Paul Grabein
Die vom Rauhen Grund
Paul Grabein

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Der Herbst und nach ihm der Winter zog ins Land; aber seine Herrschaft war ausnehmend mild. Das kam dem großen Werden zustatten, das aus der alten Erde des Rauhen Grunds wuchs. Am Berghang droben über dem Oberdorf.

Wie eine sagenhafte Königsburg aus dem Morgenlande stieg es dort empor am dunkeln Waldsaum, hellschimmernd weithin ins Tal als ein Wahrzeichen. Massiges Mauerwerk, hochgezinnt, trutzige Rundtürme und himmelanstürmende schlanke Minaretts – die Hallen, Hochöfen und Kamine der neuen Werksanlagen von Christiansglück.

Oftmals, namentlich des Feiertags nach dem Kirchgang, kamen die Leute des Rauhen Grunds herauf, selbst solche aus den entlegensten Weilern und Einzelhöfen, um zu sehen, was sich dort begab. Schweigend standen da die Alten, mit offensichtlicher Mißbilligung und doch widerwilligem Staunen. Es war also wirklich, wie ihnen Pfarrer Burgmann von der Kanzel herab kündete, mit eiferndem Zorn: Eine neue Zeit kam da herangezogen, unaufhaltsam und bedrohlich.

Wer es noch hätte bezweifeln wollen, den belehrte eines Besseren das Wühlen und Graben, das eine lange, schnurgerade Spur zog droben von dem Werk an hinab bis ins Tal und nun immer weiter neben dem Fluß her, bis ganz hinaus aus dem Bannkreis der Berge, wo fern in der Ebene die Schienenstraße der Bahn vorüberzog. An das eiserne Verkehrsnetz, das die Welt draußen umklammerte und fest verband, würde nun auch der Rauhe Grund angeschmiedet werden. Das bedeuteten die Hammerschläge, die unermüdlich Tag und Nacht durch die Talstille klirrten, um die stählernen Fessel dem trotzigen Stück Erde aufzuzwingen, das seit Anbeginn aller Erdentage seine freie Eigenart gewahrt hatte – im kleinen eine Welt für sich.

Am allermeisten war es gerade dieser Bahnbau, der die Köpfe erhitzte. Wie kam der Amerikaner dazu, ihnen ihre Felder und Wiesen zu zerschneiden mit seinem Schienenstrang? Zäher Bauerneigensinn stemmte sich so dem Werk entgegen, immer wieder angefacht von dem zornglühenden, weißhaarigen Eiferer auf der Kanzel. Aber stärker war der stahlharte Wille des andern.

Für das neue Werk war der Bahnanschluß einfach eine Lebensfrage. Es war nun nicht mehr möglich, wie bei dem bisherigen Kleinbetrieb, das im Hochofen erblasene Eisen auf dem Wagen viele Stunden weit zur Bahn draußen zu fahren. Dem verschloß man sich auch auf der Regierung nicht, wo man überhaupt jedem wirtschaftlichen Aufstreben wohlwollend gegenüberstand. So entschied denn ein beschleunigtes Enteignungsverfahren zugunsten des Werkes. Gerhard Bertsch blieb Sieger, auch hier; aber neue erbitterte Feinde gesellten sich damit zu den alten. Er war der meistgehaßte Mann im ganzen Rauhen Grund – er, der doch der Heimat sein Bestes geben wollte. Aber es kümmerte ihn nicht. Aufrecht ging er seinen Weg weiter, um die Lippen ein überlegenes Lächeln.

Und wie über der Erde, so zog auch drunten unter Tag die neue Zeit ein. Elektrizität warf ihr Licht in die Finsternis der Tiefe, bewegte die Förderkörbe im Schacht und die langen Züge der Grubenbahn in den Strecken, ebenso wie die riesigen Kolben der Pumpen, die das Wasser aus dem Sumpf des Schachtes ansogen und droben über Tag in mannesdickem Strahl auswarfen. Preßluft wurde in endlosen Rohrleitungen hinuntergejagt zu jedem einzelnen Betriebspunkte, um die Bohrhämmer anzutreiben, die nun das langsame, mühselige Werk der Menschenhand ablösten.

Alle diese gewaltigen Wandlungen durchzuführen mit der gebotenen Eile waren nicht Hände genug im Ort und im Rauhen Grund, von außerhalb, vom Westerwald drüben, aber auch noch von weiterher wurde darum Hilfe herbeigeholt. Schwer war es, Unterkunft für diese Landfremden zu schaffen, die die Ortseingesessenen nur scheelen Auges kommen sahen.

Da zeigte sich des Hannes Reusch betriebsamer Geschäftssinn auf seiner Höhe. Er setzte sich mit einer Kölner Großfirma in Verbindung, und bald begann ein eifriges Bauen, mit amerikanischer Schnelligkeit. Fast über Nacht entstand da auf dem letzten Ackerstreifen, der dem Hirschenwirt noch geblieben war nach seinem großen Verkauf an die Zeche, ein kleines Wohnhaus nach dem andern. Unschön, nur eben notdürftig für seinen Zweck gemacht – eine lange Doppelreihe kahler Ziegelhäuser, anzuschauen wie ein Kasernenbau. Aber die Wohnungen darin fanden im Handumdrehen Absatz, und wieder einmal hieß es im Rauhen Grund: Ja, der Reusch-Hannes – der verstand's! Da kam Geld zu Geld, haufenweis.

Aber es war ihm damit noch nicht genug. Wie wenn er angesteckt war von dem großen Werden und Wachsen, das er droben auf Christiansglück tagtäglich vor Augen hatte, kam ein fiebernder Unternehmungsdrang auch über den kleinen beweglichen Mann.

Eines Tages sahen die Nachbarn zu ihrem Erstaunen auch auf seinem eigenen Grundstück die Bauleute ihr Wesen treiben. Man schüttelte den Kopf, was sollte das nun wieder geben? Bald aber wußte man's: die ganzen Wirtschaftsgebäude hinten auf seinem Hof ließ der Reusch-Hannes niederreißen. Was sollten ihm die auch noch, nun, wo er keinen Fuß breit Land mehr sein eigen nannte? Nein, den wertvollen Boden konnte man jetzt besser ausnutzen.

Und allmählich stiegen die Mauern eines umfangreichen Neubaues aus den Fundamenten auf. Ein Saal sollte es werden, und drinnen an jedem Sonntag großer Tanz.

So etwas hatte noch keiner je im Rauhen Grund gehört. Tanzen am heiligen Feiertag? Wie ein Verbrechen wäre das den Alten erschienen! Als das Gerücht davon auch bis zum Pfarrhaus drang, drunten im Tale, schlug es ein wie ein Wetterstrahl. Hellauf schlug die Lohe, und eine halbe Stunde darauf war Burgmann schon droben beim Reusch.

»Ist's wahr, was man spricht? Ein Tanzsaal ist's, was Ihr da baut?«

»Wird wohl so stimmen,« nickte der Wirt.

»Mann!« Drohend sah es aus, wie der streitbare Gottesmann sprühenden Blicks vor den andern trat. »Seid Ihr denn ganz von Eurem guten Geist verlassen, im Rausch der Geldgier, der über Euch geraten ist – Gott sei's geklagt! – seit der Unheilsmensch, der Bertsch, hier ins Land gekommen?«

»Was ereifern Sie sich, Herr Pfarrer? Gibt's denn nicht Tausende von Tanzsälen draußen in der Welt?«

»Was schert das uns? Wir wollen nicht mittun mit denen da draußen. Festhalten wollen wir an alter Zucht und Sitte!«

»Die wird von dem bißchen Tanzen auch nicht gleich zugrunde gehen.«

»Reusch – könnt Ihr nicht sehen? Oder wollt Ihr nur nicht?«

Die starkknochigen Hände des Pfarrers packten den kleinen Mann bei der Schulter und schüttelten ihn.

»Herr Pfarrer, ich muß doch sehr bitten!«

Da ließ der weißhaarige Gotteseiferer von ihm ab, aber es brach ihm wie ein Blitz aus den Augen.

»Und Euch hab' ich konfirmiert und getraut! Schämt Euch, Reusch – im tiefsten Grunde Eures Herzens!«

»Ich bin Ihr Konfirmand nicht mehr, Herr Pfarrer, und weiß allein, was ich zu tun habe.« Kühl kam es zurück. »Im übrigen – mit Ihrer Auffassung vom Sonntagstanz werden Sie bei unseren jungen Leuten wenig Glück haben. Ich glaub', die kenn' ich besser.«

»Das wird sich zeigen!«

»Gewiß, das wird es sich, sobald mein Saal erst fertig ist.«

»Dazu wird es nie kommen!« Heftig fuhr Burgmann auf. »Ich werde persönlich bei der Regierung vorstellig werden. Sie werden die Konzession für Ihr Tanzvergnügen nicht erhalten.«

»Da werden Sie zu spät kommen. Die hab' ich nämlich schon. Ein kluger Mann baut vor, Herr Pfarrer!«

Und Reusch lächelte vergnügt in sich hinein.

Dunkelrot färbte sich Burgmanns Antlitz, bis hoch hinauf unter das silberweiße Haar. So stand er eine Weile in mühsam nur niedergezwungenem Grimm. Dann hob er wuchtig die Rechte.

»Das wird Ihnen kein Segen werden – so wahr ein Gott lebt! Denken Sie an diese Stunde, Reusch.«

Damit ging er.

Der Hannes Reusch hob gleichmütig die Schultern. Doch ein wenig nachdenklich war er immerhin geworden. Merkwürdig – ganz dieselben Worte hatte ihm an dieser Stelle schon mal jemand gesagt. Die alte, blinde Frau da hinten.

Die Reusch-Mutter hatte mit stillem Kopfschütteln von all den neuen Dingen gehört, die um sie herum geschehen sollten. Sehen konnte sie ja nichts davon. All sein Land sollte der Sohn verkauft haben! Von dem stattlichen Grundbesitz, der die Hausmarke der Reuschs draußen in der Flur gezeigt, von Geschlecht zu Geschlecht, war nun kein Fuß breit mehr sein eigen. Wie ein armseliger kleiner Kötter saß er nur noch auf seinem Hof.

Weh hatte das der Reusch-Mutter getan; denn in ihren Adern floß noch echtes Bauernblut. Das Blut freier Männer, die auf ihrer Scholle saßen, soweit die Urkunden und Erinnerungen zurückreichten. Aber sie hatte dazu geschwiegen; der Sohn war ja der Herr im Haus. Doch als nun auch das Rumoren auf dem Hof selber anhub, da litt es sie nicht länger.

»Das bringt keinen Segen, Hannes,« – hatte sie zu dem Sohn gesprochen, genau wie eben der Pfarrer –, »das Geld, das dir aus diesem Born fließen soll. Es ist ein trübes Rinnsal, laß die Hand davon. Ich rate dir gut, Hannes – hör' auf mich alte Frau, dies eine Mal wenigstens!«

Aber er hatte gelacht.

»Was du nicht alles redest, Mutter! Laß den Born sein wie er will – das Geld, das daraus fließt, ist schön blank. Jeder nimmt's gern. Zudem – tu' ich's nicht, tut's ein anderer. Sollt' ich so dumm sein und dem das Geschäft lassen? – Nein, Mutter!«

Da hatte sie geschwiegen, und er nichts mehr gehört von ihr seitdem. Doch jetzt fielen ihm ihre Worte wieder ein. Nachdenklich sann er da einen Augenblick vor sich hin. Keinen Segen – hm, wenn's wirklich so käme?

Aber gleich wieder hatten die Blicke des kleinen, beweglichen Mannes ihren gewohnten, munteren Ausdruck. Ach, Unsinn! Und sich eins pfeifend, ging er hinaus zu dem Neubau, ob auch alles flott vorankam. Zu Ostern mußte der Saal fix und fertig sein. Die Feiertage sollten schon ein gutes Geschäft abwerfen.

Auch Reuschs Kinder sprachen einmal über den Neubau. Marga war einfach entrüstet. Bisher war der »Hirsch« als ein altpatriarchalisches, weithin im Land angesehenes Gasthaus doch immerhin noch ein Geschäft gewesen, dessen man sich nicht gerade zu schämen brauchte. Doch nun, wo hier allsonntäglich der Spektakel angehen und ganz gewöhnliches Volk sein Wesen treiben sollte, war das vorbei.

»Einfach unerträglich!« klagte sie zu dem Bruder. »Ich verstehe den Vater nicht mehr. Kannst du das fassen?«

Hermann Reusch zuckte die Achseln, die Hände in den Hosentaschen.

»Wozu sich aufregen? Mir ist überhaupt der ganze Rummel hier längst zum Halse heraus. Aber wo's eben einstweilen noch sein muß – in Gottes Namen! Der Sonntagsklimbim wird schon was abwerfen, der Alte verrechnet sich ja nie. Und verkaufen wir mal nach seinem Tode das ganze Hubittchen, dann können wir für den Kasten da draußen eine dicke Stange Gold mehr verlangen. Also – mir ist's recht.«

Marga sah den Bruder nur groß an. Aber stärker denn je ward da wieder einmal ihr Sehnen: Heraus aus all dem! Und ihre Gedanken gingen zu dem, der allein ihr dazu verhelfen konnte.

Trotzdem Gerhard Bertsch nun den Sieg errungen, war er ihr noch immer nicht nähergekommen. Es war alles wie früher, ja eher noch schlimmer. Sie bekam ihn überhaupt fast nicht mehr zu Gesicht. Den ganzen Tag über war er auf seinem Bureau oder draußen bei den Bauten, bis in den späten Abend hinein.

Marga kam oft ein heißer Zorn auf ihn, daß er für nichts anderes Gedanken hatte. Ja, wenn er ein Mensch ohne jedes Temperament gegenüber den Frauen gewesen wäre. Aber sie wußte es doch besser. Und daß er nun so tagtäglich an ihr vorübergehen konnte, ohne überhaupt einen Blick für sie zu haben – ihr Ehrgeiz krankte schwer darunter. Aber immer mehr nur stachelte das ihren Willen an: Er sollte, er mußte sie begehren! Als eine Schmach würde sie es empfinden, wenn es anders käme.

Allerlei Pläne entwarf sie in ihrer Ungeduld, wie sie sich ihrem Ziele nähern könnte. Unmögliche, unkluge Ideen, die ein kühleres Nachprüfen sofort wieder verwarf. So blieb alles, wie es war, bis ihr eines Tages der Zufall zu Hilfe kam. Karl Steinsiefen lud sie ein, ihn auf der ersten Fahrt mit seinem neuen Auto zu begleiten. Auch Bertsch würde mit von der Partie sein, denn sie wollten gemeinsam den Basaltbruch droben besuchen.

Steinsiefen und sein Unternehmen waren von dem gewaltigen Umschwung der Dinge gleichfalls nicht unberührt geblieben. Bertsch hatte den beabsichtigten Vertrag mit ihm geschlossen, der ihn zu einer Tageslieferung von fünfzig Waggons verpflichtete, vom kommenden Sommer an. Da hatte er droben in dem Basaltbruch alles darauf einrichten müssen. Ein ganz moderner Betrieb großen Stils entstand über den Winter dort oben und war vor seiner Vollendung, voller Stolz wollte daher Steinsiefen jetzt dies sein Werk Bertsch vorstellen, und auch Marga Reusch. Er hatte sein stilles Werben um sie ja nicht eingestellt, und der Aufschwung seines Unternehmens gab ihm neues Hoffen. Er würde glänzend verdienen. Das, was er ihr nun bieten konnte – da kam kein einziger mehr mit im ganzen Rauhen Grund!

Wie um das jedem sichtbar darzutun, hatte er jetzt das Auto angeschafft, nachdem er drunten in Köln sich im stillen im Fahren ausgebildet hatte. Und selber hatte er die Maschine von dort hierher gefahren.

Voller Stolz hielt er daher jetzt mit dem funkelnagelneuen Wagen vor dem »Hirschen«. Sein dröhnendes Hupensignal, das Marga und Bertsch benachrichtigen sollte, ließ alles in der Nachbarschaft zusammenschrecken. Aus allen Fenstern fuhren Köpfe, Kinder kamen herbeigelaufen und umstanden in dichtem Kreis den Wagen. Scheu horchten sie auf das unheimliche Rattern des Motors und bewunderten doch zugleich den spiegelblanken Lack der Karosserie wie die goldig blitzenden Messingbeschläge. Es war ja das erste Auto, das sich in die Weltabgeschiedenheit dieses stillen Waldtals verirrt hatte.

Dann kam Marga. Eilends sprang Steinsiefen ihr entgegen und öffnete dienstbeflissen den Schlag. Erwartungsvoll sah er ihr dabei in die Augen mit dem Stolz des Besitzers.

Marga Reusch konnte sich eines leisen Zuckens um ihre Mundwinkel nicht erwehren.

Gar zu neu, ganz wie der Wagen, war auch der Fahrerdreß Steinsiefens von hellbraunem Leder. Das roch ja förmlich alles noch nach dem Ausstattungsmagazin. Aber trotzdem – es war doch etwas Nettes, so ein Auto. Und er würde sich sicherlich jederzeit ein Vergnügen daraus machen, sie auszufahren. Da nickte ihm Marga Reusch mit freundlichem Lächeln zu und schwang sich dann leicht in den Wagen.

Das Blut schoß Steinsiefen in die Wangen. Noch nie bisher war ihm das von ihr geschehen!

Gleich darauf erschien Bertsch. Auch sein erster Blick galt dem Auto. Doch dann streifte er das elegante Fahrerkostüm Steinsiefens. Und er sagte sarkastisch:

»Ja, alles wunderschön – aber können wir uns dir auch mit gutem Gewissen anvertrauen?«

»Oho – ich habe mein Fahrerdiplom!«

»Na, dann freilich. Also, auf Hals- und Beinbruch!«

Während Steinsiefen, begierig, seine Künste zu zeigen, rasch auf den Führersitz stieg, ließ sich Bertsch drinnen im Hinterwagen bei Marga Reusch nieder.

»Guten Tag, Fräulein Reusch!« Und er hielt ihr grüßend die Hand hin. »Lange nicht mehr das Vergnügen gelabt.«

Sie wollte ihm die Rechte nur flüchtig überlassen. Aber er hielt sie fest, wie in plötzlicher Überraschung. Sein Auge glitt über sie hin in ihrem neuen Frühlingskostüm, von dem reizvoll kleidsamen Frühjahrshut bis hinab zu den Seidenstrümpfen und Halbschuhen, alles ein einziger, zartfarbener Fliederton.

»Alle Wetter – so hab' ich Sie ja noch nie gesehen!«

»Das ist wohl weiter kein Wunder,« und sie entzog ihm jetzt ihre Hand. »Sehen Sie denn überhaupt noch etwas anderes als Ihre Schornsteine und Maschinen?«

»Freilich,« lachte er, »fast ist's so. Aber, gottlob, doch nicht ganz! Zum Beispiel habe ich eben eine Entdeckung gemacht.«

»Und welche?«

»Daß es wieder einmal Frühling werden will.«

Sie folgte seinem Blick, der über das erste zartgrüne Gespinst in den Gärten neben der Straße hinglitt.

»Haben Sie das jetzt erst bemerkt?«

»Ja – eben.«

Und sein Auge traf ihre lichte, duftige Erscheinung.

»Oh –!« Sie lachte auf. »Das soll nun wohl gar etwas wie ein Kompliment sein?«

»Kein Kompliment – die Wahrheit.«

Ihre Augen streiften ihn, noch immer lachend; aber es stand darin ein eigenes Flimmern, leichthin erwiderte sie, wie scherzend, doch mit einem leisen Unterton:

»Und wenn Sie wirklich den Frühling entdeckt haben – was nutzt es Ihnen?«

»Sie denken, ich wüßte doch nichts mit ihm anzufangen?«

Ein Nicken und ein spöttisches Zucken um ihre Mundwinkel.

»Sie haben vielleicht den Wunsch danach – so gelegentlich einmal – aber Ihre Arbeit läßt Sie ja doch nicht.«

»Meinen Sie?« Ihre Abwehr, ihr feines, überlegenes Wesen und dazu ihre weiche Grazie – noch nie hatte sie so stark auf ihn gewirkt. Da sagte er und senkte den Blick in den ihren: »Vielleicht gäbe es doch einen Kompromiß zwischen Arbeit und – Frühling.«

Sie zuckte die Schultern, immer in derselben leichten Art:

»Das müssen Sie freilich am besten wissen.«

Und sie wandte die Augen zum Wagen hinaus. Voller Interesse betrachtete sie anscheinend die Umgebung.

Auch Bertsch verstummte und zog sein Zigarettenetui.

Ein Schweigen herrschte so im Wagen. Doch nicht lange. Jetzt außerhalb des Ortes brauchte Steinsiefen nicht mehr so gespannt auf Weg und Steuer zu achten. Halb zurückgewandt nach dem Hinterwagen, begann er nun eine Unterhaltung mit Marga Reusch. Sie ging darauf ein, mit einer gewissen Liebenswürdigkeit, die Steinsiefen offenbar beseligte. Sein Antlitz strahlte geradezu.

Bertschs Mund umspielte es sarkastisch. Weibermanöver! Und er stieß den Zigarettenrauch nachlässig vor sich.

Aber sonderbar – diese Freundlichkeit gegen den andern reizte ihn auf die Dauer. Etwa Eifersucht? Lächerlich, auf den Steinsiefen! Und überhaupt – so tief ging das denn doch nicht, was er da heute ihr gegenüber empfand.

Wie, um es zu beweisen, sah er auf seiner Seite zum Wagen hinaus und überließ die beiden ganz sich selber.

Aber dennoch fühlte er unausgesetzt Margas Nähe: Den feinen Hauch eines Parfüms, das leise Rauschen ihrer Gewänder. Es hatte das eine seltsame Gewalt über ihn. Er mußte sich ordentlich zwingen, daß sein Blick nicht ihren schmiegsamen, weichen Bewegungen folgte.

Noch schärfer wandte er sich nach links. Was sollte denn der Unsinn! Und er rauchte stärker, begann an etwas Geschäftliches zu denken. Doch da streifte ihn durch Zufall eine Falte ihres Rocks am Knie, nur wie ein Hauch, aber es durchzuckte ihn gleich einem überspringenden elektrischen Funken. Sofort waren die Gedanken wieder bei ihr.

Die erst halb aufgerauchte Zigarette flog zum Wagen hinaus, doch im nächsten Moment griffen seine Finger voller Unrast von neuem nach dem Etui.

Lag das etwa heut' in der Luft – an diesem Frühlingsahnen, bei aller Weichheit so seltsam schwer, fast drückend – oder waren es seine Nerven? Wohl etwas überreizt von forcierter Arbeit. Denn so hatte er sich selber noch niemals gesehen.

Freilich – es war auch schon etwas Besonderes um sie. Unwillkürlich glitt sein Blick nun zu ihr hinüber, deren Antlitz ihm abgewandt war. So sah er nur ihre Gestalt, graziös und schlank in ihre Ecke geschmiegt. Ein wenig lässig, die Knie übergeschlagen. Durchaus Dame in ihrem sicheren Sichgeben, und doch über ihrem ganzen Wesen eben jener eigene Hauch, der ihm die Nerven aufreizte.

Konnte man Marga Reusch eigentlich heiraten? Es schoß ihm mit einemmal durch den Kopf. Und ganz ernsthaft gab er sich Rechenschaft.

Im Grunde – warum nicht? Ihre Erziehung war die beste gewesen, ihr gesellschaftliches Auftreten einwandfrei, gegen ihren Ruf nichts zu sagen. Nein – sicher nicht! In solch einem Klatschnest wäre ihm das unbedingt zu Ohren gekommen. Die Vermögensumstände waren ebenfalls gut – recht günstig sogar. Warum also dennoch Bedenken?

Vielleicht gerade eben wegen dieser Schönheit, wegen dieses sinnverwirrenden Hauchs, der über ihr schwebte. Es mußte etwas Wunderbares sein um solch eine Frau. Aber –! Es flirrte da bisweilen etwas in ihrem Blick, das gab zu denken. Jene Kirmes fiel ihm wieder ein. So gut, wie sie ihm damals in den Arm gesunken war, im Taumel eines unbewachten Augenblicks, so gut konnte es auch wieder einmal geschehen – mit einem andern.

Da kam es plötzlich über ihn. Eine starke Ernüchterung. Nein – hands off! Und ein energischer Druck erstickte die Zigarette im Aschbecher des Wagenschlags. Aber es fiel – weiß Gott – nicht leicht, sich das mit kalter Vernunft klarzumachen. So dicht neben ihr, daß jeder Atemzug den Duft ihrer Jugend und Schönheit trank.

Marga hatte, trotzdem sie ihm abgewandt saß, die Unruhe seines Wesens wahrgenommen. Und während sie nach vorn zu Steinsiefen hinsprach, mit lächelnder Gelassenheit, lauschte ihr Ohr auf jeden Laut neben ihr. Schneller ging ihr Atem. Sie fühlte die Glut aufflammen, die sie entfacht. Wie ein Rausch wollte es da über sie kommen. Endlich also! Und sie harrte mit vibrierenden Nerven auf ein Zeichen ihres Sieges.

Das Auto hatte inzwischen seinen Weg durch den Talgrund genommen, bereits das Unterdorf passiert und näherte sich jetzt dem Adligen Hause. Unwillkürlich richtete sich da Bertschs Blick hinüber nach dem Viereck der hochwipfligen Kastanien, deren breites Geäst noch in winterlicher Kahlheit ragte und das massige Gemäuer des Herrensitzes freigab. Er hatte Eke von Grund seit jenem letzten Besuch dort im Hause nicht mehr gesprochen. Aber gedacht hatte er manchmal an sie. Ob sie wohl Wort halten und wirklich zur Besichtigung seines Werkes kommen würde? Bald war es ja so weit, daß er ihr es zeigen konnte. Und es hätte ihn aufrichtig gefreut.

In Stunden, wo er einmal frei von Arbeit war – sehr selten waren sie freilich nur gewesen in dieser ganzen langen Zeit –, war ihm manchmal der Wunsch gekommen, sie wiederzusehen. Ihre gehaltene Ruhe, hinter der sich aber doch ein starkes und warmes Empfinden barg, taten ihm innerlich wohl. Und seine Einsamkeit, die er so lange mit sich herumtrug, hätte sich einer Frau wie ihr vielleicht willig aufgeschlossen. So war es bisweilen sogar fast wie ein Sehnen nach ihr über ihn gekommen.

Dessen ward sich Bertsch auch jetzt wieder bewußt, und seine Augen gingen suchend zu dem Adligen Hause hinüber. Aber plötzlich fuhr er zusammen. Da war sie ja – nur wenige Schritte vor ihm! Kaum daß er Zeit hatte, im Heranfliegen des Wagens noch den Hut zu ziehen.

»Eke von Grund!«

Unwillkürlich hatte sich ihm ihr Name auf die Lippen gedrängt.

Der Klang geheimer Freude ließ Marga Reusch schnell herumsehen. Erst zu ihm, dann zu Eke, die gerade in diesem Moment neben ihnen auf dem Fußsteig längs der Straße sichtbar wurde. Mit ruhiger Freundlichkeit dankte sie für Bertschs Gruß; aber als sie dann neben ihm im Wagen Marga Reusch erkannte, trat ein kühles Verwundern in ihr Auge.

Marga erwiderte, indem sie den Kopf zurückwarf und hochmütig über die Fußgängerin hinwegsah, die dann gleich wieder ihren Augen entschwunden war.

Aber Bertsch war diese Begegnung nicht entgangen. Und es fiel ihm ein: Richtig, das war ja von jeher so gewesen! Eine stille Rivalität zwischen den beiden. Schon als Kinder. Das heißt, im Grunde eine Rivalität, die von Marga Reusch ausging. Sie wollte der andern, trotz ihrer vornehmen Geburt, keinen Vorrang zugestehen. Ja, im Gegenteil, sie womöglich noch ausstechen.

Mit leiser Ironie wandte sich Bertsch daher nun an seine Begleiterin:

»Warum grüßten Sie sich denn nicht mit Fräulein von Grund?«

»Ich habe dazu keine Veranlassung. Wir stehen in keinem Verkehr miteinander.«

Kurz gab sie es zurück. Ersichtlich verstimmt. Noch klang ihr ja der Ton freudiger Überraschung im Ohr, mit dem er eben die andere wahrgenommen hatte.

Gerhard Bertsch verfiel in dieselbe Schweigsamkeit. Diese Begegnung forderte zu Vergleichen heraus, und er fand: Trotzdem Eke von Grund nur in einem schlichten, graugrünen Lodenkostüm der eleganten Damenerscheinung Margas gegenübergestanden, hatte sie doch unbedingt vornehmer gewirkt.

Es war, wie wenn Marga Reusch diese Gedanken erriet. Etwas Nervöses war in ihrem Wesen, wie sie so an der hellen Seide ihres Schirmes glättend entlangstrich. Vergebens bemühte sich Steinsiefen vom Vordersitz aus, von Zeit zu Zeit durch eine Bemerkung ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und womöglich wieder einen freundlichen Blick von ihr zu erhaschen. Sie antwortete nur zerstreut. Oft überhörte sie ihn ganz.

Das Auto stieg jetzt den Hang hinauf, zwischen den Haubergen hindurch. Hier und da lagen noch aufgeschichtete Schanzen vom vorigen Abhau. Vereinzelt sah man auch Leute im Holz arbeiten.

Plötzlich gab es im Wagen einen Ruck. So unvermittelt und heftig, daß Marga Reusch unter einem Aufschrei gegen ihren Begleiter geschleudert wurde. Unwillkürlich breitete er da schützend den Arm um sie.

»Hallo! Was gibt's?«

Und Bertsch sah zu Steinsiefen. Der arbeitete mit rotem Kopf an Steuer und Bremse. Doch nun ward eine Stimme da vorn vernehmlich, eine scheltende Frauenstimme, und sie sahen, was es gab.

Ein altes Weiblein war ihnen entgegengekommen, hinter sich einen kleinen Wagen hoch beladen mit quer gepackten Schanzen. Die herausspießenden Äste waren den Rädern des Autos bedenklich nahe gekommen durch das ratlose Hin und Her der Geängstigten. Nur durch das plötzliche Herumwerfen der Maschine war sie vor ernstem Schaden bewahrt geblieben. Doch nun schmähte sie aufgeregt, mit der Faust drohend, hinter dem jetzt wieder schnell davonratternden Wagen her.

Steinsiefen lachte laut, indem er sich noch einmal nach ihr umdrehte. Marga Reusch aber löste sich aus Bertschs schützendem Arm mit einer fast heftigen Bewegung.

»Fahren Sie doch vorsichtiger!«

Scharf klang es zu Steinsiefen hin. Der sah betroffen herum.

»Pardon – es war ja nicht meine Schuld, Fräulein Marga.«

Auch Bertsch hatte zu der Alten zurückgeblickt. Jetzt kehrte er sich den beiden wieder zu. Mit seiner gewohnten Gelassenheit sagte er:

»Das wird sich noch oft begeben; sie zetern, und wir fahren doch. So ist's immer in der Welt. Das Neue bricht sich Bahn – trotz allem.«

Und sein Blick suchte mit einem Aufleuchten drüben am Berg die Kamine seines Werks, die sich hell von dem dunkeln Waldhintergrund abzeichneten.

Dann erst sah er zu seiner Begleiterin hinab.

»Es ist doch gut abgegangen?«

Sie nickte kaum merklich, die Lippen zusammengepreßt, eine steile Falte zwischen den Brauen.

So schwiegen sie alle drei auf dem letzten Teil der Fahrt.

Dann näherten sie sich dem Ziel, dem Basaltbruch droben. Schon weithin kündete er sich an. Der Hochwald, der hier den Bergrücken bedeckte, bot ein Bild der Verwüstung. Mitten durch ihn hindurch war ein breiter Fahrweg geschlagen worden. Wie eine noch offene Wunde klaffte der dunkle Waldboden, von dem die Rasendecke gerissen war; an den Rändern hingen abgerissene Wurzelfasern. Rechts und links lagen die gefällten Baumriesen, noch das dürre Laub an den Zweigen. Tief wühlten sich die Wagenspuren in die weiche Humuserde.

Nun tauchte mitten in der Waldeinsamkeit eine Lokomobile auf. Wie verirrt stand der blanklackierte Leib der ganz neuen Maschine hier zwischen Baum und Busch. Mit hellem Gezwitscher flatterte von dem eisernen Koloß eine Tannmeise auf, die sich zwischen den Speichen des malmenden Schwungrads ein Zufluchtsplätzchen gesucht hatte.

Bald mehrten sich die Anzeichen der Industrie, die hier in den Waldfrieden eingebrochen war. Es lichteten sich die Bäume. Frei lag vor dem Auge die Bergkuppe mit ihrer weiten Rodung. Hell schimmerte es auf. Ein mächtiger Betonbau, an vier Stockwerke hoch: Das Förderwerk mit den Aufzügen und Steinbrechmaschinen. Droben in schwindelnder Höhe fügten gerade Zimmerleute, verwegen an den Balken hangend, die letzten Sparren in die Dachrüstung. Daneben stiegen die hochragenden Essen des Kesselhauses auf. Und ringsumher, wie ein Burgwall aus vorgeschichtlicher Zeit, schwarzgraues Basaltgeröll.

Das Auto hielt, und die drei stiegen aus. Vom Meister empfangen, der die Arbeiten hier oben leitete, führte Karl Steinsiefen seine Gäste überall umher, berichtete und erklärte. Er sprach zu Bertsch hin, doch seine Augen hingen an Marga Reusch. Diese aber hatte weder Interesse noch Verständnis für das, was es hier zu sehen gab. Ebensowenig beachtete sie Steinsiefens Blicke. Immer noch beschäftigte sie die Wahrnehmung vorhin da unten mit Eke von Grund. Und doppelt heiß brannte in ihr der Wunsch auf, sich Bertsch zu gewinnen – schon, um ihn nicht etwa der andern zu lassen.

So wartete sie mit steigender Ungeduld auf eine Gelegenheit, Gerhard an ihre Seite zu bekommen und sich mit ihm etwas abzusondern. Und sie bot dazu die Hand, vor irgendeiner Maschinerie blieb sie stehen, anscheinend gefesselt von dem Anblick, und zeigte mit dem Sonnenschirm:

»Was ist denn das hier, Herr Bertsch?«

Der Angeredete, der gerade vor ihr neben dem Werkmeister stand, blickte flüchtig zurück.

»Ein Paternosterwerk.«

Dann wandte er sich gleich wieder an seinen Begleiter, ganz Berufsinteresse:

»Wo kommt eigentlich die Seilbahn von unserer Zeche herauf?«

»Hier, Herr Direktor!«

Und die beiden gingen zu der Stelle hinüber.

Marga Reusch biß sich auf die Lippe. Tief bohrte sich die Spitze ihres Sonnenschirms in den Sandboden.

Steinsiefen benutzte sofort den willkommenen Anlaß und trat an ihre Seite.

»Nun, wie gefällt's Ihnen hier oben?«

»Ein abscheulicher Schmutz!« Und sie blickte ungnädig zu ihren Füßen nieder. »Man verdirbt sich ja alle seine Sachen.«

»Oh – wahrhaftig!« Ganz bestürzt sah auch er zu den zierlichen Schuhen von fliederfarbenem Glacé nieder. »Entschuldigen Sie nur vielmals. – Aber Sie sollen keinen Schritt mehr zu gehen brauchen. Ich fahre Ihnen das Auto her. Einen Augenblick nur!«

Schon war er fort und bald darauf wirklich mit dem Wagen da. Sie stieg ein. Ihr Blick suchte Bertsch. Aber der war nirgends zu sehen. Er steckte sicherlich irgendwo in einem Maschinenhaus mit dem Menschen, dem Werkmeister. Da sah sie Steinsiefen ungeduldig an.

»Wie lange soll man hier wohl noch warten, bis es Herrn Bertsch einmal beliebt?«

Schnell griff er zu. Diese Gelegenheit, mit ihr allein zu sein, kehrte ja so bald nicht wieder.

»Bitte – ich fahre Sie gleich heim, wenn Sie wünschen. Bertsch hält sich sicher noch eine ganze Weile hier auf. Ich hole ihn nachher ab.«

Und schon war er aufgesprungen, rief einem der Arbeiter in der Nähe Bescheid zu und fuhr davon.

Doch sein Hoffen war umsonst gewesen. Seine Begleiterin blieb verstimmt und schweigsam. Kurz war auch nur dann der Abschied vor ihrem Hause. Enttäuscht fuhr er da seinen Weg noch einmal zurück. –

»Na – wie war's?«

Aufblickend vom Kartenspiel, bei dem er im Honoratiorenzimmer mit einigen Bekannten saß, rief es Marga im Vorbeigehen ihr Bruder zu. Aber sie zuckte nur die Achseln und trat rasch in ihr Zimmer ein. Heftig riß sie sich vorm Spiegel den Hut vom Kopfe und schleuderte ihn achtlos beiseite. Hassen konnte sie Bertsch bisweilen – glühend hassen!

Und ihr Blick flog zum offenen Fenster hinaus, wo droben auf dem Berghang die Zechenkamine ragten. Die weißen Hände ballten sich leidenschaftlich und preßten sich so gegen die aufbrennenden Augen. Sollte sie sich doch getäuscht haben?

* * *

»Vorsicht – nicht anfassen!«

Rasch nahm Gerhard Bertsch Ekes Hand fort, die an der durchlochten Eisenwand des Förderkorbes unwillkürlich einen Halt suchen wollte, nun, wo ihr der Boden unter den Füßen zu weichen schien, beim Einfahren in den Schacht.

»Wegen der Führung, in der der Korb gleitet.«

Wie entschuldigend fügte er es hinzu. Aber sie nickte nur. Selbstverständlich – hier in der Grube galten andere Verkehrsformen.

Tiefer sank der Korb; immer schneller und schneller. Ein beklemmendes Gefühl dies Niedersausen, unter beständigem Schüttern und Rucken. In den Ohren dabei ein Druck wie tief unter Wasser. Eke sah sich unsicher um im Schein ihrer beiden Grubenlampen.

»Hier – wenn Sie einen Halt haben wollen.«

Und Bertsch wies ihr den Querbalken über ihrem Kopf.

Mit einem dankenden Nicken griff sie danach und fühlte sich nun sicherer. Voll ließ sie die Eindrücke dieser ersten Grubenfahrt auf sich einwirken.

Die glatte, feuchtschwarze Schachtwand schien beständig nach oben zu fliegen. Nacktes Gestein und Zimmerung wechselten. Aber nur ein unvermitteltes Aufleuchten, strahlende Helle für einen Moment – irgend etwas schoß vorüber, Licht, Bewegung, Leben – aber ehe das verwirrte Auge noch Näheres wahrgenommen, war es schon wieder vorbei. Nachtdunkel um sie herum.

Aber Bertsch erklärte ihr das Wunder.

»Die vierte Sohle, die wir eben passierten.«

Und noch zweimal, dreimal wiederholte sich die Erscheinung; dann verlangsamte sich das Tempo ihres Falles, nun ein Rasseln und Schüttern des Eisenbodens unter ihren Füßen – der Korb stand still.

»So – angelangt. Der Füllort der zehnten Sohle.«

Eke von Grund folgte ihrem Führer, der schon draußen stand in dem weiten, gewölbeähnlichen Raum am Schacht. Gleißendes Licht aus der elektrischen Bogenlampe begrüßte sie. So grell, daß das lichtentwöhnte Auge sich schmerzhaft schloß. Doch allmählich unterschied sie: das Schutzgitter am Schacht, den Mann daneben, in schmutziger, blauer Bluse, der gerade an einem Strick zog und aufklopfte. Ein glockenähnlicher Hall, von fern her – das Hammersignal, das droben über Tag dem Fördermaschinisten das Zeichen gab, den Korb wieder herauffahren zu lassen. Dann hörte sie Bertschs Stimme neben sich.

»Kommen Sie nun, in den Hauptquerschlag.«

Sie folgten dem schmalen Doppelgleise, das vom Schacht ausgehend sich im Dunkel vor ihnen verlor, und kamen aus dem Felsgewölbe des Füllorts in einen geräumigen, ausgemauerten Gang, der sich in schnurgerader Richtung erstreckte.

Nun schlug ihnen die Grubenluft entgegen. Ein eigenes Gemisch: warm, stickig, dumpf, wie nach faulendem Holz. So schritten sie hinein in die Finsternis vor ihren.

»Ist es nicht wie auch im Leben?« Beklommen sagte es Eke. »Wir gehen dem Dunkel entgegen.«

»Aber kommen doch ans Licht.«

Frische Zuversicht und Kraft klang aus der Mannesstimme ihr zur Seite im Dunkeln. Der Lichtkreis der Lampen in ihrer Hand strich ja nur zu ihren Füßen, über den Boden hin. Immer wenige Schritte bloß wies er ihnen den Weg.

Nun ein schriller Pfiff, dann ein dunkles, drohendes Geräusch, das unheimlich wuchs und näherkam. Jetzt funkelte es vor ihnen in der Nacht auf. Ein tückisch gleißendes Auge. Unwillkürlich trat Eke näher zu ihrem Begleiter.

»Eine Lokomotive – ein Wagenzug.«

Und seine Hand suchte nach der ihren. So zog er sie seitwärts an die Mauer. Ratternd und malmend fuhr langsam der Zug an ihnen vorüber. So dicht, daß die Wagenränder manchmal Ekes Grubenanzug streiften. Unbewußt preßte sie beide Arme an den Leib, den sie rückwärts gegen die naßkalte Mauer drängte. Aber da fühlte sie wieder seine helfende Hand auf der ihren, die das offene Licht trug.

»Sie müssen die Lampe nach außen halten – Sie werden sich sonst verbrennen.«

Und in der Tat spürte sie bereits die sengende Wärme an ihrem Körper.

Sie lächelte im Dunkel zu ihm hin, etwas verlegen.

»Ich benehme mich recht ungeschickt. Sie werden von meinem Besuch wenig erfreut sein.«

»Im Gegenteil. Ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind – nun doch noch.«

»Hatten Sie denn schon daran gezweifelt?«

»Allerdings, da Sie so lange nichts von sich hören ließen.«

»Ich halte Wort – stets.«

Es klang so kurz und stolz. Ganz sie. Und doppelt freute er sich ihres Hierseins.

Dann schritten sie weiter ins Dunkel hinein. Sie verließen an einer Gabelung den Hauptquerschlag. Nun ging es erst recht hinein in dies Labyrinth, in das Gewirr der Straßen und Gäßchen dieser Unterwelt. Es war, wie wenn sie eingedrungen wären in Bergkönigs Märchenschloß. Bald wanden sie sich durch geheimnisvolle enge Schleichgänge, bald gingen sie durch hohe Galerien mit breiten Rampen, wie Auffahrten zu einem unterirdischen Marstall. Dann wieder taten sich weite Hallen vor ihnen auf. In den glattpolierten Felswänden spiegelten sich lustig blinkend ihre Lampen, und oben wölbte sich eine hohe Kuppel – Festsäle für das Zwergenvolk hier unten, die jetzt nur in schweigendem Dunkel träumten.

So ging es endlos hin, treppauf, treppab, in diesem verwunschenen Schloß; voll von geheimen Schauern in seiner lautlosen Stille. Nur hin und wieder ein verlorener Hall – ein fernes Pochen und Scharren, wie von Geisterhänden.

Aber nun plötzlich ein dumpf grollendes Rollen, lang hingezogen, ihnen zu Häupten. Betroffen sah Eke auf ihren Begleiter.

»Es donnert! Ein Gewitter dort droben auf der Erde.«

»Doch nicht.« Bertsch schüttelte lächelnd den Kopf. »Nur eine Sturzrolle.«

»Sturzrolle?«

»Ja, ein kleiner Schacht von einer Sohle zur nächsttieferen, um Berge hinunterzustürzen, zum Verfüllen der Strecken. Wir werden hier auch gleich auf eine treffen.«

Und es war so. Nur ein kurzes Stück weiter, schrak Eke zurück. Dicht vor ihrem Fuß gähnte es drohend auf. Ein tiefer, schwarzer Schlund, mitten in der Strecke. Gerade über ihn hin führte der Weg, auf einer lose darüber geworfenen Leiter.

»Nur ohne Sorge – ich stütze Sie.«

Seine Rechte streckte sich nach ihr aus. Aber ehe er sie noch berührt, war sie schon über das Hindernis hinweg, mit zwei entschlossenen Schritten.

»Bravo!« lobte er, doch war er gleich wieder vor ihr. »Sie müssen mir schon die Führung überlassen. Es ist unbekannter Boden für Sie.«

Abermals wanderten sie durchs Dunkel hin. Und immer noch diese Einsamkeit. Kein Anzeichen von Menschennähe. Dies Bewußtsein der Verlassenheit, tief im Erdenschoß, hatte etwas Eigenes. So ähnlich mußte dem Pilger zumute sein in der Unendlichkeit der Wüste.

Doch als sie nun in einer niederen Strecke dahinschritten, wehte sie plötzlich ein Duft an. Eke stutzte. Wie aus einer Tabakspfeife! Und der vertraute Geruch zauberte hier in der Nacht der Tiefe mit einemmal anheimelnde Bilder menschlichen Treibens droben über Tag vor ihre Seele: Holzarbeiter im grünen Walde; den behaglichen Alten, der mit einer Schnitzarbeit in der Feierstunde am Herde saß. Dankbar fast sog sie da den Hauch ein.

Bald wußte sie auch, woher er kam. Ein winziges Lichtlein, geheimnisvoll wie das eines Erdgeistes, irrlichtete vor ihnen in der Finsternis und wuchs im Näherkommen. Dann hallende Schritte, und nun stand ein Mensch vor ihnen. Der erste, dem sie begegneten in der Unterwelt. Als wär's ein guter Freund, erwiderte Eke von Grund sein »Glückauf!« Jetzt erst verstand sie recht Sinn und Schönheit dieses alten Bergmannsgrußes.

Ein Reparaturhauer war's, der an ihnen vorbeiging. Bertsch aber wandte sich gleich darauf seitlich ab, zu einem Winkel in der Strecke.

»Jetzt heißt's klettern. – Geben Sie mir Ihre Lampe, Sie werden beide Hände brauchen.«

Und er stieg bereits in einen dunklen Schlund am Boden ein.

»An hundert Meter geht's so hinab.«

Schon entschwand er ihren Blicken. Doch Eke folgte ihm nach zu der Leiter. Fest griff sie zu und tastete sich behenden Fußes den Weg hinunter in die gähnende Tiefe.

Einige Minuten kletterten sie ununterbrochen. Die ungewohnte Anstrengung machte sich bei Eke doch allmählich fühlbar. Da war es ihr nicht unlieb, als er anhielt. Auf einer schmalen Holzbühne, die bei einem Absatz der Fahrten angebracht war. Senkrecht nach oben und unten strich hier der schwarze Kamin, den sie durchkletterten.

»Eine kleine Rast kann uns ja nicht schaden.«

Er sagte es mit gutmütigem Lächeln und räumte allerlei Gesteinssplitter von der kleinen Bank auf der Bühne. Dicht saßen sie dann nebeneinander. Ihre Ellenbogen berührten sich, und er hörte, wie ihr Atem ging.

»Hat Sie's sehr angestrengt?«

»Oh – durchaus nicht. Nur etwas ungewohnt dies Leiterklettern.«

»Fahren,« verbesserte er sie scherzend in dir Bergmannssprache. Dann schwiegen sie wieder.

Allerlei Gedanken kamen ihm. An den Autoausflug mit Marga Reusch neulich mußte er denken. Auch heute saß er wieder so, allein und nahe einem Mädchen, und spürte den warmen Hauch ihrer Jugend. Und doch nichts von jenem geheimen Vibrieren, dem Verlangen des aufgestörten Blutes.

Warum das? War Eke von Grund etwa weniger begehrenswert? Nein – keineswegs. Ihre blonde, helle Schönheit nahm es gewiß mit Margas pikantem Reiz auf. Aber es umwehte sie ein reiner, kühler Hauch, der jedes heiße Mannesregen in die Schranken wies, es wohl gar nicht aufkommen ließ. War das die ererbte Hoheit einer Frau aus altem Geschlecht, oder nur der Ausfluß einer adligen Weibesnatur? Aber ganz gleich – es war einmal an ihr, jenes Hoheitsvolle, vor dem der Mann sich schweigend beugte.

Und plötzlich kam es über ihn. Ein Unbehagen, daß er neulich, wenn auch nur für eine kurze Spanne, sich von Margas Reiz hatte bannen lassen. Ja, es war ihm beinahe peinlich, daß Eke sie beide im Wagen gesehen hatte. Ob er ihr daher nicht jetzt ein Wort der Aufklärung sagen sollte? Und schon kam es ihm auch von den Lippen:

»Das war übrigens neulich ein unerwartetes Begegnen! Steinsiefen wollte mir seine neuen Anlagen droben auf dem Basaltbruch zeigen, und er hatte auch Fräulein Reusch aufgefordert, mitzukommen.«

Sie hob ein wenig den Kopf. Das klang ja wie eine Entschuldigung! Und ein inneres Abrücken lag in ihrer Antwort:

»Ach so – Sie meinen damals auf der Chaussee. Ich hatte gar nicht mehr gedacht an dieses flüchtige Begegnen.«

Die Stirn bewölkte sich ihm. Seine dumme Offenherzigkeit! Er suchte, aber fand nicht gleich ein gewandtes Wort, um über die Sache schnell hinwegzugleiten. Das Schweigen wollte drückend werden. Da machte sie ein Ende.

»Ich denke, wir können nun wohl wieder weiter.«

Es klang ruhig und freundlich, doch er fühlte deutlich den gewissen Abstand, der sich zwischen ihnen gebildet hatte. Mit einem kurzen Griff faßte er daher nur nach seiner Lampe und trat von neuem sein Führeramt an.

Das Klettern auf den Leitern nahm ein Ende. Sie schritten jetzt in einem abgebauten, alten Erzgang hin. Einer Gebirgsklamm glich er, durch die sich ein Wildbach zwängte. Rauschend schoß ihnen das Wasser über die Füße.

Dann endlich näherten sie sich den Punkten, wo der Abbau stattfand, von weitem schon vernahmen sie das metallische Hallen der Fäustelschläge und das dumpfe Prasseln niederbrechender Steinmassen. In Pausen der Ruhe drang der Schall menschlicher Stimmen an ihr Ohr. Sonderbar hohl, wie aus einer Grabesöffnung. Nun blinkte es auch vor ihnen auf, hin und her haschende Lichtlein, und nach einer Biegung plötzlich der sonnige Schein der vielen dort vereinten Azetylenlampen. Ein hohes Gewölbe zeigte sich ihnen, mit phantastischem Schatten an den Rippen der Felsenkuppel. Wie zu einem frohen Feste schien alles gerüstet hier in der Tiefe der Erde. Zu einem Feste der Zwerge. Die schattenhaften Gestalten, die dort hockend vor der Felswand kauerten, verstärkten nur noch den Eindruck.

Den Blick staunend nach vorn gerichtet, schritt Eke weiter. Aber plötzlich zuckte ihr Fuß zurück. Unter ihrem Tritt hatte es sich bewegt – und nun ein wildes, fauchendes Zischen.

»Nur der Preßluftbohrer,« beruhigte sie Bertsch. »Sie haben ahnungslos den Hebel der Leitung berührt.« Dann näherten sie sich den Leuten, die wie ratlos dastanden. Bertsch trat zu ihnen.

»Na, was macht ihr denn für Gesichter?«

Einer drehte sich um.

»Der Steiger war eben hier. Der hat uns die Courage abgekauft.«

»Na, na – warum denn?«

»Ja, wir dachten, wir sollten nun stracks fördern. Statt dem sind wir auf eine Kluft gestoßen. Nun können wir wieder im Stein arbeiten, Gott weiß wie lang, und verdienen nichts.«

Bertsch schüttelte den Kopf.

»Eine Kluft – hier, das will mir nicht recht scheinen.«

Er leuchtete und klopfte schweigend das Gestein ab. Stumm sahen die Männer zu.

»Sicher nur eine kleine Rippe, und der Gang setzt dahinter fort.«

»Wenn's bloß eine Rippe ist, dann sollen wir's stracks packen.«

Und mit neuem Vertrauen hoben die Leute den Bohrer auf die Schultern. Einer drehte an, und mit ohrenbetäubendem Rattern fraß sich der Stahl hinein ins Gestein. In beständigem Fluß rann das weiße Bohrmehl aus der Öffnung.

Bertsch griff eine Handvoll davon auf und betrachtete sie prüfend.

»Gut geht's, was?« scherzte er dann nach einer Ruhepause. »Da lacht euch wohl ordentlich das Herz im Leibe?«

»Herz im Leibe lachen? Enä –, dafür haben wir doch auch dat Gedinge gemacht.«

»Was verdient ihr denn hier?«

»An hunnertdreißig Mark dat Monat. Dat is doch meiner Schau nit viel.«

»Na, doch aber auch nicht gerade wenig, hierzulande. Und es könnten gern noch ein paar Taler mehr werden, wenn ihr selber nur wolltet. Doch ihr macht's euch zu gemütlich, Herrschaften – so nach altem, gutem Brauch. Ihr vergeßt aber, es sind andere Zeiten geworden. Wer heutzutage vorwärtskommen will in der Welt, der muß fester zupacken, als Vater und Großvater es getan haben.«

»Ja, ja, Herr Bertsch, sollen wir Ihnen denn die neuen Schornsteine da oben gleich auf einmal bezahlen?«

Und der Sprecher lachte dem Leiter der Grube frei ins Gesicht. Auch Bertsch lachte. Das war hier noch so der alte Ton, von den Zeiten her, wo Gewerke und Bergmann auf Du und Du standen. Aber er wandte sich nun doch zum Gehen.

»Na, nur weiter so, Leute! Und ihr werdet schon noch auf eure Kosten kommen.«

Wieder an Ekes Seite ging er dahin. Sie kamen noch an mehreren Betriebspunkten vorüber. An einem blieb er stehen. Er kannte den Alten, der dort mit ein paar andern arbeitete, persönlich. Der lag hier schon in der Grube, als Bertschs Vater noch Bergverwalter war. Er trat heran und klopfte dem Alten auf die Schulter. Dieser sah herum und gab ihm treuherzig die Hand.

»Na, Vatter Brinkmann – Leben noch frisch?«

»Oh, dat is ein Kompel! Der springt noch gut.« gab ein Kamerad launig für den Alten Auskunft.

Bertsch nickte lächelnd dem Sprecher zu und wandte sich dann wieder an Brinkmann.

»Und wie geht's mit der Arbeit, seid Ihr zufrieden hier?«

»O ja, dat gerät schon. Dat is ein schönes Gangstück hier. Lauter noble Ware.« Und als der Alte nun das fremde Gesicht neben dem Bergherrn, eine Dame gar, bemerkte, winkte er sie zutraulich heran. »Hier, da können Sie mal wat Feines sehen.« Er deutete auf eine frisch angehauene Kluft, in der es von Quarzkristallen blitzte und funkelte im Schein der erhobenen Lampe. »Dat sin Nester, nit? Wunderschön! Wie dat Strahlen schießt, als wären dat lauter Diamanten und Ordenssterne. Aber so schön wie früher findet man sie doch nicht mehr. Als mein Vater selig noch bergte, da bracht er mich mal als Jungen eine Druse heim. Da waren lauter Figuren drin, alles was auf der Erde vorkommt – alles Getier und alle Pflanzen.«

»Was Sie nicht sagen,« nickte Eke dem Alten freundlich zu. Aber Bertsch kannte seine Redseligkeit. Es war ihm, inzwischen auch etwas aufgefallen. So mischte er sich denn wieder ins Gespräch. –

»Seid ihr denn bloß drei Mann hier? Wie kommt das?«

»Ja, der Andres-Philipp is heut' nit gekommen.«

»Warum nicht?«

»Er wird wohl nit Laune gehabt haben.«

Lachend rief es wieder jener andere herüber. Doch der alte Brinkmann erklärte:

»Er ist im Heu. Aber dafür will er morgen doppeln!«

»Doppeln – zwei Schichten hintereinander, sechzehn Stunden in der Grube – auch so ein ›alter, guter Brauch‹! Leute, macht's euch doch einmal klar: das geht über die Knochen und verschleißt vor der Zeit. Nein – wer seine Schicht verfahren hat, der hat ein ehrlich Anrecht auf Ruhe.«

»Ja, dat soll wohl sein. Aber dat is doch mal so Brauch.«

Bertsch schüttelte nur den Kopf und wollte weiter. Doch da blieb sein Auge an der Firste des Ortsstoßes hängen. Gerade oberhalb der Stelle, wo Eke stand.

»Die Sache scheint hier nicht recht geheuer. Der Stein läßt nach – bitte!« Und er bedeutete sie, beiseite zu treten. Dann faßte er nach oben und hatte sofort ein morsches Gesteinsstück in der Hand.

»Pack mir mal das Dings!«

Er reichte seine Lampe dem Nächststehenden, nahm seinen Fahrstock und stieß damit kräftig gegen das Deckgebirge. Im nächsten Augenblick ein Prasseln und Krachen.

»Baus – Här o! Da kommt 'ne Last. Gleich 'ne ganze Wagenladung voll!«

Vatter Brinkmann sagte es ganz gemütlich, auf seine Schaufel gestützt.

Eke von Grund schrak zusammen, von den niedergebrochenen Trümmern sah sie nach oben in das schwarze Loch in der Decke. Und gerade darunter hatte sie gestanden! Mit stummem Dank suchte ihr Auge Bertsch. Ader der hatte sich schon wieder an Brinkmann gewandt.

»Ihr müßt gut achtgeben hier. Das Gebirge ist faul. Holt doch mal gleich noch das ganze übrige Zeug da oben runter!«

Der Alte nickte, indem er zur Decke aufschaute.

»Ja, dat sollen wir wohl stracks tun.«

»Na, dann Glückauf!«

Und Bertsch ging mit Eke weiter.

»Es sind doch gute Leute,« meinte sie, außer Hörweite.

»Ohne Frage – aber es ist schwer arbeiten mit ihnen in einem modernen Betriebe.«

»Sie meinen wegen des Wegbleibens zur Heuzeit?«

»Ja, und wenn es ihnen auch sonst einmal nicht paßt. Wie soll ich meine Förderung innehalten, wenn mir alle Augenblicke soundso viel Leute von der Arbeit wegbleiben? Nein – das kann nicht so weitergeh'n!«

»Aber wann sollen denn die Leute ihr Feld oder ihren Hauberg besorgen?«

»In ihrer freien Zeit. Oder ihre Angehörigen mögen's tun – wenn sich's wirklich noch lohnt.«

»Sie sähen am liebsten überhaupt nichts mehr davon?«

»Es paßt nicht mehr in unsere Zeit. Das ist auch so ein Rückstand von früher. Ehe wir nicht damit aufräumen kommen wir hier niemals richtig voran.«

Sie fühlte, er hatte wohl recht. Aber sie wollte es ihm nicht zugeben. Es lehnte sich überhaupt etwas in ihr auf gegen seine bestimmte Art, die keinen Widerspruch duldete. Und sie besann sich: so war das von jeher gewesen zwischen ihnen. Diesen Kampf um ihre Persönlichkeit, schon als Kinder hatten sie ihn geführt.

Aber ging es denn wirklich darum? Schärfer prüfte sie sich. War es bei ihr vielleicht nicht mehr als ein eigenwilliger Stolz, der sich nichts vergeben wollte? Vor keinem, wer es auch war.

Aber war das, im Grunde genommen, ihrer würdig?

Eke wurde nachdenklich. Sie war nicht ganz zufrieden mit sich.

Weiter setzten sie ihren Weg dabei fort und gelangten abermals zu einem Betriebspunkt. Jedoch die Arbeit stockte hier. Die Männer umringten einen in ihrer Mitte, der sich den vorgestreckten Arm hielt. Rasch war Bertsch bei ihnen.

»Was ist passiert?«

»Ach – nichts weiter,« gab der Verletzte Auskunft. »Ein scharfer Stein ist mir auf den Arm gesprungen.«

Doch unter dem pressenden Daumen quoll heftig ein rotes Rinnsal hervor. Auch Eke, die jetzt selber herangekommen war, gewahrte es.

»Geben Sie mir den Arm,« forderte sie, und mit kundigem Griff komprimierte sie die getroffene Ader, bis die Blutung stand. Dann zog sie aus der Tasche ihres Grubenanzugs ihr Batisttüchlein und legte es über die Wunde.

»Und nun – Ihr eigenes Tuch!«

Der Mann reichte es ihr, und sie machte damit einen festsitzenden Verband.

»So – jetzt ist keine Gefahr mehr. Aber Sie täten doch gut, mit der Arbeit aufzuhören.«

»Ja, fahren Sie nur aus und gehen Sie nach Hause,« stimmte Bertsch zu. Daun aber wandte er sich im Weitergehen an Eke.

»Sie machen mich staunen. Woher kommen Ihnen denn diese Künste?«

»Oh – ich habe einmal vor Jahren einen Samariterkursus mitgemacht in Siegen, leider habe ich seitdem nur keine Gelegenheit gehabt, das Gelernte zu betätigen. Nun aber freut's mich, daß ich doch noch was davon verstehe.«

Ihre Wangen hatten sich lebhaft gefärbt. Etwas Warmes, weich Weibliches war in ihrem ganzen Wesen.

Mit stillem Verwundern bemerkte es Bertsch und ahnte plötzlich: In dem selbstsicheren Mädchen, das so helläugig und stark ins Leben schaute, war auch ein Unerfülltes, das heimlich Sehnen trug. Aber nach mehr wohl noch, als nur nach der Betätigung ihrer Hilfsbereitschaft. Das Weib in ihr, das der Blüte nahe war, mochte verlangen, in schmerzlichem Entbehren, nach seiner natürlichen Bestimmung. Da sah er sie an mit ganz anderen Augen.

Eke von Grund fühlte dies Forschen in seinen Blicken, das Schleier von ihr zu heben schien, und sie verlor ihre Sicherheit. Schneller schritt sie vorwärts und mahnte schließlich, es sei nun Zeit für sie, wieder nach oben zu kommen.

So gingen sie denn zum Schacht und stiegen wieder auf den Förderkorb. Aufwärts schwebten sie. Der erste bläuliche Dämmerschein brach von droben in ihre Nacht, und jetzt flutete das Sonnenlicht golden über sie. Wie das liebe Leben, voller Kraft und Frohheit. Dankbar atmete Eke da auf, nach den langen Stunden drunten in der Tiefe.

Als sie ein erfrischendes Bad genommen und ihre gewohnte Kleidung wieder angelegt hatte und nun hinaustrat in den Vorraum, wartete dort Bertsch schon auf sie. Sie wollte sich verabschieden, aber er trat an ihre Seite.

»Ich begleite Sie noch ein Stück, wenn Sie erlauben.«

Und er führte sie noch durch die Tagesanlagen. Als sie an den neuen Röstöfen vorbeikamen, blieb Eke stehen. Gerade wurde auf einen frisch aus dem Ofen gezogenen Erzhaufen ein Wasserstrahl gelassen, der zischend zerstob. Weißer Wrasen wallte auf, und dann bläulich, schweflig dunstender Rauch, der schon weithin die Aufbereitungsstätte ankündigte, vor dem noch dampfenden Erzhaufen standen mehrere Mädchen, grobes Sackleinen als Schürzen vorm Leib und Tücher dicht um den Kopf gewunden. Mit langen Haken suchten sie den Brand aus dem gerösteten Erz aus, die unbrauchbaren Stücke.

Nachdenklich blickte Eke zu ihnen hin und sagte plötzlich ernst:

»Ein schweres Leben, und doch könnte ich diese Frauen beneiden.«

Verwundert sah Bertsch sie an. Sie aber ließ die Augen nicht von den Arbeitenden. So sprach sie, halb zu sich selber:

»Wenn die da ihr Tagewerk vollbracht haben, können sie stolz sein und zufrieden. Sie haben etwas geleistet. Aber unsereiner?«

Langsam wandte sie sich ab, und sie gingen weiter. Beide schweigend. Gedanken kamen Bertsch, die sich ihm schon vorhin aufgedrängt hatten, da drunten in der Grube, bei ihrem Samariterwerk. Er senkte den Kopf. Ein Sinnen und Ratschlagen für sie. Und plötzlich hatte er, was er suchte.

»Fräulein von Grund,« lebhaft kehrte er sich zu ihr. »Mir ist da vorhin eine Idee gekommen. Wenn Sie sich betätigen wollen, nützlich und segensreich – ich glaube, ich wüßte einen Weg für Sie.«

»Wirklich?«

»Sehen Sie, es sind jetzt hier durch die Ausdehnung unseres Werks eine ganze Anzahl fremder Arbeiter hergekommen, und noch mehr werden folgen, wenn der Betrieb erst voll auf der Höhe ist. Leute in ärmlichen Verhältnissen, meist von weither gekommen mit Weib und Kind. Not ist da vielfach im Hause, Mangel an Aufsicht und Pflege für die Kleinen, oft auch bei den Müttern, zu Zeiten von Krankheit, oder –. Da meine ich, könnte eine Frau viel Gutes wirken. Indem sie selber angreift, aber auch andere interessiert zu solchem Hilfswerk, vielleicht einen Frauenverein gründet zur Hauspflege und Kinderfürsorge. Was meinen Sie – könnte Ihnen das nicht auch zu der Befriedigung verhelfen, um die Sie eben jene einfachen Arbeiterinnen beneideten?«

Eke von Grund hatte ihn schweigend bis zu Ende angehört. Doch ihre Augen hatten sich belebt, und nun brach es daraus hervor.

»Das ist ein glücklicher Gedanke! Ja, wahrhaftig, Herr Bertsch,« sie blieb stehen und sah ihm voll ins Gesicht, »Sie wissen gar nicht, wie mich diese Idee packt! Da eröffnet sich mir ja ein Weg –«

Sie verstummte; aber in ihren Mienen las er genug. Und sie wehrte ihm in dieser Minute das Eindringen in ihr Inneres nicht. Vielmehr streckte sie ihm plötzlich beide Hände entgegen.

»Sie haben mir heute so viel gegeben – ich bin Ihnen herzlich dankbar!«

Fest erwiderte er ihren Druck.

»Und ich freue mich, daß ich Ihnen ein wenig habe nützen können. Ich stehe Ihnen auch weiter zu Diensten bei der Verwirklichung dieses Gedankens, verfügen Sie ganz über mich.«

»Das nehme ich herzlich gern an. Ich werde Ihren Beistand ja sehr brauchen. Und bald! Denn es ist mir Ernst damit.«

»Das hab' ich von Ihnen nicht anders erwartet. Also werden wir denn fortab gewissermaßen zusammenarbeiten!«

Und er suchte ihr Auge.

Ein frohes Leuchten antwortete ihm. Dann ging sie. Aber an der Biegung der Straße nach dem Ort hin nickte sie ihm noch einmal grüßend zu. Seltsam warm stieg es bei ihm da in der Brust auf. Als er dann zum Bureau zurückging und bei den Mädchen am Röstofen vorbeikam, sahen sie verwundert auf. War es nicht eben wie ein vergnügtes leises Pfeifen an ihr Ohr geklungen?

* * *


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