Paul Grabein
Die vom Rauhen Grund
Paul Grabein

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Wieder einmal kam der Lenz ins Land mit lachendem Sonnengruß, der froh in alle Herzen drang, und schaute sich um, wie's stand im Rauhen Grund. Aber da gab es genug zu bewundern.

Gleich bei seinem Eintritt drunten im Tal, wo der Fluß sich seinen Weg durch die Berge gebrochen hatte, wühlten sie wie die Maulwürfe. Statt der lichtgrünen Wiese, die dort sonst stets den Frühling zu grüßen pflegte, gähnte jetzt eine tiefe, haushohe Grube, und so groß, als wollten sie das ganze Dorf darin begraben mitsamt der Kirche.

Und in dieser Riesengrube, wie droben in den benachbarten Bergen, an den Steinbrüchen, ein Rasseln, Krachen, Schüttern, Gellen – Tag und Nacht. Ein Ameisengewimmel von Menschen, die sich mühten im Schweiße ihres Angesichts, Lasten zu heben und weiterzuschleppen. Hunderte, viele Hunderte. Hell schwangen ihre Schreie, ihre Verständigungssignale über dem ständigen dunkeln Brausen ihrer Gigantenarbeit. In seltsamem Sprachgewirr. Ein dämmerndes Erinnern kam da dem Lenz. Aus uralter Zeit der Erde: War das nicht ganz so wie damals im fernen Morgenlande, zu Babel, als menschlicher Fürwitz und Hochmut auch so den Himmel hatte stürmen wollen?

Aber noch viel verwunderlicheres gab es zu sehen. Nahe davon, aber unterhalb der Sperrmauer, wo schon die riesige Kraftzentrale aufgemauert wurde, draußen in der Ebene, wuchs es aus der Erde. Mitten auf freiem Felde, aus braunem Ackerboden: Hochragende Bauten. Wie drinnen in den Städten der Menschen, mit ihrem wimmelnden Treiben, die riesigen Kaufhäuser, Karawansereien und all die Stätten ihrer rauschenden Lust. Und war doch weit und breit noch keines Menschen Dach hier zu sehen. Die Stätte war es, wo des Reusch-Mannes Gründergeist sein Wesen trieb.

Hell lachend schüttelte der Lenz sein Sonnenhaupt und zog weiter hinauf im Grund, zum Unterdorf. Hier bewillkommnete ihn frommer Glockenklang. Das war wie ehedem, wenn er in feierlichem Frieden ins Land kam. Aber aus dem Gotteshause scholl eine leidenschaftlich zürnende Stimme, als erginge dort ein Strafgericht über die sündige Menschheit. Da blinzelte der Lenz verstohlen durchs hohe Chorfenster, daß ein verirrter Goldstrahl schräg durch die ernste Dämmerung drinnen brach und das greise Antlitz auf der Kanzel mit einem überirdischen Leuchten umwob. Und gewaltiger noch dröhnte die prophetische Stimme:

»Gott aber wird es nicht zulassen, daß solches hier geschieht, daß über sein heiliges Haus die Wasser gehen. Wenn die Menschen ihn verraten, so wird er selber die Stätte schirmen, wo das Kreuz erhöhet steht. Und müßte er ein Wunder tun, mit seiner strafenden Allmacht die aberwitzigen Frevler zerschmettern, die sich vermessen, den Flüssen ihren gottgewollten Lauf zu verrücken und die Berge zu versetzen, die seine erhabene Weisheit aufgebaut hat, hoch da droben!«

So ganz hatte sich der zornentflammte Gottesmann hineingeflüchtet in diesen letzten Trost seines erschütterten Glaubens, daß seine dröhnenden, prophetischen Worte einen starken Widerhall fanden in gar manchem Herzen. Namentlich bei den Frommen im Land, bei den »Finen«, die sich mit Posaunenschall, mit Beten und Hauspredigt die Gnade ihres Gottes zu erringen wähnten.

Für sie ward es allmählich zu einem Evangelium, daß jenes große Wunder geschehen werde. Eines Tages würde der Herr in seinem Zorn der Erde befehlen, sich aufzutun und sie alle zu verschlingen, die da drunten an dem gottlosen Werk arbeiteten. Oder der Berg würde sich erheben über ihnen und sie zermalmen, zu eitel Staub und Asche.

Und sie bereiteten sich an ihrem Teil mit vermehrter Andacht und gottgefälligem Werk auf dieses furchtbare Strafgericht vor, daß es gnädig an ihren Hütten vorüberginge. Aber manchem von ihnen ward das heilige Leben zum Unheil in seinen irdischen Umständen. So auch bei Schreiner Holtmann, der sein Häuschen drunten im Unterdorf hatte, gerade neben Bergverwalter Manskopf, wo jetzt die Reusch-Mutter ihre Tage hinbrachte. Der Holtmann-Philipp kam vor lauter Beten und Predigen nicht mehr zum Arbeiten. Den ganzen Tag scholl aus seinem Hause in die Nachbarschaft das Psalmensingen und Gebetsmurmeln; dunkel und einförmig, wie ein taktmäßig rauschender Brunnen. Und so schön wußte er zu predigen, daß in seiner Stube die Frommen sich drängten von früh bis spät. Gar stolz ward des Holtmann-Philipps Frau ob dieses Ruhms ihres Ehemannes. Schier mehr Zulauf hatte er ja als der Pfarrer in der Kirche! Und sie ließ es sich nicht nehmen, die Andächtigen nach der Erbauung mit Kaffee zu bewirten und Kuchen und sonstigen guten Dingen. Der irdische Leib wollt' ja auch sein Teil. So ward das Ansehen des frommen Schreiners bei den »Finen« denn größer von Tag zu Tag. Aber bei den andern im Dorf lief ein Raunen um: »Mit dem Holtmann-Philipp geht's bergab. Der wirtschaftet hintennaus.« Da sperrten die Krämer bald die Türen zu vor dem Heiligen und seinen Frauensleuten, und der Zulauf der Andächtigen in seinem Hause verlief sich daraufhin merklich. Doch der Philipp wollte darum nicht verzagen, obwohl seine Frau jetzt gar nicht mehr so stolz auf ihn war, sondern weinend im Haus umherhockte. Manchmal auch scheltend, mit scharfer Zunge: Was denn das ganze heilige Gehabe solle? Auf den Hund kommen täten sie nur dabei. Sonst nichts! Aber der Philipp steckte seine Prophetenmiene auf, strich sich würdig den langwallenden Apostelbart und sprach mit frommem Augenaufschlag: »Weib, was sprichst du in deinem Unverstand? Der Herr vergeb' dir die Sünde. Aber ich will mich nicht gleichen Wankelmuts schuldig machen. Steht es denn nicht geschrieben: Sehet die Lilien auf dem Felde an, sie säen nicht und ernten nicht, und unser himmlischer Vater ernährt sie doch? – Wahrlich, Weib, ich sage dir: Der Herr wird sich erbarmen auch über seinen frommen und getreuen Knecht!«

Also sprach's der Holtmann-Philipp salbungsvoll, und seit der Stunde hing ein leerer Sack vor der Tür seines Hauses. Aber das erhoffte Wunder geschah nicht. Kein Rabe kam und speiste den Propheten. Dafür blieb aber der Spott der Nachbarn nicht aus, die den Narren und Betbruder offen verlachten.

Das ätzende Gerede drang auch zu den Ohren der Reusch-Mutter, und es tat ihr leid um den Holtmann-Philipp, der früher ein arbeitsamer, wohlgelittener Mann gewesen war, ehe er den »Finen« in die Hände fiel. Da tastete sie sich eines Morgens in aller Frühe hinüber ins Nachbarhaus. Trübselig saß dort der Prophet inmitten der Seinen mit hungrigem Magen. Doch rasch begann er seine Gebete zu murmeln, als die Nachbarin erschien.

»Laßt's genug sein damit, Holtmann-Philipp,« entschieden sagte es die Reusch-Mutter, und ein klarer Ernst stand in ihrem greisen Antlitz. »Davon habt Ihr getan mehr als gut. Arm habt Ihr Euch gebetet. Nun, Ihr sprecht so gern, Ihr kennt die Schrift. Aber Ihr habt wohl ganz das kleine Wörtlein vergessen, das dort auch geschrieben steht: Betet und – arbeitet?«

Verlegen kehrte der große Prediger sein Apostelgesicht zur Erde nieder vor den lichtlosen Augen, die ihn doch so eindringlich anschauten. Die Reusch-Mutter aber sprach weiter:

»Nun, Holtmann-Philipp. Wir fehlen alle. Der eine hier, der andere dort. Das Beten hat Euch arm gemacht, versucht's nun einmal mit dem Arbeiten. Dann wird schon wieder was kommen in den Sack da draußen!«

Seit der Stunde verschwand der Sack von Holtmanns Tür, und langsam ward's wieder anders bei ihm. Und wenn des Schreiners fröhliches Pfeifen zum Hobelkreischen vom Nachbarhaus scholl zu Mutter Reuschs Plätzchen auf der Hausbank hin, dann nickte sie ihm hinüber.

»Das ist besser, als Gebete plärren, Holtmann-Philipp, und unserem Herrgott droben eine liebere Musik!« –

Der junge Lenz, der so mit hellem Leuchten ins Land gekommen war, hatte im Vorübergehen auch ins Adlige Haus gelugt, zwischen den alten Kastanien, die gerade die ersten, saftschwellenden Knospen trieben. Und unter seinem Lachen waren die weißen Anemonen aufgeblüht zu ihren Füßen. Aber sein Sonnenblick traf drinnen in dem dumpfen Gemäuer ein Frauenantlitz, das trotz seiner Jugend in herbem Ernst erstarrt war. Da winkte der Lenz der Amsel zu, die hoch droben auf der Wetterfahne des Turmdaches saß, und schmelzend sang sie ihr erstes Frühlingslied. Süß schmeichelte sich der Ton unten ins düstere Gemach. Aber nur noch starrer ward das stille Frauenantlitz. Was sollte das Singen und Locken da draußen? Ihr galt es nicht mehr, das Lied vom neuen, seligen Hoffen.

Vergebens suchten auch die Augen des Mannes dort drinnen in dem dämmernden Gemach nach einem weicheren Regen in ihren Zügen. Gute Augen waren es, aber sie blickten in Trauer und stillem Sehnen zu dem jungen Weibe, das so selbstvergessen dort saß, als wäre er gar nicht bei ihr.

Doch wie nun der hereinlugende Sonnenblick das Blondhaar um ihre Stirn durchleuchtete, wie flimmerndes Gold, und einen warmen Schein über die schönen Züge hauchte, da flog es wie ein Abglanz davon auch über die Mienen des Mannes.

Schnell stand er auf und kam zu ihr.

»Sieh, wie die Sonne draußen lacht. Der Frühling ist da! Komm, Eke – laß uns hinaus. Wir wollen hinauf in den Wald und dann einmal sehen, wie es mit dem Bau droben steht.«

Sie schrak zusammen unter seiner berührenden Hand. Nun erhob sie sich langsam.

»Gewiß – wenn du willst.«

Aber es klang müde und gleichgültig.

Wie sie dann droben in dem nahezu fertigen Neubau standen, belebten sich Eberhard von Selbachs Mienen. Schnelleren Schritts ging er seiner jungen Frau voraus durch die Räume.

»Ganz reizend wird es werden, unser Haus! Alles hell und traulich, ein rechtes Heim.«

Doch Ekes Blick behielt seine Leere. Ja, ihr Haus würde es werden – aber ihr Heim?

Weiter führte er sie von Zimmer zu Zimmer und machte dann halt in einem anheimelnden Eckgemach.

»So – und hier, das wird Frauchens Reich. Ein Blumenerker ist auch vorgesehen, als Arbeitsplätzchen. Hier wirst du dich wohlfühlen – nicht, Liebes?«

Zu ihr tretend, schlang er den Arm um sie. Zärtlich wollte er sie an sich ziehen. Doch sie entwand sich ihm und, um sich blickend, sagte sie ernst und schwer:

»Ich weiß nicht – es ist mir alles so fremd hier.«

Traurig sah er vor sich nieder. Doch dann hob er wieder den Kopf. Wenn er sie nur erst heraus hatte aus dem dumpfen Mauerloch da unten, das ja keine Frohheit aufkommen ließ, dann würde es auch anders werden zwischen ihr und ihm. Da lächelte er ihr gut zu:

»Laß uns nur erst einmal hier oben sitzen, alles so behaglich eingerichtet –, dann wird es auch dir schon gefallen, kleines Frauchen!«

Sie nickte wohl, aber der herbe Zug um ihren Mund grub sich nur noch tiefer.

* * *

Im Steinbruch, wo sie die Quadern brachen drunten für den Bau der Sperrmauer, war Frühstückspause. Heiß prallte die Sonne hernieder und schoß zurück von der Gesteinswand. Die Luft stand still in diesem riesigen Felsenkerker. Unerträglich schwer. Dick tropfte den Männern der Schweiß von der Stirn, trotzdem sie jetzt müßig herumlagen; in dem Fußbreit Schatten, den hier und da ein größerer Felsblock warf. Brot und Speck waren verzehrt, nun noch ein Viertelstündchen der Ruhe, lässig und faul streckten sich die Glieder, die bald wieder hart wie Stahl den Kampf mit der Felswand da aufnehmen würden. Manche schlossen die Augen und sanken mit dem nächsten Atemzuge in Schlaf trotz der harten Steinkante, auf der der Kopf lagerte. Ein kurzer Schlummer. Gleich wieder würde sie der gellende Pfiff der Lokomobile drunten am Maschinenschuppen emporscheuchen und an die Arbeit treiben.

Über den Ruhenden stand der Berg. Düster und drohend hob er seinen gigantischen Leib über den Menschenzwergen, die ihn da mit Stahl und Feuer bezwangen. Ohnmächtig lag er da. Aber in seiner Ruhe war etwas Unheimliches, Lauerndes. Wie heimtückische Rachgier. Noch war die Kraft nicht ganz geflohen aus diesem zerfetzten Felsenleibe. Wehe, wenn er sich aufraffte in unvermuteter Zuckung, sich grimmig über das wühlende Gezwerge warf in zermalmendem Sturz! Aber die, die dort drunten lagen an seinem Fuß, vom Kampfe erschöpft, ahnten nichts von der Gefahr, die dräuend über ihnen hing. Dunkel wie das Verhängnis.

Meist Ausländer waren es, die hier die schwere Arbeit am Steinbruch taten. Nur einige wenige Einheimische waren darunter. Sie hielten sich für sich. Die »wilden Völker« von drunten, aus Kroatien und Slawonien her, waren nicht gerade die besten Gesellen.

So lagerten sie auch jetzt etwas abseits von den andern. Ihrer fünf. Alles Söhne des Rauhen Grundes. Harte, aber gutherzige Burschen. Bisher hatten sie in der Grube gearbeitet, nun aber lockte es sie, einmal hier ihr Glück zu versuchen über Tag, mit der Bohr- und Schießarbeit. Sie wurde nicht schlecht bezahlt. Außerdem hatte einer von ihnen einen Ärger gehabt mit dem Steiger, da waren die andern aus Kameradschaft mitgegangen. Auch jetzt, wie sie sich faul in der Sonne räkelten und ihre kurzen Tonpfeifen rauchten, sprachen sie wieder davon.

Einer, der Spieß-Engelbert, wies mit dem Daumen auf das Trägergerüst eines Krans neben dem Steinbruch.

»Echt wie ein Galgen. Gerad' wie auf der Zeche, wo sie den neuen Schacht abteufen. Wie ich da vorbeikam mit Steiger Stahlschmidt, nach meiner Abkehr, hab' ich für ihn gesagt: ›Da kommt der neue Galgen für uns. Aber Ihr seid der erste, der ran kommt! –‹ Und da hab' ich gelacht, und wenn ich hätt' sterben sollen.«

Auch die andern lachten noch einmal, in Erinnerung an die Geschichte. Dann nickte einer:

»Ja, Steiger Stahlschmidt, dat wer schon einer; da kannst du dich up verlassen. Da kam mal einer drüben vom Westerwald und sucht' Arbeit auf der Grube. Da hat ihn der Steiger gefragt, ob er dumm und stark sei. Ja, hat der gesagt. Da hat der Stahlschmidt gelacht. Na, dann man her, da können wir Sie gebrauchen!«

Wieder ein schallendes Gelächter, bis der erste seinen Pfeifenstummel am Boden ausklopfte.

»Ja, solch einen können sie gebrauchen auf der Zeche. Dem paßt jedes Joch. Und dat is der Unterschied: dem Vieh macht man das Joch nach dem Horn. Aber dem Menschen das Horn nach dem Joch.«

Aber sie blieben nicht allzu lange beim Ernst ihrer Philosophie. Ihr glücklicher Humor stellte sich bald wieder ein. Sie sprachen von den alten Kameraden auf der Zeche.

»Man gut, dat der Harr-Friedel nit mit uns gegangen is. Für den wer dat en schlecht Geschäft – hier oben – in der Hitz. Mit seine zweihunner Pund Lebendgewicht.«

»Ja, dat war ein drollig Stück Fleisch, der Friedel. Aber wir kunnt den hier schon gebrauchen trotz seine zwei Zentner. Der konnt' abscheulich bohren.«

»Stimmt! Der bohrt dir ein echt Loch. Aber der konnt' auch abscheulich trinken.«

»Und lügen kunnt' he! Junge, Junge – dat einem dat Hemd vom Puckel runger fällt!«

Von neuem überließen sie sich ihrer Heiterkeit, doch mitten in ihr Lachen hinein gellte ein langgezogener Pfiff. Da kam Leben in das stille, sonnengedörrte Felsenverlies. Hinter allen Blöcken, aus allen Winkeln kroch es hervor, verdrossen machte sich ein jeder wieder an seine Arbeit. Bald scharrte, prasselte, polterte und schollerte es wieder unter Hunderten von Hacken und Schaufeln. Und darüber kreischte der harte Diskant der Bohrer vorn an der Felsenwand. Alle hielt sie wieder die harte Fron der Arbeit ganz in ihrem Bann, der Kampf mit dem Berge. Gierig fraß sich ihm der Stahl in den steinernen Leib, das Werkzeug der feindlichen Menschenhand, die der Natur den Krieg erklärt seit Ewigkeit.

Aber sahen sie, die vermessenen Zwerge, noch immer nichts? Ging es nicht wie ein Zucken und Beben durch den verstümmelten Koloß über ihren Häuptern? Unbarmherzig, kalt und grausam ist auch die Natur in diesem Vernichtungskampfe – Opfer um Opfer! Hebt sich kein ahnender Blick zu dem rachgierig zitternden Felsen?

Doch die drunten, die dem Berg den mörderischen Stahl auf den Leib setzten, hatten nur Augen auf ihr Werk. Ei, der packt gut zu – recht so! Nun aber fielen, von hinten her, zwei Schatten über die sonnbeglutete Bergwand. Einer von den Fünfen von der Bohrmannschaft blickte über die Schulter. Der Amerikaner war es, der Direktor von Christiansglück droben, mit seinem neuen Bergverwalter, dem roten Hannschmidt. Was die beiden da hinten mitsammen sprachen, konnte man hier nicht verstehen beim Rattern des Bohrers. Aber sie deuteten mehrfach auf den Felsen vor ihnen. Griffen auch einzelne Gesteinsstücke aus dem Schutt am Boden auf. Vielleicht, daß sie ein abbauwürdiges Vorkommen hier im Berg vermuteten. Mocht' wohl auch so sein, denn der rotbärtige Hannschmidt klopfte jetzt mit seinem Hammerstock eifrig an einem Brocken und reichte ihn dann dem Direktor, der ihn aufmerksam prüfte.

Die Leute hielten jedoch eine Weile mit dem Bohren ein und wischten sich mit dem Hemdärmel die schweißtriefende Stirn. Ihre Blicke musterten den Amerikaner. Mit forschender Neugier. Bertschs scharf gewordenes Gesicht verlor auch bei diesem Prüfen nicht seinen kalten Ernst.

»Der gönnt sich doch nimmer keine Ruh.« Einer von den Fünf sagte es, ein älterer, verheirateter Mann. »Immer ist der auf der Jagd nach was Neuem.«

»Ja, glücklich sieht der nit aus und zufrieden,« stimmte der Spieß-Engelbert zu, ein noch junger, frischer Bursche. »Ich möcht' in dem seiner Haut nit stecken.«

»Hast recht,« nickte der erste. »Wenn ich nach Feierabend heim komm', zu meinem Weib und meinen Kindern, dann weiß ich doch, warum ich leb'.«

»Und ich auch!« Ein glückliches Lächeln glitt über des Engelberts helles Gesicht. »Meine Anne-Marie ist nun auch die längste Zeit drunten im Adligen Haus gewesen. Keine vier Wochen mehr, und wir machen Hochzeit zusammen.«

»Halt – was ist das?«

Schrill drang der Ausruf den beiden und ihren Kameraden ans Ohr. Sie fuhren herum. Da stand Direktor Bertsch, die Hand aufgereckt zu der Bergwand ihnen zu Häupten.

Weit aufgerissen war sein Blick. Als sähe er etwas Entsetzliches herannahen. Und nun stutzten auch sie selber. Da – war es nicht, als käme mit einemmal Bewegung in die Massen gerade über ihnen?

»Zurück!« Durchs Mark schnitt ihnen allen Bertschs gellender Warnschrei, und seine Rechte packte Hannschmidt, der einen Schritt vor ihm stand. Doch zu spät – schon geschah das Grauenhafte.

Ein Beben und Schwanken in dem steinernen Koloß. Kehrten denn die Urzeiten der Erde wieder, wo ihrem kreißenden Feuerschoß himmelan sich türmende Gebirge entstiegen und andere hinabsanken in den gähnenden Höllenschlund? Ging es nicht wie ein dämonisches Zittern und Zucken durch den Leib des Bergriesen? Die nicht länger zu zähmende Erwartungsgier der Bestie, die sich das Opfer verfallen sieht. Und plötzlich ein Spalten, Sichlösen, langsames Überneigen – über das Menschengezwerge warf sich der Berg, aufbrüllend im Donnergekrach seines zermalmenden, zersplitternden Sturzes. Alles begrabend, was von Leben da unten an seinem Fuß sich regte, aufkrampfte in tödlichem Entsetzen zum rettenden Sprung. Umsonst – schon war es verschlungen. Auch der irre Angstschrei, der sich noch im Abschiednehmen einer jungen Brust entrang: Anne-Marie!

Und dann ward es still.

Wie gelähmt standen die andern, die weiter hinten gearbeitet hatten, außerhalb des Bereichs des Bergsturzes. Erdfahl, mit schlotternden Gliedern, und stierten – stierten.

Ein wirres Chaos sahen sie, und darüber eine riesige, gelbgraue Staubwolke, wirbelnd und wogend, undurchdringlich. Wie ein dichter Schleier, den eine mitleidige Hand vor das Letzte gezogen hatte – vor das Grauenhafteste: Denn dort, unter dem Trümmerfeld mit seinen zentnerschweren Blöcken, hatten ja Menschen gestanden! Menschen voll blühenden Lebens, gesund und stark eben noch, und nun –

Keiner wagte es auszudenken. Aber jedes Auge starrte nach der barmherzigen Wolke drüben. Wehe, wenn sie sich verzog.

Vom Schicksal hart umhergestoßene Gesellen waren es meist, die dort standen. Und waren selber hart geworden, gegen sich wie andere. Aber das da?

Ihrer Kameradschaft wurden sie sich bewußt. Der Kameradschaft der Arbeit, die ein Kampf für sie war, auf Leben und Tod. Dort das Trümmergewirr, das Leichenfeld predigte es ihnen. Brüder waren ihnen die gewesen, die nun da unter der Steindecke lagen mit zerschmetterter Brust. Brüder, die Not und Sorgen ihres armseligen Lebens getreulich geteilt hatten. Und all diese Not stand plötzlich vor ihnen. Ein Schreckensbild mit steinern starren Zügen, ohne einen Funken von Erbarmen. War's nicht genug, daß sie mühselig und beladen waren? Mußten sie auch das letzte hergeben, das ihnen geblieben war – ihre heilen Glieder, den Odem in ihrer Brust? War das Gerechtigkeit?

Still und starr standen die Männer in der Schlucht des Steinbruchs. Aber von dem Schlachtfeld der Arbeit, das wieder einmal sein Opfer gefordert, stieg es auf wie ein dumpf zitternder, brandender Aufschrei. Eine furchtbare Anklage, die hinaufdrang in den ewigen Äther empor zum Firmament, wo nach ewigen Gesetzen die Gestirne ihre Bahnen wandeln, majestätisch, aber ehern, kalt – – –

Wie ein Lauffeuer rannte die Schreckenskunde herum im Rauhen Grund: Ein entsetzlicher Unfall hatte sich ereignet am Steinbruch neben der Sperrmauer. Ein Bergsturz, der sieben Menschenleben gefordert hatte – darunter Verwalter Hannschmidt und Direktor Bertsch selber. Lähmend legte es sich auf alle Herzen, und in manchen von ihnen, wo Pfarrer Burgmanns prophetische Worte noch in frischer Erinnerung standen, klang es mit einem geheimen Schauer: Hier hatte Gott gesprochen und gerichtet! Der frevelvolle Übermut, der seiner erhabenen Gesetze spottete und die Grenzen der Natur verrücken wollte – er hatte ein furchtbares Zeichen empfangen.

Auch ins Adlige Haus drunten drang die Kunde. Es war um die Mittagszeit. Man saß gerade bei Tisch im Eßzimmer, als draußen von der Halle ein aufgeregtes Sprechen hereinscholl. Henner von Grund schickte Anne-Marie hinaus, was der Spektakel sollte? Aber nun kam sie wieder, ganz verstört.

»Na, was ist?« herrschte sie der Gutsherr an. »So red' doch, in Kuckucks Namen!«

»Ach, der Kallmann kommt eben – ein so schreckliches Unglück! –«

»Wo denn?«

»Unten im Steinbruch – an der Talsperre.«

Talsperre – Eke von Selbach spürte plötzlich einen dumpfen Druck in der Herzgegend. Ihr Blick hing an Anne-Maries Mund. Aber der war wie gelähmt. Dort im Steinbruch arbeitete auch der Spieß-Engelbert, ihr Bräutigam.

»Es ist aus dem Mädchen ja nichts herauszubringen. Ich werde mal selber draußen nachfragen.«

Eberhard von Selbach sagte es und ging zur Halle.

Nun kam er wieder. Langsam und schweigend. Und – Eke von Selbach erzitterte – sein Blick suchte sie.

Dann sprach er:

»In der Tat, ein sehr schwerer Bauunfall. Viele Verletzte und sieben Tote. Darunter leider auch Direktor Bertsch.«

Und er trat zu seiner jungen Frau, mit einer besorgten Bewegung. Aber Eke von Selbach blieb starr und aufrecht in ihrem Sessel. Nur jeder Blutstropfen war aus ihrem Antlitz gewichen.

»So – der Bertsch auch? Na –«

Grimmig kam es Henner von Grund von den Lippen. Er hatte keine Ursache, ihm nachzutrauern. Nein, bei Gott nicht!

Leise beugte sich Eberhard von Selbach zu Eke nieder. Seine Rechte legte sich sanft auf ihre Schulter. Aber unter dieser Berührung erwachte sie aus ihrer Starrheit. Sie erhob sich von ihrem Sitz. Unvermittelt. Fast wie ein Abschütteln seiner Hand war es.

»Was willst du, Eke?«

»Ich muß hin.«

»Zu der Unglücksstätte?«

Nur ein Nicken. Sie war schon zur Tür und zog an der Klingel.

»Was sollst du da?«

Henner von Grund sagte es, mißbilligend. Aber sie wandte ihm ihr Antlitz zu, immer noch tief blaß, aber voll beherrscht.

»Du hörtest doch, Onkel – viele Verletzte.«

»Das ist kein Anblick für Frauen.«

»Es gibt Schlimmeres als das.«

Hart klang es, aber ein Beben schwang in dem Ton.

Von draußen, aus der Halle, kam Kallmann. Da befahl sie:

»Anspannen – und meinen Verbandskasten mitnehmen!«

Durch Henner von Grunds zusammengesunkene schwere Gestalt im Armsessel ging ein Ruck. Eine Blutwelle überflutete seine Stirn. Er warf den Kopf zu dem Neffen herum.

»Was ich zu sagen hätte – ich wüßt's. Aber du bist ja ihr Mann.«

Eine Röte flog auch über Eberhard von Selbachs Züge, langsam ging er zu seiner Frau hin. In seinen Augen stand ein Bitten:

»Willst du wirklich fahren, Eke?«

»Ich sagte es ja.«

»Aber – wenn ich dich nun bitte? Der Anblick des Schrecklichen ist am Ende doch zu viel für deine Nerven.«

»Ich bin ihm gewachsen. Sei ohne Sorge.«

»Eke,« – er dämpfte seine Stimme, daß sie nicht mehr bis zu dem Onkel am Tisch drüben klang –, »es ist auch wegen des Geredes der Leute. Wenn dich die Selbstbeherrschung verließe!«

Sie verstand seinen ernst mahnenden Blick. Aber die Entschlossenheit in ihren Zügen war nur noch starrer, und so erwiderte sie:

»Ich bleibe standhaft. Ich weiß, was ich dir schuldig bin.«

Aber eine kalte, fremde Stimme war es, die er vernahm. Da trat er zurück, still und ruhig wie immer, wenn sie auf ihrem Willen beharrte. Doch es zuckte ihm schmerzlich um den Mund. Sie achtete es nicht. Ohne noch ein Wort verließ sie das Zimmer.

Langsam kam Eberhard von Selbach wieder zu dem Oheim.

»Nun?«

»Lassen wir sie fahren – sie will ja ein gutes Werk tun.«

Henner von Grund richtete sich in seinem Sessel auf.

»Eberhard – es tut nicht gut, wenn man den Frauen immer ihren Willen läßt. Sie wollen den Herrn fühlen.«

Über des Neffen Züge zuckte es hin.

»Verzeih', Onkel – aber das sind Dinge, die ich wohl nur mit Eke abzumachen habe.«

»Allerdings!« Henner von Grund lachte auf. Scharf und bitter. »Na, wie du willst.«

Und er ließ sich wieder im Sessel zurücksinken. Seine schwere, aber jetzt so unbeholfen gewordene Rechte trommelte zitternd auf der Armlehne.

Von der Halle draußen klang gedämpft ein Aufschreien, dann lautes Jammern. Anne-Marie, das Hausmädchen. Ein neuer Bote, der ins Haus gekommen, hatte näheren Bericht gebracht. Unter denen, die der Berg begraben, war auch der Spieß-Engelbert, ihr Bräutigam. Eine Lebenshoffnung hatte die kurze Runde zertreten. Fassungslos schrillte das Weinen herein.

»Schaff' mir das Frauenzimmer vom Leib!« grollte es vom Lehnstuhl aus. »Soll man das auch noch anhören?«

Schweigend ging Eberhard zur Halle hinaus, um das Mädchen mit einem Trostwort hinwegzuführen. Aber da stand schon Eke, jetzt in Hut und Mantel, neben ihr.

»Komm, Anne-Marie – wir wollen zu ihm.«

Und wie sich der Arm der jungen Frau um die Schultern der Niedergebrochenen legte und sie zum Ausgang geleitete, war etwas Schwesterliches in ihr. Als trügen sie beide gemeinsam ein schweres Leid.

So schritt Eke von Selbach aus dem Hause. Den Mann, der ihr aus der Tiefe der Halle mit dunkeln, traurigen Augen nachschaute, traf kein Blick.

Der Wagen vom Adligen Hause jagte durch den Talgrund, flußabwärts zur Sperrmauer.

Leise weinte Anne-Marie vor sich hin. Tränenlos starrte Eke von Selbach ins Leere. Aber ihre Hände hatten sich ineinandergekrampft.

Gerhard – tot.

Immer wieder sprach sie die beiden Worte im Geist vor sich hin. Als würde ihr damit das Unfaßbare verständlicher.

Tot – er, der so ganz Leben gewesen. Kraft, überschäumende, brandende Kraft. Ebensogut könnte der Fluß da versiegen mit einem Schlage, der doch eben in diesem Augenblick noch seine unerschöpflichen Fluten brausend über das Wehr warf.

Gerhard – tot.

Und mit einemmal begriff sie: Ihr war er gestorben. Ihr! Was war er denen da gewesen, die jetzt zu Hunderten um seinen zerschmetterten Leib stehen würden, nur der Gegenstand ihrer grausigen Schaulust? Was wußten sie von ihm? Von dem verzehrenden Drang seiner ruhelos schaffenden Mannesseele, die doch im Innersten ein Sehnen trug nach Stille. Was wußten sie davon, wieviel Güte sich barg hinter dem kühl abweisenden Lächeln, das sie stets nur an ihm sahen?

Ja, ihr war er gestorben. Aber sie, die einzige, die ihn gekannt – sie hatte ihm den bittersten Schmerz seines Lebens zugefügt, im Aufbäumen ihres gekränkten Frauenstolzes.

Frauenstolz! Wie ein bitteres Hohnlachen gellte es in ihr auf. Was hatte sie denn damals davon gewußt. Hatte ihr jetzt die Ehe nicht ganz anderes angetan, in Wahrheit ihren Frauenstolz mit Füßen getreten? Oder was war es anders, wenn sie die Pflicht in die Arme eines ungeliebten Mannes trieb wie eine gekaufte Sklavin.

O die Schmach! Glühend heiß brannten die blassen Wangen auf. Und die Hände ballten sich in ohnmächtiger Scham.

Wie ein Haß schoß es ihr im Herzen auf gegen den Mann, der ihr diesen Schimpf angetan. Immer wieder. Fühlte er denn nicht das Zittern der Qual des Abscheus in ihren wehrlosen Gliedern? Und den Toten dort hatte sie verurteilt, voller Empörung, weil er sie an sich gerissen im Ausbruch seines Empfindens – er, dem doch ihre Liebe gehört hatte.

Weh' ihrer unseligen Blindheit damals! Zürnte denn auch die bräutliche Erde dem brausenden Frühlingssturm, der sie mit wildem Werben umfing? In dieser Stunde, wo er vernichtet am Boden lag, der so ganz überschäumendes Leben gewesen, begriff sie: nur seiner Natur hatte er gehorcht, seiner gewaltigen, bergstrombrausenden Natur, in jener Minute. Aber sie, statt selig in diese heilige Wonne zu versinken, hatte ihn zurückgestoßen in ihrem starren Mädchenhochmut. Heute begriff sie voll den Widersinn ihres Handelns. Heute, wo die Ehe in ihr das Weib geweckt. Aber wo im Arm des Gatten ihr wachgerufenes Sehnen nach dem andern suchte – dem durch eigene Schuld Verlorenen.

Wie ein fahler Blitz zuckte dies Erkennen durch Ekes Seele hin: Das war es, was sie von dem Mann an ihrer Seite schied, in einer nie zu überbrückenden Kluft. Wild wollte es da in ihrem Herzen aufschreien. Aber der Laut erstarb, ehe er noch geboren. Und ungeweinte Tränen der Verzweiflung brannten in ihren starren Augen. So trug sie der jagende Wagen hin zu der Stätte, wo unter den Trümmern des Berges begraben lag, was einst das Glück ihres Lebens gewesen war.

Nun hielten die schaumbedeckten Pferde am Steinbruch. Eine dichte Menschenmenge umstand die Unglücksstätte. Von allen Weilern und Höfen, von den Haubergen und Feldern ringsum war herzugerannt, was laufen konnte.

Schweigend teilte sich der Menschenwall, als Eke von Selbach mit dem neu aufjammernden Mädchen Durchlaß begehrte. So kamen sie unmittelbar an die Unglücksstelle heran. Die unversehrt gebliebenen Arbeiter waren dabei, das wüste Trümmerfeld aufzuräumen. Das losere Geröll, das die leichter Verletzten bedeckt hatte, war schon beiseite geschafft.

Vor der langen Kette der schaufelnden Leute stand eine kleine Gruppe mit Tragbahren. Samariter, unter ihnen Doktor Herling. Eke von Selbach trat auf ihn zu. Mit ernstem Gruß lüftete der Arzt seinen Hut.

»Wen haben Sie bis jetzt geborgen?« Beherrscht klang ihre Frage.

»Dreiundzwanzig Leicht- und zwei Schwerverletzte.«

»Und wer sind diese?«

»Bergverwalter Hannschmidt und Direktor Bertsch.«

»Bertsch?« Wie ein Wanken ging es durch Ekes Gestalt. »Ich denke – man sagte mir doch, er sei unter den Toten!«

»Ganz recht, man glaubte es zunächst, als man ihn unter dem Geröll herausholte, anscheinend leblos, mit zerschmetterter Stirn. Aber er hatte zu seinem Glück etwas abseits gestanden. So war es nur eine Ohnmacht, und die Verletzung zwar tief, aber doch nicht tödlich. Soweit sich bis jetzt übersehen läßt, wird er ohne bleibenden Schaden davonkommen. Mit dem Bergverwalter dagegen sieht's schlimmer aus.«

Und der Arzt berichtete weiter von einer schweren Rückgratsverletzung bei Hannschmidt. Aber Eke hörte nicht mehr hin. Wie wenn der Bergkoloß dort sie selber begraben und die Retter sie doch noch einmal befreit hätten aus der steinernen Gruft, so war es ihr. Er lebte, würde davonkommen, ohne ernsteren Schaden – Gott, mein Gott! Und ihre Lippen preßten sich ineinander, daß ihnen nicht ein Jubelschrei entfloh, hier auf dem grausigen Erntefelde des Todes.

Doch da traf sie der ernste Blick des Arztes wie ein stummer Vorwurf. Und scheu glitt nun auch ihr Auge hinüber zu dem wirren Chaos der Trümmer, von woher das Aufstoßen und Schrapen der Schaufeln klang.

»Und die dort?«

Doktor Herling folgte ihrem Blick. Nun zuckte er leise die Schultern.

»Nichts mehr zu hoffen. Wer dort liegt, der –«

Und seine Rechte strich flach durch die Luft.

Ein Aufschrei gellte neben Eke. So schrill, daß es ihr eiskalt ans Mark griff. Auch Doktor Herling fuhr herum.

»Was ist's mit dem Mädchen?«

Er deutete auf Anne-Marie, die jetzt ohnmächtig zusammensank, von zwei Samaritern aufgefangen.

»Die Unglückliche! Ihr Bräutigam liegt mit da vorn.«

»Ja, freilich dann –«

Und der Arzt blickte mitleidig auf die Ärmste nieder, die jetzt von den Sanitätsmännern beiseite getragen wurde. Auch Ekes Augen folgten ihr, aber plötzlich fragte sie:

»Wo befindet sich Herr Bertsch?«

»Wir haben ihn in seine Wohnung geschafft.«

»Hat er denn dort die nötige Pflege?«

»Eine Schwester ist telephonisch aus Siegen berufen worden und vermutlich schon bei ihm.«

Wieder wich eine Last von Ekes Seele, und nun fanden ihre Gedanken Ruhe, sich dem furchtbaren Geschehen selbst zuzuwenden. Mit geheimem Erschauern streifte ihr Blick die scharf abgebrochene Felswand da vorn.

»Wie ist denn eigentlich nur das alles gekommen?«

Der Doktor zuckte die Achseln.

»Vermutlich ist das anstehende Gestein durch die Sprengschüsse am Morgen abgespalten worden und hing nur noch lose am Berg. Durch die Erschütterung bei der Bohrarbeit ist es dann zum Absturz gekommen.«

»Entsetzlich!«

Ekes Augen flogen noch einmal mit einem Erzittern hinüber zu dem Trümmergrab der Unglücklichen dort. Doch dann entriß sie sich dem Bann des Grauens. Hatte der Doktor vorhin nicht auch von zahlreichen leichter Verletzten gesprochen? – Ihre freiwillig übernommenen Pflichten mahnten sie, und sie fragte Herling nach denen, die ihrer Hilfe bedurften. Der Arzt nannte die Namen und schloß:

»Sie werden viel Arbeit finden.«

»Um so besser. Arbeit ist ja das Beste vom Leben.«

Sehr ernst sagte sie es und ging bereits zu ihrem Wagen. Sie gab die nötigen Anordnungen wegen Anne-Marie, die noch immer unter den Händen der Samariter war, dann stieg sie auf und fuhr davon, zu ihrem Werk der Barmherzigkeit.

Verwundert blickte ihr Doktor Herling nach. Arbeit das Beste am Leben – wenn das eine Jungverheiratete sagte, das gab zu denken! – –

Eberhard Selbach saß einsam in dem Wohnzimmer, das ihm und Eke zum besonderen Gebrauch diente. Es war schon dunkler Abend, fast Nacht, und Eke noch immer nicht zurück. Nur durch den Kutscher hatte sie sagen lassen, sie würde erst spät heimkommen. Die Sorge um die Verwundeten würde sie sehr in Anspruch nehmen.

Als es neun schlug und sie noch immer nicht zurück war, hatte sich Henner von Grund mit einem beißenden Hohnwort gegen den jungen Mann zurückgezogen. Seitdem saß Selbach hier allein und wartete. Nur seine Gedanken waren bei ihm. Aber die waren keine frohe Gesellschaft.

Endlich schlug draußen der Klopfer gegen das Tor. Eberhard von Selbach erhob sich. Doch er wartete. Er mochte sie nicht draußen vor den Leuten begrüßen. Zuviel stand wohl in seinen Zügen. So harrte er, bis sie hier hereinkommen würde. Es dauerte indessen noch eine geraume Weile. Eke war erst noch einmal hinaufgegangen in Anne-Maries Kammer. Jetzt nahten ihre Schritte, und sie trat ein.

»Guten Abend, es ist spät geworden. Aber ich ließ es dir ja melden. Es ist dir doch bestellt worden?«

Mit flüchtigem Gruß reichte sie ihm die Hand hin. Aber er hielt sie fest.

»Ja, es ist mir bestellt worden. Auch das andere –« und seine Augen suchten ernst die ihren – »daß Bertsch nicht unter den Toten ist. Damit ist dir ja Schweres von der Seele genommen.«

Ein nervöses Aufzucken in ihrer Rechten. Aber er ließ sie nicht. Bewegt klang es aus seiner Stimme:

»Ich bin froh, daß du wieder da bist, Eke. Ich hatte Sorge um dich und – Sehnsucht.«

Näher wollte er sie an sich ziehen. Doch mit einem Ruck machte sie sich frei.

»Eke!«

»Verzeih' – aber ich bin sehr abgespannt.«

Schweigend wandte er sich ab und trat ans Fenster. So sah er in das Dunkel hinaus, aber an sein Ohr drangen die leisen Geräusche ihrer Anwesenheit. Sie ging hin und her. Sie legte wohl noch ihre Verbandsutensilien an ihren Platz. Deutlich kam der süßliche Karbolgeruch zu ihm hin, der auch ihren Gewändern anhaftete. Ein fremder Hauch, der alles Persönliche an ihr übertönt. Wie eine Krankenschwester erschien sie ihm, die auch in diesem Hause nur ihres Amtes waltete, ihre Obliegenheiten erfüllte, gewissenhaft, aber kühl. Eben nur Pflicht, nicht Herzenssache. Da kehrte sich Eberhard von Selbach langsam seiner jungen Frau zu, und in seinen traurigen Augen stand ein bitteres Erkennen. Nein – er durfte sich nicht länger selbst betrügen. So sagte er schwer:

»Eke – mich friert neben dir.«

Eke von Selbach hielt inne in ihrer Beschäftigung. Mit beschatteter Stirn blickte sie vor sich hin. Dann erwiderte sie, doch ohne zu ihm hinzusehen:

»Was wirfst du mir vor? Sagte ich es dir nicht damals offen und ehrlich, du dürftest nicht Zärtlichkeiten von mir verlangen?«

»Gewiß, das tatest du. Aber, Eke – ich habe mich getäuscht. Ich – ich kann nicht so hinleben neben dir. Ich leide!«

Der leis zitternde Ton hallte nach in der Stille des Gemachs.

Ein Schweigen auf ihrer Seite, ein hörbares, tiefes Atmen, und nun die Antwort, immer mit der gleichen, erstorbenen Ruhe:

»Du tust mir leid, Eberhard – aber ich kann es nicht ändern!«

Ein bitteres, kurzes Auflachen, dann verließ Eberhard von Selbach das Zimmer. Eke aber verblieb an ihrem Platz. Den Kopf weit zurückgebeugt, beide Hände über die Augen gelegt. So stand sie starr, lange, lange, als wollte sie sich mit Gewalt den Blick verschließen gegen ein Sehen, das doch heute über sie gekommen war mit einer grausamen Klarheit.

* * *

Marga Steinsiefen war wieder im Ort, aber nur zu einem flüchtigen Besuch im Auto mit ihrem Mann aus Köln herübergekommen, wo sie seit ihrer Verheiratung wohnte. Steinsiefen selber war freilich seit der Rückkehr von der lang ausgedehnten Hochzeitsreise alle paar Tage einmal hier. Es galt nach fast halbjähriger Abwesenheit geschäftlich manches nachzuholen. Marga aber begleitete ihn heute zum erstenmal. Und auch nur aus besonderem Anlaß, ihrem Bruder zu Gefallen. Die neue Ansiedlung drunten bei der Sperrmauer, wo jetzt die Hauptgebäude unter Dach und Fach gekommen, war heute feierlich mit einem Namen belegt worden. Reuschfelde sollte der Ort fortab heißen, dem Gründer zu Ehren.

Ein glänzendes Fest hatte Hermann Reusch aus der Sache gemacht, eine kolossale Reklame für ihn und die Baugenossenschaft. Alle, die ihr Geld hergegeben hatten, waren geladen und als seine Gäste prunkvoll bewirtet worden im Saal des neuen großen Hotels, das dort unten auch mitbegründet war. Beim Sekt waren Reden über Reden gehalten worden, und Hermann Reusch war der Held des Tages. Sein Ruhm stand im Zenit. Wie die Tafelredner, alle mehr oder minder selber an der Gründung geschäftlich interessiert, mit lauttönenden Worten beteuerten, war er der weit vorausschauende, geniale Kopf, der große Wohltäter seiner Heimat. Einen Goldstrom würde er nun ins Land rinnen lassen, aus dem sie alle schöpften, überreich. So hatten sie's ihm in den schwungvollen Ansprachen versichert, einmal über das andere, und er hatte es hingenommen als den ihm gebührenden Tribut. Aber unter seinem selbstgefälligen, breiten Lachen barg sich eine geheime Unruhe: Würde dieser letzte Trumpf wohl genügend einschlagen? Ihm auch von jenen, die sich bisher noch zurückgehalten hatten mit ihrem Kapital, nunmehr die Gelder herbeilocken? Denn er brauchte sie bitter notwendig. Die Mittel der Baugenossenschaft waren erschöpft, der Kredit überspannt, und es galt doch, noch über eine ganze Weile hinwegzukommen, bis mit der Eröffnung der Talsperre das hier festgelegte große Kapital endlich einmal anfangen würde, auch zu arbeiten.

Nach dem Festmahl waren Steinsiefens von Reuschfelde aus mit ihrem Auto herübergekommen nach Rödig. Um die Großmutter zu besuchen, sagte Marga. Aber es war ihr mehr darum zu tun, sich einmal den Neidern zu zeigen, in all ihrem Luxus. Mit Chauffeur und Diener auf dem Bock, und sie, mit dem kostbaren Seidenkleid unter dem hellen Staubmantel. Auch ihr Mann war nicht unberührt geblieben von dem Wandel der Dinge, seitdem er das Glück ihres Besitzes errungen. Sein einstmals herausfordernder wehender Husarenbart hatte der modischen, diskreten, englischen Bartform weichen müssen, und er durfte sich selbst bei seinen geschäftlichen Ausgängen nie anders zeigen, als im distinguierten Cutaway. Heute trug er den Frack eines ersten Kölner Modeateliers.

So machte er in der Tat, äußerlich, eine ganz gute Figur, und war, wie Marga es erwartet, der stets willfährige Sklave ihrer Wünsche. Aber er langweilte sie auch, wie erwartet, ja reizte sie geradezu mit seiner ewigen Dienstbeflissenheit.

Schrecklich gelangweilt fühlte sich Marga Steinsiefen auch heute. Erst das Festessen da unten, zwischen all den Bauern, mit den törichten Redereien, dann die Fahrt allein mit ihrem Mann, der etwas redselig war vom Wein, bis sie ihn anherrschte und er betreten verstummte, dann die Stunde bei der blinden Großmutter, beim alten Onkel Manskopf – mehr als langweilig war das wahrhaftig gewesen. Unglücklicherweise hatte Steinsiefen nun auch noch einmal zum Basaltbruch hinaufgemußt, so daß sie also noch gut zwei Stunden sich hier unterbringen mußte. Aber die Armeleuteluft bei der Großmutter ertrug sie nicht länger. Lieber dann draußen im Freien bleiben. So machte sie denn einen Waldspaziergang, obschon das durchaus nicht ihre Passion und ihr Anzug heute erst recht nicht danach war. In ihrem kostbaren Seidenkleid unter dem Staubmantel schlenderte sie mißmutig mit den feinen Pariser Glacélederschuhen und hauchzarten Seidenstrümpfen auf dem Waldwege dahin.

Still war es um sie her und einsam. Kein Mensch begegnete ihr. Nur einmal kreuzte ihren Weg ein Jäger mit seinem Hund. Ziemlich weit von ihr, so daß sie seine Gesichtszüge nicht zu erkennen vermochte. Einen Augenblick hatte sie gemeint, es sei Bertsch. Aber nein, der war breitschultriger von Gestalt. Nun, ganz gleich auch – selbst wenn er es gewesen wäre, sie hätte ihren Weg darum doch ruhig fortgesetzt. Sein Anblick erregte sie nicht mehr. Seit Eke von Grund einen anderen geheiratet, war ihr Haß gegen Gerhard Bertsch erloschen. Kalt und geringschätzig dachte sie nur noch an ihn. Ein Mensch ohne Kultur, im Grunde auch nur ein gehobener Arbeiter – nichts Besseres wahrhaftig. Es lohnte sich nicht, irgendein Gefühl an ihn zu verschwenden. Nicht einmal den Haß. Ja, sie war jetzt sogar froh, daß damals alles so gekommen. Wie hätte es wohl mit ihrer Freiheit ausgesehen an der Seite dieses brutalen Tyrannen.

So war sie denn eigentlich ganz zufrieden mit ihrem Los, wenn nur eben die Langeweile nicht gewesen wäre, diese schreckliche Langeweile, seit sie wieder zurück waren von der großen Auslandsreise. Hierzulande gab es ja keine Kavaliere, alles nur Männer der Arbeit, die von einem verfeinerten Genußleben nichts wußten. Was sollte eine Frau wie sie hier anfangen?

In ihre Gedanken versunken, war Marga Steinsiefen weitergewandert, bis sich plötzlich der Wald lichtete. Ganz unerwartet. Sie sah auf. Das war doch früher hier nicht so gewesen?

Auf einer Rodung gewahrte sie Erdanschüttungen, Bahngleise und dahinter allerlei Schuppen und Baracken. Offenbar irgendwelche Bauanlagen, die mit der Talsperre zusammenhingen. Sie blieb unwillkürlich stehen und hielt Umschau. Ihr Blick wurde schließlich festgehalten von einem bestimmten Punkte, vor einer der Baracken saßen ein paar Weiber, von fremdartigem Aussehen, schmutzig und verwildert, schälten Kartoffeln und schnitten Speckwürfel in riesige Kessel. Eine Kantine mochte es wohl sein für die ausländischen Bauarbeiter. Nun hatten die Frauen sie bemerkt. Die Hände hielten an mit ihrer Arbeit. Neugierig und neidisch funkelten die schwarzen Augen her zu ihr, zu ihrer kostbaren Toilette.

Ein unbehagliches Gefühl beschlich Marga. Das hatte sie ja nicht gedacht, daß es jetzt hier oben solch Volk gab! Und sie kehrte rasch um. Schnelleren Schritts eilte sie zurück. Sie war indessen noch nicht allzu lange gegangen, als mit einem Male rauhe Laute von vorn an ihr Ohr schollen, von Menschen, die ihr entgegenkamen. Rohes Lachen, Stimmen in einer fremden Sprache, und nun wurden vor ihr drei Männer sichtbar. Wenig anheimelnde Gesellen in verschlissenen Anzügen, auf dem Kopfe hohe Lammfellmützen, über den Schultern Schaufeln mit einem Kleiderbündel daran. Offenbar ausländische Arbeiter drunten von der Talsperre. Von neuem sprang da der Schreck in Marga auf. Sie schutzlos hier mit diesen wüsten Gesellen – und angetrunken schienen sie obenein auch noch!

Unwillkürlich blieb Marga stehen und blickte ängstlich auf die Ankömmlinge. Die wurden nun auch ihrer ansichtig und verstummten. Ihre stechenden, unstäten Augen hefteten sich auf sie. Erst staunend, dann begehrlich. Eine Frau, und gar eine reiche, schöne – ganz allein hier im Walde!

Schweigend blickten sie einander an. Ein unheimliches Glühen entbrannte in ihren Augen, und langsam kamen sie näher.

Voller Entsetzen durchfuhr es Marga. Sie warf sich herum und wollte den Weg, den sie gekommen, zurücklaufen. Aber gleich beim ersten Schritt schrak sie jäh zurück. Auch dort drohte ja gleiche Gefahr. Also ein Entrinnen unmöglich, und hinter ihr jetzt das höhnische Auflachen der Unholde!

Die Angst der Verzweiflung entpreßte ihr einen schrillen Schrei. Aber als Antwort nur wieder jenes grauenhafte Lachen, ganz nahe schon. Und jetzt griff eine Hand nach ihr, eine ekle, schmutzstarrende Hand, tierisch behaart.

Wie eine Irrsinnige gellte sie da noch einmal auf, daß selbst der Angreifer hinter ihr unwillkürlich abließ.

Doch diesmal kam eine andere Antwort. Das laute Aufbellen eines Hundes, nun der Zuruf einer Mannesstimme, und jetzt brach es seitlich neben ihr durch den Wald. Erst ein brauner, hochläufiger Jagdhund, dann sein Herr – der Jäger von vorhin – und nun erkannte sie ihn: der Neffe des alten Herrn von Grund.

»Was geht hier vor?«

»Schützen Sie mich, um Gottes willen!« Dicht drängte sich Marga an ihren Retter.

Eberhard von Selbach kehrte sich gegen ihre Bedränger.

»Zurück! Auf der Stelle – oder!«

Und er erhob drohend die Büchse.

Da wichen die drei langsam zurück, murmelten ein paar unverständliche Worte und verschwanden alsbald im Walde.

»Gesindel!«

Verächtlich sah Selbach ihnen nach. Dann wandte er sich Marga zu.

»Ich freue mich, meine gnädige Frau, daß ich Ihnen einen kleinen Dienst erweisen konnte. Allerdings nur ein glücklicher Zufall. Wäre ich nicht gerade dort oben im Eichenschlag gewesen –«

Marga schüttelte noch einmal ein Grauen. Aufgeregt streckte sie ihm beide Hände entgegen.

»Wie soll ich Ihnen nur danken!«

Selbach führte ihre Linke an seine Lippen.

»Wie gesagt, ich schätze mich glücklich – aufrichtig glücklich.«

Sein Blick streifte ihr schönes Antlitz, in der Erregung doppelt reizvoll, und seine Hand preßte leise die ihre, ehe er sie wieder freigab. Doch dann glitt sein Auge verwundert an ihrer kostbaren Robe hinunter.

»Aber wie kommen Sie auch nur hierher, meine gnädigste Frau?«

Sie klärte ihm alles auf. Dabei schritt sie langsam an seiner Seite den Weg nach Rödig zurück.

Selbach hörte ihr aufmerksam zu. Aufs lebhafteste gefesselt von ihrer Erscheinung, ihrem ganzen Wesen. Es ging ihm ganz wie damals, als er sie kennen gelernt hatte beim Begräbnis ihres Vaters. Und in Erinnerung daran sagte er jetzt:

»Es ist lange her, seit wir uns das erstemal sahen. Es war ein trauriger Anlaß damals.«

Sie nickte und wurde ernster. Dabei fiel ihm auf, daß sie noch immer blaß aussah von dem ausgestandenen Schrecken, vorsorglich bot er ihr da seinen Arm.

»Sie sind sicher angegriffen, meine gnädige Frau – darf ich mir erlauben?«

Dankend nahm sie an. Sie fühlte sich in der Tat nicht gut. Ihre Knie zitterten noch beständig, und von Zeit zu Zeit rann ihr ein Schauer über den ganzen Leib. Er fühlte es, wie er sie jetzt stützte, und unwillkürlich drückte er dann jedesmal ihren Arm ein wenig gegen den seinen, um ihr einen besseren Halt zu geben. Sie ließ es ruhig geschehen und lehnte sich wirklich in solchen Augenblicken fester auf ihn, so daß er an seinem Arm ihre Schulter fühlte. Dazu der Hauch ihrer Nähe, ihres zart schmeichelnden Parfüms – es überrieselte ihn jedesmal. Ein lange nicht mehr gekanntes Gefühl. Wußte er denn überhaupt noch, wie es war, wenn sich ein weicher Frauenleib an einen schmiegte?

Und Eberhard von Selbach umgab so auf diesem einsamen Waldgang die fremde Frau mit all der zarten, ritterlichen Aufmerksamkeit, die daheim in seinem eigenen Hause nicht gewertet – ja, als lästig empfunden wurde.

Als sich Marga Steinsiefen in der Nähe des Ortes von ihm verabschiedete, dankte ihm ein langer Blick aus ihren dunkeln Augen und die Aufforderung, wenn sein Weg ihn einmal nach Köln führe, doch bei ihnen vorzusprechen. Ihr Mann werde sich freuen, ihm noch persönlich für seinen Schutz zu danken.

* * *

Eke war jetzt viel allein. Ihr Mann war oft verreist, in Köln, wo er Geschäfte hatte.

Eberhard von Selbach sagte damit nicht die Unwahrheit. Er hatte, als er seinen ersten Besuch bei Steinsiefen machte, dort auch Margas Bruder getroffen. Es war dabei viel von den großen Unternehmungen Hermann Reuschs die Rede gewesen, und schließlich hatte sich, nach wiederholtem Zusammentreffen, Selbach bestimmen lassen, auch seinerseits einige Anteile der Baugenossenschaft zu erwerben. Es schien ja in der Tat da ein gut Stück Geld zu verdienen zu sein. Aber, was ihm mehr galt: die geschäftliche Verbindung mit dem Bruder gab ihm den willkommenen Anlaß, der Schwester häufiger nahe zu sein.

Marga ihrerseits sah ihn auch nicht ungern kommen. Doch endlich ein Mann der großen Welt, der sie mit seiner Aufmerksamkeit auszeichnete! Sie begann sich mit ihrer Lage auszusöhnen. So fand Eberhard von Selbach ein unausgesprochenes Entgegenkommen bei seinen Besuchen, das ihn bald immer tiefer einspann mit seinem verführerischen Bann. Und er floh sein eigenes Haus, mehr und mehr.

Eke empfand diese Einsamkeit als eine Wohltat. In der Nähe ihres Mannes bedrückte sie etwas wie ein Schuldgefühl, trotzdem sie sich immer wieder laut zurief: Er hatte ja gewußt, was ihn erwartete. Aber in den stillen Stunden durchwachter Nächte mußte sie es sich bekennen: Es war doch auch in ihr das tiefe Sehnen des Weibes. Nur dem, der den Namen ihres Gatten trug, war es nicht beschieden, es zu stillen. Aber ein anderer war da, wenn ihr das Schicksal den gelassen hätte –!

Das war es, was auf Ekes Stolz lastete. War das nicht schon wie ein trübender Anhauch der Sünde?

Um sich selber zu entfliehen, hatte sich Eke mit ernster Hingabe wieder ihrem wohltätigen Wirken gewidmet. Es füllte sie ganz aus. Nur dann und wann trieb sie es einmal auch wieder hinauf in die Berge. So war alles wie früher, als sie noch Mädchen war. Oft erschien es ihr selber wie ein Traum, daß sie Frau sein sollte, wenn sie so allein durch den Wald schweifte. Erst die Heimkehr in das dunkle, graue Haus drunten erinnerte sie an die Wirklichkeit. Hart und grausam.

Auch heute war wieder ein Tag, wo Eke von Selbach für Stunden ganz der Gegenwart entflohen war. Mit dem Jagdgewehr über der Schulter war sie durch den Forst gestrichen. Die Kaninchen machten viel Schaden droben an der Wiese. Der Oheim ließ sich ja nur selten noch blicken in seinem Revier, und auch ihr Mann kaum noch, seitdem ihn seine Geschäfte immer häufiger nach Köln riefen. Da hatte sie einmal gründlich aufgeräumt unter den Schädlingen. Kallmann, der sie begleitete, hatte den gehäuften Rucksack mit der Beute schon mit hinabgenommen. Sie selber war indessen noch etwas im Revier geblieben. Sie liebte es, den Abend anbrechen zu sehen im schweigenden Forst. Das gab der Seele Frieden, und danach trug sie jetzt so manchmal ein sehnendes Verlangen.

Gedankenverloren schritt Eke am Waldsaum hin. Es war an der Grenze des Reviers. Quer durch die Wiese neben ihr lief die. Jenseits begann die Gemeindejagd, deren Pächter seit dem Tode des alten Reusch Gerhard Bertsch war. Leise begannen schon die Schatten durch den Forst zu schleichen. Kein Vogellaut mehr unter den hohen Tannen. Draußen über der Wiese stand bereits schwer das geheimnisvolle Licht vor der Dämmerung.

Verloren glitt ihr Blick über das sattgrüne, mehr als kniehohe Gras. Aber da weitete sich plötzlich ihr Auge, und angewurzelt stand ihr Fuß. Dort – mitten in der Wiese der rote Fleck! Kein Zweifel, es war ein Bock. Jetzt warf er auf, sicherte einen Moment, mißtrauisch nach dem Holz äugend, doch äste nun ruhig weiter, den Kopf wieder tief im weichen Gras verborgen. Aber Ekes scharfes Auge hatte genug gesehen, das selten schwere Gehörn erkannt. Der ganz alte Bock war es, der stets hier oben stand, aber auf den selbst der Onkel so oft vergebens gegangen war. Und nun lief er ihr hier im Zufall über den Weg!

Das Weidmannsblut fing da an in ihr zu pulsen. Ein schnelles Abschätzen: gut hundert Meter. An sich nicht zu viel. Aber es war kaum noch Büchsenlicht, und sie hatte nur die Kugel im Lauf. Doch ganz gleich – die Gelegenheit kam nicht wieder.

Vorsichtig nahm sie das Gewehr von der Schulter, entsicherte und machte fertig. Aber das leise Knacken, kaum hörbar, war doch durch die Abendstille gedrungen. Sofort war der Bock wieder auf seiner Hut, ein blitzschneller Blick und er hatte sie erspäht. Mit großen Flüchten wollte er abgehen, hinüber ins Nachbarrevier. Doch schon peitschte der Schuß durch das Waldesschweigen. Ein wilder Satz nach vorn, ein Überschlagen, und der Bock war verschwunden im hohen Grase. Gleich zwar tauchte er wieder auf. Aber ein seltsamer Anblick – nur mit Kopf und Hals, als schwämme er in der grünen Grasflut. So arbeitete er sich langsam hinüber zum Holz hin.

Eke begriff. Sie hatte ihn nur krank geschossen. Die Kugel hatte die Hinterläufe gelähmt, wie ärgerlich! Sie schoß sonst stets so sicher. Aber freilich – das Zwielicht. Doch alsbald, wie sie den weidwunden Bock sich so hinschleppen sah, kam ihr ein Mitleid. Sie suchte in ihrem Patronengürtel, obwohl sie wußte, daß da ja nichts mehr steckte. Das arme Tier! Nun würde es sich hinquälen, drüben im Holz, irgendwo in der Dickung. Wer weiß, wie lange noch. Bis es elend einging. Oder die Füchse kamen.

Unschlüssig ging sie auf den Bock zu, der bei ihrer Annäherung seine Anstrengungen vermehrte. Angstvoll traten ihm die dunkel glänzenden Lichter hervor. Ratlos blickte sie um sich. Was sollte sie denn nur machen? Sie bereute jetzt lebhaft den voreiligen Schuß. Der hitzige Jagdeifer war mit einemmal verflogen. Sie sah nur noch ein armes, leidendes Tier vor sich.

Jetzt brach es drüben im Holz. Wie unter herannahenden Tritten. Sie wandte den Kopf hin, und selbst der schwerkranke Bock verhielt und sicherte nach der neuen Gefahr.

Ein Mann trat dort aus dem Wald ins Freie. Beim ersten Blick erkannte sie ihn. Ihr Herz schlug auf: Gerhard Bertsch.

Auch er stutzte, wie er sie gewahrte. Doch nun traf sein Auge den Bock, der beim Anblick des zweiten Bedrängers mit einer verzweifelten Anstrengung die Richtung seiner Flucht ändern wollte.

Bei seinen qualvollen Bemühungen runzelte sich Bertschs Stirn.

»Haben Sie denn keine Patronen mehr im Lauf?«

Rauh klang es zu ihr hin.

»Nein – ich habe mich ganz verschossen.«

Bedrückt kam es von ihr zurück; fast beschämt.

Ein kurzes Besinnen bei ihm – er war zwar in der Jagdjoppe, hatte aber kein Gewehr bei sich bei seinem Abendgange durchs Revier. Dann warf er seinen Stock aus der Hand und griff entschlossen zur Tasche, wo er den Genickfänger wußte. Mit drei großen Schritten war er bei dem Bock und seine Linke packte das Gehörn. Nach einem kraftlosen Aufbäumen ergab sich der Bock in sein Schicksal. Aber er stieß in Todesangst einen langhallenden, röchelnden Laut aus.

Eke schauerte zusammen. Wie wenn ein Mensch starb! Und sie schloß die Augen vor der entblößten Klinge, die schon nach dem Nacken des Tieres zuckte, im Gnadenstoß.

Ein jähes Verstummen.

Als Eke scheu wieder aufsah, lag der Bock schon auf der Decke mit brechenden Lichtern. Aber die schlanken Läufe ruderten noch krampfhaft durch die Luft.

»Das arme Tier!«

»Nur noch Reflexbewegungen. Er ist schon hinüber.« Mit demselben rauhen Ton erwiderte er es und streifte die Klinge an einem Büschel Gras ab. »Menschen haben es nicht so gut. Die leben weiter – auch mit durchschnittenem Lebensnerv.«

Da zwang es ihren Blick hin zu ihm. Zum ersten Male sah sie ihn seit jener Stunde des Abschieds und erschrak, wie hager er geworden war im Gesicht, so scharf und finster die Züge. Und da an der Stirn die brennend rote Narbe! War das alles nur von dem kaum überstandenen schweren Unfall, oder –?

Unruhig begann es ihr in der Brust zu pochen. Irgendein Wort suchte sie, einen Dank für seine Hilfe, ein Wort der Teilnahme für ihn, nach der ernsten Gefahr, in der er geschwebt. Aber die Kehle war ihr wie zugeschnürt.

Da deutete er auf den Bock zu ihren Füßen. Starr und steif hatten sich jetzt die Läufe in die Luft gestreckt.

»Es ist vorbei. Soll ich ihn Ihnen aufhängen? Drüben an einem Baum, bis einer von Ihren Leuten kommt?«

Sein harter, kalter Ton, der jede persönliche Annäherung zwischen ihnen weit weg wies, gab auch ihr das Gleichgewicht wieder. Sie schüttelte das Haupt und zeigte auf den kleinen Grenzgraben hinter ihnen auf der Wiese.

»Der Bock fiel in Ihrem Revier. Er gehört Ihnen.«

Und mit kurzem, schweigendem Gruß wandte sie sich ab, zurück in die eigene Jagd.

Stark schritt sie aus. Bald war sie ihm außer Gesicht. Nun verlangsamte sich ihr Gang, aber peinvoll zuckten all die Eindrücke noch einmal durch sie hin: der Aufschrei des Tieres, sein Blick voll Todesfurcht. Alle Qual der Kreatur, die das Leben grausam niederhetzt, hatte in diesem erschütternden Blick gestanden.

Eke hatte noch nie ein Reh verenden sehen. Stets war ihr bisher bei ihrer sicheren Hand die Beute im Feuer zusammengebrochen. Ohne langes Leiden, wie vom Blitz gefällt. Aber das heut' war schrecklich! Nie wieder wollte sie das sehen. Sie fühlte, ihre Hand würde zittern, im Erinnern daran – jedesmal, wenn sie wieder die Büchse an die Wange legen wollte. Und Eke von Selbach, die, ohne je darüber nachzudenken, seit ihren Kindertagen die Ausübung der Jagd als etwas ganz Selbstverständliches betrachtete, empfand es in dieser Stunde zum ersten Male: Das Weidwerk war etwas Rauhes – Unweibliches. Da entstand ein Entschluß in ihr, und sie wußte, es war keine Augenblicksstimmung: nie wieder würde sie ein Gewehr zur Hand nehmen.

Aber auch mit diesem Entschluß kam das Treiben ihrer aufgestörten Gedanken noch nicht zur Ruhe. Anderes drängte heran, mit derselben unabweislichen Gewalt.

Wie er ausgesehen hatte! Und der Ton seiner Stimme! Trotz all der Kälte – er hatte ihr das Herz erzittern gemacht. Sie fühlte: dahinter barg sich ein schweres Leid. Ein Leid, das er trug um sie.

Da quoll es heiß und weh in ihr auf. Eine große Weichheit, in der sich ihr ganzes Wesen wohltätig löste, nach der künstlichen Erstarrung, in die sie sich selber gewaltsam getrieben hatte. Sie wurde sehend für all das Leid, das um sie herum war. Nicht sie allein trug bloß. Waren sie nicht alle, alle leidbeschwert, die um sie her waren, deren Pfade das Leben mit dem ihren sich hatte kreuzen lassen, in unheilbringender Berührung? Gerhard Bertsch, der nun einsam seinen Weg weitergehen mußte –, aber auch ihr Mann daheim, der vergeblich die Hände nach ihr ausstreckte, den es fror an ihrer Seite?

Und in dieser Stunde der Weichheit rang sich in Eke von Selbach ein ehrliches Wollen empor. Konnte sie Eberhard sein letztes Sehnen auch nie erfüllen, so wollte sie ihm doch Güte bezeigen, Wärme um ihn verbreiten. Da trat ein stilles, klares Leuchten in ihren Blick und stand noch darin, als sie dann wieder heimkehrte ins Adlige Haus.

Was bisher noch nie geschehen war in ihrer Ehe – sie suchte ihren Mann in seinem Zimmer auf. Eberhard von Selbach saß an seinem Schreibtisch. Nun sah er auf, wohl etwas verwundert, aber ein gleichgültiges Hinblicken. Doch sie trat zu ihm. Ihre Hand legte sich aus seine Schulter.

»Eberhard –« es klang eine weiche Güte aus ihrer Stimme – »ich weiß, ich habe manches an dir gutzumachen. Aber noch ist es ja Zeit. Und ich habe den besten Willen.«

Er antwortete nicht gleich. Seine Rechte machte eine matte Bewegung zu ihr hin, aber blieb dann doch auf der Platte des Schreibtisches liegen. So sagte er endlich:

»Ich danke dir, Eke – du bist sehr gut.«

Jedoch hörte man es den Worten an, wie er sie sich abzwang.

Da stieg ihr ein leises Rot in die Wangen. Schweigend trat sie von ihm zurück und verließ das Zimmer.

Schwer ging sein Atem durch die Stille um ihn her. Dann stützte er den Kopf in beide Hände. So sann er lange vor sich hin, das Antlitz vergraben.

Endlich sah er wieder auf. Blaß, mit tief aufgewühlten Zügen. Zu spät! Er kam nicht mehr los von dem süßen Gift, nach dem er gegriffen, um sich das Gefühl seiner Einsamkeit zu betäuben. Nun fraß es ihm tief im Blut. Und würde weiter fressen, unersättlich. Seinen Frieden und den seines Hauses, bis alles zerstört war.

Er sah es kommen – klar bis zum letzten – in dieser Stunde. Dumpf hörte er es über seinem Haupte rauschen. Die dunkeln Schwingen des Schicksals, die ihn schon streiften. Da war kein Entrinnen mehr.

Und ein Mitleid beschlich ihn mit der Frau, die eben still von ihm gegangen war. Ihren wunden Stolz zu verbergen. Arme Eke! Warum hatte sie den Weg zu ihm nicht eher gefunden?

* * *


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