, Steiger Hannschmidt vornweg, und er hat sich verschworen, so täten sie's mit jedem von uns machen, der da durchkäme. Sie wollten's nit leiden, das sei ihr Feld!«

»Die Sache wird ja immer toller! Ist der Hannschmidt denn total verrückt? Los!« Bertsch sprang vor. »Ein paar handfeste Leute mir nach!«

Und er stieg eilends in den dunkel gähnenden Felsspalt ein, der sich in steilem Hall nach unten senkte. Manskopf und einige andere Leute folgten ihm, gespannt auf den Ausgang. Aber nach wenigen Schritten schon stockte der Abstieg. Ein beißender, brandiger Qualm schlug ihnen von unten entgegen und wurde mit jedem Schritt dichter.

»Den Teufel! Was ist das?«

»Ein Strohfeuer haben sie angemacht drunten.« Mühsam, unter krampfigem Husten nur, brachte der alte Manskopf die Antwort heraus.

Kein Zweifel, so war es, und der Anschlag des Gegners gelang nur zu gut. All der Qualm zog in der Kluft herauf. Wie im Rauchfang saßen sie hier drinnen. Aber konnte alles nichts helfen! Man mußte diesem Unfug ein Ende machen.

»Vorwärts, Leute!«

Mund und Augen zusammengepreßt, drängte sich Bertsch vorwärts. Aber da ächzte es hinter ihm.

»Hilfe – ich ersticke!«

Ein trotziges Aufbäumen des Willens bei Bertsch. Weiter! Doch dann die bessere Überlegung: Nein! Er durfte nicht Gesundheit und Leben seiner Leute aufs Spiel setzen.

»Umkehren!« Laut scholl sein Befehl durch den Qualm, aber sein Antlitz war noch finster, als er dann wieder als letzter bei den Seinen war. Schwer erschöpft hockten und lagen sie herum und saugten im einziehenden Wetterstrom die Lungen voll frischer Luft. Auch Bertschs Brust ging schwer. Aber aufrecht stand er da. Alles zuckte in ihm. Dem gefährlichen Burschen, dem Hannschmidt, mußte das Handwerk gelegt werden. Kein Augenblick mehr zu verlieren! Sofort wollte er aufs Bergamt.

Er gab nur in Eile noch die nötigen Anweisungen für Manskopf, dann fuhr er zutage, warf sich droben in einen Wagen und jagte hinüber in die Stadt. Doch der Revierbeamte war über Land. Am Abend erst kam er. Da war es zu spät. Aber er sagte seinen Besuch für den anderen Vormittag zu.

Er hielt Wort, und, wie verabredet, war auch Bertsch zur Stelle. Zusammen traten sie so ins Steigerbureau des Erbstollen ein. Ein breitschultriger, rotbärtiger Mann trat ihnen entgegen. Der Bergrat sah ihn fragend an.

»Steiger Hannschmidt?«

»Der bin ich.«

»So. Nun hier, Herr Direktor Bertsch von Zeche Christiansglück führt Beschwerde gegen Sie. Sie haben sich grobe Ungehörigkeiten zuschulden kommen lassen, sogar einen Mann von Grube Christiansglück gefangengenommen. Wie kommen Sie dazu? Das ist doch Freiheitsberaubung!«

»Ob dat Freiheitsberaubung ist, dat weiß ich nit. Ich hab' den Mann ja gleich wieder über Tag schaffen und laufen lassen. Aber dat weiß ich –« trotzig sah der Mann dem Bergrat ins Gesicht – »da unten, bei mir im Berg, da hat kein Fremder wat zu suchen!«

»Und das Feuer, das Sie angemacht haben, um die aus dem Nachbarfeld zu vertreiben?«

»Ich kann doch in meiner Grube Feuer anmachen, soviel als ich Laune hab'! Wenn's die da –,« er blickte geringschätzig auf Bertsch hin –, »nit vertragen können, so geht dat mich nichts an.«

»Ich denke, Herr Bergrat, es ist genug nun. Alle Worte sind hier nutzlos. Sie sehen ja, mit wem Sie es zu tun haben.«

»Jawohl,« nickte der Revierbeamte und wandte sich dem Steiger wieder zu. »Also halten Sie sich bereit. Wir wollen einfahren.«

Er ging zur Tür, die zu dem Umkleideraum und weiter zum Schacht führte. Bertsch wollte ihm folgen, doch da trat ihm Hannschmidt in den Weg.

»Halt – was wollen Sie hier?«

Der Bergrat blickte zurück.

»Herr Direktor Bertsch wird mich begleiten.«

Hannschmidt wich nicht zur Seite.

»Fahren Sie ein, soviel dat Sie wollen, Herr Revierbeamter. Ich kann's nit hindern. Aber der hat nichts zu suchen bei uns in der Grube!«

Bertschs Geduld war nun zu Ende.

»Genug der Narrenspossen!«

Und seine Hand schob mit einem Ruck den stämmigen Mann beiseite.

Doch jäh brach es da aus Hannschmidts Augen. Ein Sprung zur Wand, wo allerlei Arbeitsgerät lehnte, und er schwang eine Axt empor – gegen Bertsch.

»Zurück, oder –!«

»Mensch, Sie machen sich unglücklich!«

Erschrocken rief es der Bergrat. Doch die kalte Wut schillerte in Hannschmidts Blick.

»Ganz gleich – aber der da kommt mir nit über die Schwell'!«

Bertsch stand vor dem Jähzornigen, jede Muskel gespannt, den Blick in den des andern gebohrt. Das Blut seines Geschlechts kochte auch in ihm auf. Sollte er zurückweichen? War er nicht schon mit ganz anderen Leuten fertig geworden? Drüben in Chile, unter dem gefährlichen Gesindel aus aller Herren Länder!

Der Revierbeamte sah, was in ihm vorging, und er wollte zum Fenster, Hilfe herbeirufen. Doch da überflog plötzlich ein Lächeln Bertschs Züge.

»Nicht vonnöten, Herr Bergrat. Wir werden schon allein fertig werden miteinander – wir beide hier.« Sein Auge blitzte zu dem Gegner hin. »Wir sind ja doch Landsleute. Das ist alter Brauch im Rauhen Grund: Man schlägt sich den Schädel ein, aber schätzt sich doch.« Und er sah nun dem andern fest ins Gesicht. »Also, Mann, es ist Ihr Ernst: Sie verweigern mir die Einfahrt?«

»Ja – und keinen Schritt weiter laß ich Sie!«

»Und warum nicht?«

»Sie sind unser Feind.«

Dem Bergrat riß die Geduld.

»Aber wenn ich Ihnen nun den strikten Befehl gebe?«

»Mir hat hier keiner was zu befehlen, als nur mein Grubenvorstand. Und wenn's mich Kopf und Kragen kostet!«

Der Revierbeamte zuckte die Schultern. Unschlüssig sah er zu Bertsch hin. Dessen Auge ruhte auf dem finster Entschlossenen, und plötzlich sagte er:

»Der Mann hat recht, von seinem Standpunkt. Wär er mein Beamter, ich erwartete es nicht anders von ihm. Unter diesen Umständen bleibt mir nichts weiter übrig, als erst die Erlaubnis des Grubenrepräsentanten einzuholen.«

»Das ist doch der Herr von Grund?«

»Ganz recht, und ich will sofort zu ihm.«

»Gut, also gehen Sie. Ich erwarte Sie hier. In einer Stunde können Sie ja wohl längstens wieder da sein.«

* * *

Lastend wuchtete der Himmel über dem Rauhen Grund. Mit finsterem Grau und drückend, daß die Brust nur schwer atmete.

An solchen Tagen drang nur ein spärlicher Lichtschein durch die tiefen Fensternischen des Adligen Hauses. Und in der einsamen Dämmerung drinnen in dem alten Gemäuer ging es um mit Geisterschritten. Ächzte seltsam droben im Sparrenwerk des Dachs, schlich über die knarrenden Treppen und Dielen der Flure und seufzte dunkel im Windfang der alten Kamine. Eke von Grund fühlte mit leisem Erschauern: Das galt ihr!

Nach ihr griff es aus dem trostlosen Dunkel mit Geisterhänden, ihr die Brust ganz einzuschnüren in einer erstickenden Angst. Einer Angst, daß ihr, die keines Menschen Auge je anders als fest und aufrecht sah, in solchen Stunden zumute war, wie einer Ertrinkenden – daß sie umherirrte in dem düsteren Gemäuer von Raum zu Raum, bis sie irgendwo zusammensank in einem wurmstichigen Stuhl mit wundersam verschnörkelten Knäufen. Aber aus dem Moderduft des verblichenen Gobelinbezugs, gegen den sich ihre Stirn wie schutzsuchend preßte, schlich sich alsbald dieselbe Angst an sie heran.

Da rann ihr nun Jahr um Jahr hin in solcher Verlassenheit, an der Seite dieses starrköpfigen alten Sonderlings. Draußen rief das Leben zu kraftvoll freudigem Wettlauf alles, was jung und stark war. Aber sie stand hier, Fesseln an den Händen, die doch so gern zugegriffen hätten. Stand abseits, unnütz sich und der Welt.

Und doch pulsten in ihr so starke Quellen des Lebens, der Weibesnatur, daß sie hätte geben mögen mit verschwenderischen Händen – sich geben, rückhaltlos, und doch im Geben empfangend mit sehnenden Fibern. So stürmisch ward dies ungestüme Begehren in solchen Stunden, daß es sie dann jedesmal auftrieb in verzehrender Unrast. In den Sattel, zu wildem Hinjagen durch die Talgründe, oder zum Umherschweifen in den Waldbergen. Und wenn dann droben der Wind als rauher Weggesell ihr das Haar zauste, mit ihr rang auf kahler Höhe, daß sie Schritt für Schritt gegen ihn ankämpfen mußte, dann fühlte sie es mit heimlichem Jauchzen drinnen in der schnell atmenden, aber kraftvoll schwellenden Brust – noch war die Jugend ihr! Und nie war Eke von Grund schöner, als wenn sie von solch wildem Gange heimkehrte mit heißen Wangen und blitzenden Augen. Aber niemand war da, dem dieser Anblick das Herz freudiger schlagen gemacht hätte.

Auch heute war wieder einmal solch ein Tag gewesen, wo es umhergeisterte in dem alten Gemäuer mit grauen Fledermausflügeln. – Henner von Grund war wie immer draußen in seinem Wald. Verlassen saß sie so in dem Wohnzimmer. Sie hatte die Wirtschaftsbücher vor sich liegen, aber ihre Augen irrten ab von den Posten und Zahlen in den trüben Dämmerschein um sie herum. Die Schwere dieses Raumes mit seinen wuchtigen Mauern und tief eingeschnittenen Fensternischen, dem massigen Deckengebälk und der schwarzbraunen Wandtäfelung drohte sie zu erdrücken.

Wie in einem Kerker – dachte Eke. So war ihr ganzes Leben hier gewesen, so würde es weiter sein. Wer wußte, wie lange noch. Und wenn wirklich einmal die Freiheit kam, kein fremder Wille sie mehr hier in Gefangenschaft hielt, dann war es zu spät.

Eke von Grund schloß die Augen. Wie um dieser trostlosen Umgebung zu entfliehen. Aber erregt hämmerten die Pulse in ihren Schläfen, jagten sich Bilder durch ihr Hirn.

Es war ihr, als stände sie an eines Schiffes Bord, das eilends dahintrieb, unaufhaltsam. Und schwindendes Land lag dahinten vor ihrem Blick – weit, weit in der Ferne. Immer blasser, immer nebelhafter ward es im Hintreiben. Bald würde es ganz verloren sein – für immer.

Mit einem Ruck stieß Eke von Grund den schweren Sessel zurück und sprang auf. Weg – hinaus! Und sie riß das Fenster auf.

»Kallmann!«

Drüben aus dem Stallgebäude kam der Pferdeknecht.

»Den Wotan satteln!«

»Tut mir leid, Fräulein, den hat heut' der Herr mit eingespannt im Pürschwagen.«

Ein Zorn brannte in Eke auf. Konnte man ihr selbst dies Vergnügen nicht einmal lassen? Das einzige, das sie noch hatte!

Sie warf klirrend das Fenster zu. So blieb ihr denn nur das andere noch. Und sie ging zum Klingelzug, drüben neben der Tür. Die Anne-Marie sollte ihr den Lodenmantel bringen und derbes Schuhwerk. Aber auf halbem Wege blieb sie stehen. Ein dumpfes Pochen dröhnte durch die dämmrige Stille. Der eiserne Klopfer draußen am Portal – Besuch. Eine Seltenheit hier im Adligen Hause.

Es dauerte geraume Zeit, bis die Anne-Marie erschien, ein einfaches Mädchen drunten aus dem Dorf, das sie sich allmählich für ihren persönlichen Dienst herangezogen hatte. Eke sah ihr ohne Erwartung entgegen. Wer würde da auch gekommen sein? Vielleicht der Steiger Hannschmidt von der Grube oder jemand aus dem Ort, der den Amtsvorstand sprechen wollte. Sonst empfing der Oheim ja keine Besuche weiter. Doch da sah sie in der Hand des Mädchens eine Schale mit einer Visitenkarte. Also wirklich ein Fremder, verwundert griff sie nach dem weißen Blättchen. Gerhard Bertsch – sein Antrittsbesuch.

Da kam ihr ein leises Lächeln, trotz ihrer Stimmung. Hatte der eine Ahnung von dem Gesellschaftsbedürfnis hier im Adligen Hause! Und von den Empfindungen, die man ihm entgegenbrachte im besonderen!

Aber dann winkte sie dem Mädchen zu, ihn eintreten zu lassen. Und sie ging zur Nische zurück, wo sie vorher gesessen. Mit ruhigen Bewegungen ordnete sie den Tisch ein wenig, ohne jedes Übereilen. So schichtete sie noch an einem Stoß Rechnungen, als der Besucher eintrat, langsam drehte sie sich da nach ihm um, doch blieb sie am Tisch stehen.

Ihr erster Eindruck war ein gewisses Verwundern. Er kam im einfachen Straßenanzuge – sollte das betonte amerikanische Art sein? Absichtliches Vernachlässigen der gesellschaftlichen Formen?

Bertsch schien ihre Gedanken zu erraten, denn indem er sich leicht verneigte, erklärte er:

»Mein Besuch gilt Herrn von Grund als Repräsentanten des Erbstollen. Ich komme in geschäftlicher Angelegenheit.«

»Dann kommen Sie vergeblich – mein Onkel ist nicht anwesend.«

»Das hörte ich schon draußen, aber mir lag daran, zu erfahren, wann er zurückkommt. Ich muß ihn sprechen.«

»Er ist zur Jagd gefahren, schon mit Tagesanbruch. Möglicherweise ist er also zum Frühstück wieder da.«

Ein kurzes Schwanken, dann sagte Bertsch entschlossen:

»Da meine Angelegenheit, wie gesagt, sehr dringlich ist –, würden Sie mir wohl erlauben, Ihren Herrn Onkel zu erwarten?«

»Bitte«, und sie wies auf eine Sitzgelegenheit in der Nähe, wo er stand.

Mit stummem Danke nahm er Platz. Eke wandte sich halb wieder ihrem Tische zu, legte die Wirtschaftsbelege in eine Mappe und verschloß sie. Dann erst ließ auch sie sich in ihrem Sessel in der Nische nieder.

Eine Weile saßen sie so schweigend in dem großen dämmrigen Gemach. Die Entfernung, die auch räumlich zwischen ihnen lag, brachte etwas Hemmendes, Fremdes zwischen sie. Beide empfanden sie es, und Eke wartete auf das erste Wort von ihm. Doch es kam nicht. Da entschloß sie sich: Wenn er die gesellschaftlichen Formen nun einmal nicht beherrschte, so wollte sie es wenigstens nicht daran fehlen lassen. Und sie brach die Stille:

»Sie waren lange draußen?«

»Volle zehn Jahre.«

»In Südamerika, wie ich hörte?«

»Ja – in Chile.«

»Sie waren auch dort bergmännisch tätig?«

»Ich war Leiter einer Kupfergrube.«

»Aber es zog Sie nun doch wieder nach der Heimat?«

»Ja.«

Es lag wie ein Ausweichen in dem kurzen Bescheide.

Eke von Grund blickte eine Weile vor sich hin. Dann sagte sie langsam:

»Die Zeit drüben war Ihnen offenbar nur die nötige Vorbereitung für Ihre Aufgaben hier.«

Er faßte sie zum ersten Male fester ins Auge.

»Woher wissen Sie das?«

»Es liegt doch sehr nahe, wenn man Sie kennt.«

»In der Tat, wir kennen uns. Wenn Sie unsere Bekanntschaft als Kinder noch heute gelten lassen wollen.«

»Jedenfalls doch noch insoweit, um mich zu erinnern, daß Sie schon damals recht genau wußten, was Sie wollten.«

»Es scheint, daß dies für andere nicht immer ganz angenehm war?«

»Das mag wohl sein.«

Er lächelte. »Und heute?«

»Wird das kaum anders geworden sein.«

»Alles in allem – man betrachtet also meine Rückkehr hier mit ziemlich gemischten Empfindungen.«

Sie hob leicht die Schultern.

»Wenn man kommt wie Sie, ist man freilich nicht allen willkommen.«

»Wie ich?«

»Nun ja, Sie werden es doch nicht bestreiten wollen: Sie bringen uns hier den Kampf!«

Bertschs graue Augen leuchteten auf. Kurz nur. Dann suchten sie ihr Antlitz.

»Und wenn es so wäre – wie dächten Sie darüber?«

Ekes Blick glitt langsam an der massigen, kerkerähnlichen Mauer des Gemachs hin, die mit ihrer Wucht alles Regen hier drinnen ersticken zu wollen schien. Da hob sich ihre Brust in einem tiefen Atem.

»Kampf ist Leben – ich begrüße alles, was Leben heißt.«

Seine Mienen zeigten Überraschung, eine Frage stand darin.

Es entging ihr nicht, und ihr Antlitz überflog es wie Abwehr. Zu viel schon, was sie ihn eben von sich hatte sehen lassen! Mit irgendeinem gleichgültigen Wort wollte sie die Unterhaltung auf die Bahn des Unpersönlichen zurückführen, doch da drang ein Geräusch vom Hof herein. Das Rollen eines Wagens. Sie erhob sich und trat ans Fenster. Nun wandte sie sich ihm wieder zu.

»Der Onkel – Sie haben Glück.«

»Ob ich das wirklich habe, wird sich jetzt erst erweisen,« und er stand gleichfalls auf.

Von draußen scholl die dröhnende Stimme des Gutsherrn, der mit Kallmann schalt. Ein übles Anzeichen! Und Eke von Grund lächelte leise.

»Ja – der Kampf soll nun wohl beginnen.«

»Mag er. Ich bin gerüstet.«

Sie sah zu ihm, der in seiner vollen Größe, straff und aufrecht, dastand, als gälte es, sich einem Gegner mit der Waffe in der Hand zu stellen. Und zum ersten Male ward sie sich dessen bewußt, daß aus dem ungeschlachten Jungen ein echter Mann geworden war. Ein Mann voll Kraft und Selbstgefühl und doch Jugend im blitzenden Auge. Da nickte sie ihm zu.

»Glückauf zum ersten Renkontre!«

Und ging dann hinaus; in der Halle stampfte der schwere Tritt des Oheims heran.

Henner von Grund war Bertschs Anwesenheit draußen schon von Anne-Marie gemeldet worden. Mit einem Donnerwetter hatte er erwidert. Hungrig von der Jagd erst noch einen Besuch abfertigen? Zum Henker – was wollte denn der Kerl von ihm! Und mit einem ungebärdigen Griff riß er die Tür auf.

»Nun – was ist gefällig?«

Noch den Jagdhut auf dem Kopf, die Büchse über der Schulter, trat der Gutsherr über die Schwelle; ihm nach Tell, der schwere, hochläufige Brauntiger.

Bertsch wandte sich langsam dem Eintretenden zu. Ein kurzes Neigen des Hauptes, dann blieb sein Blick auf der Kopfbedeckung Henner von Grunds hängen. Schweigend, aber mit Nachdruck.

»Zum Donner –, was wünschen Sie von mir?«

Wütend entfuhr es dem Hausherrn, aber seine Rechte riß jetzt doch den Filz vom Kopf und warf ihn unwirsch auf den Tisch.

Nun erst gab Bertsch Antwort.

»Ich komme, um Ihre Genehmigung einzuholen zu einer Einfahrt in Ihre Grube – in Begleitung des Revierbeamten – nachdem mir diese Erlaubnis von Ihrem Steiger eben verweigert worden ist.«

»So – der Hannschmidt hat Sie also nicht reinlassen wollen?«

»Nein, selbst trotz des ausdrücklichen Ersuchens des Bergrats nicht.«

»Recht so!«

Und mit einem kurzen Rucke legte Henner von Grund seine Büchse auf den Tisch.

Bertschs Miene blieb unbeweglich.

»Sie billigen also dieses Verhalten Ihres Steigers?«

»Vollkommen.«

»Und wollen mir auch Ihrerseits die Genehmigung verweigern?«

»Allerdings.«

»Auch dann, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache, daß dies Verhalten wider das Recht verstößt?«

»Auch dann.«

»So –.« Eine Weile betrachtete Bertsch mit unbeirrter Ruhe das Antlitz des Gutsherrn, in dem es grimmig wetterleuchtete. Dann sagte er und ließ jedes Wort hart fallen: »Das heißt – Sie wollen also den Kampf mit mir?«

»Zum Teufel, ja! Wenn Sie es denn durchaus hören wollen.« Dröhnend brach Henner von Grund los. »Oder meinen Sie, wir werden stillhalten, wenn Sie uns das Fell über die Ohren ziehen wollen? Nein, mein Lieber, das ist nicht Landesbrauch hier im Rauhen Grund! Sie scheinen das etwas vergessen zu haben, drüben bei den Yankees. Aber wir wollen's Ihnen wieder in Erinnerung bringen. Und wenn Ihnen das nicht paßt – dann fahren Sie nur hübsch wieder rüber, wo Sie hergekommen sind!«

»Ihre Ratschläge muß ich durchaus ablehnen,« kühl erwiderte es Bertsch, indem er sich zum Verabschieden aufrichtete. »Im übrigen werden Sie die Folgen dieses Verhaltens mit Ihrer Gewerkschaft zu tragen haben.«

Damit wandte er sich zur Tür.

»Prozessieren Sie nur in Gottes Namen!« höhnte der Gutsherr ihm nach. »Wir können's abwarten.«

Da blieb Bertsch noch einmal stehen, und aus seinem stahlgrauen Auge zuckte es schneidend.

»Prozessieren, Herr von Grund? Nein – den Gefallen werde ich Ihnen nicht tun. Aber den Kampf sollen Sie haben. Und vielleicht mehr als Ihnen lieb sein wird.«

* * *

Es war still heute abend im »Hirschen«. Drüben in Siegen war Kriegerverbandsfest, da war schon am Nachmittag alles hinübergewandert, was nur irgend abkommen konnte.

Marga Reusch saß allein in dem Honoratiorenstübchen. Da kein Gast dort war, hatte sie die Gelegenheit benutzt und sich an das Piano gesetzt. Es kam nur selten einmal vor. Meist verbot sich das ja schon aus Rücksicht auf den anwesenden Besuch. Das war eben auch so eine Eigensinnigkeit von ihrem Vater: Hannes Reusch weigerte sich beharrlich, ihr ein eigenes Instrument für ihr Zimmer anzuschaffen. An einem solchen Kasten im Hause wär's grad' genug – und es störte sie ja niemand dort im Herrenstübchen.

So kam sie fast nie mehr zum Spielen. Heute indessen war es einmal so über sie gekommen, und sie saß denn wohl schon eine Stunde lang und musizierte. Leichte, moderne Sachen – all die bekannten Operetten mit ihren schmeichelnden, lockenden Tanzweisen, die in ihrer jungen Brust das geheime Sehnen weckten: Nach der Welt da draußen, nach der Großstadt, wo Abend für Abend das Leben rauschte; ein so wundervoller Strudel von Lust, Glanz, Eleganz und Freiheit, der die Nerven in prickelnder Spannung schwingen ließ. Dort mitgenießen, mitglänzen dürfen, bewundert und umworben werden als eine, die dazu gehörte.

Das war's, was ihr im Innersten klang, unausgesetzt, was sie sich mit quälender Phantasie ausmalte, wenn sie schlaflos in ihrem Stübchen zu Bett lag, in den Stunden, wo sie hier längst die lautlose Stille des arbeitsmüden Schlummers umfing, während zu dieser selben Zeit da draußen das Leben erst anging – das herrliche, wonnige Leben der Glücklichen, das allein wert war, gelebt zu werden!

So versunken war Marga Reusch auch jetzt beim Spielen in diese sehnsuchtsglühenden Träume, daß sie es ganz überhörte, wie sich in ihrem Rücken die Tür öffnete. Karl Steinsiefen war es, und hinter ihm ward für einen Augenblick auch Hannes Reuschs Kopf sichtbar. Aber nun nickte er dem jüngeren Manne nur noch einmal stumm zu, wie in einem Ermutigen, und verschwand dann.

Allein trat Steinsiefen über die Schwelle und klinkte hinter sich zu. Mit Rücksicht auf die Musizierende so behutsam, daß sie auch jetzt noch nichts vernahm, sondern ruhig weiterspielte. Ohne sich zu rühren, blieb er bei der Tür stehen. Nur in seinen Augen war Bewegung. Die umfingen in heimlichem Aufflammen das schöne Mädchen, das da ahnungslos am Piano saß. Streiften von dem zarten Pfirsichhauch der Wangen mit ihrem brünetten Ton über den feinen Nacken hin, der sich blendend weiß von dem dunkeln Haargelock abhob, und blieben an der schmiegsamen Linie der Büste haften, die leise auf und nieder wogte in selbstvergessenen Träumen.

Aber plötzlich brach das Spiel jäh ab, und Marga Reusch fuhr herum, wie wenn sie den heißen Blick durch den duftzarten Batist hindurch wahrgenommen hätte. So sah sie Karl Steinsiefen hinter sich stehen. Ganz verwirrt jetzt, wie ein ertappter Schulbube.

»Was machen Sie hier?«

Unwillig herrschte sie ihn an.

»Ich – ich hörte nur zu. Ich wollte nicht stören.«

Es klang demütig. Da schwand der Zorn aus ihren Augen; aber etwas Geringschätziges trat an seine Stelle, wie sie nun erwiderte:

»Ich habe Sie gar nicht eintreten hören. Daher war ich im Moment verwundert.«

Und sie wandte sich wieder ihrem Klavier zu, als wäre er gar nicht da. Aber ihr Spiel war jetzt zerstreut und unlustig. Seine Anwesenheit hatte den Zauberbann dieser lockenden Weisen gebrochen. Und nun stockten die Töne ganz. Sie blätterte unentschlossen in ihren Noten. Da wagte es Steinsiefen, näherzukommen.

»Was war das doch gleich, was Sie eben spielten?«

»Die neue Revue aus dem Metropoltheater.«

»Ach richtig, ja! Eine famose Musik. Und erst das Stück selbst, die Ausstattung – wirklich erstklassig.«

»Haben Sie es denn gesehen?«

»Natürlich doch! Als ich im April in Berlin war.«

Sie schenkte ihm einen Seitenblick. Halb Ironie, halb Neid.

Dem da war es vergönnt, dort hinzukommen, zu trinken von den Quellen, nach denen sie dürstete! Dem, der nichts damit anzufangen wußte – dieser Halbmann ohne jeden Funken von Temperament. Und ihr Auge glitt wieder von ihm ab; aber ihre Brust hob sich in einem aufbegehrenden Verlangen.

Karl Steinsiefen gewahrte es, und plötzlich überkam es ihn: Ja, hier mußte er einhaken! – So fragte er denn:

»Sie möchten gern einmal nach Berlin, Fräulein Marga?«

Sie nickte nur kurz.

»Nun, da sollten Sie doch einmal hinfahren.«

»Damit würde mein Vater wohl sehr einverstanden sein!«

»Haben Sie denn keine Freundin dort, aus Ihrer Pensionszeit, die Sie mal einladen könnte?«

Wieder nur ein stummes Verneinen.

»Ja – dann freilich!« Und nach einer Pause wagte er den Scherz, in den er noch einen ernsteren Klang hineinlegte: »So müssen Sie eben schon warten, bis Sie verheiratet sind. Eine Hochzeitsreise nach Berlin – das wär' doch gar nicht übel!«

Aber sie zuckte nur die Schultern – was sollte sie auf einen so geschmacklosen Scherz auch erwidern? – und ihre Hände griffen mechanisch wieder einige Akkorde.

Steinsiefen jedoch ließ nicht ab. Langsam kam er noch näher zu ihr heran.

»Ich fände die Idee famos – erstklassig. Wenn ich mal heirate, mache ich's sicher so.«

Marga würdigte ihn auch diesmal keiner Antwort. Er aber stand jetzt ganz dicht hinter ihr.

»Ich würde überhaupt meine Frau öfter mal mit auf die Reise nehmen, daß sie rauskäme hier aus dem Nest. Es ist ja wahr: Es ist doch ein richtiges Kaff hier – nicht wahr, Fräulein Marga?«

Es kam noch immer keine andere Erwiderung als nur die leisen, hallenden Akkorde, die ihre weißen Finger dem Instrument entlockten, wie in Gedanken verloren. Da ward er noch kühner und beugte sich zu ihr nieder. Seine Stimme dämpfte sich dabei zu einem vertraulichen Ton.

»Daß Sie das so aushalten können, Fräulein Marga! Sie passen doch gar nicht hierher, in solchen Wirtshausbetrieb! Wirklich – Sie sollten heiraten! Wüßten Sie denn keinen hier – keinen einzigen – mit dem Sie sich das ganz gut vorstellen könnten?«

Sie hörte das Zittern der Erwartung in seiner Stimme, und jetzt traf sie beim Sprechen der heiße Hauch seines Atems am Nacken. Da stand sie auf, so plötzlich, daß er kaum zurückweichen konnte.

»Sie werden doch wohl nicht im Ernst eine Antwort auf diese eigenartige Frage erwarten?«

Groß und mit einem kalten Blick sah sie ihn an; dann verließ sie das Zimmer.

Bestürzt blieb Steinsiefen stehen. Dann begann er nachzudenken. War es denn wirklich so schlimm, was er eben vorgebracht hatte? Er meinte, es doch gerade recht geschickt angefangen zu haben – nicht gleich so mit der Tür ins Haus. Aber freilich, für ihr Empfinden. Und nun begann er sich zu schämen. Still machte auch er sich davon.

Draußen im Flur traf er Hannes Reusch, der offenbar hier auf ihn gewartet hatte und nun vertraulich lächelnd auf ihn zutrat mit einem erwartungsvollen: »Na?«

Doch Steinsiefen antwortete nur durch ein betrübtes Kopfschütteln und ging.

Ein heftiger Ärger stieg da in dem Wirt auf. Mit schnellem Schritt wandte er sich dem Familienzimmer zu und trat dort geräuschvoll bei der Tochter ein.

»Also den Steinsiefen hast du mir auch wieder fortgeschickt! Willst du dir's denn mit Gewalt verderben? Glaubst du, daß jetzt überhaupt noch einer Lust verspüren wird, sich an dich zu machen?«

Marga Reusch zuckte zusammen. Wie plump, dies Wort! Es fiel ihr ebenso auf die Nerven, wie wenn sie den Vater mit dem Messer essen sah. So gab sie gereizt zurück:

»Will ich das denn? In Ruhe sollen sie mich endlich lassen hier – alle miteinander!«

»Damit du als alte Jungfer sitzen bleibst – nicht wahr?«

»Zehnmal lieber das, als einen dieser Bauerntölpel heiraten.«

»Bauerntölpel!« Ein Blick schoß zu ihr hin, als fühlte auch er sich mitgetroffen. »Dummes, hochnasiges Frauenzimmer, du! Aber natürlich, das hat man davon, daß man dich nach Wiesbaden aufs Pensionat geschickt hat!«

»Ja, Vater –« und sie sah ihn sehr ernst an –, »es wäre freilich besser gewesen, du hättest es nicht getan. Nun bin ich für diese Welt hier verdorben – und jene andere bleibt mir verschlossen.«

Es war etwas in ihrem Ton, das fiel dem Hannes Reusch seltsam aufs Herz. Fast wie eine Anklage. Und hatte ihm nicht auch die alte, blinde Frau da draußen schon manchmal ganz dasselbe gesagt? Da verstummte er für ein Weilchen. Doch dann kam ihm wieder der Trotz.

»Man hat doch nur dein Bestes gewollt. Und wer hat denn das voraussehen können? – Aber es ist ja auch alles Unsinn. Nur an dir liegt's, an deinem verdammten Starrsinn und Dünkel!«

Wütend stieß er mit dem Fuß nach einem Stuhl, der ihm im Wege stand, daß er polternd umschlug, und lief dann mit stampfenden Tritten im Zimmer auf und ab.

Gelassen sah Marga Reusch seinem Treiben zu. Ja, ein geheimer Widerwille spiegelte sich in ihrem Blick, wie sie dem aufgeregten Manne so mit großen Augen folgte. Als ob es gar nicht ihr Vater wäre, sondern irgendein Fremder – einer von denen da draußen, auf die sie mit Verachtung herabblickte, von denen sie eine Kluft trennte: Der unüberbrückbare Unterschied einer überlegenen Kultur. Und war's nicht auch so hier in diesem Fall? War ihr der Mann dort nicht fremd geworden, wie dieses Haus, diese ganze Umgebung hier seit den Jahren in Wiesbaden?

Wieder einmal empfand sie es mit einer Klarheit, die sie aber weder erschreckte, noch etwa mit Trauer erfüllte. Das war ja alles nur zu natürlich. Die Alten und die Jungen – Rückstand und Fortschritt – zwei Welten, die sich nicht verstehen konnten, zwei unvereinbare Gegensätze – ganz notwendig einfach. Unnatürlich war es nur, daß sie gezwungen war, in dieser Welt zu leben, die keinen Raum für sie hatte. Mußte da nicht schließlich etwas wie Haß aufsteigen gegen die Gewalt, die sie dazu zwang?

Ihre Brauen zogen sich zusammen, wie sie zu Hannes Reusch hinsah. Der aber mäßigte jetzt seine Schritte, und in seine Züge trat ein veränderter Ausdruck; ein Grübeln und Schwanken. Es entging ihr nicht. Da ging sie leise auf ihn zu.

»Vater!« Ein kosendes Anschmiegen war in ihrer Stimme. »Willst du denn nie mit dir reden lassen? Du meinst es doch gut mit uns, Vater – nicht?«

Ihre Arme legten sich ihm um den Nacken, und die dunkeln, schönen Augen bettelten stumm. So hatte sie es als Kind immer getan, und nie hatte er ihr etwas abgeschlagen. Auch jetzt wurde dem Hannes Reusch dabei weich.

»Dumme Frage!« polterte er, aber nur mühsam behielt er den rauhen Ton bei. »Natürlich mein' ich's gut mit euch. Aber was hat das damit zu schaffen?«

Da preßte sie sich noch dichter an ihn.

»Wenn du es wirklich gut mit uns meinst, mit dem Hermann und mir, wenn du uns glücklich machen willst – so zieh' doch mit uns in die Stadt, nach Köln! Du kannst dir doch auch wahrhaftig Ruhe gönnen auf deine alten Tage, Vater, hast ja genug vor dich gebracht, und wenn du dann noch hier den ›Hirschen‹ gut verkaufst –«

»Verkaufen?«

So heftig stieß Hannes Reusch die Tochter von sich, daß sie fast taumelte. Aber er achtete es nicht. Zornrot glühte ihm die Stirn. »Hier das Haus verkaufen, wo ich zeit meines Lebens gesessen? Nein, nie! Eher –!«

Drohend schüttelte er die Faust zu dem Mädchen hin, das dastand, ohne sich zu rühren, die Lippen fest aufeinandergepreßt. Der Anblick reizte ihn aber nur noch mehr.

»Ja, setz' nur dein hochnäsiges Gesicht auf! Es hilft dir alles nichts. Hier, in dieser Stunde sag' ich dir's: Nicht daran zu denken ist's! Solange der Hannes Reusch lebt, bleibt's hier, wie's ist! Bin ich nicht mehr, habt ihr mich mal rausgetragen auf dem Schragen – dann macht meinethalben, was ihr wollt. Schlachtet die Henne, die euch die goldenen Eier gelegt und deren ihr euch nun schämt. Aber na – einstweilen ist's ja noch nicht so weit. Und ich denke euch den Gefallen auch noch lange nicht zu tun. – So, da hast du meine Antwort!«

Damit riß Reusch die Tür auf und warf sie krachend hinter sich zu.

Marga blieb unbeweglich stehen. Nur um ihre Mundwinkel ging es für einen Augenblick wie ein Aufzucken. Aber gleich wurden die Linien wieder hart. Bloß keine Sentimentalität! Gefiel sich der Vater im Volksstückton, sie tat nicht mit. Und sie ging mit entschlossenen Bewegungen zu ihrem Sessel am Fenster. Dort ließ sie sich nieder: die Arme fest verschränkt, die Knie übereinandergeschlagen.

So blickte sie eine Weile starr vor sich hin, ganz Widerstand. Aber allmählich ward ihre Miene nachdenklich. Der Anlaß zu diesem ganzen Auftritt kam ihr wieder in Erinnerung – Steinsiefens versteckte Werbung. Und unwillkürlich stellte sich ihr der Gedanke ein: War es eigentlich klug gewesen, ihn so schroff zu verabschieden?

Wenn ihr dies Leben nun doch einmal unerträglich wurde und sich keine andere Möglichkeit bot – das war doch immerhin ein Ausweg! Der einzige, allenfalls noch gangbare, der sie aus dieser Misere, dieser grauenhaften Abhängigkeit herausrettete. Nahm sie Steinsiefens Werbung an, so war sie frei von der väterlichen Gewalt, ihr eigener Herr – dann galt ihr Wille! Denn Steinsiefen war Wachs in ihrer Hand; ein ergebener Sklave, den es obenein noch glücklich machte, ihr dienen zu dürfen.

Freilich, das war auch alles. Einen Mann durfte sie nicht erwarten in ihm zu finden. Aber wog das schließlich so schwer? Lohnte es sich, deswegen vielleicht seine letzten Chancen aus der Hand zu geben? Sie war vierundzwanzig jetzt – worauf wartete sie da eigentlich noch? Auf das große Wunder etwa? Hier in diesem Bauernnest!

Ein kalter Zug grub sich für einen Moment um die feinen Lippen. Und dann kamen ihr wieder jene Gedanken: Steinsiefen war doch immerhin – äußerlich gesehen – eine annehmbare Erscheinung. Was noch fehlte, würde er sich schon aneignen unter ihrer Hand. Seine Verhältnisse waren gut. Er verdiente ein hübsches Stück Geld und hielt es nicht ängstlich zusammen, hatte Sinn nicht bloß fürs Erwerben, sondern auch fürs Genießen, für Reisen, für das großstädtische Treiben. Er würde sich ein Vergnügen daraus machen, sie mitzunehmen und zu zeigen dort draußen in der großen Welt, voller Stolz und Eitelkeit. Also – weshalb sträubte sie sich eigentlich so gegen diesen Ausweg? War es am Ende wirklich nicht sehr unklug von ihr?

Ja – vielleicht, wahrscheinlich sogar, und dennoch! Da war noch etwas anderes in ihr, das lehnte sich auf gegen all diese kühl berechnende Vernunft. Und Marga wußte selbst nicht: Kam das aus der Region ihres Stolzes, ihres Ehrgeizes, der sich von frühester Jugend an ein höheres Ziel gesetzt, oder aus einem dunkeln Winkel ihrer Weibesnatur, wo ein verborgenes Sehnen heimlich die Hände ausstreckte?

Das schöne Antlitz tief gesenkt, sann Marga vor sich hin; aber sie kam zu keiner Klarheit.

Im Haus und auf dem Hof trieb indessen ihr Vater sein Wesen. Er ließ noch anspannen, trotz der späten Stunde, um auch nach Siegen zu fahren, zu dem Kriegerfest, wo der Sohn bereits seit dem Nachmittag weilte. Hannes Reusch wollte seinen Ärger dort vergessen bei einer guten Flasche und im Kreise seiner Freunde. Daß er die ganze Weiberwirtschaft hier mal gründlich quitt wurde!

Als der Wagen fort war, wurde es endlich still im Hause. Marga Reusch erhob sich und trat ans offene Fenster. Gedankenvoll sah sie in das abendliche Dunkel hinaus. Undurchdringlich war es, wie der Schleier vor ihrer Zukunft. Wer doch klar sähe über kommende Dinge und über sich selber!

Ein leises Tasten an ihrer Zimmertür ließ sie dann aufhorchen. Sie kannte den Laut. So ging die alte, blinde Frau durchs Haus. Wollte sie etwa zu ihr?

Es war so. Nun trat die Blinde ein. Ungewiß hob sie den Kopf.

»Magri – du bist doch hier?«

»Gewiß, Großmutter.«

Da kam die alte Frau langsam näher.

»Ich hörte den Vater vorhin – er hat einen Zorn auf dich.«

»Ja, weil ich den Steinsiefen fortgeschickt, ehe er noch seinen Antrag anbringen konnte.«

Die Reusch-Mutter fühlte sich zu einem Stuhle hin.

»Komm einmal her, Kind.«

Ihre Hand streckte sich nach der Richtung, von wo die Stimme der Enkelin gekommen war. Langsam näherte sich diese und überließ ihre Rechte den suchenden Fingern.

»Du liebst den Karl Steinsiefen nicht?«

»Wie sollt' ich? Er ist doch kein Mann.«

Still nickte die Blinde vor sich hin. Doch dann sagte sie:

»Aber es sind schon ihrer viele hier gewesen, und nie war einer der Rechte.«

»Kann ich dafür? Du weißt ja doch, Großmutter, was an allem schuld ist.«

»Gewiß, ich weiß. Aber trotz allem – Magri, ich fürchte: der Rechte wird nie kommen. Du wirst nie einen Mann lieb haben – so wirklich von Herzen.«

»Lieb? Ja – so wie du meinst, allerdings wohl kaum. Das war früher einmal. Zu deiner Zeit, Großmutter. Wir empfinden eben anders heute, wir sind sehend geworden und wissend. Über den Mann wie über die Ehe. Das ist ein Kampf, wer der Sieger bleiben wird. Entweder der Mann ist wie der Steinsiefen oder der Doktor Herling, dann siegen wir und können unser Leben nach unseren Wünschen gestalten. Aber es fehlt der Reiz. Es ist langweilig, bloß immer einen Sklaven um sich zu haben.«

»Magri, Magri!«

»Oder aber der Mann ist anders. Etwa wie –«. Sie sprach den Namen nicht aus, der ihr mit einem Male, sie wußte selbst nicht warum, auf die Lippen kommen wollte. Aber Gerhard Bertsch stand ihr plötzlich vor Augen; auch als sie nun weiter sprach: »Ja – dann ist eben er der Sieger und beherrscht uns. Das kann ja wohl eine Zeitlang mal ganz nett sein; aber doch eben nur, solange man verliebt ist. Nachher wird's doch recht unbequem.«

»Wie redest du schrecklich, Magri! Wer so denkt, der wird ja niemals glücklich werden.«

»Gibt's denn das überhaupt, Großmutter?« Mit einem leeren Blick sah Marga Reusch vor sich hin. »Glück – ist das am Ende nicht auch bloß Illusion, wie alles andere, woran wir als Kinder einmal geglaubt haben?«

Die alte Frau schüttelte nur mit schmerzlichem Ausdruck ihr graues Haupt. Wie arm war doch diese Jugend einer neuen Zeit! Aber die Enkelin, deren Hand ihre welken Finger noch immer hielten, machte sich jetzt mit einer entschlossenen Bewegung los.

»Man muß lernen, auch damit fertig zu werden. Und je eher, je besser. Sein Leben genießen, mit gutem Geschmack und Klugheit – das ist das Erreichbare!«

»Genießen, das also wäre das Höchste, Magri, ist das denn dein Ernst?«

»Vollkommen, Großmutter, Was hätt' ich auch davon, wollt' ich anders denken? Etwa wie du oder die Mutter.

Siehst du, die kannte nichts, als sich opfern für Mann und Kinder. Und die Folge? Sie liegt auf dem Kirchhof. Nun, und du, Großmutter? Du hast es mir ja selber oft genug erzählt, wie schwer du es gehabt hast mit dem Großvater, der ein solcher Starrkopf war, und dann mit deinen Kindern, wie sie groß wurden. Sorgen – nichts als Sorgen, Arbeit und Plage. War denn das etwa nun ein Glück?«

»Gewiß war es das.« Ein verklärender Schimmer flog über die welken Züge der Greisin. »Das Beste war es an meinem ganzen Leben.«

»Ja, dann freilich –,« mit einem Achselzucken wandte sich Marga Reusch ab und trat langsam wieder zum offenen Fenster. »Aber ich sagte es dir ja schon vorhin: Die Welt ist anders geworden. Ihr und wir – wir verstehen einander nicht mehr.«

»Das mag wohl sein.«

Still sagte es die Blinde und dachte schweigend weiter. Wozu war sie eigentlich hier im Hause? Wo sie doch niemandem mehr nutzen konnte. Weder mit ihrer Hände Arbeit, noch mit ihrer altgewordenen Weisheit.

In dieser Stunde kam zum ersten Male über die Reusch-Mutter das Gefühl, daß sie überflüssig und ihr Leben nur eine Bürde war. Da erhob sie sich und tastete sich leise aus dem Zimmer.

Marga Reusch aber sah weiter hinaus in das undurchdringliche Dunkel.

Sich nicht aufhalten mit Gefühlsseligkeiten – klar sein und klug! Wohl war ihr über ihr Ziel kein Zweifel, aber den richtigen Weg zu finden – das war das Schwere.

Und von neuem versank sie in ihre Gedanken.

* * *


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