Paul Grabein
Die vom Rauhen Grund
Paul Grabein

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Über dem Rauhen Grund brütete noch die Nacht. Hockte im Tal, dunkel und schweigend wie das Schicksal. Bis es droben vom Berge pfiff, schneidend kalt. Der Morgenwind. Da reckte sie sich fröstelnd, raffte den schwarzen Mantel und flog davon. Nur hier und dort flatterten noch die letzten Fetzen ihres Gewandes; schwere, graue Wolkensäume, die sie langsam nach sich zog.

Droben über den Bergkamm kam der junge Tag gegangen. Vor ihm kroch die verflogene Eule auf der Maleiche grämlich tiefer hinein ins Geäst. Verdrossen über das Gezwitscher ringsum, das nun fröhlich den Morgen grüßte.

Aber der war nicht der einzige Frühgänger hier oben im Hauberg. Da wanderte schon ein anderer des Wegs, vor Tau und Tag, wanderte mit weit ausgreifenden Schritten und sog tief in die Brust den herbstfrischen Hauch der jungen Eichen und Birken ein. Den Duft der Heimat. Wie hatte er sich nach ihm gesehnt in zehn langen Jahren, drunten im Sonnenbrand, in den Felsöden der Kordilleren, zwischen den ausgeblichenen, sengenden Bergzinnen, über denen, im Äther verloren, der Kondor kreiste.

Nun war er wieder daheim und schritt durch den Wald. Den Wald seiner Jugend. Auf den alten, kaum mannsbreiten Schleichwegen, die sich kreuz und quer durch das Dickicht stahlen, durch Ginstergestrüpp und Heidekraut. Gänge, so niedrig nur, daß der Wanderer sich oft bücken mußte. Wie wenn man auf Heimlichkeiten ausging, war's hierinnen, und es waren doch nur die alten Bergmannssteige, die die Leute auf ihren Wegen zur Grube und zum Hochofen getreten schon seit Urväter Zeiten.

Wald der Heimat, Wald der Jugend! Im Herzen des einsamen Wanderers, der so stark und fest dahinschritt, begann es heimlich zu klingen, und die breite Brust hob sich.

Doch klang da nicht noch etwas anderes durch den Wald? Ein dunkelfeines Läuten, von fern noch, aber kam nun näher.

Da stand der Morgengänger still, lauschte und ging dann dem Schall der abgestimmten Glöcklein nach. Talab etwas, dorthin, wo der Eichwald sich öffnete zu einer Wiesenmulde von saftigem Grün, über die noch die letzten Morgennebel strichen. Wie er hier ins Freie trat, war dort schon der Vortrab der Herde. Dunkel schoben sich die schweren Tierleiber durch den Dunst. Seitwärts stand der Hirt, ihm abgekehrt. Übergroß erschien im Nebel die hagere Gestalt im schwarzen Schlapphut und Pelerinenmantel, auf den langen Stab gestützt. Düster und voll starrer Unbeweglichkeit. Der Wanderer trat schnellen Schrittes auf ihn zu. Also der war's, der ihm den ersten Gruß der Heimat entbieten würde! Aber ob ihn der Tillmann wohl noch kennen würde? Wollte es doch mal darauf ankommen lassen.

»Guten Morgen, Hirt – schon früh hier oben.«

Der im schwarzen Mantel drehte sich langsam um. Aus dem graustoppligen Antlitz glühten zwei dunkle Augen mit heimlichem Feuer den Fremdling an, aber ohne jede Überraschung, und nur ein leichtes Nicken war die Antwort.

Der Frager trat näher.

»Sind das all' Eure Tiere?«

»Es sind noch acht Stück drunten in der Delle.«

»Das ist nicht viel.«

»Ja, die Herde ist nimmer groß. War früher anders. Aber die Zeiten sind vorbei für Vieh und Hirt.«

»Nun, da habt Ihr wenigstens hinreichend Weide für Eure Tiere.«

»Wohl. Da ist Futter am Berge, satt Futter.«

Doch dann wandte der Alte den Kopf zur Seite, wo drunten aus der Talmulde her das Geläute der noch im Nebel versteckten Nachzügler herklang. Über das düsterernste Gesicht flog ein hellerer Schein, wie er so schweigend lauschte, die knochigen Hände um den Stock gefaltet. Dann nickte er und sprach vor sich hin:

»Eine feine Harmonie. Solang ich die noch höre, ist mein Leben noch zu etwas nutz.«

»Ihr seid gern Hirt, Alter?«

Wieder ein Nicken. Doch dann nach einer Weile ein Zusatz voll steifer Würde:

»Obschon ich's nicht nötig hätte.«

»Nicht nötig?«

Wie verwundert forschte es der Fremde, aber um seine Mundwinkel zuckte es heimlich.

»Ja. – Ich könnt' als Herr leben, so gut wie andere.«

»Was Ihr nicht sagt!«

Der Alte hörte den leichten Spott heraus. Das Glühen in seinen seltsamen, nach innen gekehrten Blicken bekam etwas Feindliches, wie er jetzt den Fremden ansah, und seine hagere Gestalt reckte sich empor.

»Wenn Sie nach drunten kommen, in den Grund, zu dem Adligen Hause da – dorthin gehört' ich, wenn's nach Recht und Gesetz ging! Aber nun hüt' ich die Kühe – ja, so geht's zu in der Welt.«

Der Alte sank wieder in sich zusammen. Wie müde all der Torheit dieses Lebens. Und in seine Augen trat plötzlich ein ganz anderer Ausdruck. Das Feuer in ihnen erlosch. Leer wurde der Blick und bekam etwas Wirres. Halb im Selbstgespräch murmelten dabei die welken Lippen:

»Ist ihnen zwar ein Dorn im Auge, den noblen Verwandten. Sie dort im Schloß, und ich der Gemeindehirt!«

Der Alte lachte höhnisch in sich hinein.

»Haben mir ja auch lange genug zugesetzt, daß ich's dran gäb' – wollten mir eine Rente aussetzen, Zeit meines Lebens, – wenn ich in die Stadt zög und mich nie wieder blicken ließ, hier im Rauhen Grund.«

Nun brannte die versteckte Glut in seinen Augen wieder auf.

»Aber ich laß mir mein gutes Recht nicht abkaufen, für ein Linsengericht. Herr will ich sein, dort drunten, wie mir's zukommt! Und solang ich's nicht bin – bleib ich eben Hirt.«

Hart stieß der sonderbare Alte mit seinem Stecken auf. Gebieterisch sah er eine Weile hinab zu Tal, wo die Nebel noch brauten. Und wieder sank er nach dem jähen Ausbruch in jene Verworrenheit zurück. Wie im Vertrauen flüsterte er jetzt dem Fremden zu:

»Aber meine Zeit kommt, sage ich Ihnen, Herr! Ich spare und spare. Alles, was ich verdiene. Und sobald ich genug beisammen habe, dann geht's los. Dann prozessiere ich mit dem Herrn Vetter drunten, um Haus und Hof. Alles soll mein sein. Und es wird geraten. Es gibt ja doch noch ein Recht auf der Welt! Ich –«

Da unterbrach ihn der Fremde, jetzt mit offenem Spott.

»Wem erzählt Ihr das alles, Tillmann? Ich kenne doch Euch wie Eure ganze Geschichte.«

Dem Alten sprang der Zorn aus den Augen.

»Wenn Sie wissen, wer ich bin, so nennen Sie mich, wie's mir zukommt!«

Doch der andere lachte noch immer; voll Übermut, wie er es in der Jugend so manchmal getan bei dem närrischen Kauz.

»Nun gut – so sagen wir lieber: Herr von Grund. Tillmann, Edler Herr von und zu Grund, derzeit Gemeindehirte zu Rödig.«

»Jawohl, das bin ich. Und ist das etwa eine Schande? Verdien' ich mir nicht ehrlich mein Brot? Ehrlicher, als wenn ich das Gnadenbrot äße von meiner Sippe da drunten!«

Ganz ruhig sagte es der alte Mann. Aber das graustoppelige, verwitterte Gesicht hatte plötzlich etwas bekommen, daß dem andern unwillkürlich das Lachen verstummte. Wie Beschämung stieg es in ihm auf, daß mit den Erinnerungen der Jugend auch knabenhafter Übermut über ihn gekommen war. Doch schnell hob er wieder den Blick. Seine Rechte streckte sich dem Alten entgegen:

»Nichts für ungut, Tillmann von Grund. Es war nicht bös gemeint. Und Ihr habt recht. Seiner ehrlichen Arbeit braucht sich niemand zu schämen. Aber nun sagt: Kennt Ihr mich denn gar nicht mehr?«

Das Auge des Hirten glitt prüfend dem Fremdling über das Gesicht. Ein kurzes Nachsinnen, dann hoben sich seine Graubrauen:

»Der Bertsch-Gerhard sind Sie – der Amerikaner.«

»Richtig geraten!« Und erfreut schüttelte der andere dem Hirten die knochige Hand. »Allerhand Achtung vor Eurem Gedächtnis.«

»Wollen Sie nun wieder hier bleiben, in der Heimat?«

»Ja, Alter, das will ich.« Froh und kraftvoll klang es: »Hab' mich lang genug herumgedrückt in der Fremde.«

Tillmann nickte.

»Glaub's wohl. – Freilich, es muß doch auch schön sein – so draußen in der weiten Welt. Als ich noch jung war, da zog's mich auch hinaus. Aber, es hat halt nit sein sollen, und ich bin's auch so zufrieden. Der Mensch muß sich schicken lernen.«

»Meint Ihr wirklich, Alter? Ich denk mir: Sich lieber nicht schicken, sondern die Dinge zwingen, wie man sie braucht.«

»So denkt junges Volk immer. Aber auch Sie werden's schon lernen.«

»Na, einstweilen jedenfalls noch nicht. Und die da drunten sollen's bald spüren! Ihr werdet Eure Freude haben; auch ich will dem alten Herrn im Adligen Hause einheizen. Und gebt acht – es wird bald brennen. Lichterloh, sage ich Euch!«

Der Junge lachte aus kampffrohen Augen. Dann aber winkte er dem Hirten zu.

»Na, macht's gut, Tillmann. Es zuckt mir in den Beinen, daß ich hinunterkomme.«

Noch ein Nicken zum Abschied, und mit starken Schritten eilte er zu Tal.

Gedankenvoll schaute ihm der Alte nach, bis das Buschwerk drunten ihn verschlungen hatte.

Gerhard Bertsch aber umfing wieder der Wald mit seinem Schweigen. Nur das Knacken des dürren Gezweigs unter seinem Fuß brach durch die grüne Einsamkeit.

So schritt er lange dahin, immer unter dichtem Blätterdach. Bisweilen lichtete es sich. Da lag im Walde verloren ein kleiner ebener Platz, grasbestanden. Doch mitten drauf eine schwärzlichgraue Schutzböschung, hier und da wohl auch rostzerfressenes Eisengerät. Alte Halden waren es, von verlassenen Bergwerksstollen – ein Zeichen, daß er sich den Siedelungen der Menschen nahte. Ungestümer noch ward Gerhard Bertschs Schritt, und nun trat er aus dem Walde heraus.

Dort lag das alte Land vor ihm, dem sein Sehnen gegolten, zehn lange Jahre hindurch. Das weite, langgestreckte Wiesental des Rauhen Grunds, rings von den Höhen gesäumt. Noch kämpften die Nebel um seinen Besitz. Aber siegreicher war die Sonne, die gerade strahlend über den Bergkamm emporstieg. Die durchbrach das Nebelheer. Da verkrochen sich seine versprengten Reste nach allen Seiten, hinauf in die Schlüfte der Bergtäler.

Frei ward der Blick. Gerhard Bertsch stand still. Sein Auge unterschied jetzt den aufblinkenden Fluß. Aus dem zerflatternden, sonnendurchleuchteten Morgendunst traten die Umrisse der Bäume und Häuser. Silbrig glänzten die Schieferdächer. An den jenseitigen Berghängen brachen scharf gezackt die dunklen Spitzen der Tannen durch. Immer goldener zitterte es in der Luft, bis nun der Sonnenschein ungehindert weithin den ganzen Grund überflutete, in siegreicher Pracht.

Und er drang auch dem einsamen Frühwanderer in die Brust, daß sie sich weitete, in schwellender, morgenjunger Kraft. So grüßte ihn die Heimat, nach langen Jahren draußen in der Fremde! Aber er verdiente auch solchen Gruß. Als ein treuer Sohn kam er wieder. Und nicht mit leeren Händen.

Freudiger Stolz leuchtete aus den Augen des Schauenden, wie sie das grüne Waldtal da drunten überflogen. Schön war die Heimat, doch arm. Aber er wollte sie reich machen! Reich, geachtet und berühmt. Weithin sollte der Name des Rauhen Grunds klingen. Das war seine Gabe, die er ihr aus der Fremde heimbrachte.

Sein Blick schaute voraus in die Zukunft. Sah ragende Essen, schwirrende Räder, ein Gewimmel werktätiger Menschen. Von den Berghängen dröhnte klirrender Sang der Eisenhämmer wider. Die rote Lohe züngelte lustig aus den Kaminen. Und noch weiter vorwärts stürmte der vorausschauende Blick.

Doch genug – Maß gehalten! Sich nicht ins Uferlose verlieren! Schritt für Schritt seinen Weg machen, mit gesammelter Kraft. So allein gelangt man ans Ziel.

Da riß Gerhard Bertsch sein Auge los von dem Bilde dort drunten, und mit ruhigem, aber förderndem Schritt legte er den Rest seiner Wanderung zurück.

Nun näherte er sich der Zeche Christiansglück. Sie lag bei dem Oberdorf, auf halber Höhe des Berghangs, noch ein gut Stück oberhalb der letzten Häuser. Es war eine Grube alter Art, wie sie alle hier im Lande, wo man schon zur Zeit der Kreuzzüge Eisen grub und schmiedete. Rußgeschwärzte, unansehnliche Fachwerkbauten gleich neben dem Schacht.

Heute am Sonntag war der Zechenplatz von Menschen verlassen. Nur vor dem baufälligen Maschinenschuppen standen zwei Männer und rauchten ihre Pfeife. Der Heizer, der das Feuer im Kessel ja auch den Feiertag über halten mußte, und der Bergverwalter. Behaglich, sich der Sonntagsruhe freuend, schmauchte der Heizer; aber der alte Manskopf, der Betriebsleiter der Zeche, stieß mit finsterer Miene die Tabakswolken von sich. Sie sprachen von dem neuen Herrn, den sie erwarteten. Schon zu dieser frühen Morgenstunde hatte er ja bereits sein Kommen angemeldet. Es sollte nun vorbei sein mit Manskopfs Selbständigkeit.

Es traf den Bergverwalter nicht leicht. Er war eine Persönlichkeit hier im Ort, dank seiner Stellung. Und er erfreute sich angesehener Verwandtschaft. Seine älteste Schwester war die Mutter vom Reusch-Hannes, vom Hirschenwirt drüben im Oberdorf, einem der vermögendsten Männer im Rauhen Grunde. Und nun kam dieser Grünschnabel, der »Amerikaner«, den die Herren Gewerken ihm vor die Nase gesetzt, und wollte hier regieren! Dies Jüngelchen, das noch nicht hatte über den Tisch sehen können, als er schon altbewährter Steiger war hier auf der Grube. Na – mochte er nur kommen. Noch war man ja auch noch da!

»Da ist er!« Der Heizer stieß den Verwalter an und deutete auf einen Mann, der jetzt quer über den Hang heraufkam.

»Na, da mach' dein Sach', Engelbert.«

Die beiden standen auf Du und Du, trotzdem Manskopf der Vorgesetzte war – wie das so Brauch im Rauhen Grund seit alters her. Alles, was Bergbau trieb, war Kamerad. Auch der Bergverwalter gewahrte jetzt den Herannahenden, aber er blieb stehen, wo er sich befand.

Mit verschränkten Armen sah er nur unter finster herabgezogenen Brauen zu dem Ankömmling hin, der jetzt den Zechenplatz betrat.

Bertsch kümmerte sich nicht um die beiden. Mit prüfendem Blick musterte er die Anlagen, trat hier- und dorthin, um genauer zu sehen. Dann kam er auf das Kesselhaus zu, doch sein Auge hatte nur Interesse für das Gebäude. Er schüttelte den Kopf.

»Ja, der reine Stall. Bruch – die ganze Geschichte hier! Na, soll bald anders werden.«

Laut sagte er es, und nun erst richtete sich sein Blick auf die beiden Männer. Ein festes Zugreifen.

»Glück auf zusammen!«

An den Hutrand tippend, trat er zu ihnen.

»Sie sind wohl der Verwalter?« wandte er sich an Manskopf.

In dessen Mienen hatte es aufgezuckt bei den abfälligen Worten über den Zustand der Anlagen. Jetzt neigte er kaum merklich den Kopf. Die Pfeife blieb im Mundwinkel.

Bertschs stahlgraue Augen weiteten sich ein wenig.

»Direktor Bertsch,« gab er sich zu erkennen. »Sie haben meinen Brief erhalten?«

Wieder ein Nicken.

»So führen Sie mich ins Betriebsbureau. Sie haben sich doch auf eine längere Besprechung eingerichtet?«

»Es ist Sonntag heute.«

»Das weiß ich. Aber Sie müssen diesen Vormittag schon einmal für mich zur Verfügung sein.«

Die Stimme blieb ganz ruhig, doch der helle Strahl seines Blickes drang dem anderen scharf in die Augen. Da machte sich der störrische Alte von seinem Pfosten los und schritt hinüber zum Zechenhaus, ins Bureau.

Bertsch folgte ihm schweigend. Aber wie sie drinnen standen und er seinen Hut abgelegt hatte, wandte er sich zu dem Bergverwalter, der mit mürrischer Miene den Schrank mit den Grubenbildern aufschloß.

»Noch ein Wort vorher.«

Der Alte drehte sich langsam um.

»Hier –.« Bertsch zog ein Schriftstück aus der Brieftasche und reichte es Manskopf hin. »Nehmen Sie doch das erst einmal zur Kenntnis.«

Widerwillig nur beugte sich der Verwalter darüber und studierte den Inhalt. Eine Erklärung des Grubenvorstandes, die den neuen Direktor ermächtigte, alle Beamten und Arbeiter der Zeche selbständig anzustellen und zu entlassen.

Da konnte Manskopf ein Erschrecken in seinen Zügen nicht verbergen. Bestürzt reichte er Bertsch das Schreiben zurück. Der legte ruhig das Papier wieder zusammen.

»Nun die Grubenbilder, bitte.«

Stumm ging Manskopf zu dem Wandschrank. Aber wie er dann die Mappen mit den Zeichnungen auf den Tisch vor den neuen Herrn legte, da zitterten ihm die alten Hände. Das ihm, der vierzig Jahre der Zeche treu und ehrlich gedient hatte!

Bertsch schien es nicht zu beachten. Er hatte sich bereits auf einem Stuhle niedergelassen und schlug die Mappen mit den Grundrissen auf. Dann wandte er den Kopf noch einmal über die Schulter zurück.

»Setzen Sie sich doch, Herr Manskopf – wir haben viel vor uns.«

* * *

Breit und massig lag das Adlige Haus drunten im Rauhen Grund. Noch heute wehrhaft mit dem Viereck seiner Quadermauern und umschlossen rings vom Wassergraben, den jetzt hochwipflige Kastanien beschatteten. Den Wanderer, der, Einlaß suchend, über die einstige Zugbrücke in die tiefe Torwölbung trat, schreckte am schweren Eichentor eine Unzahl Wildschweinsfüße, die dort festgenagelt waren.

Ein rauher Gruß, aber er paßte ganz zu dem trutzigen Gemäuer wie zu seinem Herrn.

Man sah Henner, den edlen Herrn von und zu Grund, kaum anders als in der Weidmannsjoppe. Auch heute, am Sonntag vormittag, trug er sie, wie er auf dem Hofe der Besitzung saß, unter der uralten Linde, wo sein Lieblingsplatz war, weilte er nicht draußen im grünen Revier. Heute hatte er den Weg dorthin schon hinter sich. Die Flinte hing noch neben ihm am Lindenstamm; an dem schweren Haken, der alljährlich zur Schlachtzeit das Schwein trug zum Ausnehmen.

Behaglich rauchte Henner von Grund vor sich hin aus der kurzen Jagdpfeife, von der er unzertrennlich war. Die Hünengestalt des graubärtigen Nimrod wuchtete schwer auf der Gartenbank; kaum, daß sie dem jungen Mädchen noch Raum gewährte, das neben ihm saß, ein Buch in der Hand. Aber plötzlich sah es auf und lauschte hinüber zum Geflügelhof.

»Was sind die Hühner nur mit einem Male so unruhig?«

Der Onkel neben ihr zuckte stumm die Schultern. Ihn interessierte nur jagdbares Getier. Hühnerzucht – Weibersache. Und er schmauchte weiter. Aber ängstlicher noch scholl das Gegacker von dort drüben her. Da erhob sich Eke von Grund.

»Ich will doch einmal nachsehen.«

Der Graubart unter der Linde hielt es nicht für wert, ihr nachzublicken. Gelassen stopfte er mit dem Daumen die Pfeife nach. Nun sah er doch auf. Eke kam zurück, eilends, und griff plötzlich nach seinem Jagdgewehr. Schweigend, ohne ein Wort.

»Halloh – was gibt's?«

»Ein Sperber.«

Und schon war sie zurück, drinnen im Gatter, und legte zum Schusse an.

Der Onkel folgte ihr, verdrossen, daß sie ihm zuvorgekommen. Sein scharfes Jägerauge richtete sich nach oben.

In der Tat – da hing er mit kurzem Rütteln, stoßbereit, der freche Räuber.

Jetzt hatte er sein Ziel gewählt, aber im selben Augenblick ein peitschender Knall, und mit zuckendem Flügelschlag fiel der braunweiße Körper schwer zu Boden.

Während Eke von Grund die noch rauchende Patrone aus dem Laufe warf, hob ihr Oheim den Sperber auf. Der Schuß war gut angebracht. Dennoch murrte er:

»Schade – der Balg ist hin.« Und er wies auf seinen Patronengürtel. »Nummer vier hätt's auch getan.«

»Bis ich die Patrone gewechselt, wär's wahrscheinlich zu spät gewesen.«

Ruhig erwiderte es Eke, während sie dem Onkel das Gewehr zurückreichte.

Der peitschende Schlag des Schusses, der so jäh die feiertägliche Stille auf dem Hofe zerrissen hatte, war auch ans Ohr des Besuchers geschlagen, der eben aus dem Schatten der Toreinfahrt in den sonnenflimmernden Hof des Guts trat. Pfarrer Burgmann.

Nun zogen sich die weißen Brauen in dem frischroten Gesicht zornig zusammen. Die fältchenübersäte, aber noch feste Hand über die blitzenden Augen legend, spähte er über den Hof, hinaus in den Sonnenglast. Richtig, da stand der Gutsherr ja noch, das Gewehr in der Hand. Hastig trat Pfarrer Burgmann auf ihn zu.

»Selbst am lieben Sonntag das lästerliche Geschieße. Sie geben wahrlich ein schlechtes Beispiel hier im Grund. Kein Wunder, wenn da in der Gemeinde so mancherlei zu wünschen übrigbleibt!«

Henner von Grund sah herum. Als er den schwarzen Priesterrock gewahrte, wandelte sich seine Zornmiene zu einem Lachen. Laut und ungehindert. Aber ehe er noch antworten konnte, war ihm Eke schon zuvorgekommen.

»Sie irren, Herr Pastor – diesmal war ich's, die schoß.«

»Um so schlimmer, solch unweibliches Unterfangen!«

Das Mädchen maß den Sprecher mit einem stolzen Blick. Doch dann blieb dieser an seinem weißen Haar haften. Da trat sie schweigend, an dem Geistlichen vorbei, wieder zu ihrem Platz an der Linde hin. Pfarrer Burgmann aber ereiferte sich, zu ihrem Oheim hingewandt:

»Freilich, wohl kein Wunder bei dieser eigenartigen Erziehung – zwischen Wild und Hund!«

Wieder nur lachte Henner von Grund sein dröhnendes Lachen.

»Sind Sie bloß hergekommen, Ehrwürden, um mir diese Extrapredigt zu halten?«

»Not tät's wohl! Denn die Kirche bekommt Sie ja nie zu sehen!«

»Und wird es auch nicht! Ich tauge nicht zwischen die Betschwestern, halte meine Andacht lieber draußen im grünen Walddom ab. Und unser Herrgott ist's auch so zufrieden.«

»Was wissen Sie von unserem Herrgott? Sie sollten seinen Namen lieber nicht so unziemlich im Munde führen!«

»Halloh, Pastor!« Im graubärtigen Antlitz schoß es auf. »Das verbitte ich mir! Wie ich's mit meinem Herrgott halte, das ist meine Sache – einzig und allein.«

Herrisch klang es. Aber aus den weißbebuschten Blauaugen des streitbaren Gottesmannes zuckte der gleiche Blitz.

»Ich hab' nun einmal allerlei auf dem Herzen, und es soll auch herunter, da wir zwei uns grad einmal gegenüberstehen!«

»Na, dann packen Sie mal gründlich aus. Nichts soll ja schlimmer sein, als eine versetzte Predigt.«

»Spotten Sie nur! Es steht Ihnen wahrlich wohl an, nach allem.«

»Zur Sache, Pastor!«

»Nun also – was haben Sie sich damals gedacht, als Sie der ganzen Gemeinde zum öffentlichen Ärgernis im Heu arbeiteten unter der Kirche am Sonntag vor Johanni?«

»Vor Johanni? – Warten Sie mal – jawohl, stimmt!«

»Und den Andächtigen recht zum Hohn noch obendrein im Gehrock, wie ihn nur der Kirchgänger anzieht!«

»Auch das stimmt. Gehrock, Glacés und Zylinder sogar. Nur – zum Hohn?« Ein gemütliches Kopfschütteln. »Im Gegenteil: Aus Hochachtung.«

»Treiben Sie Ihren Spott anderswo!«

»Nein, nein, Herr Pastor, mein vollster Ernst. Aus Hochachtung vor denjenigen meiner Mitarbeiter, die mich in der notwendigen Arbeit nicht im Stiche ließen.«

Ein zorniges Auflodern beim Pfarrer.

»Herr von Grund!«

»Bitte! Oder verdienten sie etwa diese Hochachtung nicht? Meine Leute – sie gehörten nota bene zu den Muckern, die neuerdings hier unten im Rauhen Grund ihr Wesen zu treiben beginnen, mein Herr Pastor! – die ließen mich im Stich. Trotzdem schwere Gewitter am Himmel standen. Na, da legt' ich eben selbst Hand mit an, und das liebe Vieh, meine letzten Mitarbeiter, ließ mich nicht im Stich, Herr Pastor.«

»Was soll das? Wollen Sie mich etwa verantwortlich machen für diesen Auswuchs am Körper unserer Kirche? Frömmigkeit predige ich, nicht Frömmelei. Mit den Muckern habe ich nichts zu schaffen!«

»Ja, jetzt verleugnen Sie sie, wo die Geister, die Sie riefen, Ihnen unbequem werden.«

Der weißhaarige Pfarrer stampfte heftig mit dem Fuß im derben Bauernstiefel auf. Doch dann machte er eine entschlossene Bewegung mit der starkknochigen Hand.

»Lassen wir das! Wir werden uns da ja nie verstehen. Ich kam auch nicht deswegen. Mir liegt anderes am Herzen, und da wenigstens hoffe ich auf Ihr Verständnis. Also – eine schwere Gefahr droht unserm Rauhen Grund!«

»Gefahr!«

»Ja – vom Bertsch-Gerhard.«

Das Mädchen unter der Linde horchte auf, aber Henner vom Grund wußte nicht gleich, wer gemeint war.

»Gerhard Bertsch?«

»Nun ja – der Sohn vom verstorbenen Bergverwalter, der vor zehn Jahren nach Amerika ging.«

»Ach der! – Also der ist wieder im Lande?«

»Schon eine ganze Weile, hat sich nur nicht hier blicken lassen, mit aller Absicht. Aber drunten in Siegen hat er schon seit Monaten sein Wesen getrieben.«

»Nun, und was will das Herrchen denn hier? Wohl unterkriechen, nachdem er draußen nicht mehr weiter kommt? Ja, so endet's immer!«

»Diesmal aber nicht. Dem Bertsch ist's geglückt. In Chile, oder wo er sonst war, hat er's zum Leiter eines großen Bergwerks und zu einem guten Stück Geld gebracht, und nun hat er Großes vor, hier bei uns.«

»Da bin ich in der Tat begierig!«

»Es ist gestern Gewerkenversammlung von Christiansglück gewesen in Siegen. Ich hört's heut' morgen droben vom Reusch. Bis in die späte Nacht ist's gegangen, sie sind sich fast in die Haare geraten, aber schließlich hat er's doch durchgesetzt, der Bertsch mit seinem geheimen Anhang – es war eben eine regelrechte Überraschung –, daß sie ihn zum Direktor der Zeche gewählt haben.«

»Direktor? Nicht schlecht!« Laut lachte Henner von Grund los. »Von dem Pütt, der bisher kaum noch einen Bergverwalter abwarf? Na, recht so – nur zu! Sie sind ja ohnehin am Ende mit ihrem bißchen Eisen.«

»Gewiß, für die bisherige Betriebsart. Aber sie wollen's nun ganz anders anpacken. Ganz modern, mit Dampf, Elektrizität, bis hinunter in Teufen, wo hier noch kein Mensch dran dachte. Da sollen noch gewaltige Mengen Erz anstehen.«

»Ach, Märchen! Der findige Herr hat's eben gelernt, bei den Yankees, das Goldmachen – aus anderer Leut's Taschen. Aber lassen Sie ihn nur ruhig machen. Wird nicht lange dauern, und die ganze Herrlichkeit kracht schönstens zusammen! Blauer Dunst, Pastor!«

Und der Gutsherr begann langsam auszuschreiten, nach der Linde hin. Burgmann blieb ihm zur Seite. So sagte er:

»Sie unterschätzen diesen Menschen doch etwas. Bertsch weiß natürlich, daß er allein nichts machen kann. Darum hat er Verhandlungen angeknüpft mit der Landesbank in Köln.«

»Hollah!«

»Ja, und ein Sachverständiger ist im Auftrag der Bank auch schon hier gewesen – erst gestern erfuhren's die Gewerken selber.«

»Nun, und –?«

»Sein Gutachten soll so günstig ausgefallen sein, daß die Bank sich zu einer Aktion entschließen dürfte. Die Gewerkschaft soll mit ihrer Hilfe in ein Aktienunternehmen umgewandelt werden.«

»Teufel – das wäre freilich etwas anderes! Dann kann's unserem Erbstollen schlimm gehen.«

Henner von Grund sprach im eigenen Interesse. Seine Familie war am Erbstollen seit alters her beteiligt, und er sogar der Repräsentant dieser ältesten Eisengrube des Landes. Seine Stirn furchte sich daher, wie er jetzt noch weiter sagte:

»Eine solche Konkurrenz – einfach fertig wären wir dann!«

»Mag wohl sein!« Gelassen gab es Burgmann zurück. »Aber nicht deswegen etwa komme ich zu Ihnen. Eine andere Gefahr meinte ich. Wenn's nun dem Bertsch glückt und mit Hilfe der Bank der Grubenbetrieb im großen anhebt, wenn Hütten- und Stahlwerke hinzukommen, wenn Hunderte, ja Tausende von landfremden Arbeitern hier einziehen in unser stilles Tal – das meine ich! Man hat's ja oft genug gehört von draußen in der Welt, wie's dann zugeht. Dann zieht auch ein neuer Geist mit ein, vorbei ist's mit alter guter Zucht und Sitte, die Bande von Ordnung und Gehorsam lösen sich an allen Enden.«

»Weiß Gott, ja!« Erregt stimmte Henner von Grund zu. »Man hat jetzt schon seine liebe Mühe und Not, hat man aber erst die Schlote im Land, dann bekommt man überhaupt keinen Menschen mehr zu landwirtschaftlicher Arbeit. Alles läuft dann zur Industrie, weil die Kerls mehr zahlen als unsereiner. Kunststück – wenn man so'n Sündengeld verdient wie die!«

»Aber soll man das dulden – alles wirklich so kommen lassen, hier im Rauhen Grund? Wo wir auf unserer Väter Scholle hausen auf unsere Art, so lang wir denken können! Auf unsere Art, auf die wir stolz waren von jeher, mit Recht! Soll da nun so ein hergelaufen Volk sich breitmachen und sein Maul aufreißen, als ob sie Herren wären im Lande?«

»Nein – das sollen sie nicht!«

Schmetternd fuhr Henner von Grunds Faust auf den Tisch unter der Linde, bei dem sie jetzt standen.

Befriedigt nickte der Alte im weißen Haar.

»Wußt's, daß Sie so sprechen würden, und darum kam ich her.«

Die hellscharfen, blauen Augen unter den weißen Brauen drangen jetzt fest in die des Gutsherrn, wie er nun fortfuhr:

»Wir sind nicht gerade Freunde gewesen bisher, Herr von Grund.«

»Nein – beileibe nicht!« lachte der andere.

»Aber das ist von jeher so Brauch gewesen unter uns Männern vom Rauhen Grund: Immer im Kampf miteinander. Doch kommt der Landfeind von draußen – dann stehen wir zusammen.«

»Hol mich der Teufel, ja!« Und schallend schlug Henner von Grund in die starkknochige Hand Burgmanns. »Das soll gelten! Er soll sich verrechnet haben, dieser Herr Bertsch, der da meint, unser Rauher Grund wäre nur grad' so ein Fressen für ihn!«

»Und wie gedenken Sie's anzugreifen?«

»Wir dürfen's nicht zur Verbindung mit der Bank kommen lassen. Das müssen wir hintertreiben, unter allen Umständen!«

»Aber wie?«

»Wir müssen Einspruch erheben, irgendwelcher Art. Gründe werden sich schon finden lassen – wozu wären wir Grubennachbarn. Kurzum, wir schikanieren diese Kerls, hinten und vorn.«

»Da werden sie zum Bergamt laufen.«

»Um so besser. Dann treiben wir's zum Prozeß. Und ist die Sache erst bei den Advokaten, dann ist sie gut aufgehoben. Die lassen solchen fetten Bissen nicht mehr aus den Krallen, und darüber dürfte dann wohl der Landesbank der Appetit vergehen.«

»Hm – der Gedanke scheint mir in der Tat nicht schlecht.«

»Gut ist er. Ausgezeichnet! Und für alles übrige lassen Sie nur meinen Steiger sorgen, den Hannschmidt. Das ist ein Fuchs, mit allen Hunden gehetzt!« Vergnügt lachte der alte Weidmann in sich hinein. »Der wird dem klugen Herrn aus Amerika schon genug zu schaffen machen.«

Und weiter sprechend, geleitete der Gutsherr seinen sich nun verabschiedenden Besuch zum Torgewölbe.

Mit einem eigenen Blick sah Eke von Grund den beiden nach. Es war ihr ganz sonderbar zumute gewesen, wie sie eben der Unterhaltung zugehört hatte. Als ob eben draußen an der Schwelle dieses weltentlegenen Tals plötzlich einer angeklopft hätte mit starker Hand. Einer, der die Tür weit aufreißen wollte. Unwillkürlich dehnte sich ihr da die Brust.

»Nun, und was sagst du zu diesen Neuigkeiten?«

Henner von Grund, der zurückgekehrt war, fragte es die Nichte.

Eke hob langsam den Kopf aus ihrem Sinnen.

»Ich meine, es wäre gut. Das Leben will herein in diese Einsamkeit.«

»Das Leben! Sprichst ja gerade, als ob wir bisher schliefen hier!«

»War's denn etwa anders?«

»Redensarten! Schaff dir Arbeit in Haus und Hof, so hast du Leben genug.«

Eke von Grund heftete einen langen Blick auf den Oheim, aber sie schwieg. Wozu reden, wenn man doch nicht verstanden wurde.

Henner von Grund zündete sich währenddessen die erloschene Pfeife wieder an. Nun sagte er aus seinen Gedanken heraus geringschätzig:

»Der Bursch! So ein Vagabund! Und das will hier alles auf den Kopf stellen!«

Doch da sah Eke herüber.

»Warum sprichst du so von dem jungen Bertsch? Er hat's doch zu etwas gebracht da draußen. Oder ist's schon allein ein Verbrechen, überhaupt hinauszuziehen in die Welt?«

»Na, wer ein tüchtiger Kerl ist und ehrliche Arbeit nicht scheut, hat's jedenfalls nicht nötig, sich draußen rumzutreiben.«

»Aber wohl der, der's weiter bringen will, als die andern hier.«

»Zum Henker, wir wollen aber gar nicht weiter hier! So wie es ist, ist's gut.«

Da hob Eke von Grund nur die Schultern und griff wieder nach ihrem Buch. Aber ihre Gedanken gingen einen andern Weg.

Also das war aus dem Gerhard Bertsch geworden. Sie kannte ihn ja gut. Wie es so geht, wenn man aufwächst in solchem Nest. Und sie stellte sich den ungeschickten großen Jungen vor, über den sie sich manchmal lustig gemacht, wie ein geschmeidiges Kätzchen, das mit einem täppischen jungen Hunde spielt.

Freilich, es steckte Mut in dem Bertsch-Gerhard schon damals. Er wußte, was er wollte. Und was er wollte, das setzte er durch. Im Spiel wie im Ernst. Er hatte einen Starrkopf, über den sie sich damals oft geärgert hatte. Sie hatten daher eigentlich auch stets im Kriegszustand gelebt miteinander.

Aber trotzdem freute sie sich jetzt ordentlich, daß er da war, um hier gründlich zuzupacken mit seiner grobschrötigen Faust. So würde sich doch endlich einmal etwas begeben in diesem toten Winkel, wo die Zeit stillzustehen schien.

Willkommen denn wieder daheim, Gerhard Bertsch!

* * *

Volle sechs Stunden hatte Bertsch mit dem Bergverwalter im alten, baufälligen Zechenhause gesessen, ohne aufzusehen von den Grubenbildern, die sich unter seiner Hand mit roten Strichen bedeckt hatten. Nun aber schob er doch die Pläne zurück. Er zog die Uhr – dicht vor zwölf. Da lachte er und blickte zu dem Verwalter hin.

»Na, da werden wir doch wohl mal 'nen Augenblick aufhören müssen, Manskopf. Ihre Familie will ja schließlich auch noch was von Ihnen haben am Sonntag. Also denn bis morgen früh! Ja – Punkt sechs bin ich wieder hier oben.«

Der Verwalter erhob sich. Im Laufe dieser Stunden hatte er seinen Frieden gemacht mit dem neuen Herrn. Wollte ihm auch vieles von dem, was er gehört, nicht in den alten Kopf, das eine hatte er doch erkannt: Er verstand etwas von der Sache und wußte, was er wollte. Da mußte man sich denn wohl abfinden mit den neuen Verhältnissen. Und mit einem Gruß, der noch immer grollte und doch schon insgeheim Versöhnung bedeutete, ging er.

Gerhard Bertsch nickte ihm nach, mit einem Lächeln. Ja, so waren sie eben einmal hier, die Leute im Rauhen Grund. Immer erst durch Gegnerschaft kam man zur Freundschaft. Aber die hielt nachher auch doppelt dafür. Na, er und der Manskopf, sie würden sich auch noch verstehen lernen.

Und Gerhard Bertsch erhob sich nun auch seinerseits, griff nach dem Hut und trat jetzt vors Haus. Sein Blick glitt hinunter zu dem Ort. Er lag in feiertäglicher Stille. Aus allen Häusern kräuselten weißblaue Rauchwölkchen auf. Dort schmorte der Sonntagsbraten. Da fiel es ihm ein: Seit vier Uhr heute früh, wo er von der Bahnstation aufgebrochen zu seinem Waldgang hierher, hatte er nichts mehr genossen. Und damit stiegen all die Fragen des täglichen Lebens auf, die doch hier auch noch zu erledigen waren. Wo würde er wohnen und sich verpflegen?

Einen Augenblick blieb Bertsch stehen, aber gleich wieder schritt er weiter, was sich lange aufhalten mit diesen Nebensächlichkeiten? Er würde sich fürs erste einfach im »Hirschen« beim Reusch-Hannes in Quartier geben. Da war man ganz gut aufgehoben, wenigstens früher.

So kam Gerhard Bertsch vor Reuschs Gasthof. Er nickte befriedigt. Ja, alles noch beim alten! Behäbig und freundlich grüßte ihn das Haus mit den grünen Läden an der sauber geweißten Wand. Und auf der Bank über der Vortreppe saß, wie früher immer des Sonntags auch, die Reusch-Mutter. Geruhsam hatte die alte Frau die Hände im Schoß gefaltet und blickte sinnend vor sich hin in das Sonnengeflimmer.

Schnell sprang Bertsch die paar Stufen empor.

»Grüß Gott, Mutter Reusch! Na, kennen Sie mich noch wieder, den Amerikafahrer? Den Bertsch-Gerhard, mit dem Sie so manchmal Ihre liebe Not gehabt als Jungen?«

Lachend schüttelte er ihr die Hände, indem er ihr voll ins Antlitz sah.

»Was Sie sich gut gehalten haben, Mutter Reusch! Ja, gar nicht verändert. Noch genau so, wie vor zehn Jahren.«

»Doch nicht ganz, Herr Bertsch – ich sehe Sie nicht mehr.«

»Was denn!« Er schrak zurück und starrte auf ihre Augen, die ungewiß nach ihm suchten. Da fügte er leiser hinzu: »Wirklich?«

Die Reusch-Mutter nickte ruhig. Ihr feines Altfrauengesicht unterm blendend weißen Häubchen behielt seinen freundlichen Ausdruck, wie sie nun erwiderte:

»Ja, blind – seit drei Jahren schon.«

»Aber mein Gott, wie kommen Sie denn dazu, liebe Mutter Reusch? Sie, die Sie doch immer so gesund waren, zeit Ihres Lebens!«

»Gott hat mich wohl strafen wollen damit.«

»Strafen?« Unwillig klang es. »Wenn je ein Mensch gut war, dann doch gewiß Sie!«

»O nein! Das nicht. Wenn man erst anfängt, so nachzudenken über sich – und ich hab' ja nun Zeit genug dazu –, so merkt man erst, wie es wirklich mit einem steht. Ich war von heißem Blut früher, manchmal hart und ungerecht zu den Menschen. So ist's denn wohl nur gut, daß es so gekommen ist. Jetzt mühe ich mich, diese Fehler abzulegen und meine Schuld gutzumachen.«

Gerhard Bertsch griff noch einmal nach ihren Händen, mit festem Druck.

»Nein, Mutter Reusch, nicht so denken! Nicht immer suchen nach einer Schuld bei jedem Unglück, das uns befällt durch blinden Zufall.«

Doch da wandten sich ihm die lichtlosen Augen zu, und ernst klangen ihre Worte:

»Wäre es wirklich nur blinder Zufall – glauben Sie, mein Los wäre leichter zu ertragen? Müßte sich da nicht der Trotz auflehnen und murren: warum gerade mir solch Unglück – nein, lassen Sie mir lieber meinen Glauben!«

Gerhard Bertsch verstummte. Die Greisin aber hielt noch immer seine Hand. Jetzt fühlte sie leise darüber hin.

»Sie sind groß geworden und stark, Herr Bertsch. Und Glück haben Sie gehabt in der Fremde.«

Ein Verwundern überkam ihn.

»Wie wollen Sie mir das anmerken, Mutter Reusch?«

Sie lächelte mit dem geheimen Stolz der Blinden.

»Oh, das lernt unsereins. Aber es ist keine Hexerei dabei. So aufrecht und fest wie Sie kehrt keiner heim, den das Glück draußen trog. Und nun wollen Sie wieder bei uns bleiben?«

»Ja, ich übernehme die Leitung von Zeche Christiansglück.«

»Dann Glück auf, Herr Bertsch! Aber vergessen Sie nie: Wer Bergwerk will bauen, muß Gott vertrauen.«

»Und auf sich selber,« fügte er hinzu, während er ihr fest die Hand drückte. Doch dann gab er sie wieder frei.

»Aber Sie müssen mich schon entschuldigen, mein Magen knurrt nämlich ungemütlich. Hoffentlich hat die junge Frau drinnen was Gut's für mich im Topf.«

»Meine Schwiegertochter finden Sie dort im Hause nicht mehr vor. Die ruht schon lange unterm grünen Rasen.«

Er schwieg betroffen. Dann sagte er wieder:

»Ja, ja – wenn man zehn Jahre in der Fremde ist! – Da steht jetzt wohl Ihre Enkelin dem Hauswesen vor, die kleine Magri?«

»Die werden Sie auch nicht mehr wiedererkennen. Aus der kleinen Magri ist eine große Dame geworden.« Sie sagte es in eigenem Ton. »Nun, Sie werden ja sehen. Aber um Ihr Essen will ich mich doch lieber selber kümmern bei der Mamsell.« Und die alte Frau erhob sich. »Die Magri läßt sich nämlich nicht allzuviel in der Küche blicken. – Danke, es braucht keiner Hilfe. Ich kenne ja jeden Schritt hier im Hause.«

Noch in Gedanken trat Bertsch in das Herrenstübchen des Gasthauses ein. Einen anheimelnden Raum, überall Jagdtrophäen über den Holzpaneelen. In der Ecke, hinterm grünen Kachelofen am Stammtisch, saßen zwei Herren. Ein kurzes, gegenseitiges Sichanblicken, dann sprang der eine drüben vom Sofa auf.

»Gerhard – also wirklich!«

Und freudig kam er ihm entgegen.

»Hannjörg, alter Kerl!« Froh drückte Bertsch Doktor Herling die Hand. »Wußte es ja zwar, daß ich dich hier antreffen würde, hörte es schon unten in der Stadt, daß du dich hier niedergelassen – aber nun freut's mich doch! Aber der da? –« Und Bertsch wandte jetzt den Blick dem sitzengebliebenen Herrn auf dem Sofa zu. »Kennen tu' ich das Gesicht natürlich auch. Aber wer nur gleich?«

»Na, doch der Steinsiefen! Wer sonst wohl?«

»Richtig – der Karl Steinsiefen! Aber wie sollte ich den auch wiedererkennen!« Und Bertsch lachte, wie er jetzt zu dem andern Jugendgefährten herantrat. »Wie kommst du denn zu diesem Husarenbart? Siehst ja geradezu gefährlich unternehmend aus!«

In dem Gesicht Steinsiefens zeigte sich trotz des martialischen Schnurrbarts etwas Verlegenes, Unbehagliches. Bertsch hatte doch noch immer genau dieselbe unangenehme Art wie früher. Dieses lachend Überlegene. Und mit einem geheimen Widerstreben nur überließ er seine Rechte dem andern, der ihn ungeniert musterte, wie mit einer geheimen Belustigung. Zum Donnerwetter, er war aber nicht mehr der dumme Junge wie früher, der sich von so etwas einschüchtern ließ!

Und so sagte er denn jetzt unwillig:

»Na, hast du mich nun lange genug angestarrt?«

»Holla – so energisch geworden?« Und aus Bertschs Lachen klang wieder der Ton, der ihn nicht recht ernst nahm. Steinsiefen wollte ärgerlich erwidern, doch der Eintritt des Wirts ließ ihn nicht dazu kommen. Schnell kam der bewegliche, kleine Mann heran.

»Sieh da – der Herr Bertsch! Also haben die Leute doch recht gehabt, die Sie schon heute morgen in aller Frühe bemerkt haben wollen.«

»Scheint wohl so, Reusch-Hannes! Na, wie geht's uns denn?«

»Danke, könnt' zehn Prozent besser sein!« Doch die lustigen, klugen Augen des Graukopfes straften seine Worte Lügen. »Aber sagen Sie: Ist's wirklich wahr, Sie wollen wieder hierbleiben?«

Ein Nicken.

»Und ganz im großen soll's nun hergehen auf Christiansglück? Da werden Sie wohl tüchtig aufräumen hier, mit all den kleinen Pütts – so einen nach dem andern langsam überschlucken.«

Er sagte es scherzend, doch dahinter verbarg sich die leise Furcht für die eigene Grube, den Erbstollen, an dem er einer der Hauptbeteiligten war. Sein Blick spähte dann auch heimlich in Bertschs Mienen. Die aber blieben undurchdringlich. Da forschte er noch weiter:

»Und ist's denn richtig – die Landesbank ist interessiert an Christiansglück?«

»Fragen Sie sie doch selbst.« Bertschs ablehnender Ton beugte jeder weiteren Vertraulichkeit für die Zukunft vor. Doch dann sagte er leichter: »Aber, was ich Sie fragen wollte – ich suche ein Unterkommen hier im Ort, Wohn- und Schlafzimmer –, hätten Sie im Hirschen Platz für mich?«

»Das wohl, wenn's dem Herrn Direktor nur fein genug sein wird bei uns.«

»Ich habe droben in den Kordilleren jahrelang im Zelt gehaust. Also – wie ist's?«

»Dann will ich mit meiner Tochter reden.« Hannes Reusch ging zur Tür und rief über den Flur hinüber: »Magri, komm doch als gleich mal her!«

Aber die Gerufene erschien trotzdem fürs erste noch nicht. Statt ihrer trat von drüben, aus dem Familienzimmer, jetzt ein junger Mensch herein, mit städtischer, etwas auffallender Eleganz gekleidet.

Verwundert blickte Bertsch auf. Hannes Reusch bemerkte den fragenden Blick. Da legte er seine Rechte auf die Schulter des jungen Menschen, der jetzt zu ihm trat.

»Sie kennen wohl meinen Sohn Hermann gar nicht mehr?«

»Was? Das ist der Mannes? Der kleine Mannes!«

»Ja, der Jung hat sich geröstert – was?«

Mit Vaterstolz sagte es Reusch, doch ungeduldig entzog sich der Sohn seiner Hand, die ihm die Schulter klopfte.

»Na, da lassen Sie sich mal näher beaugenscheinigen, Herr Reusch junior.« Bertschs Blick streifte mit leisem Lächeln den auffallend hellen Anzug bis hinab zu den farbigen Strümpfen und gelben Halbschuhen. »Aufmachung – tadellos! Gratuliere. Na, und sonst? Wir sind wohl am Ende gar Student?«

»Warum nicht? Wenn ich gewollt hätte! Glauben Sie, daß Sie das allein könnten in Rödig?«

Hochmütig blickte er Bertsch aus dem hübschen Gesicht an. Hannes Reusch aber erklärte:

»Wenn auch nicht studiert – ich wollt's nicht, der Mannes soll doch mal den Hirschen übernehmen –, so hat er's doch bis zur Prima gebracht auf dem Gymnasium, und nachher sein Jahr abgedient – in Kassel, bei den Husaren.«

»So, so – na, das ist ja schön.«

»Ja, man kann's auch hier zu was bringen, Herr Bertsch.«

»Gewiß, ohne Zweifel.«

Und Bertschs Blick streifte noch einmal ironisch die Erscheinung des aufgeputzten Wirtssohnes. Doch da ging hinter ihm die Tür. Er sah herum.

Ein junges Mädchen trat ein, einfach, aber sehr gut angezogen. Der knappe, sandfarbene Kostümrock und die weiße Batistbluse brachten ihre feine Biegsamkeit aufs vorteilhafteste zur Geltung. Also das war die Magri! Wahrhaftig, die Reusch-Mutter hatte recht gehabt vorhin: Eine Dame – wirklich eine Dame! Ganz betroffen hing Bertschs Blick an ihr.

Die Eintretende gewahrte unter den halbgesenkten dunkeln Wimpern mit unmerklichem Seitenblick dies Verwundern. Aber sie nahm anscheinend von dem neuen Gast keine Kenntnis, sondern trat auf den alten Reusch zu.

»Du riefst mich, Vater?«

»Ja, Magri. Hier – der neue Grubendirektor von Christiansglück will bei uns wohnen. Aber du kennst ihn ja wohl von früher? Herr Gerhard Bertsch – weißt du, der Sohn vom toten Bergverwalter.«

»Ja, ich besinne mich.«

Und Margarete Reusch sah jetzt zu dem Gast hinüber, der sich unwillkürlich erhob. Mit einem kleinen Kopfnicken dankte sie. Reserviert – herablassend.

Aber da regte es sich bei Bertsch. Damit hatte sie bei ihm kein Glück! Und er lachte.

»Was soll diese feierliche Vorstellung? Die Magri und ich kennen uns doch ganz genau. Alte Spielkameraden, wenn ich freilich auch ein halb Dutzend Jahre älter bin. Nicht? Also guten Tag, Fräulein Magri.«

Und er streckte ihr die Rechte hin. Sie überließ ihm ihre Fingerspitzen, aber eben nur einen Augenblick, und ging auf seine Worte nicht ein. Immer noch ganz kühle Zurückhaltung.

Im Antlitz Karl Steinsiefens, der aus der Ecke her gespannt diese erste Begegnung der beiden beobachtet hatte, glänzte es auf, in geheimer Genugtuung.

»Prost, Hermann!« trank er vertraulich ihrem Bruder zu. Herausfordernd klang es zu Bertsch hin. Er wollte ihm zeigen, gleich von Anfang an, wie hier der Wind wehte.

»Also der Herr Bertsch will bei uns Wohnung nehmen, Magri. Welche Zimmer würden wir ihm denn am besten geben?«

Die feinen Schultern, die mit mattem Elfenbeinton durch den duftigen Batist der Bluse schimmerten, hoben sich. Eine nachlässige Bewegung.

»Würdest du das nicht besser mit Mamsell besprechen, Vater?«

»Freilich wohl –!« Der alte Reusch fühlte sich ordentlich verlegen vor der vornehmen Art seiner Tochter. Dennoch strahlte sein Auge auf, wie er sie so dastehen sah. Ja, seine Kinder! Doch nun fuhr er fort: »Na, wo du nun grad' als mal hier bist –, und Mamsell hat ja auch in der Küch' zu schaffen – möchtest du da nicht doch die Sach' selbst in die Hand nehmen?«

Es war ein Bitten. Da ließ sie sich herab.

»Wenn ich dir damit einen Gefallen tun kann, gewiß, Vater.«

»Also, Herr Bertsch – wenn Sie denn gleich mal hinaufgehen wollten mit der Magri und sich die Zimmer aussuchen?«

Bertsch nickte und trat um den Tisch herum zu ihr.

Karl Steinsiefen sah es mit Unbehagen, und er beschloß, einen Trumpf auszuspielen. Auch er erhob sich und kam nun zu dem Mädchen, in der Hand einen Strauß Rosen, den er neben sich auf dem Sofa liegen gehabt hatte, seine übliche Sonntagsaufmerksamkeit. Er hatte ihr die Blumen freilich bei passender Gelegenheit unter vier Augen geben wollen, aber nun war's doch besser so! Und er reichte ihr die Rosen hin:

»Darf ich mir erlauben, Fräulein Marga? Für Ihren Gürtel!«

Mit einem heimlichen Triumphgefühl gegen den Gegner, der halb hinter ihm stand, sah er Margarete erwartungsvoll ins Gesicht.

Leicht nickend nahm sie die Blumen. Ihr erster Gedanke war, sie in der Tat im Gürtel zu befestigen. Gerade Bertschs wegen. Doch da gewahrte sie über Steinsiefens Schulter hinweg sein leises Lächeln.

Mit einer schnellen Bewegung legte sie die Rosen aus der Hand, neben sich auf den Tisch, nur mit einem flüchtigen »vielen Dank« zu dem Geber hin. Kurz kehrte sie sich dann zur Tür, es Bertsch überlassend, ob er ihr folgen wollte.

Enttäuscht blickte Steinsiefen ihr nach und dem andern, der sich ihr mit ruhigem Schritt anschloß. Dann hob er den vernachlässigten Strauß auf und tat ihn in die Vase, die auf dem Klavier am Fenster stand. Da würde sie ihn nachher schon finden und noch an sich nehmen.

Die beiden stiegen inzwischen die Treppe empor, ohne etwas zu sprechen. Nun öffnete das Mädchen droben in dem langen Gang eine der Türen. Schweigend wies sie hinein in das Zimmer und den angrenzenden Nebenraum.

Er warf einen flüchtigen Blick über die beiden Stuben hin.

»Gut – ich nehme die Zimmer. Ich möchte Sie nicht noch weiter bemühen.«

»O bitte –,« aber es klang kühl. Sie ging ein paar Türen weiter und schloß auch dort zwei ineinandergehende Räume auf.

»Danke – es ist mir wirklich ganz gleich, wo Sie mich unterbringen, Fräulein Magri – aber Sie hören sich wohl lieber Fräulein Marga nennen? Die altväterische Rufform ist Ihnen offenbar nicht genehm?«

Sie hörte den Spott aus seinen Worten, da sagte sie schroff:

»Sie brauchten sich den Kopf hierüber überhaupt nicht zu zerbrechen, wenn Sie mich nennen würden, wie es mir zukäme.«

»Gnädiges Fräulein also!«

»Das wäre wohl in der Tat das passendste – wäre nicht diese Umgebung hier.«

Es zitterte aus ihrem kalt ablehnenden Ton doch leise etwas Wundes. Forschend sah er auf das verfeinerte, schöne Geschöpf und begriff plötzlich: ihr Stolz litt schwer unter dieser ihr aufgezwungenen Rolle der Wirtstochter. Da erwiderte er ernster:

»Sagen wir denn: Fräulein Reusch. Das trifft wohl das Richtige.«

Sie trat indessen zum Fenster und ließ frische Lust hinein.

»Es war lange geschlossen,« sagte sie wie zur Entschuldigung. Er aber antwortete nichts, sondern verfolgte nur ihre Bewegungen, wie sie jetzt mit erhobenem Arm die verschobenen Gardinen wieder ordnete. Schön war sie geworden – ganz ohne Frage. Und dieses Rassige, Stolze an ihr! Wo hatte sie das nur hergenommen?

Er stellte sich das halbwüchsige, schmale Ding vor, als das er sie gesehen – damals, als er vor zehn Jahren das letztemal hier gewesen in den Ferien, noch als Student. Freilich, ein paar Augen hatte sie schon damals gehabt. Augen, in denen tausend Teufelchen ihr Wesen trieben. Und plötzlich schoß ihm eine Erinnerung auf. Herrgott ja – daß ihm das erst jetzt wieder einfiel.

Damals am letzten Tag auf der Kirmes! Es war lustig zugegangen – so die richtige Bowlenstimmung – da hatte er auch sie, den Backfisch noch im halblangen Kleidchen, in einer ausgelassenen Laune zum Tanz geführt. Weil ihn diese dunklen Augen aus der Ecke der Halbflüggen her gar zu begehrlich verfolgten – ihn, den flotten Studio, der der beliebteste und vornehmste Tänzer gewesen auf dem ganzen Fest. Und das kleine Ding hatte getanzt, sich in seinen Arm geschmiegt – ganz warm war's ihm dabei geworden. Da war's denn geschehen: Wie er sie wieder zurückführte aus dem Tanzzelt zu ihrem Platz, da hatte er sie auf dem Wege im Dunkeln plötzlich an sich gezogen, ihren Mund gesucht. Und sie hatte sich nicht sonderlich gesträubt. Im nächsten Moment aber war sie ihm entschlüpft.

Dies kleine Abenteuer stand ihm jetzt wieder so lebendig vor der Seele, wie er sie so sah am Fenster mit den schlanken, geschmeidigen Gliedern.

Ob auch sie wohl noch an jenes Erlebnis denken mochte? Und wenn – mit welchen Empfindungen? Verleugnete jetzt die kühl beherrschte Dame den wilden Backfisch von damals?

Sein Auge hing an ihr, auch nun, wo sie sich unerwartet umwandte. Jetzt trafen sich ihre Blicke, und – war es ihm nur so, oder kam da in ihr Auge unter seinem Forschen plötzlich ein unsicheres Sirren – wie erinnerungsbewußt?

Aber doch wohl nur eine Täuschung, denn Marga Reusch fragte wieder ganz mit ihrem selbstsicheren, zurückhaltenden Tone:

»Also, Sie nehmen die Zimmer?«

Er bejahte mit einem Kopfnicken und folgte ihr dann wieder hinab ins Gastzimmer.

Doch man blieb dort nicht mehr lange zusammen. Doktor Herling zog seine Uhr und erhob sich.

»Gleich eins – da muß ich heim. Aber weißt du was?« wandte er sich an Bertsch: »Komm mit zu Tisch.«

»Wie – du bist verheiratet?«

»Nein, nur eigene Wirtschaft.«

»Gott sei Dank – ich bin nämlich als Tafeldekoration nicht sonderlich zu gebrauchen.«

»So verwildert da drüben? Also höchste Zeit, daß du wieder in gute Hände kommst. Nun kannst du hier ja auch Umschau halten unter den Töchtern des Landes, als wohlbestallter Herr Direktor.«

Bertsch lachte.

»Ich glaube, da habe ich Wichtigeres zu tun.«

Marga Reusch, die mit ihrem Bruder und Steinsiefen abseits am Fenster stand und wie von ungefähr herübergesehen, ließ den Blick langsam wieder abgleiten – ganz Gleichgültigkeit.

»Stolz lieb ich den Spanier!« zitierte Doktor Herling und griff nach seinem Hut. »Na, wir können das Thema ja zu Hause weiterspinnen.«

»Ich weiß doch nicht – Bertsch warf einen Blick zum Fenster – »ich hatte mir das Essen bereits hier bestellt.«

»Ach, das läßt sich schon noch rückgängig machen, nicht wahr, Fräulein Marga?«

Das Mädchen nickte nachlässig zurück.

»Selbstverständlich.«

»Also komm!«

Ein kurzer Abschied, namentlich kühl von Steinsiefens Seite, dann waren die Freunde draußen. Da wandte sich Bertsch an den Doktor.

»Du – was ist das eigentlich mit dem Steinsiefen. Der tut ja wahrhaftig, als wär' er jemand.«

»Ja, dem ist das Glück in den Schoß gefallen – wirklich sozusagen im Schlaf. Weißt ja, er war immer ein Schlummerkopf. Hat's daher nie zu was Rechtem gebracht. Aber vor zwei Jahren, wie er da mal oben im Wald rumbummelt und von Gott weiß was träumt, stolpert er über einen Stein, und wie er sich den Schaden besieht, ist's der schönste Basalt. Hat der Glückspilz einen kolossalen Steinbruch entdeckt, von dem kein Mensch eine Ahnung gehabt, in allernächster Nähe des Orts!«

»Wo?« Und Bertsch blieb stehen.

»Droben auf dem Jägerkopf.«

»Und der Bruch ist wirklich ergiebig?«

»Enorm, er kann ihn nur nicht genügend ausnutzen. Zu wenig Abnehmer hier in der Gegend. Aber er könnte fünfzig Waggons den Tag und mehr liefern.«

»Ausgezeichnet!« In Bertschs hellen Augen blitzte es auf, überlegen. »So werde ich also ein gutes Geschäft machen mit dem Schlummerkopf – sobald's so weit ist.«

Und sein Technikerblick lag prüfend drüben auf dem Hang, schätzte Distanzen und Gefälle ab, berechnete und konstruierte, und sah bereits die künftige Drahtseilbahn zur Grube hin mit den hoch durch die Luft schwebenden Förderkörben – in unermüdlichem Kreisen.

»Was sagst du übrigens zu der Magri?« klang es jetzt von seinem Begleiter herüber. »Hat sich rausgemacht, das Mädel – was?«

Irgendeine zustimmende Bewegung bei Bertsch; seine Gedanken waren noch immer bei dem Basaltbruch.

»Aber sie weiß auch, was sie wert ist. Der Steinsiefen wird keine Seide bei ihr spinnen.«

Bertschs Blick kehrte langsam von der Höhe drüben zurück.

»Steinsiefen – so? Hat der Absichten mit ihr?«

»Na, das hätt'st du doch schon merken können!«

»Und sie?«

»Es wird ihr schließlich wohl nichts anderes übrigbleiben. Sie hat ja keine Wahl hier. Der Alte hat ihr im Grunde einen recht schlechten Dienst erwiesen, als er sie nach Wiesbaden ins Pensionat geschickt hat. Nun ist sie zu schade für die Bauern hier.«

Bertsch nickte. Dann fragte er nach einer Weile gerade heraus: »Warum heiratest du sie nicht?«

»Ich – daß mich Gott bewahre!«

»So bange?«

»Ich will doch meine Ruhe haben, wenn ich mal heirate.«

»Ja, freilich!« spottete Bertsch. »Die Zipfelmütze über die Ohren ziehen und schnarchen! Philister du!«

»Es kann doch nicht jeder ein Heros sein. Übrigens, wer weiß, ob du selber noch fertig werden würdest mit einem Frauenzimmerchen wie der Magri!«

Gerhard Bertsch lachte nur, aber es ging wie ein Straffen durch seine starken Glieder. Eine spielende Lust am Kampf und Kräftemessen.

Mit einem leisen Seufzer gewahrte es der Arzt; halb Neid, halb Bewunderung. Dann schob er die goldene Brille zurecht.

»So – da wären wir angelangt bei meiner keuschen Junggesellenklause.« Und er öffnete die Haustür. »Tritt ein, Heraklide, über die Philisterschwelle!«

* * *


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