Paul Grabein
Die vom Rauhen Grund
Paul Grabein

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In diesen Tagen, wo die Spannung einer Entscheidung lastend in der Luft lag, sah man Pfarrer Burgmann oft im Adligen Hause. Der streitbare Gottesmann war nicht ganz frei von einem gewissen Schuldgefühl. Hatte er doch den Kampf heraufbeschworen, der den Seinen nun diese Wunden schlug. Und endlich rang er sich einen Entschluß ab. Trotz Henner von Grunds störrischem Einspruch erschien er eines Tages droben auf Zeche »Christiansglück«. Der Gang war dem knorrigen Alten wahrlich nicht leicht, und tief hingen ihm die Brauen über die finster blickenden Augen, als er ins feindliche Lager kam. Widerwillig zwang er sich nun das erste Wort ab.

»Sie werden sich wundern, mich hier zu sehen.«

»Im Gegenteil – ich habe Sie erwartet. Sie oder irgend sonst jemanden von Ihrer Seite.«

Mit überlegener Ruhe gab Bertsch es zurück. Da schoß es heiß unter den weißen Brauenbüschen hervor.

»Sind Sie Ihres Sieges schon so sicher?«

»Meine Zeit ist zu wertvoll für Wortklaubereien – also, was wünschen Sie?«

Burgmann ballte ingrimmig die Fäuste; aber es mußte sein. So sprach er denn nun:

»Ich komme, um Ihnen ins Gewissen zu reden. Wollen Sie wirklich die Folgen dieses Kampfes verantworten, der so viel Not über unser Tal bringt?«

»Die Frage, Herr Pfarrer, sollten sich lieber die vorlegen, die diesen Kampf vom Zaune gebrochen haben.«

Das frischfarbige Gesicht färbte sich noch tiefer.

»Sie sind in unsern Frieden eingebrochen und bedrohen dies Land mit verderblicher Neuerung – war's da nicht unsere Pflicht, Ihnen entgegenzutreten?«

»Kam ich wirklich als Verderber? Nicht vielleicht als ein Helfer?« Hell leuchtete es aus Bertschs grauen Augen. Doch dann machte er eine Bewegung mit der Hand. »Was soll das alles? Nun die Sache einmal so weit ist, ist ja doch nichts mehr daran zu ändern.«

»Sie wollen also wirklich ruhig mit ansehen, daß so viel Familienväter brotlos sind durch Sie und Not leiden mit ihren unschuldigen Frauen und Kindern?«

»Das brauchen sie ja nicht. Mögen sie doch zu uns kommen! Ich habe Arbeit genug für sie.«

Ein heftiges Kopfschütteln.

»Sie kennen doch unsere Leute. Ehe sie sich dazu entschließen –«

»Ja, weil sie verhetzt sind, durch Sie, Herr Pfarrer! Sie haben mich ja bei den Leuten hier förmlich in Acht und Bann getan, mich als ihren Todfeind hingestellt. Nun natürlich –« er zuckte die Achseln. »Aber ist das meine Schuld?«

Durchdringend sah Bertsch den Pfarrer an, dessen Haltung unsicher wurde, und dann sagte er mit Nachdruck:

»Übrigens – der Erbstollen hat es doch ganz in der Hand, den Leuten zu helfen.«

Ein erstaunt fragender Blick.

»Nun ja – er braucht sich nur mit mir zu vergleichen, und alles hört von selber auf.«

Burgmann antwortete nicht gleich. Starr blickte er vor sich hin. Nun aber zwang er sich doch die Frage ab:

»Und Ihre Bedingungen?«

»Der Erbstollen verzichtet auf seine vermeintlichen Rechtsansprüche auf unsern Erzgang und ersetzt uns allen bisher durch sein Verhalten entstandenen Schaden.«

Der alte Pfarrer zog finster die Stirn zusammen. Dann aber erklärte er:

»Ich bin nicht befugt, Ihnen hierauf eine Erklärung abzugeben, doch werde ich Ihre Forderung Herrn von Grund unterbreiten.«

»Tun Sie das, aber fügen Sie auch hinzu – er möchte sich beeilen mit seinem Entschluß. Ich könnte sonst noch ganz andere Bedingungen stellen. Sie müssen den Frieden haben – ich kann's aushalten.«

In Burgmann zuckte es auf, doch er bezwang sich und richtete sich empor zu einer würdigen Haltung.

»Überspannen Sie den Bogen nicht, Herr Bertsch. Ich warne Sie!«

Gerhard Bertsch hob nur gelassen die Hand. Aber wie nun der Pfarrer gegangen war, trat doch ein schwerer Ernst auf seine Züge.

Den Bogen nicht überspannen – hatte der Alte nicht vielleicht doch recht? Er mußte wieder an den Brief aus Köln denken. Der Gönner, dessen er sich dort im Aufsichtsrat der Landesbank erfreute, hatte ihm geschrieben: Die Streitigkeiten mit dem Erbstollen, der begonnene Prozeß hätten bei der Bankleitung wenig angenehm berührt. Das Interesse an dem geplanten Geschäft flaue unter diesen Umständen sehr erheblich ab. Käme es nicht bald zu einer gütlichen Einigung der Parteien, dann sei kaum noch etwas für ihn zu hoffen bei der Bank.

So stand es. Vor sich selber gesprochen: Er spielte also va banque. Denn zerschlug sich das Projekt, so war hier für ihn nichts mehr zu holen. Nur so weiter wirtschaften als ein veralteter Kleinbetrieb – nein, dazu hatte er sich nicht volle zehn Jahre da draußen abgequält. Ging's also nicht im großen, dann lieber gar nicht.

Doch das hieß für ihn, den Wanderstab wieder weiter setzen, noch einmal von vorn anfangen. Ja, ganz von vorn, in jeder Beziehung. Denn was er sich erspart in jenen harten zehn Jahren des Verzichts auf jede Lebensfreude, das hatte er jetzt hier hineingesteckt in das Unternehmen. Nur so hatte er von seinen Gewerken die Einwilligung zu diesen Kampfmaßnahmen gegen den Erbstollen erlangen können, die natürlich ja auch den eigenen Betrieb in Mitleidenschaft zogen. Er deckte den Ausfall mit seinen eigenen Mitteln.

Also ein Spiel – nein, aber ein verwegenes Ringen um den Sieg war es, mit teurem Einsatz: Zehn Jahre seines Lebens, die verloren sein konnten!

Schwer atmete Gerhard Bertsch, allein mit sich. Aber dann riß er sich plötzlich selber wieder empor. Ganz gleich – ein Zurück gab es nicht mehr. Also vorwärts denn!

* * *

Der Versuch des Pfarrers war gescheitert an der Halsstarrigkeit Henner von Grunds. Er hatte sich verschworen: Keinen Zoll breit würde er zurückweichen vor dem Amerikaner. So wahr er der Herr von Grund wäre!

Es blieb daher, wie es war. Nur eins nicht. Das war die Not der arbeitslos gewordenen Männer, unter denen manche waren, die nichts gehabt hatten, um ihre Familien zu ernähren, als ihrer Hände Arbeit in der Grube. Denen ward das Elend im Haus größer und größer. Und eines Tages trieb sie der Jammer von Weib und Kind hin zum Adligen Hause. Der Repräsentant ihrer Grube mußte doch Rat schaffen können! So trugen sie ihm denn ihre Sache vor, im Hofe unter der Linde, wo sie der Gutsherr hatte zu sich führen lassen.

Schweigend hatte sie Henner von Grund angehört, den Kopf gesenkt, daß ihnen der Anblick seiner Züge verborgen war. Dort arbeitete es erregt. Die Not der Leute ging ihm nahe. Aber sollte er darum klein beigeben, dem verhaßten Gegner diesen Triumph gönnen? Nein – er hatte sein adlig Wort verpfändet! Mochte es nun biegen oder brechen. Da hob er das Antlitz in festem Entschluß vor den Männern wieder auf.

»Ja, Leute – eure Not geht mir nahe. Aber ich kann da nichts tun, als Vertreter der Gewerkschaft. Wir müssen weiter kämpfen um unser Recht. Doch was ich persönlich vermag, das soll geschehen. Ich werde Anweisung geben, daß einem jeden von euch für diese Zeit Fleisch, Mehl und Kartoffeln zugeteilt werden – was ich irgend entbehren kann. Kommt also nachher herüber ins Leutezimmer und empfangt euer Deputat.«

Ein Schweigen trat darauf ein unter den Männern, die bekümmert und unschlüssig dastanden. Bis einer endlich das Wort nahm. Der lange Frieder, ein nicht gerade gut berufener Geselle. Das Messer stak ihm lose in der Scheide. Er hatte schon ein paarmal hinter festen Mauern gesessen wegen solch einer wilden Tat. Der sah jetzt mit finsterm Blick zu dem Hausherrn hin.

»Ist ja ganz gut gemeint, aber doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein! Und wir wollen Arbeit, Herr – kein Almosen.«

Ja! Da stimmten sie alle zu mit Gemurmel und Kopfnicken. Das hatte ihnen der Frieder aus dem Herzen geredet.

Doch Henner von Grund zuckte die Achseln.

»Ich sagt's euch ja schon: Das steht nicht bei mir.«

»Also soll's weiter so gehn, mit dem Hungern und Darben daheim?«

Ein dumpfes Grollen klang aus der breiten Brust des Langen.

Wieder nur eine stumme Gebärde bei Henner von Grund. Doch dann noch ein Wort, bitter gehässig:

»Ja – bedankt euch bei dem Amerikaner. Der hat's euch eingebrockt!«

Das fiel wie ein Funke in dürres Stroh. Wild glomm es auf im Auge des Frieders, und auch manch einer der anderen ballte die Faust.

Henner von Grund war froh, die Sache von sich abgelenkt zu haben. Er machte eine Gebärde der Verabschiedung.

»Also, wie gesagt, Leute – meldet euch drüben.«

Da gingen sie doch alle hinüber, bis auf zwei; den Frieder und einen Kumpan seiner Art, mit dem er sich zumeist hielt. Zu dem sprach der Lange rauh und trotzig:

»Komm! Für dem sein Gnadenbrot danken wir.« Und er schritt mit dem Begleiter längs der Rotdornhecke des Gemüsegartens zum Hoftor hin. »Am Verhungern sind wir ja noch nit. Und wenn's so weit kömmt – nun, es gibt ja noch Reh' im Wald, und ich weiß, wie man eine Schlinge stellt. Aber mit dem Amerikaner –« und in seinen Augen glitzerte eine heimtückische Wildheit auf –, »mit dem red' ich noch ein Wort! Wenn keiner dabei ist. Ich weiß seinen Weg. Bin ihm schon manchmal begegnet, wenn er abends vom Schacht heimgeht, über den Berg, droben an der alten Pinge. Ich denk', ich treff' ihn wieder einmal – und das bald!«

Halblaut nur hatte er gesprochen, aber er war doch vernommen worden, von Eke, die sich im Gemüsegarten zu schaffen machte. Da schrak sie zusammen. Sie ahnte zwar nicht, wer die Drohung ausgestoßen – die dichte Hecke verbarg ihr die beiden –, wohl aber, wem sie galt.

Eine Unruhe kam über sie, und als ihre Arbeit im Garten getan, suchte sie den Oheim im Hause auf. Sie erzählte ihm, was sie vorhin gehört, und schloß:

»Man müßte Bertsch doch warnen vor dem gefährlichen Menschen!«

Aber Henner von Grund erwiderte trotzig:

»Was geht das uns an? Soll ich etwa für ihn die Vorsehung spielen? Mag er doch selber seine Augen aufsperren! Zudem – solch Volk spricht leicht mal was hin. Ist nicht immer gleich ernst gemeint!«

Damit war die Sache für ihn abgetan, aber auch Eke nahm sie nun nicht mehr so schwer. Der Oheim mochte wohl recht haben: Nicht jede Drohung dieser Leute wurde gleich zur Tat. –

Wieder gingen für Eke von Grund ein paar Tage hin in ihrem gewohnten Lauf. Arbeit in Haus und Garten, und zwischendurch einmal ein Weg hinauf in die Berge.

Auch heute unternahm sie ihrer Gewohnheit gemäß ihren Vormittagsspaziergang im lichten Sommerkleid, trotzdem im Hof Kallmann, der Pferdeknecht, bedenklich zum Himmel aufsah und sich den Schweiß mit dem Arm von der Stirn wischte.

»Wenn die Luft so drückt, das gibt e nassen Pelz.«

Aber sie ging doch. Zu stickig war es ja in diesen schwülen Sommertagen hier unten im Tal zwischen den dumpfen Mauern. Auch heute schritt sie wieder im Schatten des Buschwerks den Mühlsiefen hinauf. Indessen, sie rastete dort nicht. Es verlangte sie nach der freien Höhe droben. So trat sie denn aus dem Schutz des Blätterdaches hinaus in den Sonnenglast der Wiese. In heißdunstigem Geflimmer stand hier die Luft. Die Umrisse aller Dinge verschwommen in einem steten leisen Zittern. Schnell lenkte sie die Schritte hinüber zu den Fichten, von wo ihr warm die sonnengekochte Waldwürze entgegen schlug. Schwarzgrüne Dämmerung umfing sie. Nur hier und da ein verirrtes Goldflimmern auf den roten Stämmen. Lautlos schritt der Fuß über den weichen Nadelteppich. Eine feierliche Tempelstille. Bloß in den Baumkronen droben ein dunkles Summen, wie das Atmen des Waldes.

Durch die Lichten stieg Eke höher hinauf am Berghang. Sie wußte dort oben eine Halde, wo stets ein erfrischender Luftzug ging. Dort wollte sie hin. Im Näherkommen klang leise erst, dann deutlicher, Geläut an ihr Ohr. Also die Herde war dort oben. Es war ihr das nicht lieb, des Hirten wegen. Sie ging dem absonderlichen Alten, der den Namen ihres Geschlechtes trug, sonst immer aus dem Wege. Aber heute trieb sie der Wunsch nach Kühlung doch denselben Weg; denn immer schwüler, fast unerträglich wurde allmählich die Luft hier im dichten Walde. Wenn doch nur endlich der Regen kommen wollte!

Und der Wunsch sollte in Erfüllung gehen. Als sie aus den Bäumen trat, auf die Waldblöße, zeigte ihr gleich der erste Blick zum Himmel die Erlösung bringende Wolke. Schon war auch eine plötzliche Abkühlung eingetreten – gleich würde es angehen. So blieb nichts weiter übrig, als dort unter der weitästigen Maleiche Schutz zu suchen. Freilich stand da schon der Hirt, aber hier galt's nicht lange zu überlegen, und eilends ging sie hinüber. Gerade noch zur Zeit. Denn im nächsten Augenblick prasselte es schon hernieder.

Eke von Grund hatte nur mit flüchtigem Nicken zu dem Hirten hingeschaut. Nun stand sie ihm halb abgewandt und blickte hinaus in den wilden Schwall der sich überstürzenden Regenmassen. Dichter noch preßte sie sich an den Stamm der Eiche, denn die zu Boden schlagenden schweren Tropfen spritzten ihr an dem leichten Leinenkleid empor. Schon färbte es sich hier und da dunkler vor Feuchtigkeit.

Der Hirt hatte zu ihr hingesehen, in seiner unbeweglichen Ruhe; nun aber nahm er den dunkeln Lodenmantel von den Schultern und hielt ihn ihr hin.

»Da – nehmen Sie.«

Eke fuhr unwillkürlich ein wenig zurück. Doch in dem ernsten, verwitterten Antlitz des Alten bewegte es sich jetzt:

»Sie können ihn ruhig nehmen. Er ist sauber.«

Schnell griff sie nun zu.

»Ich danke Ihnen.«

Aber der Mantel war schwer, sie kam nicht gleich damit zustande, so daß der Alte zu ihr trat und half, mit einer selbstverständlichen Sicherheit.

Sie dankte schweigend und verfiel dann in ein Sinnen, während sie wieder in den Regenfall blickte. Wie doch altvererbte Kultur sich nicht verleugnete. Selbst nicht in so einem verkümmerten Sproß eines alten Geschlechts. Und unwillkürlich begann sie Tillmann von Grund von der Seite her zu betrachten. Sie hatte ihn ja eigentlich nie aus nächster Nähe und in Ruhe gesehen. Schon als Kind war ihr von dem Oheim aufs strengste bedeutet worden, diesem alten Narren aus dem Wege zu gehen, der nun einmal den Namen der Grunds führte, aber sonst auch nichts weiter mit ihnen gemein hatte. Er entstammte einer Seitenlinie, die sich durch eine Mißheirat schon seit Generationen aller Rechte und aller Familienzugehörigkeit begeben hatte. Diese Grunds waren so immer mehr herabgekommen, und ihr letzter Vertreter, eben der Tillmann, war ein schwachsinniger Mensch.

Das war's, was Eke von dem absonderlichen Alten wußte, dem sie immer in einem Gemisch von Hochmut und Scheu aus dem Wege gegangen war. Nun aber lockte es sie doch einmal, in das Dunkel dieser seltsamen Persönlichkeit einzudringen.

Wie sie ihn so unauffällig betrachtete, mußte sie feststellen: Es war in diesem scharfgeschnittenen, graustoppligen Gesicht, trotzdem es auf den ersten Blick etwas Bäuerliches hatte, doch ein Besonderes. Ja, vielleicht sogar noch ein Familienzug der Grunds. Namentlich, wie er jetzt mit tief herabgezogenen Brauen unbeweglich hinaus in den Regensturz starrte, als wäre sie gar nicht anwesend. Da beschloß sie, ihn in eine Unterhaltung zu ziehen, und so sprach sie ihn plötzlich an, indem sie auf den Boden zu ihren Füßen deutete, wo sich an dunkelgrünem Geranke die ersten rosigen Glöckchen der Erika zeigten:

»Die Heide beginnt schon zu blühen.«

Tillmann von Grund wandte langsam das Antlitz her und nickte. Erst nach einer Weile erwiderte er mit dem ihm eigenen, geheimnisvoll dunkeln Ton:

»Ja, wenn die Heide blüht, dann geht's mit dem Sommer wieder hinten naus.«

Und versank wieder in sein Sinnen. Dabei immer die knochigen, wetterbraunen Hände um den hohen Stock gefaltet schaute er so vorgebeugten Hauptes hinaus wie in ferne Weiten, die einem gewöhnlichen Blick verschlossen waren.

Es war schwer, ihm näherzukommen. Da wurde Eke kühn und fragte:

»Kennen Sie mich eigentlich?«

Er verharrte in seiner Stellung, ohne ihr einen Blick zu schenken. Ruhig kam es von seinen Lippen:

»Das Fräulein vom Adligen Hause kennt doch jedeiner im Rauhen Grund.«

»Und dennoch waren Sie eben so freundlich zu mir?«

»Ein Mensch soll dem andern stets helfen, und Sie haben mir ja auch nichts getan.«

»Aber mein Onkel.«

»Ja, der!«

Und aus den Tiefen der dunkeln Augen schoß plötzlich ein wildes Feuer.

Ganz wie der Oheim! mußte Eke von Grund denken. Doch gleich wieder sänftigte sich das verwitterte Antlitz. Ein Schleier legte sich darüber. Mit einem Lächeln, das etwas Geistesabwesendes hatte, sagte er leise, halb für sich:

»Meine Stunde schlägt schon noch einmal.«

Darauf verfiel er ganz in Schweigen, wieder in jenes vergessene Vorsichhinsinnen, das dem Einsamkeitsgewöhnten eigen war. Stundenlang konnte er so stehen, wie der Welt ganz entrückt. Und dennoch nahm er alles wahr, was seine Herde anging.

So auch jetzt, plötzlich legte er die Hand vor die Augen und eilte dann hinaus in den prasselnden Regenguß.

»Hö – Blässe! Zurück!«

Sein Warnruf galt einem der Tiere, die dort drüben unter den Fichten zusammengedrängt standen. Aus ihrem Haufen hatte sich das eine gelöst und schritt nun zu einer Höhle hin, die sich weiter hinten am Bergabhang auftat. Dort mochte es wohl noch besseren Schutz vermuten. Aber Tillmann kam ihm zuvor und trieb das Tier nach einigem Sträuben zur Herde zurück. Dann kam er wieder unter die Eiche. Aber in den paar Minuten war er völlig durchnäßt. Sein blauer Leinwandkittel hing ihm triefend um die hageren Glieder.

»Mein Gott, Sie sind ja naß bis auf die Knochen! Hier – rasch Ihren Mantel.«

»Das tut mir nichts.«

Und er war nicht dazu zu bewegen. So konnte Eke denn nur noch fragen:

»Was war denn mit dem Tier?«

»Es wollte in die Pinge hinein. Da ist vor Jahren, als ich mal krank daniederlag, meinem Vertreter eine Kuh abgestürzt. Hing die ganze Nacht durch an einem Horn in dem Loch und brüllte zum Gotterbarmen. Und grad, als am andern Morgen die Leute mit Stricken gelaufen kamen, riß das Horn aus und sie zerfiel sich drunten im Berg.«

»Schrecklich!«

»Ja, die Pinge da! Als ich noch jung war, bin ich mal hinabgeklettert. Bis ganz in die Tiefe, wo noch die alten Gänge zutage treten, vom Bergbau aus grauen Zeiten. Da hab' ich ein Gerippe gefunden, von einem Menschen. Wie mag der wohl da hingekommen sein?«

Eke von Grund erschauerte leise. Ein dunkles Grauen beschlich sie plötzlich. Sie wußte selber nicht gleich, warum. So sagte sie nur:

»Sie mögen wohl schon manches zu sehen bekommen haben. Wenn man so jahraus, jahrein draußen ist im Wald.«

Der Alte nickte auf seine geheimnisvolle Art.

»Ja, ein Hirt bekommt vieles zu sehen, was andere nicht ahnen. Aber er muß auch schweigen können. Sonst gäb's bald nimmer Frieden im Dorf.«

Und nach einer Welle fügte er noch hinzu, mit dunkelm Tone:

»Es schleicht grad' wieder mal einer herum im Wald. Droben an der Pinge. Der führt wohl auch nichts Gutes im Schilde.«

»Ein Mann?« Eke zuckte zusammen. Mit einem Male wußte sie, warum sie da eben ein Schauer überlaufen hatte. Und schnell wandte sie sich Tillmann von Grund zu:

»Nicht wahr – wie um einem anderen aufzulauern?«

»So schaut's aus. Immer zur gleichen Stunde liegt er da oben in den jungen Tannen, hart am Absturz, als wollt' er einem auf den Weg passen.«

»Mein Gott!«

Es griff Eke von Grund kalt ans Herz. Also war jene Drohung neulich doch ernst gemeint gewesen. Gerhard Bertsch schwebte in ernstester Gefahr!

Der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Unstät pulste ihr Blut. Und drei Tage wußte sie schon darum, ohne ihn zu warnen. Wenn es inzwischen nun geschehen wäre? Mitschuldig wäre sie dann geworden an dem Schrecklichen!

Schweigend, aber in innerster Unruhe stand Eke so unter der Eiche, bis endlich der Regen vorüber war. Nun gab sie Tillmann von Grund den Mantel zurück.

»Vielen Dank!«

Und sie reichte dem Alten die Hand. Da lief es seltsam hin über seine verwitterten Züge. Eine vom Adligen Hause, eine vom Geschlecht der Grunds gab ihm die Hand, als sei er ihresgleichen!

Wie eine Anerkennung seines guten Rechts, all dessen, wovon er träumte und grübelte über sechzig lange Jahre, war ihm das. Und ein heller Schein verklärte sein Antlitz.

Das war die große Stunde in Tillmann von Grunds armem Narrenleben. Und als er dann der Weiterschreitenden nachschaute, wieder in seiner gewohnten Haltung, unbeweglich auf seinen Stab gestützt, da murmelten die welken Lippen unhörbar Worte. Nur der Wind über der Halde vernahm sie. Doch es mochte wohl etwas wie ein Segen sein für eine, die es nie erfahren würde.

Eke von Grund aber schritt hinunter zu jener Höhle am Bergrücken. In einem dunkeln Zwange. Als müsse sie sich mit eigenen Augen überzeugen von der Gefahr, die dort lauerte auf einen Ahnungslosen. Als käme sie vielleicht gerade noch zurecht, um ihn zu warnen.

Nun war sie an der Pinge, dem Oberflächeneinsturz des alten, abgebauten Erzganges, der schon seit Menschengedenken hier diesen verwilderten Anblick bot. Wohl eine Stunde weit strich er quer hin über die Bergkämme und Täler, in fast gerader Richtung. Stellenweise nur als ein Graben im grünen Waldboden. Doch hier und da gähnte ein schwarzes Loch unheimlich zwischen dem üppig wuchernden Gestrüpp der Einsenkung auf. Dann wieder war ein offener Spalt im nackten Gestein, über den hängengebliebene Brücken des Erdreichs führten. Aber wehe dem Fuß, der auf die trügerische Rasendecke einer solchen Schwebe trat! Das Schicksal, das ihn erwartete, ließen die dunkeln Schlünde der trichterförmigen Einstürze dicht daneben ahnen, die den Blick plötzlich ins Bodenlose sinken ließen.

Aber in starrem Schrecken wurzelte der Fuß, wenn er sich dem Teil des Pingenzuges näherte, den nagende Regengüsse, Schneeschmelze und unterirdische Einbrüche zu einer gewaltigen Schlucht erweitert hatten.

Mitten im Hochgebirge wähnte hier der Wanderer zu sein. Hunderte von Fuß stürzten in senkrechtem Abbruch die Felswände zur Tiefe nieder. Wild aufgerissen krampfte sich der Schoß der Erde, hier den Augen bloßgelegt mit seinen Geheimnissen, den zyklopischen Schichtungen von Urgestein, wie vor rasendem Schmerz verkrümmt. An dem scharf abbrechenden Rand oben war die Krume des Waldbodens sichtbar, mit dichtem Buschwerk überwuchert. Hier ein Baum. Im Todessturz aufgefangen, aber dennoch verloren – einem langsamen Absterben verfallen. Er entging der gefräßigen Tiefe nicht, die schweigend drunten lauerte.

Was hatte sie nicht schon alles verschlungen! Nur mit Schaudern wagte sich der Blick dort erschwindelnd hinab, wo es ihn doch zugleich hinzog mit einem dämonischen Zwange. Ein einziges riesiges Trümmergrab war der Grund dieser Schlucht. Ein wüstes Chaos kolossaler Blöcke und zersplitterten Gerölls. Als ob hier eine Titanenschlacht gewütet hätte. Ein Bild grandioser, hoffnungsloser Zerstörung war es, dem Inferno entnommen. Und wie die Eingänge zu den Schlupfwinkeln der verdammten Seelen gähnten an der abgebrochenen Felswand drunten schwarze Löcher, ganz geheimnisvolle Galerien – die zutage tretenden Stollen des eingestürzten alten Bergwerks. Ein Labyrinth, in das kein Menschenfuß sich ungestraft verloren hätte.

Wiewohl Eke von Grund schon manchmal hier oben gestanden und vorsichtig, weit vorgeneigten Hauptes, in die Trümmerwelt hinuntergeschaut hatte, mit Neugier und geheimem Gruseln, hatte sie doch nie ein solches Grauen befallen wie heute. Immer wieder mußte sie an das denken, was ihr der Alte da vorhin erzählt. Mit aussetzendem Herzschlag lauschte sie, hinter sich, zu den jungen Tannen hin, und wagte doch nicht, den Kopf zu wenden. Schlich es da nicht schon? Ihr erstarrender Blick, von der Tiefe gebannt, glaubte da drunten zwischen dem Blockgewirr einen zerschmetterten menschlichen Körper zu sehen, und kein Zeuge der wilden Tat würde je aufstehen, um sie zu rächen!

Mit Gewalt riß sich Eke endlich von der Stelle los und eilte weiter. Aber ihren quälenden Vorstellungen entrann sie darum doch nicht. Immer wieder sah sie das grausige Bild, und da kam es über sie, ein unwiderstehlicher Zwang: Hin zu ihm – sofort! Ehe es vielleicht zu spät war.

So schlug sie denn den auch ihr wohlbekannten Weg zum Zechenhaus von Christiansglück ein. Den Weg, den er stets zu gehen pflegte.

Bertsch war erstaunt, als ihm im Bureauzimmer der Besuch einer Dame gemeldet wurde. Noch größer aber war seine Überraschung, wie nun Eke bei ihm eintrat.

»Es ist natürlich etwas ganz Besonderes, was mich herführt!« klärte sie ihn auf, und dann erzählte sie.

Bertsch hörte alles an, ohne ein Anzeichen von Betroffenheit. Nun sagte er in seinem gewohntem Tone:

»Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Fräulein von Grund, für Ihre Mitteilung, und daß Sie sogar den Weg hierher nicht gescheut haben!«

Sein Auge suchte jetzt das ihre; aber noch immer etwas verwundert.

Da kam es ihr mit einem Male zum Bewußtsein, daß ihr persönliches Erscheinen hier mißdeutet werden könnte. Es hätte ja wohl auch genügt, wenn sie einen Boten mit ein paar Zeilen hergeschickt hätte. Ihre quälenden Vorstellungen, die sie hergetrieben, ohne langes Besinnen, erschienen ihr jetzt mit einem Male selber überstiegen. Sie wollte sich daher wenigstens hier nicht ohne Not länger aufhalten.

»Meine Absicht, Sie noch rechtzeitig zu warnen, ist ja erreicht. So will ich denn wieder gehen.«

Und sie wandte sich mit leichtem Kopfneigen. Er aber trat nun auf sie zu:

»Wollen Sie sich nicht einen Augenblick ausruhen, Fräulein von Grund? Der Weg hier herauf ist doch anstrengend.«

»Ich bin das Steigen gewöhnt,« und sie griff schon zur Klinke.

»So bleibt mir denn nur übrig, Ihnen noch einmal zu danken –,« sein Ton klang jetzt doch wärmer –, »herzlich zu danken. Wenngleich Ihre Besorgnis vielleicht doch etwas zu groß ist.«

Wie ein Schatten glitt es über ihre Stirn hin.

»So werden Sie also Ihren Weg nach wie vor droben über die Pinge nehmen?«

»Es ist mein gewohnter Weg, und der kürzeste. Soll ich ihn ängstlich meiden?«

»Nicht ängstlich, aber vorsichtig.«

»Der vorsichtige erreicht nicht viel im Leben.«

»Gut – so tun Sie, was Sie wollen.« Etwas unmutig drückte sie die Klinke nieder. »Ich habe Sie jedenfalls gewarnt.«

»Und das war nicht zwecklos. Wenn ich freilich auch meinen gewohnten Weg beibehalten werde, so werde ich doch nun auf meiner Hut sein fortab.«

Da wandte sie noch einmal den Kopf zu ihm zurück. Und wie er so dastand, mannhaft, entschlossen, fühlte sie es selber: Nein, er hätte nicht anders sprechen dürfen. Unvermutet reichte sie ihm da die Hand.

»Ja – seien Sie recht auf Ihrer Hut!«

Und dann verließ sie ihn.

Bertsch trat langsam ans Fenster und sah ihr nach, als sie über den Zechenplatz hinschritt. Ein Gehen, frei, aufrecht und kraftvoll, wie ihre ganze Art: Wahrer Adel. Aber der Gedanke hatte nichts, was sich trennend zwischen sie und ihn schob. Im Gegenteil, er hatte ein seltsames Empfinden, als ob ihn vielmehr etwas innerlich verbände mit Eke von Grund. Seit diesem Augenblick eben. Wie eine Freude wollte es ihn da überkommen, daß er schließlich über sich selber den Kopf schüttelte und an seinen Schreibtisch zurückkehrte.

* * *

Wieder waren einige Tage hingegangen, voll innerster Spannung für Gerhard Bertsch. Noch immer kein Anzeichen, daß denen da drüben der Kampf leid wurde? Wohl trug er vor den Leuten stets ein sicheres Lächeln zur Schau, aber wenn er allein mit sich war, furchte sich seine Stirn schwer. Lange durfte es nicht mehr dauern! Sein Bankguthaben, mit dem er diesen Kampf bestritt, ging zu Ende.

Diese wenigen Tage zehrten mehr an seinen Nerven, als die zehn schweren Arbeitsjahre drüben. Es bedurfte all seiner eisernen Beherrschung, um dabei immer noch nach außen seine Siegeszuversicht zu bewahren. Alles hing ja davon ab. Ahnte nur einer, wie es in Wahrheit stand, dann war das Spiel für ihn verloren.

So kam er auch heute abend von der Zeche heim. Im Kopf noch die Zahlen, die, drohende Schreckgespenster, durch sein aufgeregt arbeitendes Hirn hinzuckten – immer wieder. Aber als er jetzt ins Honoratiorenstübchen trat, wo gerade heute stärkerer Besuch war, schritt er straff und elastisch wie immer über die Schwelle.

»Guten Abend, meine Herren!«

Sein scharfer Blick hatte sofort eine gewisse Betroffenheit wahrgenommen. Auch war das lebhafte Gespräch, das er noch vor der Tür vernommen, verstummt mit seinem Eintreten. Da sah er blitzenden Auges, mit seinem übermütigsten Gesicht, über die Tafelrunde hin.

»Aha! Eine wohllöbliche Gewerkschaft Erbstollen nahezu vollständig beisammen! Habt wohl euer Testament gemacht, Herrschaften? Na, recht so! Zeit war's für euch.«

Und lachend ließ er sich an seinem Platz nieder, an dem besonderen kleinen Tisch, wo ihm schon zum Abendbrot gedeckt war.

Die anderen schwiegen. Nur bei dem und jenem ein schwaches Auflachen. Aber es klang beklommen. Und bald standen sie auf. Einer nach dem andern verabschiedeten sie sich von dem Wirt. Schien es Bertsch nur so, oder tauschten sie dabei nicht einen bedeutsamen Blick? Seine Sinne spannten sich. Da ging irgend etwas vor, das ihm galt. Doch was war es?

Nur Hannes Reusch blieb allein noch im Zimmer. Er rauchte schweigend vor sich hin, ganz gegen seine gesprächige Gewohnheit, von Zeit zu Zeit ging sein Auge wie unschlüssig zu Bertsch hinüber, der offenbar mit bestem Appetit aß und ihn gar nicht beachtete. Ein paarmal räusperte er sich, als ob er zum Sprechen ansetzen wollte. Aha, nun! Und Bertsch war ganz Nerv. Aber es geschah doch nicht, vielmehr erhob sich Reusch jetzt und verließ auch seinerseits das Zimmer.

Was lag hier in der Luft?

Nun, ganz allein mit sich, ließ er Messer und Gabel sinken. Die Stirn in die Linke gestützt, sah er vor sich hin. In sprunghaftem Kombinieren. Doch es kam ihm keine befriedigende Erklärung, wie aufgeregt auch seine Gedanken arbeiteten.

Zu dumm, so im Dunkeln zu tappen! Und seine Rechte begann nervös auf der Tischplatte zu trommeln. Doch sofort brach er wieder ab – Schritte da drinnen im Familienzimmer! Aufrecht saß er wieder da und mit heller Miene, anscheinend nur den Sinn aufs Essen gerichtet.

Marga Reusch war es, die eintrat; mit leichtem Gruß, den er ebenso erwiderte. Sie schien etwas auf dem Piano zu suchen, zwischen den Noten dort. Zwischendurch aber streifte ihr Blick zu ihm hinüber, und wie sie ihn so sitzen sah, ganz Sorglosigkeit, stockte ihre suchende Hand. Ein Zweifel trat in ihr Auge.

Ob sie ihn nicht doch lieber warnte mit einem raschen Wort, ehe der Vater vielleicht wieder eintrat? Sie war ja vorhin durch Zufall Zeuge eines vertraulichen Gesprächs hier am Tisch geworden. Nur eines Bruchstückes der Unterhaltung, aber sie hatte doch so viel herausgehört: Die Krisis war da! Jetzt mußte es sich entscheiden – sie konnten nicht mehr weiter so.

Wenn er nun in seiner Ahnungslosigkeit die Situation verkannte? vielleicht verspielte! Dann war alles aus. Für ihn, wie auch für sie selber mit ihren geheimen Hoffnungen.

Wie Marga so einen Moment unschlüssig am Piano stand, trat in ihre Augen ein erregter Glanz. An damals mußte sie denken – wie sie mit ihren Pensionsfreundinnen in Frankfurt zum Rennen gewesen war und zum ersten Male in ihrem Leben am Totalisator gewettet hatte. Ganz so war es auch jetzt: Würde der, auf den sie gesetzt, auch wirklich Sieger werden? Oder hatte sie sich vielleicht doch in ihm getäuscht?

Wie abwägend streifte ihn ihr Blick.

Er gewahrte es.

»Wünschen Sie etwas von mir, Fräulein Reusch?«

Sie schüttelte leicht das Haupt, das sie jetzt wieder ihren Noten zuwandte.

»Ich suche nur etwas – aber ich habe schon gefunden.«

Sie griff nach irgendeinem Heft, entschlossen nunmehr. Nein – sie würde ihm nichts sagen! War er der, für den sie ihn hielt, so würde er ans Ziel kommen, auch ohne ihre Hilfe.

Und mit einem Zunicken ging sie wieder.

Nachdenklich verfolgte sie Bertschs Blick. War da nicht eben etwas in ihren Augen gewesen – wie ein geheimes Wünschen? Überhaupt ihr ganzes Wesen eben!

Nervös zuckte es über sein Antlitz hin. Abermals fühlte er es: Um ihn herum ging etwas vor – etwas von Bedeutung. Wenn man es doch nur greifen könnte!

Unruhig erhob er sich und ging hinauf auf sein Zimmer. Aber auch hier ließ es ihn nicht los. In quälendem Grübeln schritt er hin und her. So verloren in seine Gedanken, daß er ein halblautes Klopfen überhörte, das nun von der Tür her scholl. Erst ein zweites, stärkeres Anpochen weckte seine Aufmerksamkeit.

»Herein!«

Und schnell gab er sich wieder Haltung.

Hannes Reusch trat über die Schwelle.

Der? Und zu so ungewöhnlicher Stunde?

Alsbald zuckte es in Bertsch auf, mit hellseherischer Gewißheit: Die Schicksalsstunde war da! Er fühlte sein Herz pochen, hoch bis zum Halse hinauf, aber keine Miene an ihm zuckte, wie er jetzt scherzend sagte:

»Na, lieber Reusch, was verschafft mir denn das Vergnügen? Sie brauchen wohl noch einen Mann am Spieltisch drunten?«

»Doch nicht, Herr Bertsch, es ist nicht an dem.« Alle Sinne gespannt, fühlte Gerhard Bertsch, wie sich auch der andere bemühte, recht unbefangen zu scheinen. »Ich hörte nur als eben, daß Sie auf Ihrem Zimmer waren, da wollt' ich die Gelegenheit mal wahrnehmen, mit Ihnen etwas zu bereden.«

»So, so. Nun, dann nehmen Sie Platz. Also – worum handelt es sich?«

»Ja, es ist wegen der Streitigkeit zwischen unseren Gruben.« Reusch ließ sich bedächtig Bertsch gegenüber am Sofatische nieder. »So kann das doch nicht weitergehen.«

»Warum nicht, lieber Reusch?« In aller Ruhe klappte Bertsch die Zigarrenkiste auf. »Oder wird Ihnen drüben die Sache etwa unbequem?«

»Uns? I – kein Gedanke!«

»Na also! Da können wir ja doch beiderseits die gerichtliche Entscheidung in Gemütsruhe abwarten. – Aber wollen Sie denn nicht nehmen?«

»Doch, danke vielmals.«

Ein wenig hastig griff Reusch in die Kiste.

Bertsch lächelte leise dazu, und das Ahnen ward ihm zur Gewißheit: Die drüben waren am Ende. Sie wollten ihm kommen – sie mußten! Jetzt nur kalt Blut bewahrt und sich nicht bluffen lassen.

So reichte er denn seinem Gast Feuer hin und setzte sich dann selber die Zigarre in Brand. Behaglich lehnte er sich hierauf in die Sofaecke zurück.

»Wenn's also auch bei Ihnen nicht pressiert, lieber Reusch – warum soll's da nicht so weitergehen können? Ich verstehe das nicht recht.«

»Ja, ich meinte das auch nicht unsertwegen. Wir Gewerken können das ja ruhig mitansehen, aber unsere Leute – ich meine Ihre wie unsere – die kommen dabei zu Schaden.«

»Daß ich nicht wüßte! Wenigstens bei uns ist davon nicht die Rede. Fragen Sie doch rum im Ort. Wir haben noch nicht einen einzigen Mann zu entlassen brauchen, und denken auch gar nicht daran.«

»Gewiß, noch nicht – das weiß ich wohl. Aber es wird auch bei Ihnen nicht ausbleiben. Sie haben doch auch Ihre Förderung stark einschränken müssen und können auf die Dauer Ihre Leute nicht beschäftigen.«

»Wer sagt Ihnen das, mein Bester? Hier!« Und Bertsch schob seinem Besucher einen Situationsriß hin, der vor ihm auf dem Tische lag, »Sie verstehen ja auch so viel von der Sache. Also, da sehen Sie sich das hier mal an. Aufschließungs- und Vorrichtungsarbeiten auf der elften und zwölften Sohle, ein neuer Tagesschacht im westlichen Grubenfeld, Anlage einer Preßluftleitung für maschinelle Bohrung durch die ganze Grube, Bau einer elektrischen Wasserhaltung – da, glauben Sie mir's nun, daß ich zu tun habe für meine Leute, selbst wenn's noch Jahre dauert?«

»Hm, nun ja –« Reusch vermochte nur schlecht seine Betroffenheit zu verbergen, doch dann kam ein leises Lauern in seinen Ton. »Aber dazu gehört doch ein schweres Geld, um das alles durchzuhalten.«

»Das versteht sich von selbst. Aber wozu hat man seine Bankverbindungen?«

Nie hatte Bertschs Stimme kühler und gleichgültiger geklungen, als in diesem entscheidenden Augenblick.

Da verstummte Reusch. Er hatte allerlei läuten hören, als wenn es sich wieder zerschlagen hätte, das Einvernehmen zwischen Christiansglück und der Landesbank. Aber diese Ruhe machte ihn irre. Und nun sagte er sich: Ja, wenn's so war, dann stand's freilich aussichtslos für die eigene Sache. Dann war nichts mehr zu hoffen.

Und er sog stark an seiner Zigarre, damit der Dampf seine Betroffenheit dem Gegner verhüllen möchte. Aber der lächelte schweigend in sich hinein. Unbeweglich lehnte er in der Sofaecke und blickte den Rauchkringeln seiner Zigarre nach, als interessiere ihn das mehr als die ganze Unterhaltung.

Diese Gelassenheit entschied bei Reusch und besiegte seine letzten Bedenken. Ihre Sache war nun doch einmal verloren, wer durfte es ihm da verdenken, wenn er nun wenigstens noch seinen eigenen Vorteil wahrnahm? Und er sandte einen Blick zu Bertsch hin, vorsichtig, einstweilen nur sondierend.

»Ja, Herr Bertsch – wenn die Dinge so stehen – hätte ich Ihnen wohl noch etwas anderes zu sagen.«

»So? Haben Sie noch was auf dem Herzen?«

»Ja – ich hätte Ihnen einen Vorschlag zu machen, der auch Ihr Interesse wahrnimmt.«

»Sehr freundlich, mein lieber Reusch, doch kaum nötig. Das besorge ich selber schon.«

»Hören Sie mich nur erst einmal an! Also –« und sich vorneigend, dämpfte Reusch die Stimme –, »was würden Sie dazu sagen, wenn sich unsere Gewerkschaft bereit erklärte, den Prozeß gegen Sie zurückzuziehen?«

»Das fände ich nur sehr vernünftig. Damit würden Sie sich viel Geld sparen.«

In Reuschs Gesicht spiegelte sich deutlich die Enttäuschung. War denn dem andern gar nicht beizukommen? Ärgerlich sagte er:

»Sie sind Ihrer Sache allzu sicher, Herr Bertsch. Noch haben Sie ja den Prozeß nicht gewonnen!«

»Warum betonen Sie das immer wieder so angelegentlich? Für mich hat die Sache wirklich nicht die Wichtigkeit, wie Sie anzunehmen scheinen.«

Da gab Reusch es endgültig auf, den Überlegenen zu spielen. Er war nur noch der Mann, der sein Geschäft ins reine bringen wollte. So sagte er denn:

»Gut – lassen wir das auf sich beruhen. Aber eins können Sie mir doch nicht abstreiten: Es wäre Ihnen von größtem Interesse, wenn die Streitigkeiten mit unserer Grube aufhörten und statt dessen ein gemeinsames Arbeiten Hand in Hand stattfände.«

»Gewiß wäre mir das nur angenehm. Sind Sie vielleicht seitens Ihrer Gewerken beauftragt, mir hierüber Vorschläge zu machen?«

»Wenn auch das nicht grad – aber ich wäre vielleicht in der Lage, Ihnen zu dieser Einigung zu verhelfen.«

»Sie?« Bertsch maß den andern nur mit einem großen Blick. Dann zuckte er die Achseln. »Ja, wenn der Herr von Grund hier säße und mir das sagte! Aber Sie? Nee, mein lieber Reusch!«

Der wohlberechtigte Hieb saß. Der Wirt fuhr auf.

»Meinen Sie? Nun, da irren Sie sich vielleicht doch! Daß Sie's nur wissen: Ich habe heute schon eine vertrauliche Besprechung gehabt mit unseren Gewerken – ohne den Herrn von Grund – und von mir hängt es ab. Wenn ich will, dann haben Sie den Frieden!«

»So, so. Na – und weiter?«

»Ich kann eine Mehrheit in der Gewerkschaft zusammenbringen, die, wie die Dinge einmal liegen, bereit wäre, den Streit mit Ihnen niederzuschlagen – unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Es findet eine Vereinigung beider Gruben statt.«

»Natürlich doch unter unserer Führung.«

»Damit würden sich unsere Gewerken einverstanden erklären, nachdem ich ihnen klargemacht, daß Sie der rechte Mann sind, der noch mal etwas Großes machen könnte, hier aus unserm Bergbau.«

»Sehr verbunden.« Bertsch lächelte leicht vor sich hin, immer noch, als nähme er diese ganze Sache nicht ernst. Dann aber richtete sich sein Blick auf den Wirt, und plötzlich ward dieser Blick kalt und scharf. »Und nun die Hauptsache: Was soll herausspringen für Sie bei diesem Geschäft? Denn mir zuliebe tun Sie's doch wohl nicht?«

»Natürlich nicht – aber im Interesse unserer Gewerkschaft. Ich sehe mehr Vorteil bei einem Zusammengehen mit Ihnen, als wenn wir jahrelang einen Prozeß am Halse haben.«

»Ohne Zweifel. Aber trotzdem – ich kenne Sie doch, lieber Reusch. Sie waren ja immer ein tüchtiger Rechner. Also nur heraus damit: Was soll für Sie abfallen?«

»Ich beanspruche keine besondere Vergütung, aber wir können vielleicht ein Geschäft miteinander machen, bei dem wir beide unseren Nutzen hätten.«

»Aha!«

»Nun ja. Sie wollen sich baulich ausdehnen, auch über Tag, und nach der Zusammenlegung beider Gruben würde das erst recht nötig werden. Da könnten Sie meine Wiesen und Äcker gebrauchen, droben am Wald. Der Raum wird Ihnen jetzt schon knapp an der Halde. Also – ich wäre bereit, Ihnen das ganze Areal da oben freihändig zu verkaufen.«

»Und der Preis?«

»Hunderttausend.«

»Sie scherzen, für die paar Morgen!«

»Es sind fast fünf Hektar. Und Sie vergessen, die Bodenpreise werden in die Höhe schnellen, sobald Sie erst da oben zu bauen anfangen. In ein paar Jahren müssen Sie weit mehr geben. Und Sie brauchen das Gelände. Sie finden einfach nichts anderes da oben.«

»Nun, das lassen Sie meine Sorge sein, lieber Reusch. Aber ich will die Sache nicht so ohne weiteres von der Hand weisen. Es ließe sich vielleicht darüber reden. Doch, nun einmal ernst gesprochen – was Sie mir da eben sagten, ist es Tatsache? Sie können eine solche Mehrheit bestimmt zusammenbringen?«

»Ich sagt's Ihnen ja.«

»Und Herr von Grund?«

»Wir stimmen ihn nieder, wenn's darauf ankommt.«

»So – na, da könnten wir ja der Sache einmal nähertreten.«

Bertsch erhob sich und ging zum Schreibtisch. Nun brach es für einen Moment doch aus seinen Augen: Am Ziel! Aber wie er mit dem Schreibzeug und einem Bogen Papier zurückkam, war er wieder ganz kühle Ruhe.

»Wir wollen einmal alles schriftlich fixieren und dann weiter sehen.«

Bis zu später Stunde saßen die beiden noch zusammen. Als dann Reusch das Zimmer verließ, sah Gerhard Bertsch noch einmal auf das Schriftstück in seiner Hand nieder, das Reuschs Unterschrift trug. Und tief atmete er auf. Das war der Sieg!

* * *

Solch eine Gewerkenversammlung hatte der Erbstollen in den ganzen Jahren seines Bestehens nicht erlebt wie die, von der man heute im Rauhen Grund sprach, bis hinauf in den letzten Hof droben am Bergkamm, wilde Dinge wurden da erzählt.

Der Herr vom Adligen Hause, als er merkte, wo die Sache hinauswollte, mußte ja getobt haben wie ein grimmer Eber, den die Meute gestellt hat. Einen Hundsfott von Verräter hatte er den Hannes Reusch geschimpft und hätte wohl gar Hand an ihn gelegt in seinem Rasen, wenn nicht die andern dazwischengesprungen wären. Und als sie ihn dann beschwichtigen wollten – es war' ja nun doch mal das beste, sich zu einigen mit dem Gegner –, da hatte er aufgeschäumt von neuem. Eine abgekartete Geschichte, ein elender Schacher wäre das Ganze! Aber sie sollten sich nicht einbilden, daß er mittäte. An die dreihundert Jahre seien die vom Grund beteiligt am Erbstollen, sie hätten einfach zusammengehört – doch nun sei es am Ende. Vor die Füße würfe er ihnen den ganzen Bettel. Es möge ihn nehmen, wer Lust hätt'. Damit war er aufgesprungen.

Wie sie da noch alle verlegen stillgeschwiegen – es war doch ein seltsam Ding, daß der von Grund und der Erbstollen nichts mehr zu schaffen haben sollten miteinander – hatte sich Hannes Reusch erhoben und den vom Adligen Hause noch auf der Schwelle gefragt, ob das sein Ernst sei. Blitz und Donnerschlag! Ob er ein Hansnarr sei, der leeren Wind rede, hatte der andere dagegengewettert und die Tür zugekracht.

Da hatte sich der Hannes Reusch ganz ruhig an den anwesenden Notar gewandt, er möcht' auch das zu Protokoll nehmen, daß der Gewerke von Grund eben seine Grubenanteile zum Kauf angeboten habe. Und als es geschehen, war er wieder aufgestanden und hatte erklärt: er selber übernähme diese Anteile!

Was hatten sie da für Augen gemacht! Der Hirschwirt die vierzig Kuxe vom Adligen Hause? Er hatte ja ein schön Stück im Sack, doch daß es dazu langte, hatte keiner geahnt.

Aber das Wunder hatte sich bald hinterher aufgeklärt. Auch hier hatte der Amerikaner seine Hand im Spiel. An alles hatte er gedacht, auch daß es so kommen könnte! Und war noch am Tage vor der Versammlung in Köln gewesen. Dort war es ausgemacht worden zwischen ihm und der Landesbank. Eine Vollmacht hatten sie ihm ausgestellt für den Fall, und als der Herr von Grund in blind aufschäumender Wut seinen Kram hingeworfen, da hatte der Hannes Reusch eben stracks zugegriffen – im Auftrage des Amerikaners.

Darauf war denn die Sache ohne sonderliche Schwierigkeit weiter vonstatten gegangen, und die beiden größten Gruben, die ein jeder kannte im Rauhen Grund, solange man denken konnte, waren fortab nur noch eine unter dem Namen: »Vereinigte Christiansglück«, vom Erbstollen würde nun keines mehr reden. Das war einmal gewesen.

So ging es wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus; schon wenige Stunden später. In aller Mund war sein Name: Der Amerikaner – der Bertsch! – mit einem seltsamen Doppelklang. Halb voller Trotz. Wie kam der dazu, hier alles auf den Kopf zu stellen? Zugleich aber doch voll geheimer Anerkennung. Ein Teufelskerl! Und ein Ahnen kam vielen: Was man da heute erlebt, das bedeutete mehr als bloß den Kampf der beiden Gruben. Das ging sie alle miteinander an. Wie es aufhören sollte fortab mit dem Erbstollen, so würde es nun auch geschehen mit gar manchem noch, vorbei war's mit dem guten Alten, das gemächlich seinen Paß gegangen seit Urväter Zeiten. Nun kam das Neue da draußen, von dem man ja so vieles in der Zeitung las, auch hierher.

Nie war in den stillen Höfen im Rauhen Grund so viel geredet worden wie an diesem Tag. Und wohl kein Haus, wo sich nicht ihrer Zwei gegenüberstanden mit hitzigen Wangen, Alte und Junge – die, die grollten und murrten, und die anderen, denen in den Augen ein helles Feuer aufsprang. Wach war da geworden, mit einem Schlag, was unbewußt in manchem geschlummert hatte. Und hüben und drüben scholl wie ein Losungswort, an dem sich Freund und Feind erkannten, immer der eine, selbe Name: Gerhard Bertsch.

Der hatte die Entscheidung abgewartet in seinem engen Bureauraum im alten Zechenhause von Christiansglück. Und als der Hannes Reusch nun gegen Mittag zu ihm herausgelaufen kam, ganz rot im Antlitz, und noch außer Atem rief: »Alles in Ordnung!« – da stand er nur eine Weile still und schaute zum Fenster hinaus. Aber sein Blick ging draußen über den weiten Grund wie ein Herrscher, der Besitz ergreift von seinem eben erworbenen Reich.

Dann war sein erster Gang zum Erbstollen hinüber. Er wählte den nächsten Weg, über den Bergkamm an der alten Pinge vorbei. Schnell schritt er zu. Ein Brausen im Blut wie von feurigem, jungem Wein. Siegesrausch und vorwärts peitschender Tatkraft. Nur weiter, weiter! Kein faules Ausruhen beim Erfolge. Das war ja nur erst der Anfang.

So ganz beherrscht war er von diesem Drang, daß er nicht darauf achtete, was um ihn her geschah. Auf ein raschelndes Schleichen, das ihn zu begleiten schien, im Tannendickicht seitlich des Weges. Erst als im Sonnengeflimmer einer Lichtung ihm eine dunkle, große Gestalt entgegentrat, blickte er auf. Und nun freilich durchfuhr es ihn: Der Lange da vor ihm, mit dem finsteren Blick und die Rechte verdächtig in der Tasche, zur Seite der senkrechte Absturz der alten Pinge – Eke von Grunds Warnung!

Da stählte sich ihm jede Muskel, und sein Auge bohrte sich in das des andern. So standen sie sich gegenüber, regungslos, den Atem angehalten, lautlose Stille auch um sie herum. Doch plötzlich ein Rieseln und dann ein dumpfes Aufschlagen aus der Tiefe heraus: Ein Stein, von Bertschs Fuß gelöst, der den Sturz getan hinunter in den Abgrund. Ein Aufschillern da in dem stechenden Blick vor ihm, und jetzt ein verräterisches Zusammenkrampfen der verborgenen Faust.

»Nun, guter Freund – wünscht Ihr etwas von mir?«

Die Ruhe in Bertschs Ton verblüffte den langen Frieder. Sein Blick wurde unsicher. Trotzdem stieß er rauh hervor:

»Sie sind dat schuld, daß wir allesamt Not leiden mit Weib und Kind – wir vom Erbstollen.«

»So – vom Erbstollen seid Ihr? Da habt Ihr freilich eine schwere Zeit durchgemacht. Aber das ist ja nun vorbei.«

Der andere machte eine heftige Gebärde. Wollte ihn der da auch noch verhöhnen? Doch da wiederholte Bertsch mit Nachdruck:

»Jawohl – vorbei! von morgen ab fährt jeder Mann wieder an im Erbstollen. Sagt das auch allen Euren Kameraden.«

Der lange Frieder starrte ihn an – finster, ungläubig.

»Wie können Sie dat wissen?«

»Es ist so. Wenn Ihr heut nachmittag bei Steiger Hannschmidt nachfragt, wird er es Euch bestätigen. Und damit, denk' ich, ist Euer Anliegen an mich wohl erledigt.«

Ein scharfer Blick Bertschs streifte die verborgene Hand mit dem Messer.

Aber das Antlitz vor ihm fuhr es hin. In wildem Widerstreit. Da sagte Bertsch noch einmal:

»Ihr scheint mir noch immer nicht zu glauben. Nun, ich gehe morgen in aller Frühe hier wieder diesen Weg. Sollte Euch meine Erklärung also nicht befriedigt haben, so habt Ihr Gelegenheit, Euch weiter mit mir auseinanderzusetzen. Ich denke, Ihr seht nun, mit wem Ihr zu tun habt.«

Damit tat er in ruhiger Entschlossenheit einen Schritt vorwärts. Und langsam trat der andere beiseite.

Ungefährdet kam Bertsch so vorüber und dann drüben hin zum Zechenhause des Erbstollen. Hierhin war die Runde von dem Geschehenen bereits gedrungen. Als Bertsch in das Steigerzimmer eintrat, war Hannschmidt dabei, die paar Habseligkeiten zusammenzutragen, die sein Eigentum waren. Er beantwortete Bertschs »Glückauf« nur mit einem düsteren Seitenblick. Kam der, um sich an seinem Triumph zu weiden – so sollte er sich verrechnet haben. Und er packte weiter an seinen Sachen, als ob niemand da wäre.

»Sie haben wohl schon davon gehört, daß heute Ihre Gewerkenversammlung die Vereinigung Ihrer Grube mit der unsrigen unter meiner Betriebsleitung beschlossen hat?«

Wiederum keine Entgegnung. Ihm den Rücken kehrend, schnürte der Rotbart vielmehr an seinem Bündel. Da hörte er den neuen Herrn weiter sagen, ganz ruhig, als wäre nie das mindeste zwischen ihnen vorgefallen:

»Ich möchte Sie übernehmen in meine Dienste.«

»Was – mich?«

Und Hannschmidt fuhr herum.

»Jawohl – warum nicht?«

»Nun ich dächt' –« in dem Gesicht des Rotbarts zuckte es grimmig –, »wie ich Ihnen mitgespielt hab'!«

»Freilich, Sie haben es reichlich toll getrieben.«

»Nun also.« Hannschmidts Miene verzog sich wieder in starrer Feindseligkeit. »Da werden Sie wohl doch nicht erwarten von mir, daß ich mich Ihnen ausliefere – bloß zur Rache.« Und er wollte sich schroff abwenden. Doch da legte sich ihm Bertschs Hand auf die Schulter.

»Sie verkennen meine Absichten. Wir waren allerdings Feinde bis jetzt. Ehrliche Feinde. Aber warum sollen aus denen nicht ebenso ehrliche Freunde werden? Das wär' doch nicht das erstemal im Rauhen Grund. Und ich denke: Halten Sie erst einmal zu meiner Seite, dann gehen Sie auch mit mir durch Dick und Dünn – genau wie Sie's drüben getan haben. Ich habe allen Respekt vor solcher Treue; heut' kann ich's Ihnen ja sagen. Also wie ist's? Schlagen Sie ein?«

Ein langsamer Wandel ging vor in den Mienen des Steigers. Höchstes Staunen, Mißtrauen, aber dann, nach einem Blick in Bertschs Augen, plötzlich ein Aufleuchten in dem rauhen, rotbärtigen Antlitz.

»Ja, wenn's so ist, Herr Bertsch, dann bin ich Ihr Mann! Und daß auch ich's mal sage: Bei aller Wut, die ich auf Sie gehabt hab' – ich hatt' doch auch einen ganz gewaltigen Respekt vor Ihnen. Und nun soll's mir Laune machen, für Sie zu arbeiten – hier – meine Hand drauf!«

Schallend schlug er bei Bertsch ein. Der schüttelte die harte Rechte mit einem vollwertigen Gegendruck und lachte.

»Na, da hätten wir also nun Freundschaft geschlossen. Also: Glückauf bei uns auf Christiansglück – Herr Obersteiger Hannschmidt!«

Der Rotbart wollte in freudiger Bestürzung über die Beförderung einen unbeholfenen Dank vorbringen; aber Bertsch hob die Hand.

»Etwas anderes jetzt, Hannschmidt, Wichtigeres. Ihre Leute haben lange genug gefeiert. Das muß nun ein Ende haben. Sorgen Sie dafür, daß es noch heut' jeder erfährt: morgen früh wird hier die Arbeit wieder aufgenommen. In vollem Umfange!«

Und noch einen bedeutungsvollen Gang galt es für Bertsch: Zum Adligen Hause drunten, um die Grubenurkunden und vertraulichen Briefschaften, die der bisherige Repräsentant bewahrt, nun in sein Verwahrsam zu nehmen. Die Begegnung mit Henner von Grund würde nach allem, was geschehen, gerade kein Vergnügen werden; aber auch das mußte sein.

So stand denn Gerhard Bertsch nun vor dem Portal des alten Herrensitzes. Es dauerte eine geraume Weile, bis das Mädchen, das mit seiner Karte ins Haus gegangen war, wieder erschien und ihn hineinführte. In dasselbe Gemach, wo ihn damals Eke von Grund empfangen hatte, und auch heute fand er sie wieder vor beim Eintreten. Sie erwartete ihn dort offenbar, denn in der Hand hielt sie ein versiegeltes kleines Paket, das sie ihm gleich hinreichte.

»Sie kommen wohl wegen der Grubenpapiere. Hier sind sie.«

»Vielen Dank! Das war allerdings der Zweck meines Kommens.« Dann lächelte er: »Ihr Herr Onkel hat also offenbar kein Bedürfnis, mir noch einmal persönlich zu begegnen, nach diesem Ausgang der Sache.«

»Allerdings nicht –.«

»Aber es scheint, Sie haben mir noch einen kleinen Auftrag auszurichten von ihm?«

»Oh – wieso?«

»Ich sehe es Ihnen an, Fräulein von Grund. Und ich ahne auch was. Sagen Sie es mir nur ohne Scheu: Mein nochmaliges Erscheinen hier wird nicht gewünscht!«

»So ungefähr freilich. – Aber Sie wissen ja, Herr Bertsch: Mein Onkel ist eine sehr reizbare Natur. Und diese Entscheidung heute –«

»Ist ihm auf die Nerven gefallen, das glaub' ich gern.«

Bertsch lachte unwillkürlich auf. Doch dann sah er sie an, die mit ernster Miene dastand.

»Verzeihung – es ist nicht niedere Schadenfreude. Und mein Lachen hier ist nicht sehr am Platze. Aber es ging eben mit mir durch. Der Kampf war nicht leicht. Und nun ich ihn gewonnen, darf ich's ja offen sagen, zu Ihnen wenigstens, Fräulein von Grund: Er stand auf des Messers Schneide! Ein paar Tage noch – und ich blieb auf der Strecke!«

Sie sah ihn mit einem langen Blick an. Dann reichte sie ihm die Hand.

»Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen und beglückwünsche Sie zu Ihrem Siege.«

Er hielt ihre Rechte einen Augenblick zurück.

»Dieser Glückwunsch freut mich aufrichtig. Ich weiß, er ist ehrlich gemeint.«

Es leuchtete aus seinem Blick, wie sie es noch nie an ihm gesehen hatte. Da forschte sie weiter.

»Und nun –«

»Jetzt wird es erst recht beginnen. Ich fahre noch heute nach Köln zu den nötigen Konferenzen mit der Bank. Keinen Tag mehr will ich nun verlieren.«

Sie sah vor sich hin.

»Es muß schön sein, so getragen zu werden vor seinem Erfolge. Wer das doch auch einmal empfinden könnte!«

Ein verwunderter Blick traf sie. Da besann sie sich wieder und sah ihn an.

»Ich möchte wohl Ihr Werk sehen, wenn alles so weit ist. Es würde mich wirklich interessieren – gerade so ein moderner, großer Betrieb!«

»Kommen Sie doch einmal zu uns. Ich zeige Ihnen gern alles.«

»Wirklich? Würden Sie mich auch einfahren lassen?«

»Warum denn nicht?«

»Oh, das wäre herrlich!«

Er wunderte sich über ihre helle Freude.

»Liegt Ihnen denn so viel daran?«

Sie nickte lebhaft.

»Es ist ein Wunsch, schon seit meinen Kinderjahren.«

»Warum sind Sie da aber nicht schon längst einmal eingefahren, wo doch Ihr Onkel Grubenvorstand war?«

»Gerade er wollte es nicht. Frauenzimmer haben in der Grube nichts zu suchen – war seine Ansicht.«

Er mußte lächeln, und sie tat ein Gleiches. So trafen sich ihre Blicke in einem geheimen Einverständnis.

»Ja freilich – das kann ich mir wohl denken,« meinte er dann. »Nun, da diese höchste Instanz aber fortab für den Erbstollen nicht mehr existiert, so steht ja nichts mehr im Wege. Also, Sie machen Ihr Wort wahr?«

»Ich komme einmal, wenn's so weit ist – ganz bestimmt!«

»Das freut mich.«

Wieder sah er sie an mit jenem warmen Blick. Und gern hätte er noch weiter mit ihr geplaudert. Doch er besann sich, daß seine Anwesenheit in diesem Hause ja nicht erwünscht war. Da schickte er sich zum Gehen an. Schon an der Tür, blieb er aber noch einmal stehen.

»Übrigens – ich habe das kleine Abenteuer droben an der alten Pinge gehabt, vor dem Sie mich neulich warnten.«

»Also doch!«

Es klang erschrocken.

Er nickte.

»Aber es ist gut abgelaufen, wie Sie sehen.«

»Gott sei Dank!«

In befreitem Aufatmen hob sich ihre Brust.

Es entging ihm nicht, und er sah sie an, als ob er ihr noch etwas Besonderes sagen wollte. Aber er begnügte sich dann mit den üblichen Abschiedsworten.

Eke von Grund blieb stehen, wo sie war, in Gedanken verloren, bis sie draußen den schweren Torflügel am Portal zuschlagen hörte.

Da erst besann sie sich wieder auf sich. Und schwere Tritte, die jetzt vom Nebenzimmer herannahten, mahnten sie daran, daß man einen Bericht über diese Begegnung erwartete.

* * *


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