Paul Grabein
Die vom Rauhen Grund
Paul Grabein

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Den linden Frühlingstagen mit ihrem ahnungsvollen Hoffen und Werden folgte die Zeit der sommerlichen Erfüllung. Hoch spannte sich das blaue Himmelszelt über dem Talbett, in dem der Mutterhauch der Reife schwer und warm lagerte.

Erfüllung, Vollendung allenthalben. Auf den goldenen Feldern im Grunde, auf den Kornstreifen der Hauberge wie droben am Hang, wo nun an all den hochragenden Kaminen des Bertschschen Werkes die Rauchfahnen hingen. Weithin kündend, daß die Herrscherin Arbeit hier ihr Panier errichtet hatte. Wie triumphierende Fanfarenstöße gellten die Maschinenpfiffe und das dumpfe Aufgrollen der gischtenden Hochöfen weithin über den Rauhen Grund und brachen sich fern an den stillen Bergwänden.

Erfüllung hatte dieser fruchtschwere Sommer auch Eke von Grund gebracht. Der Gedanke war zur Tat geworden, der Frauenhilfsverein unter ihrer Führung zustande gekommen. Nach anfänglichem Kopfschütteln hatten sich doch die Mitarbeiterinnen an der guten Sache eingefunden, dank Ekes fester Beharrlichkeit und Bertschs tatkräftigem Beistand. Sein Werk hatte dem Verein einen namhaften Betrag und einen Raum zur Verfügung gestellt, wo der Unterricht und die praktische Anleitung in Kranken- und Säuglingspflege wie in Haushaltungsarbeiten erteilt wurde.

Aber noch wichtiger war die Fürsorge draußen in den Arbeiterfamilien, von Haus zu Haus, wo brütend die Sorge nistete, ging Eke und brachte mit ihren sanft und doch fest zufassenden Händen allmählich wieder Licht ins Dunkel. Nie hatte sie in ihrem Leben solch Glück empfunden, und das Bewußtsein, ihrem Leben Wert und Inhalt gegeben zu haben, verlieh ihr eine strahlende Frische, daß manch staunender Blick sie traf.

Dies Bewußtsein ließ sie auch mit heiterem Lächeln über die Mißgunst hinwegsehen, die sie offen oder heimlich auf ihren neuen Wegen begleitete. So daheim, wo der Oheim erst mit rauhem Widerspruch, dann mit beißendem Hohn auf ihr Tun herabsah. Aber ebenso auch draußen im Ort. Manch spöttischer Blick traf das Fräulein vom Adligen Hause immer noch, wenn sie in die ärmlichen Wohnhäuser draußen vorm Orte ging, in denen das hergelaufene Volk untergebracht war, das auf dem neuen Werke sein Brot gefunden. Besonders, wenn sie am Hirschen vorbeikam, wo jetzt in den sommerheißen Tagen Marga Reusch viel im schattigen Garten saß, auf dem erhöhten Laubenplatz hinter der Mauer. Dann sandte sie, von ihrem Roman aufblickend, jedesmal einen kalten, geringschätzigen Blick zu der Vorübergehenden hinab. Aber war sie vorbei, dann traf sie von hinten her ein heißes Aufglühen der schönen, dunkeln Augen. Marga wußte ja nur zu gut, daß dieses Wohlfahrtswerk Eke oft genug mit Gerhard Bertsch in Berührung brachte. Vielleicht nur darum überhaupt dies alles! Ein klug ersonnenes Manöver, um sich den einzufangen, der nun als der bedeutendste Mann im ganzen Rauhen Grund auch dem Fräulein vom Adligen Hause nicht unwillkommen gewesen wäre.

Margas weiße Hände krampften sich bei dem Gedanken. Wenn ihr das wirklich angetan würde! Nein – das durfte nicht geschehen. Und wenn sie das Äußerste wagen sollte!

Entfesselte Gedanken bestürmten sie und kehrten, obwohl abgewiesen, immer wieder. Und tief auf dem Grunde ihres aufgewühlten Herzens barg sich, kaum sich selber eingestanden, noch ein anderes: Sie liebte Gerhard Bertsch. Nicht mehr allein ihr Ehrgeiz, ihre kühl planende Vernunft suchten ihn, auch ein leidenschaftliches Begehren nach seiner herrischen, harten Männlichkeit. Dieser Männlichkeit, die sie in Flammen gesetzt und nun doch so gleichmütig an ihr vorübersah, als wäre sie gar nicht da. Aufschreien hätte sie mögen, so litt ihr Stolz, und doch hätte sie im gleichen Augenblick die Arme breiten mögen, ihn an sich zu reißen. Warum kam und kam er denn nicht, nun, wo doch sein Werk vollendet war und er an sich denken durfte?

So wühlte sie in ihren eigenen Wunden, und immer wieder kehrten jene verzweifelten Gedanken: Ihn vor die Entscheidung stellen – ihn zwingen!

Blasser und schmaler ward Marga Reuschs schönes Antlitz in diesen heißen Sommertagen, die aller Welt die Erfüllung brachten, nur ihr nicht. Aber das verzehrende Feuer in der Tiefe ihrer dunkeln, großen Augen lohte nur um so ungebändigter. –

Die Sommerwärme über dem Talbett ward zur lastenden Glut. Mensch und Tier schlichen schweißtriefend, matt einher in dieser Schwüle. Die Natur schmachtete. Alles rief nach Erlösung. Und endlich kam sie. Unter Blitz und Donner. Gerade ein Sonntag war es, um die Kirchenzeit. Ein Gewitter brach los, ein Wolkenbruch, wie ihn der Rauhe Grund seit einem Menschenalter nicht mehr gesehen.

Trotz der Mittagstunde ein Nachtdunkel. Nur ein schwefelgelber Höllenschein jedesmal, wenn die Blitze das Firmament aufrissen. Dazu herniederpeitschende Wassermassen, die voller Gier alles Menschenwerk verschlingen zu wollen schienen. In wenigen Minuten war der Fluß ein reißendes Untier, das aus seinem Lager aufsprang und gurgelnd nach Beute heulte.

Scheu bargen sich die Menschen in ihren Häusern. Bei jedem krachenden Donnerschlag duckten sich unwillkürlich die Häupter, und Hände falteten sich, die das Beten längst verlernt hatten. In den Ställen riß das Vieh in Todesfurcht an den Ketten. Sein dumpfes Brüllen jagte neue Schauer in die Menschenherzen.

In dem Gotteshause war ein großer Teil der Talbewohner versammelt. Das unvermittelte Losbrechen des Unwetters hatte sie verhindert, sich heimzuflüchten. Nun harrten sie hier in zitternden Ängsten. Wohl hatte der weißhaarige Mann im Priesterrock da oben auf der Kanzel ihnen tröstend zugerufen: »Seid ohne Furcht! Ihr seid hier in der Hut des Herrn!« Aber ein Blitz und ein entsetzlicher Donnerschlag, so furchtbar, daß die ganze Kirche in Flammen zu stehen schien, hatte darauf geantwortet. Das hatte eingeschlagen – sicherlich! Und jeder zitterte um die Seinen daheim, um Haus und Habe. Halb hörten sie nur noch auf die Worte des Alten droben hin, der doch mit so wuchtiger Stimme weiterpredigte.

»Vernehmt ihr die Stimme Gottes, die da zu euch spricht, aus dem Krachen seiner Donner? Versteht ihr wohl, was sie euch sagt? Ein Warnen ist es – ein schweres, ernstes Warnen in letzter Stunde! Ein böser Geist ist eingezogen in dies stille Tal. Ein Geist der Überhebung und Hoffart, der sich vermißt, mit nichtigem Menschenwerk die Seelen zu locken und zu blenden, mit eitlem Wohlleben und Schätzen dieser Welt. Aber ein Atemzug des Ewigen droben – und vom Erdboden geweht sind all die trutzigen Türme und Mauern da droben am Berge, die sich recht wie ein Bollwerk des Bösen erheben, und mit ihnen auch die Stätten unheiliger Lust, die schnöde Gier nach dem Mammon hier zum Ärgernis aller Frommen errichtet hat.«

Dem Hannes Reusch, der – wiewohl ein heimlicher Spötter – sich um des Ansehens in der Gemeinde willen doch hin und wieder im Gotteshause sehen ließ, und so auch heute, ward es unbehaglich bei diesen Worten. Mit unsicherem Blinzeln fuhr sein Auge umher über Altar und Chor. Er war ja freilich gut versichert, aber immerhin –! Bis ein Neubau stand, ging manche gute Einnahme verloren. Vielleicht auch, daß die Konkurrenz drunten im Unterdorf die Situation ausnutzte. Wie um Beruhigung zu suchen, warf er da einen Seitenblick zu dem Sohn neben ihm, der ihn hatte begleiten müssen. Sehr zu seinem Verdruß, denn der Mannes war erst heute morgen in aller Frühe von einem Samstagbummel in Köln mit seinem Freunde Steinsiefen im Auto heimgekehrt. Nun saß er schläfrig und übellaunig neben dem alten Reusch in seinem Kirchenstuhl vorn in der ersten Reihe, wo die Honoratioren des Orts ihre Plätze hatten, und hielt die Augen müde geschlossen. Man konnte es ja für Andacht halten.

Mit einem geheimen Seufzen wandte da der Hannes Reusch seinen Blick wieder ab. Hier fand er keinen Beistand. Und dem sonst so beweglichen, munteren Mann kamen graue Gedanken. Wie das wohl einmal werden mochte, wenn er nicht mehr da war? Die Tochter wie der Sohn – zusammenhalten hatten sie beide nicht gelernt. Vielleicht ging bald in alle Winde, was er in einem langen Leben vor sich gebracht. Aber war er schließlich nicht selber schuld daran? Was hatte er auch so hoch hinaus gewollt mit den beiden?

Ein Donnerschlag, daß die Fenster des alten Gotteshauses erklirrten, entriß den Hannes wieder diesen dunkeln Gedanken. Bei ihm daheim aber trieb er Marga Reusch, die bis dahin am Fenster gestanden und in das Toben des Gewitters geschaut hatte, aus ihrem Zimmer fort, nebenan ins Stübchen der Großmutter. Selten war es, daß sie einmal dort, bei der alten blinden Frau, eintrat, verwundert hob diese daher den Kopf.

»Magri, du?«

»Ja, Großmutter. Ich bin ja sonst nicht ängstlich. Aber heute –«

Und sie kam näher zu der Blinden. Diese nickte freundlich.

»Komm, Kind – setz' dich zu mir.« Ihre Hände suchten nach denen Margas und faßten sie wie schützend. »So – und nun nicht bangen! Wir stehen alle in Gottes Hut.«

Marga erwiderte nichts. Aber die Großmutter sprach weiter. Ernst, doch gütig.

»Mich freut's, daß du einmal zu mir kommst. Ich fühle es ja schon lange, daß etwas in dir vorgeht.«

»In mir?«

»Ja, Magri.« Und die alten Hände hielten die widerstrebenden jungen Finger fest. »Du quälst dich heimlich mit etwas.«

Marga Reusch war betroffen. Wie scharf diese lichtlosen Augen doch sahen! Aber sie schwieg.

»Willst du dich denn nicht einmal aussprechen?«

»Aussprechen –? Worüber denn nur, Großmutter?«

»Verstell' dich doch nicht, Kind. Ich sehe zwar nicht mehr, aber hören kann ich doch noch. Und ich vernahm so manche Nacht, wie du dich ruhelos im Bett warfst – wenn droben, im oberen Stock, noch die Tritte gingen zu später Stunde.«

Heiß schoß es in Margas Wangen, und nun fühlte sie den sanften Druck der alten Hand.

»Du denkst an eine Heirat mit dem Gerhard Bertsch, Magri.«

Da rissen sich Margas Finger mit einem Aufzucken los.

»Und wenn es so wäre?«

Ein kleines Schweigen, dann die Antwort:

»Das gäb' kein Glück – weder für dich noch für ihn.«

»Großmutter!«

»Hast du's mir nicht selber gesagt? Du willst ja dem Manne, den du heiratest, nicht Opfer bringen, sondern nur Vorteile haben von ihm.«

Marga Reusch senkte das Haupt. Ja, so hatte sie gesagt damals. Aber – war da nicht etwas über sie gekommen, etwas Fremdes, nie Geahntes, und hatte von ihr Besitz ergriffen, mehr und mehr, trotz all ihrer kühlen Vernunft?

Aber gleich wieder warf sie den Kopf in den Nacken, als schämte sie sich solchen Eingeständnisses schon vor sich selber. Und der gewohnte Hochmutsklang war in ihrer Stimme, wie sie nun erwiderte:

»Freilich hab' ich das gesagt. Und denke auch heute noch so. Aber gerade darum glaube ich, daß Bertsch ein Mann für mich wäre.«

Die Reusch-Mutter wiegte still ihr Haupt. Dann wandte sie das Antlitz zu der Enkelin hin.

»Wenn du schon möchtest – weißt du denn aber, ob der Gerhard Bertsch auch dich will?«

Wie ein Stachel in eine offene Wunde fuhr das. Doch um so höher nur bäumte sich Margas Stolz empor.

»Er wird mich heiraten!«

»Bist du dessen so gewiß?«

»Er wird – denn ich will.«

»Magri!« Die Blinde erschrak. Was schlug ihr da entgegen? Ihre alten Hände tasteten nach der Enkelin. »Woran denkst du?«

»Ich weiß es nicht, Großmutter, nur das weiß ich: Er soll mein werden, und müßt' ich –!«

Sie sprach es nicht zu Ende. Derselbe rasende Donnerschlag, der in dem kleinen Gotteshause drüben alle Herzen zusammenzucken ließ, brach jäh ihre wirren Worte ab. Der zuckende Blitz, der ihn begleitete, hellte für einen Herzschlag lang das Nachtdunkel vor der Greisin auf. Wie eine aufzüngelnde Glut, brennend rot stand es ihr vor dem Blick. Eine Glut, die vernichtete, was sie erfaßte – die sich selbst zerstörte. Ihr erschrockenes Antlitz war der Enkelin zugekehrt. Die stand regungslos. Aber auf dem blassen, starren Gesicht flammte es. War es nur der schwüle Widerschein des Blitzes oder die Lohe eigener Gluten?

* * *

Zeche Christiansglück lag heute in sonntäglicher Stille. Wie immer war Bertsch auch heute am Vormittag auf dem Bureau. Wenn der Betrieb feierte, hatte er die beste Gelegenheit, allerlei wichtige Korrespondenzen in Ruhe zu erledigen. So tat er es auch jetzt. Vertieft in seine Schreibereien achtete er nicht darauf, wie sich inzwischen draußen der Himmel bezogen hatte. Drüben über der Bergwand schwebte es unheimlich. Ein schwarzer Riesenvogel auf schwefelgelbem Grunde. Schnell wuchsen seine Schwingen im Näherkommen.

Erst wie jetzt das Telephon vor ihm auf dem Schreibtisch schrill anschlug und er den Hörer abhob, bemerkte er durchs Fenster das drohende Unwetter. Aber seine Aufmerksamkeit galt gleich wieder dem Gespräch.

»Hier Bertsch.«

»Hier Kraftzentrale – Maschinist Ebner.«

»Nun, was gibt's?«

»Ach, entschuldigen Herr Direktor, hier bei mir ist das Fräulein vom Adligen Hause. Sie möchte Herrn Direktor gern selber sprechen.«

»Fräulein von Grund?«

»Ja – ich bin am Apparat, Herr Bertsch. Ich komme gerade von der Frau Ebner. Sie ist leidend, schon seit einiger Zeit, und in meiner Pflege. Ich hatte ihr wiederholt in den letzten Tagen geraten, den Arzt zu holen, denn die Sache schien mir nicht unbedenklich. Vermutlich eine arg verschleppte Influenza. Aber sie weigerte sich beharrlich. Es würde auch so schon werden. Nun ist die Sache über Nacht aber sehr ernst geworden. Die Frau liegt in Fieberdelirien, und die Brust fliegt nur so. Anscheinend eine schwere Lungenentzündung, wenn nicht noch Schlimmeres.«

»Oh – das ist ja böse.«

»Ja, es muß unverzüglich alles Nötige geschehen. Und darum rufe ich Sie an. Könnten Sie den Mann wohl sofort beurlauben, daß er zum Arzt läuft?«

»Sofort? Hm, das ist freilich – die Zentrale kann ja doch nicht ohne Aufsicht bleiben. Es zieht auch gerade noch ein schweres Gewitter auf.«

»Aber es ist ernsteste Gefahr, Herr Bertsch. Es kann auf die Minute ankommen!«

»Gewiß, natürlich. Zu dumm nur! Muß heut' auch grad' noch Sonntag sein. Kein Mensch hier auf dem Werk!«

»Wäre denn da wirklich niemand? Es muß sich doch jemand finden lassen.«

»Gut – ich komme selber! Sofort bin ich drüben.«

Und schon legte er den Hörer zurück, nahm den Hut vom Haken und eilte über den menschenleeren Zechenplatz zur Kraftstation. Ganz dunkel war es inzwischen bereits geworden. Mit rasender Schnelligkeit war das Wetter heraufgekommen. Das würde einen bösen Tanz geben!

Nun trat er in den weiten, hohen Raum ein. Sonst strahlend hell mit seinen weißglänzenden Kacheln an Boden und Wänden, heute aber voll tiefer Dämmerung. Unheimlich lagen in dem Dunkel die schwarzen Kolosse der Dynamomaschinen da. Hinten auf dem erhöhten Absatz, wo die Schaltungen und Registrierapparate angebracht waren, zeichneten sich von der matt schimmernden Marmortäfelung zwei menschliche Schatten ab. Ein Mann und eine Frau. Eke von Grund, die dort mit dem Maschinisten stand. Rasch kam sie ihm nun entgegen mit ausgestreckter Hand.

»Wie gut von Ihnen, daß Sie kommen!«

»Doch nur selbstverständlich. – Also los, Ebner, machen Sie, daß Sie fortkommen. Und gute Besserung für Ihre Frau.«

»Aber Herr Direktor können doch nicht selber –«

»Los, los! Sie hörten ja, es könnte hier auf die Minute ankommen!«

»Ja, dann muß ich wohl! –«

Und der Mann lief zur Tür. Wie er sie öffnete, riß ihm ein aufheulender Windstoß die Klinke aus der Hand. Schmetternd flog die Tür gegen die Wand. Im nächsten Augenblick auch schon ein geradezu rasendes Herniederprasseln auf dem Zechenplatz draußen. Nicht zehn Schritt weit mehr zu sehen vor den niederknatternden Wassermassen.

»Ein regelrechter Wolkenbruch. Wie in den Tropen. So etwas hab' ich hierzulande ja überhaupt noch nicht erlebt.«

Und Bertsch ging zur Tür, um sie wieder zu schließen. Aber da merkte er, daß Eke ihm folgte. Erstaunt sah er sich nach ihr um:

»Sie wollen doch nicht etwa?«

Aber sie nickte entschlossen.

»Ich muß wieder zu der Kranken, bis der Arzt kommt.«

»Unmöglich. Sie haben ja keinen trockenen Faden mehr, ehe Sie halb über den Platz sind.«

»Was tut's?«

»Aber Sie müssen doch auch an sich denken.«

»Nicht in einem so ernsten Fall.«

Und sie griff zur Klinke.

Doch seine Hand legte sich auf die ihre.

»Fräulein von Grund – es ist ja Unsinn – Pardon. Ich meine, es ist höchster Achtung wert, solche Gesinnung. Aber es wäre wirklich verkehrt. Bitte, bedenken Sie: Sie können doch unmöglich mit triefend nassen Kleidern an das Bett einer Schwerkranken im höchsten Fieber!«

Ihre Rechte, die sich zuckend aufgelehnt hatte gegen den Zwang der auf ihr liegenden Hand, entspannte sich. Da fuhr er fort:

»Nicht wahr, Sie müssen es doch selber zugeben. Und außerdem, es ist gewiß irgend jemand dort im Haus bei der Kranken.«

»Allerdings, als ich fortging nach hier, holte ich die Nachbarin.«

»Nun also. Die Frau ist doch nicht ohne Aufsicht.«

Eke erwiderte nichts mehr. Aber ihre Rechte entzog sich nun seinem Griff. Wie eine Wolke stand es auf ihrer Stirn. Schweigend kehrte sie um in das Innere der Halle.

Völlige Nacht war es hier inzwischen geworden. Nur von Zeit zu Zeit jäh durchbrochen vom fahlen Aufzucken der Blitze. Und unheimlich klang das Krachen der Donner in dem hohen weiten Raum mit seinen glatten Kachelwänden wider.

Auch Bertsch sprach nichts. Langsam war er zu der Schalttafel hinten gegangen und prüfte dort mit ernster Miene die Apparate. Überall daneben rote Zickzackpfeile mit der Warnung: Vorsicht! Hochspannung! Lebensgefahr! –

Eke sah zu ihm hinüber. Immer noch die Schatten im Antlitz. Ihre Natur vertrug nun einmal keinen Zwang. Nicht den leisesten. Aber er hatte es doch gut gemeint. Und recht gehabt überdies. Also war ihr Unmut sinnlos. Sie mußte sich überwinden, ihm ein freundliches Wort sagen. Gerade ihm, der ihr eben erst wieder einen Beweis seiner freundschaftlichen Hilfsbereitschaft gegeben hatte. Warum wollte ihr nur trotzdem kein Wort über die Lippen kommen?

Den Kopf geneigt, stand sie da. Wie so manchmal schon ihm gegenüber im Zwiespalt, voller Unzufriedenheit mit sich selber. Es war doch sonst Klarheit in ihr. Weshalb allein hier nicht? Und warum dieses Auflehnen in ihr? Vielleicht nur, weil sie eine dunkle Gewalt in ihm fühlte, der sie immer mehr zu erliegen drohte. Und sie wollte doch nicht! Ganz gewiß nicht. Ihre Persönlichkeit wollte sie sich wahren. Und sie wollte nichts wissen von solchem Bann ihrer Empfindungen. Sie –.

Aber da riß sie die Augen auf in tödlichem Erschrecken. Unter einem Donnerkrachen, das den Boden unter ihren Füßen erbeben ließ, war es plötzlich taghell um sie geworden.

Taghell? Nein – ein Höllenschein, fahlgelb, aber von ungeheurer Lichtstärke, gleißte auf in der weiten Halle. Und dort – gerade wo er stand! – bei der Marmortafel ein Zucken und Flattern an den Leitungsdrähten: Hellblaue Flammen in beständigem Aufzüngeln und Erlöschen. Zugleich auch ein Ozongeruch, fast betäubend in seiner Stärke. Und sie begriff: Riesenentladungen der Luftelektrizität an den Hochspannungsleitungen. Wehe, wenn einer der Blitze, die draußen alle paar Augenblicke niederzuckten, und zwar in nächster Nähe, hier einschlug.

Im Erfassen der furchtbaren Gefahr stand Eke das Herz still. Aber auch Bertsch mußte sich ihrer bewußt geworden sein. Deutlich bemerkte sie trotz ihres Entsetzens, wie er zusammenfuhr und dann, den Kopf weit vorgebeugt, nach der Schalttafel sah. Aber doch kein fassungsloses Starren, nein – ein scharfes Spähen, Suchen. Und jetzt – Barmherziger! – sprang er vor mit erhobener Hand, gerade mitten hinein in dieses höllische, bläuliche Aufflammen.

»Gerhard!«

Schrill gellte ihr Schrei durch den Raum. Ihre Hände krampften sich ineinander.

Der Ruf schlug an sein Ohr. Aber er beachtete ihn nicht. Ganz beherrscht von dem einen: Dort – der Schalter der Hauptleitung – ihn packen, abdrehen – ehe es zu spät war!

Und seine Rechte fuhr durch die flatternden Stromentladungen hindurch, ein fester Griff – so!

Aufatmend trat Bertsch da wieder zurück. Unwillkürlich suchte seine Rechte nach dem Taschentuch und hob sich zur Stirn. Das war ein Augenblick gewesen, wie er ihn noch nie durchlebt!

Doch dann besann er sich. War da nicht ein Schrei an sein Ohr gedrungen? Gerade, wie er vorsprang zur Tafel hin? Gewiß, ganz deutlich hatte er ihn vernommen: »Gerhard!« hatte es gerufen.

Gerhard –?

Und mit einem Ruck fuhr er herum. Hatte er sich nicht etwa verhört?

Aber nein! Dort stand sie ja noch – totenblaß – und starrte zu ihm hin, die Hände ineinandergerungen.

Da war er bei ihr, mit ein paar Sturmesschritten, und nahm diese eiskalten, verkrampften Hände, hob sie hoch empor zu seiner Brust.

»Du riefst es?«

Keine Antwort, aber ein Beben nun in ihren Händen.

»Eke!«

Und seine Lippen preßten sich auf ihre Finger. Dann ließ er sie fahren. Mit Sturmgewalt schlangen sich seine Arme ihr um Kopf und Schultern. So barg er sie an seiner breiten Brust wie ein verirrtes, zitterndes Kind.

Und der stolzen Eke von Grund schwand all ihr Eigenwille hin in diesem Ansichnehmen. Sie litt, was ihr geschah. Ja, die herben, unberührten Lippen erwiderten, wie erwachend aus einem langen Schlummer, seine Küsse. Zögernd – scheu – dann mit klarem Wollen.

* * *

Im Adligen Hause stand der Gutsherr am Fenster. Die Stirn schwer gefurcht. Das Unwetter war zwar wieder vorüber, aber es hatte allenthalben seine Spuren hinterlassen.

Drüben im Obstgarten lagen die Früchte abgeschlagen am Boden, noch halb grün. Der kleine Abfluß der Dachgosse, kaum eine Hand breit sonst, war zum richtigen Gießbach geworden. Quer über den Hof weg hatte er das Erdreich aufgerissen, fast metertief.

Wie mochte es erst auf den Feldern draußen aussehen, am Talhang?

Und zu den Sorgen des Landwirts gesellten sich die des Weidmanns. Die halbflügge Brut der Hühner in den Ackerfurchen da droben, die Junghasen – vorbei konnte es sein mit der ganzen Feldjagd im Herbst!

Ingrimmig wandte sich Henner von Grund vom Fenster ab. Schwer stampfte er im Zimmer auf und ab, die Hände in den Joppentaschen vergraben.

Sein Auge flog zur Uhr. Wo nur Eke blieb? Bald war es doch Mittagszeit. Aber natürlich, diese verrückte Samariterei! Schon seit aller Frühe war sie droben im Oberdorf und kroch in den Arbeiterwohnungen herum. Um ihn kümmerte sie sich den Kuckuck noch was. Er war hier das fünfte Rad am Wagen geworden.

Aber, Kreuzdonnerwetter, das paßte ihm nicht mehr! Wütend stampfte er mit dem Fuß auf. Und er hatte es die längste Zeit mit angesehen. Dazwischenfahren würde er, diesem ganzen Unfug ein Ende machen. Wohlfahrtspflege – Frauenverein! Auch bloß so ein neumodischer Schwindel.

Wenn er nur wüßte, wo sie steckte! Sofort würde er einen hinaufschicken und sie herbescheiden lassen. Aber ganz plötzlich, gefälligst. Seine Geduld war zu Ende.

Ein Dröhnen im tiefsten Baß, vorn von der Chaussee her, ließ ihn aufhorchen. Doch nur noch grimmiger ward sein Antlitz. Das war der verdammte Kerl, der Steinsiefen, mit seinem Ratterkasten. Mußte der einem auch am lieben Sonntag die Luft verpesten! Und er lief ans Fenster. Schmetternd schlug er die offenen Flügel zu und schob den Riegel vor. Erregt setzte er dann seine ruhelose Wanderung im Zimmer fort.

Doch nach einer kurzen Weile riß er das Fenster wieder auf. Eine Luft hier drinnen – zum Ersticken!

Seine Rechte fuhr zum Kragen und zerrte ungestüm an ihm. So – nun wurde es endlich besser. Aber freilich, immer noch der dumpfe Druck im Kopf. Solch ein widerwärtiges, ängstliches Gefühl. Ganz elend wurde einem dabei. Einfach hundsgemein.

Unwillkürlich strich sich Henner von Grund über die Stirn. Sie war kalt und feucht. Langsam tupfte er sie ab. Seine Miene wurde nachdenklich, ernst.

Wiederholt hatte er das nun schon wahrgenommen. Das erstemal an dem Abend, als er von der Gewerkenversammlung heimgekommen war – damals, als ihm der Reusch die Schweinerei gemacht mit dem Erbstollen. Wie ein Schwindel hatte es ihn da sogar gepackt, daß er sich am Schrank hatte festhalten müssen, wo er gerade stand. Und hernach eine Übelkeit noch stundenlang, daß er den Doktor hatte kommen lassen.

Ob der am Ende doch recht hatte? Es fehle ihm sonst nichts weiter, hatte er nach seiner Untersuchung gesagt, nur vor Aufregungen müsse er sich in acht nehmen.

Leicht gesagt! Und von neuem schoß Henner die Galle ins Blut. Sich nicht aufregen, wenn man auf Schritt und Tritt Anlaß dazu hat. Da bleibe der Teufel ruhig dabei!

Während er es noch ingrimmig dachte, ging die Tür von der Halle auf. Eke trat ein.

Gereizt fuhr er herum, bereit, loszuwettern. Indessen die Überraschung hemmte den Ausbruch. Ihre Füße, ihr Kleidersaum ganz trocken!

»Wie bist du denn hierhergekommen?«

»Eben mit dem Auto.«

»So! Also allein kutschierst du da herum mit dem Windhund, dem Steinsiefen!«

»Doch nicht. Herr Bertsch war dabei. Er hat den Wagen zur Zeche kommen lassen, weil die Wege ganz grundlos geworden sind.«

»Wer war dabei?«

»Gerhard Bertsch.«

»Verdammt! Wie kommt der Kerl dazu?«

»Onkel –« Eke von Grund schlug das Herz auf, aber fest suchte ihr Auge das des Oheims – »ich habe dir eine Mitteilung zu machen. Ich habe mich eben verlobt mit Herrn Gerhard Bertsch.«

»Ver–lobt?«

Ein stummes, ernstes Bejahen.

Da lachte Henner von Grund los. Wild und dröhnend. Wieder und immer wieder. Und so krampfhaft, daß Eke allmählich geängstigt zu ihm hinsah. Ganz dunkelrot glühte ihm der Kopf, wie er so stand, lachend vornübergeneigt, die Hände um die Tischplatte geklammert.

»Onkel –«

Sie wollte einen Schritt zu ihm hin tun. Aber da war dieses schreckliche Lachen vorüber. Wie in einer inneren Befreiung hieb Henner von Grunds Faust krachend auf den Tisch. Und nun sprühte es aus seinen Augen zu ihr hin.

»Verlobt – der Witz ist wirklich nicht schlecht!«

Die Sorge, die eben noch in Ekes Blick gestanden, wich einem aufrechten Stolz.

»Ich sprach im Ernst, Onkel.«

Da fuhr er herum. Sein mächtiger Körper reckte sich hoch auf, wie er nun langsam auf sie zutrat.

Leise wollte es an Eke heranschleichen. Eine lähmende Angst. Wie in den Kinderjahren, wenn er auch so drohend herankam, in seinem gewaltigen Jähzorn. Doch plötzlich kam ihr der Gedanke an Gerhard Bertsch. Sie war ja nun nicht mehr ohne Schutz auf der Welt. Da sah sie festen Blickes seinem Kommen entgegen.

Jetzt stand er vor ihr, so nahe, daß sie sein hart hervorgestoßener Atem streifte.

»Also, du willst: ich soll das ernst nehmen?«

»Gewiß, Onkel, und ich bitte dich um deine Einwilligung zu diesem Verlöbnis.«

Ein Hinzucken über sein ganzes Gesicht, daß der wallende graue Bart bebte:

»Und wenn ich nein sage?«

»Dann – ja, das wäre mir sehr schmerzlich, Onkel – aber ich müßte dennoch.«

Nun schrak sie doch zusammen. Wie es ihn traf! Ganz verzerrt wurden seine Züge. Und jetzt ein Auflodern in den Augen, ein Heben der Faust, als wolle er –

Totenblaß wich sie zurück. Aber im selben Augenblick sank ihm die erhobene Rechte kraftlos nieder und griff suchend um sich – ein Wanken ging durch seinen ganzen Körper. Gerade, daß sie noch zuspringen, den schweren Leib stützen und zum nächsten Sessel drängen konnte. Längelang wäre er sonst zu Boden geschlagen.

Mit wild klopfendem Herzen stand Eke einen Moment und sah den Regungslosen. So schrecklich war das, wie der riesige Körper da schlaff zusammengesunken im Sessel lag, die Augen wie gebrochen, der Unterkiefer mit dem mächtigen Bart tief herab zur Brust gefallen, und dazu dieses röchelnde Atmen.

Wenn er nun starb – sie die Ursache seines Todes!

Diese Angst jagte sie wieder auf. Sie lief zum Klingelzug und schellte Annemarie herbei.

»Kallmann soll anspannen – sofort den Doktor holen! Er wird wohl noch oben sein, bei der Frau vom Maschinisten Ebner. Der Herr ist erkrankt – schwer erkrankt!«

* * *

»Nun, Medizinmann, wie schaut's? Muß doch mal nach dir sehen.«

Gutgelaunt trat Bertsch bei Doktor Herling ein. Eine ungewohnte Heiterkeit strahlte ihm von den Mienen. Auch nun, wo er dem Arzt, der auf der Chaiselongue liegen blieb, kräftig die Schultern rüttelte.

»Erhebe dich, du schwacher Geist. Es lohnt sich. Ich habe drüben im Hirschen einen guten Tropfen kalt stellen lassen! Na – kann dich das auch nicht reizen?«

»Nee – meine Ruhe will ich haben.«

»Die hast du nun lange genug gehabt. Schon fünf Uhr nachmittags.«

»Hast du eine Ahnung! Vor zehn Minuten bin ich gerade erst nach Hause gekommen.« Und Herling setzte sich nun auf der Chaiselongue aufrecht. »Ein netter Tag heute. Erst oben die Frau Ebner –«

»Ach richtig, ja.« Bertschs Züge wurden ernster. »Wie steht's denn?«

»Ein schwerer Fall, Lunge und Brustfell schönstens entzündet. Ich hab' stundenlang Packungen mit ihr gemacht.« Doktor Herling putzte sich mit dem Taschentuch bedächtig die Brillengläser. »Na, aber ich denke, es wird noch mal werden.«

»Das freut mich für den Ebner. Ein zuverlässiger, ordentlicher Mensch.«

Der Doktor nickte und setzte sich die Brille wieder auf.

»Na schön, wie ich aber kaum aus dem Dicksten raus bin mit der Frau, kommt ein Wagen angejagt, drunten vom Adligen Hause.«

»Wie?«

Der Freund, der sich eben einen Stuhl heranzog, hielt inne. Mitten in der Bewegung.

»Ja – der Herr wäre erkrankt, schwer erkrankt.«

Bertschs Brauen zogen sich zusammen.

»Was lag denn vor?«

»Wie ich hinkam, hatten sie ihn schon ins Bett gepackt. Ein paar von seinen Leuten. Denn er selbst war unfähig, sich zu rühren, völlig gelähmt, selbst die Zunge.«

»Doch nicht –?«

»Ja, ein Schlaganfall.«

»Schlaganfall? – Wie kam er denn dazu?«

»Irgendeine Aufregung, vermutlich wohl eine Familienangelegenheit. Denn Fräulein von Grund verbarg nur schlecht eine starke Erregung.«

»So –«

Bertsch wandte sich langsam ab. Die Hände auf dem Nacken zusammengelegt, tat er ein paar Schritte ins Zimmer hinein, aus dem Licht fort. Dann aber blieb er stehen.

»Und wie geht's jetzt mit ihm?«

»Ich habe ihn wieder so weit. Natürlich noch immer sehr schwach. Überhaupt – ich sagte es auch seiner Nichte – er muß sehr geschont werden. Denn so etwas kann wiederkommen.«

»Hm – gewiß.«

Und Gerhard Bertsch nahm seine Wanderung wieder auf. Die frohe Helle war von seinen Zügen gewichen.

»Ja – wie gesagt, es war ein recht angenehmer Sonntag. Kannst nun wohl verstehen, daß ich mich hier langgelegt habe für ein paar Minuten.«

»Vollkommen. Und du sollst auch weiter ausruhen. Tut mir leid, daß ich dich störte, aber ich hatte ja keine Ahnung. Also – bis nachher!«

»Aber unsere gute Flasche?«

»Die läuft uns ja nicht weg.«

»Hast recht.« Und der Doktor ließ sich gähnend von neuem auf sein Ruhelager fallen. Sich auf die Seite drehend, summte er den Vers des Rodensteiners durch die Lippen: »Acht jetzt, gut Nacht jetzt! Einst war ich nicht so brav, doch ehrbar wandeln ist das best! – Ich geh' ins Bett und schlaf.«

»Recht so.«

Mit einem flüchtigen Lächeln nickte Bertsch noch einmal dem Freunde zu und ging. Draußen aber wurde seine Miene gleich wieder ernst.

So kam er nach Haus. Hier setzte er sich an den Schreibtisch und schrieb:

»Meine liebe Eke!

Eben höre ich von Herling, was geschehen ist. Ich mag nicht viel Worte machen. Das liegt mir nicht. Aber ich wünschte, ich könnte bei Dir sein. Dich in meine Arme nehmen!

Was soll nun werden? Kann ich Dich nicht sehen? Wenn auch nur auf ein paar Minuten. Wie es auch kommt, stets Dein

Gerhard.«

Er selber brachte den Brief zur Post.

Er erhielt keine Antwort von Eke, auch am zweiten Tage noch nicht. Aber am dritten kam sie selber. Es war nichts Ungewöhnliches. Sie hatte ihn in Sachen des Frauenvereins schon wiederholt auf dem Werk aufsuchen müssen. Doch wie sie heute in sein Bureau trat, blieb sie an der Tür stehen.

Bertsch, der sich schon erhoben hatte von seinem Arbeitstisch, sah sie betroffen an. Da lief sie plötzlich auf ihn zu. Fest warf sie ihm die Arme um den Hals.

»Nein – ich lasse dich nicht!«

Er verstand und drückte ihr Haupt an seine Schulter.

»Es war wohl schwer?«

Sie nickte nur stumm und schmiegte sich dichter an ihn.

»Liebe, du.«

Sanft drückte er seine Lippen auf ihr Haar. So hielt er sie eine Weile schweigend an seiner Brust, bis er ihren Herzschlag ruhig werden fühlte. Dann fragte er:

»Und nun?«

Sie machte sich langsam aus seinem Arm frei. Klar blickten ihn ihre Augen an.

»Es hilft nichts, wir müssen warten.«

»Wie lange?«

»Bis ihm Aufregungen nicht mehr so schaden können.«

»Das kann lange dauern, sehr lange, Eke.«

»Und wenn, es muß sein.«

»Natürlich – die Rücksicht auf ihn geht ja vor!«

Seine Miene verfinsterte sich. Da sah sie ihn an.

»Gerhard, er hat mich an Kindes Statt genommen – ich bin ihm Dank schuldig.«

Seine Hand griff nach dem stählernen Briefbeschwerer neben sich auf dem Schreibtisch.

»Das heißt also: ich soll dich nicht mehr sehen?«

»Oh – das doch nicht.« Aber es klang bedrückt. »Wir werden ja auch weiter zusammenkommen – gelegentlich – durch den Frauenverein.«

»Genügt dir das?«

Keine Antwort, nur das Haupt senkte sich ihr.

Heftig warf er die Stahlplatte auf den Tisch.

Eine Wolke trat auf ihr stolzes Antlitz.

»Es ist mir wider die Natur – alles Heimliche.«

»Nun gut. So folge deiner Natur. Aber ich weiß genug.«

Schroff wandte er sich ab. Da war sie bei ihm.

»Das darfst du nicht denken – Gerhard!«

Mit einer jähen Bewegung riß er sie an sich.

»Ich kann nicht mehr sein ohne dich!«

Als sie sich aus seinen Armen löste, stand ein Entschluß in ihren Mienen. Aber ihre Augen blickten ernst.

»Gut. So sollst du mich sehen – hin und wieder.«

»Ich danke dir, Eke! Ich weiß, was du mir damit gibst.«

Und er neigte sich verehrungsvoll über ihre Hand.

* * *

Eke von Grund hatte ihr Versprechen gehalten. Schon mehrfach hatte sie sich mit Gerhard getroffen. Aber diese flüchtigen, dem Glück gestohlenen Stunden gewährten seinem sehnenden Verlangen nach ihr doch nur wenig Genüge. Es war, wie wenn sich bei ihm nach den langen Jahren seiner inneren Einsamkeit ein um so größeres Bedürfnis nach einem vertrauten Sichgeben angespeichert hatte. Eke fehlte ihm. Nur zu tief empfand er es.

Um sich darüber fortzuhelfen, stürzte sich Bertsch in seine Arbeit. Neue Pläne entstanden. Das Große zog noch Größeres nach sich – ganz Großes, Gewaltiges. Selbst in Köln war man betroffen. »Nun aber einmal halt!« hieß es. »Sie übernehmen sich, lieber Freund.« Doch sein Feuergeist rang mit ihrer kaufmännischen Bedachtsamkeit. Und bezwang sie schließlich. Ein Riesenprojekt – wohl wahr. Aber doch nicht unausführbar. Und er hatte recht: Im Grunde nur die letzte Konsequenz des einmal Begonnenen. Gewissermaßen eine Notwendigkeit, wollte man nicht auf halbem Wege stehenbleiben. So trat man denn dem kühnen Gedanken Bertschs näher, wenn natürlich zunächst noch mit aller gebotenen Zurückhaltung. Erst einmal handgreifliche Unterlagen haben für Durchführbarkeit und Rentabilität!

Mit all seiner stählernen Energie warf sich Gerhard Bertsch auf diese Vorarbeiten und brach sich Bahn, Schritt für Schritt. Aber es konnte ihm dabei geschehen, daß ihm mitten in den schwierigen statistischen Berechnungen oder Kostenanschlägen plötzlich der Gedanke an Eke kam. Und mit solcher Macht, daß er aufsprang, die Arme weit ausgereckt. Aber die, nach der sie griffen, war ihm fern. Und war sie wirklich einmal mit ihm zusammen, so war das doch auch nicht genug für sein Sehnen.

Es hieß vorsichtig sein, stets beherrscht.

So brachten Bertsch denn diese heimlichen Zusammenkünfte fast noch mehr Pein als Glück. Auch heute empfand er das, wie er mit ihr droben im Wald durch die Hauberge ging. Als habe er sie zufällig getroffen auf ihrem Wege zum Buchenhof, einem abseits gelegenen Gehöft droben, wohin sie eine Fürsorgepflicht des öfteren rief. Diesmal kam ja auch noch etwas Besonderes hinzu, das ihn beunruhigte, schon seit mehreren Tagen. Sein verstimmtes Wesen fiel Eke daher bald auf. Fragend sah sie ihn an.

»Was hast du, Gerhard?«

»Ach – nichts weiter.«

»Sprich doch, bitte!«

»Nun gut, wenn du es willst – also, was soll eigentlich der Besuch da bei euch im Hause? Der Vetter oder was er ist.«

»Natürlich ist's ein Vetter, der Eberhard. Meine Mutter war doch eine geborene Selbach. Aber ich glaube wahrhaftig –,« und sie lächelte ihn plötzlich an. »Nein, Gerhard, daß auch du eifersüchtig sein kannst, das hätte ich im Leben nie gedacht.«

Er blieb ganz ernst.

»Du irrst, Eke, Eifersucht kenne ich nicht. Aber trotzdem beunruhigt mich dieser Herr von Selbach.«

»Wieso nur?«

»Hast du denn nicht auch das Gefühl, daß der Besuch deines Vetters einen bestimmten Zweck verfolgt?«

»Durchaus nicht. Eberhard kommt ja fast alle Jahre zu uns zu Besuch.«

»Aber diesmal! Er ist doch auf Einladung deines Onkels gekommen?«

»Natürlich, aber –«

»Siehst du, das ist's ja gerade. Dein Onkel hat sicher seine Absichten dabei gehabt.«

Eke wurde nun doch nachdenklich.

»Meinst du wirklich?«

»Ganz gewiß. Er hält offenbar etwas von diesem Vetter, der ja wohl der einzige Verwandte ist, mit dem ihr noch Beziehungen habt?«

»Das ist allerdings richtig.«

»Nun da liegt die Sache eben sehr einfach: Es ist vermutlich ein alter Wunsch von deinem Onkel, daß ihr beide euch einmal heiratet, und jetzt, wo er weiß, daß ich –, jetzt will er Ernst machen.«

Eke schwieg betroffen. Endlich sagte sie zögernd:

»Wenn ich so nachdenke – du könntest am Ende doch recht haben.«

»Siehst du!«

Aber da warf sie den Kopf wieder hoch.

»Nun, und wenn's so ist? Ich habe doch auch noch ein Wort mitzureden.«

»So – und die Rücksicht auf den Zustand deines Onkels?«

Eke von Grund zog die Brauen zusammen.

»Es gibt da auch Grenzen. Mich opfern deswegen tu' ich nicht!«

Erfreut fuhr es über seine Mienen. Aber gleich wurden sie wieder ernst.

»Du unterschätzest die Situation doch wohl etwas. Dein Onkel hat auch noch ein anderes Mittel, dich zu zwingen.«

»Das möcht' ich sehen!«

»Er kann dich enterben, wenn du dich weigerst. Und er wird es!«

»So mag er!«

»Sprich das nicht so leicht hin. Besitz macht unabhängig, gibt Rückgrat.«

»Das werde ich auch ohnehin stets haben, und wenn ich bettelarm sein sollte.«

Er schüttelte den Kopf.

Da wandte sie sich ihm schnell zu.

»Oder – möchtest du etwa keine Frau heiraten, die ohne jedes Vermögen ist?«

»Eke!«

»Verzeih'.« Und sie drückte seinen Arm. »Ich meinte es ja auch nicht so. Aber jetzt einmal im Ernst: Wenn ich wirklich vor die Wahl gestellt werden sollte, es könnte doch gar kein Besinnen geben. Gewiß wäre es ein schwerer Schlag, müßte ich auf all das verzichten, das mir einmal sonst zufiele, aber – würden wir darum weniger glücklich werden?«

»Das ganz gewiß nicht,« fest legte er den Arm um sie. »Nur – sieh, Liebste: ich habe noch nicht viel hinter mich gebracht, passierte mir also einmal vor der Zeit etwas Menschliches – ich ließe dich schlecht versorgt zurück.«

»Sprich doch nicht davon.« Sie lehnte ihre Wange an seine Schulter. »Und hab' keine Sorge um mich. Nie – hörst du? Wie es mir auch einmal im Leben gehen sollte, ich käme schon durch. – So, und nun reden wir kein Wort weiter davon!«

»Meine tapfere Eke!«

Und er nahm ihre Rechte zwischen seine großen, starken Hände.

Sie traten dann aus dem Walddickicht heraus und stießen auf ein Kornfeld. Hier hoch oben in der Bergeinsamkeit. Silbern glänzten die schnittreifen Ähren des Saatgrases, der Schmermer.

Daneben lag ein altes Haubergsfeld, auf dem der Wald im Vorjahre abgetrieben war. Mannshoch wucherten hier die Ginsterbüsche. Rötlich flimmerten Zittergras und Fingerhutblüten im schräg niederflutenden Sonnengold.

Darüber hin schweifte der Blick frei über all die andern Felder, die in der Ferne wie grüne und gelbe Tupfen erschienen. Als habe sich der Berg ein prachtvoll scheckiges Pantherfell über den Rücken geworfen.

Hier und da überschnitten die Luft hochragende Malbäume an den Feldgrenzen, verwitterte Eichen und Fichten. Wetterzerzaust standen sie trutzig da in ihrer Einsamkeit.

Eke und Gerhard blieben stehen. Ein leiser brenzliger Geruch kam zu ihnen geweht, und nun sahen sie auch überm Waldrand hinten weißliche Rauchwölkchen aufsteigen. Ein Hauberg wurde dort gerade gebrannt. Den ganzen Sommer und Herbst über schwebte dieser leichte Brandgeruch hier oben.

»Es gehört zu unserm Land. So manchmal hab' ich mir drüben gewünscht, nur diesen Geruch einmal wieder atmen zu können.«

Versonnen sagte es Bertsch.

»Ja – auch ich hab' ihn gern.« Eke sog tief den Hauch ein. »Heimatluft!«

Und im Weiterwandern umfing ihr Auge liebevoll das wohlvertraute Bild.

Sie kamen jetzt zu dem Wald, der erst in diesem Jahre abgetrieben war. Überall ragten die entschälten jungen Eichenstämme auf mit ihrem weißen Holz. Oben stand die Krone noch in frischem Grün. Eine seltsame Vereinigung von Leben und Tod.

Ein wimmelndes Treiben war auf diesen Feldern. Allenthalben Menschen, Leute aus den einsamen Walddörfern hier oben, die das Holz zu Stangen hieben und aufschichteten oder den Rasen zwischen den Stämmen abschälten. Da, wo er schon dürr war, sammelten sie ihn zu kleinen Häuflein und setzten diese in Brand. Schräg kroch dann der weiß-bläuliche Rauch über den Boden hin, den Berghang hinauf.

Während die Großen so im Hauberg emsig schafften, hatten die Kinder hier oben gute Zeit. Sie bauten sich am Waldrand kleine Hütten aus Ginster oder durchkrochen die Haselsträucher nach grünen Nüssen. Drüben auf der Wiese saß eine Anzahl ganz kleiner, Heidekrautkränze im weißblonden Haar.

Eke von Grund blickte hinüber. Ein dunkles Sehnen schimmerte in ihrem Auge auf. Etwas weich Frauliches kam in ihre Züge.

Bertsch gewahrte es. Leise zog er ihren Arm fester an sich. Da überrann eine lichte Röte ihr klares Antlitz und sie drängte zum Weitergehen.

»Es wird Zeit, daß ich zum Buchenhof hinüberkomme. Wie müssen wir eigentlich weiter? Ich bin hier oben herüber noch nie gegangen.«

»Offen gestanden – ich weiß auch nicht mehr so recht. Wir wollen doch einmal da drüben fragen. Es kennt uns ja keiner hier oben.«

Und er ging mit ihr zu einem einzelnen Manne, der in der Nähe arbeitete.

»Guten Tag, Vatter – könnt Ihr mir wohl sagen, wo es hier zum Buchenhof geht?«

Der Alte sah auf von seinen Schanzen, die er zusammenschichtete.

»Zum Buchenhof? Aber das ist noch ein gut Stück. Da müssen Sie gut fußen mit der Dame.«

»Macht nichts. Wo geht also der Weg?«

»Da – der Pfad zwischen den Tännchen. Aber warten Sie, ich will's Ihnen weisen.«

Und der freundliche Alte trat schon an ihre Seite.

»Wird Ihnen die Arbeit im Hauberg denn nicht schwer?« fragte Eke mitleidig mit einem Blick auf seinen gekrümmten Rücken.

»Enä – dat is man ja gewöhnt von jung an. Sie kennen dat freilich wohl nicht, die Dame und der Herr. Sie sind wohl aus der Stadt? Ich han auch a Tochter verheiratet drunten in Köln. Aber ich möcht' nimmer heraus aus unsern Bergen. Dat is so schön hier oben bei uns. Wissen Sie, was wir so oft sprechen hier im Lan? Dat unser Kaiser so gar nimmer mal herkömmt. Hier ist so viel Fleiß und Religion. Da kann er sich up verlassen der Kaiser. Er hat nirgends so treue Leute wie hier.«

»Gewiß, Vatter – da habt Ihr recht.«

Bertsch wollte den gesprächigen Alten verabschieden, doch zutraulich wies dieser Eke auf ein Kraut am Boden hin und pflückte es auch schon für sie:

»Hier – riechen Sie mal. Dat gibt 'nen kostbaren Tee für den Magen. Den müssen Sie Ihrem Mann kochen, wenn er mal nicht so recht zuwege ist.«

Ekes und Gerhards Blicke trafen sich, mit vertraulichem, stummem Anlachen. Doch nun klopfte Bertsch dem Alten auf die Schulter.

»Weiter ist es aber wirklich nicht mehr nötig. Wir sehen den Weg ja jetzt schon.«

»Ja, gerad' da, wo die Kinder Beeren pflücken. Oh, da hat's furchtbarlich, gewaltig Erdbeern.«

»Glaub's schon, Vatter. Aber da – nehmt Euch eine Zigarre.«

»Dank schön. – Doch dat tut nit not. Wir sind ja deutsche Leute, da muß man sich schon gegenseitig helfen. Also glückliche Reis' alsdann! Und wenn Sie nachher an die Bach kommen, so halten Sie sich immer stracks rechts zum Talkopf hinüber. Alsdann –«

»Von da ab weiß ich schon.«

Freundlich nickte Bertsch und schritt dann schneller mit Eke aus.

»Wie treuherzig das Volk hier noch ist. Man muß die Leute doch liebhaben.« Eke blickte noch einmal zu dem Alten zurück. »Ich erkenne es so recht jetzt, wo ich zu ihnen in die Häuser komme. Wieviel Herzensfreude hab' ich nicht schon davon gehabt. Ich bin dir so dankbar, Gerhard!« Und sie hing sich zutraulich in den Arm des Geliebten. »Das will ich auch nie wieder aufgeben. Auch später nicht, wenn wir einmal verheiratet sind.«

»Wären wir's nur erst!«

»Geduld, Liebster.«

Ihre Rechte strich ihm weich über die Wange. Da hellte sich seine Miene wieder auf. Ein Glücksgefühl kam über ihn. War sie nicht sein, sanft und anschmiegend, die so stolz ihr Haupt vor den Menschen trug.

Dann schritten sie durch den schweigenden Wald. Noch nie hatte Gerhard Bertsch so das starke Gefühl ihrer Zusammengehörigkeit gehabt, wie heute. Nichts stand mehr zwischen ihnen. Eins waren sie. Um jeden Gedanken, jede Sorge des einen wußte auch der andere. Und plötzlich kam es ihm: Sollte sie da nicht auch von dem erfahren, was ihn beruflich beschäftigt hatte in all dieser letzten Zeit? Von seinem neuen Plan, dem letzten und größten? Es war zwar sonst nicht seine Art, über Dinge zu sprechen, ehe sie reif waren. Aber dennoch – sie sollte es wissen, was ihn ganz ausfüllte. Droben auf dem Talkopf wollte er sich ihr offenbaren.

Und dann waren sie auf jenem Bergvorsprung angelangt, der fast senkrecht abstürzte zum Tal hin. Gerade über den letzten Ausbauten vom Unterdorf drunten in Rödig, die sich wie schutzsuchend an die Bergwand drängten.

Ein wundersamer Fernblick tat sich hier oben auf, über den ganzen Rauhen Grund. Weithin streckten sich die Wiesengründe, umrahmt von laubgrün und dunkeln Tannen. Hell blinkte das Silberband des Flusses herauf, der den Ort drunten schmeichelnd umschlang.

Auf dem sattgrünen Rasen bauten sich freundlich die weißschimmernden Häuser auf, versteckt zwischen den dichten Lindenwipfeln. Bunt und lustig grüßten die kleinen Bauerngärten. Ihr süßer Levkojenduft wehte herauf, erinnerungsschwer. Dämmerstunden aus fernen Kindheitstagen wurden wieder lebendig.

Träumerisch lehnte Eke von Grund über dem Schutzgeländer, Gerhard Bertsch stand neben ihr. Sie waren ja hier im üppig wuchernden Gesträuch den Blicken drunten verborgen, während sie ihrerseits ungehindert hinabschauen konnten, gerade in die Gäßchen und Gehöfte hinein.

Goldner Abendschein wob da drunten um die Herdstätten. Mit hellem Aufjauchzen warfen sich die Schwalben in die Luft. Rauch kräuselte sich aus jedem Schornstein. Aus den Häusern scholl das helle Singen der Mädchen bei ihrer Arbeit. Halbvergessene Lieder, schlicht und fromm, vor der Tür, auf der Bank saßen die Alten. Geruhsam die lange Pfeife im Munde. Eine Frau ging mit dem Kuchenblech auf dem Kopfe zum Backofen draußen vorm Dorf. Gewichtig hielt sich die Älteste ihr zur Seite, den Ginsterbesen in der Hand. Ein Kleinchen trippelte nach, am Rockzipfel der Mutter, von der Arbeit droben auf der Zeche kam ein Mann heim. Froh sprang ihm sein flachsköpfiger Junge entgegen und hing sich an des Vaters Hand.

Überall auf den Gassen und auf dem Dorfanger trieben die Kinder ihr Wesen. Hochgeschürzt standen ein paar spreizbeinig im seichten Wasser des Flusses und suchten Blutegel. Ein winziges Kerlchen sah ihnen neugierig vom sicheren Ufer aus zu, nur mit einem Hemdlein bekleidet. Andere spielten Knöppches, und auf dem grünen Wiesenplan an der Dorflinde drehte sich ein Reigen. Ein Lufthauch trug die hellen Kinderstimmen deutlich herauf. Monotone Klänge, kindische Worte, und doch lag ein seltsamer Reiz darüber in dieser Stunde versonnenen Abendfriedens. Aus der Jugendzeit – was stand da nicht alles auf!

Eke hob sich die Brust. Nie hatte sie stärker gefühlt, wie verwachsen sie war mit diesem Mutterboden ihrer Heimat. Und warm quoll es auf in ihrem Herzen.

Da legte sich eine Hand auf ihre Schulter, daß sie aufschrak aus ihrem Träumen. Gerhard neben ihr war es. Aber sein Blick haftete nicht an dem Bilde traulichen Menschentreibens zu ihren Füßen. Über das weite Tal schweifte er hin, mit einem erregten Leuchten, und nun wandte er sich ihr zu.

»Eke – ich möchte dir etwas sagen. Etwas, das mich sehr beschäftigt.«

«Ja, sag' mir's!«

»Sieh –« und er nahm ihre Hände, sie fühlte dabei ein fieberndes Zucken – »ich bin noch nicht am Ende hier mit meinen Plänen. Wie es so geht. Erst bringen wir den Stein ins Rollen, dann reißt die Lawine uns mit fort.«

»Was hast du denn noch vor?« Und Spannung trat in ihre Züge. –

»Großes! Aber höre, wie ich so darauf kam. Da drunten,« er wies auf den Fluß hinab, »das Wehr hinterm Dorf – damit fing's an. Wie ich dort eines Abends vorüberging und das Rauschen an mein Ohr schlug, hielt's mich plötzlich fest. In die niederstürzenden Wassermassen mußte ich sehen, immerzu, und denken: Was für eine Kraft geht hier verloren – völlig ungenutzt. Und mit einemmal kam mir's: Wenn man die dienstbar machen könnte – droben für das Werk, für unsere Krafterzeugung und Beleuchtungszwecke! Eine Riesensumme würde man jährlich sparen, die jetzt draufgeht für die teure Kohle droben von der Ruhr. Und der Gedanke ließ mich nicht mehr los seitdem. Die ganze Nacht ging's mir durch den Kopf: Warum sollte das nicht zu machen sein? Wenn man die Stauung nur noch etwas vergrößerte. Gefälle und durchschnittliche Wassermenge wären sicherlich vollkommen ausreichend. Kurz entschlossen setzte ich mich am nächsten Morgen hin und schrieb nach Köln an einen bekannten Wasserbautechniker. Der kam, ganz im geheimen machte er hier am Wehr seine Berechnungen, und das Resultat war glänzend, übertraf all meine Erwartungen. ›Wasser haben Sie – wenn Sie wollten, könnten Sie den ganzen Rauhen Grund mit Kraft versehen.‹ Scherzend sagte es mir der Mann, aber das Wort schlug bei mir ein. Wieder allein mit mir, erwog ich den Gedanken, ruhig und ernsthaft, und kam zu dem Schluß: Ja, warum nicht? Wenn man denn einmal schon daran ging, das Wasser auszunutzen – weshalb nicht in vollem Umfange? Und siehst du, da wuchs es in mir und reifte zum Entschluß: Wenn man, statt bloß das Wehr hier am Dorf zu vergrößern, den ganzen Fluß staute, drunten am Talausgang, wenn man bei uns im Rauhen Grund täte, was man ja schon anderwärts gemacht, eine regelrechte Talsperre baute, Millionen von Kubikmetern Wasser auffing und in Kraft umsetzte – was für Ausblicke boten sich da!

Das würde natürlich weit hinausgehen über den ursprünglichen Rahmen. Nicht mehr bloß um unser Werk handelte es sich dann. Eine Fernversorgung mit Kraft und Licht kam in Frage für die ganze Landschaft. Und weiter, immer weiter zogen sich die Kreise. Ungehobene Schätze liegen hier noch im Lande: Erz, Holz, Basalt, wohl haben wir sie, aber keine Industrie, die sie voll verwertet an Ort und Stelle. Haben wir aber erst hier die nötige Kraft, so kommt auch die Industrie. Und mit ihr ein neues, gewaltiges Leben. Die Scholle, die jetzt Hunderte nährt – Tausenden wird sie Brot geben. Geld wird ins Land strömen, Wohlstand und Kultur.

Die engen Schranken werden fallen. Unser Rauher Grund wird kein toter Winkel mehr sein wie bisher. Aber mehr, noch mehr! Bis weit hinaus ins flache Land werden die Wirkungen dieser Sperre reichen. Du weißt's ja, wie's mit unserm Fluß da draußen geht: Bei Wassermangel Dürre ringsum, Not und Sorge der Landwirtschaft. Bei Hochwasser aber Elend noch größerer Art – einfach Vernichtung der Saaten. Hier tut eine Wasserstauung wahrhaft Wunder, reguliert den ganzen Flußlauf im flachen Lande. Wir bringen denen draußen Hilfe und Segen. Nun – was sagst du dazu, Eke?«

Eine lichte Röte auf den Wangen sah er sie an. Erwartungsvoll.

Eke von Grund stand wortlos. Erregt ging ihr die Brust. Doch jetzt ergriff sie seine Hände.

»Gerhard – das ist groß!«

Sie verstummten beide, von der Bedeutung des Augenblicks hingerissen.

Dann aber forschte sie:

»Und der Plan wird zur Tat werden?«

Er nickte.

»Ohne Zweifel. Die Landesbank wie die Regierung hab' ich hinter mir – da werden die übrigen schon klein beigeben müssen.«

»Die übrigen?«

»Nun ja, die Gemeinden im Rauhen Grund, die von der Sache betroffen werden. Hier Rödig, und die Ansiedlungen weiter drunten am Fluß.«

Ein Staunen bei Eke. Ihr Auge wandte sich hinab ins Tal.

»Ach ja – das Anstauen des Flusses!«

Doch dann stutzte sie.

»Da wird ja das Wasser steigen, hoch empor – am Ende gar auch Häuser bedecken?«

»Häuser? Das ganze Unterdorf wird hier verschwinden.«

»Gerhard.«

»Nun ja, Kind. Es kann ja doch auch nicht anders sein. Die Sperrmauer wird an fünfzig Meter hoch werden. Da liegt alles, was du hier siehst, unter dem künftigen Wasserspiegel. Selbst der Kirchturmknopf da drunten. – Du mußt dir das einmal richtig vorstellen.« Und eifrig wies er hinab. »Alles, was du hier siehst, das ganze weite Tal – ein einziger, riesiger See wird es dann sein. Nur die Bergrücken dort vom Jägerkopf und der Fuchskante werden als schmale Waldinseln hervorragen aus den Fluten.«

Eke ward still. Erschreckt und zugleich gebannt von der Vorstellung dieser gigantischen Umgestaltung des ganzen Landschaftsbildes. Doch plötzlich taten sich ihre Augen weit auf.

»Aber dann – verschwindet ja auch unser Haus da drunten!«

»Freilich, das fällt auch mit.«

»Und das sagst du so, als ob es nichts wäre?« Ihre großen, erschrockenen Augen sahen ihn jetzt an, als wäre er ihr ganz fremd geworden. »Unser Haus – meine Heimat!«

Da kam es ihm wie ein Erwachen aus fieberndem Rausch.

»Verzeih!« Er legte den Arm um sie. »Ich war so ganz in meinen Plänen.«

»Ja, deinen Plänen, mit denen du hinopferst, was andern lieb und teuer ist – ohne mit der Wimper zu zucken.«

»Eke!« Er zog sie näher an sich. »Ich ermesse voll, was das für dich bedeutet, und für die andern da unten, die von Haus und Hof werden gehen müssen. Aber dennoch – muß es nicht sein?«

»Warum muß es? Wärst du nicht gekommen mit deinem Plan – alles würde bleiben, wie es ist.«

»Bis ein anderer käme mit demselben Plan! Solche Gedanken liegen doch in der Luft. Glaubst du wirklich, der gewaltige Entwicklungsprozeß, die Industrialisierung, die die Losung unseres Zeitalters ist, würde haltmachen, einzig und allein vor den Toren des Rauhen Grundes? Und nanntest du nicht selber vor ein paar Augenblicken erst diesen Plan groß?«

Das Haupt sank ihr langsam nieder. Da fuhr er fort:

»Siehst du, du schweigst. Nein, Eke – du kannst auch nicht klein denken, und geschähe dir noch viel Schmerzlicheres.«

Ein letzter Kampf, dann hob sie die Augen zu ihm auf.

»Ich danke dir, Gerhard. Es war nur so im ersten Moment. Leicht ist der Gedanke ja auch nicht.«

Doch noch einmal glitt ihr Blick hinab zu dem Dorf drunten, goldüberflutet, im Abendfrieden, das noch nichts ahnte von seinem Schicksal.

»So Abschied nehmen von seiner Väter Haus, von der Scholle, auf der man seit Menschengedenken gesessen –! Aber du hast recht: die Zeit läßt sich nicht aufhalten. Sie hat nun einmal angeklopft hier bei uns, da müssen wir ihr auch die Tür öffnen – ganz, rückhaltlos.«

Wieder aufleuchtenden Blickes nickte Bertsch ihr zu. Als er jetzt neben ihr stand, von dem letzten Hauch der sinkenden Sonne überglüht, war etwas Verklärtes, Großes in seinen Zügen. Da sah ihn Eke von Grund an, und wie ein Abglanz dieses Leuchtens ging es über ihr eigenes Antlitz. Wohl sollte da unten eine Welt in Trümmer gehen, aber würde nicht dafür eine neue erstehen? Eine größere, unendlich reichere!

Und ein Stolz auf den geliebten Mann überkam Eke. War nicht auch in ihm etwas von dem Geist jener Titanen, die mit vermessener Faust hinaufgriffen in die Sphäre der Götter? Was die Natur einst in Schöpfungswehen gebildet, was ungezählte Jahrtausende gedauert, was für alle Ewigkeit gefügt schien – hier kam eine kühne Menschenhand und verrückte die Grenzen der Allmacht. Sie gebot den Wassern, und siehe – Tal und Berge verschwanden!

Ein Schauer überkam sie. Fast scheu blickte sie auf zu der lichtumfluteten Stirn des Mannes neben ihr.

Doch nun fühlte sie wieder in ihm den Geliebten ihres Herzens. Fest streckte sie ihm beide Hände entgegen.

»Das Neue fordert immer Opfer – ich will sie gern bringen an meinem Teil.«

Noch einmal blickten sie, Hand in Hand, hinab ins Tal. Dann aber setzten sie ihren Weg fort, zum Buchenhof hin. Noch ganz im Bann dieser großen Stunde. Erst nahe dem Ziel ihres Weges kam Eke wieder das Besinnen auf die Erfordernisse des Alltags. Sie blieb stehen. Es war bald am Waldrand. Die weißgetünchten Gebäude des Gehöftes schimmerten bereits durch die Bäume herüber.

»Du mußt nun umkehren, Gerhard.«

Sie bot ihm die Lippen zum Abschied, wie gewohnt. Ein ruhiger, herzlicher Gruß. Schon wollte er sie mit einem Abschiedswort von sich lassen, da umschlangen ihn ihre Arme noch einmal.

»Ich bin so stolz auf dich!«

Und eng schmiegte sie sich an ihn. Ganz Hingabe.

Es überraschte ihn. Noch nie hatte er ihr warmes, junges Weibesleben so nahe seinem Herzen gefühlt. Ein Glutstrom jagte ihm durch alle Adern. Seine Lippen zitterten. Lange Jahre war er an den Frauen vorübergegangen, ohne sie zu entbehren. Nun aber, wo sein Herz gesprochen, erwachte in ihm wie unter einem Zauberschlage das Sehnen nach dem Weibe. Übergewaltig. Und im nächsten Augenblick riß er sie an sich. Seine Küsse sengten ihr Lippen, Wangen und Halsausschnitt. Seine Hände zuckten in fieberndem Begehren an ihrem Leibe.

Wie gelähmt war Eke im ersten Erschrecken. So fühlte sie seine entfesselte Glut sie umlodern. Und ahnte plötzlich ein Dunkles, Ungekanntes, Elementares, vor dem ihr Herz stillstand. Aber dann schoß es ihr von dort auf, ein flammendes Rot, hoch hinauf bis in Hals und Wangen – Verwirrung, Scham, Empörung ihres herben Mädchentums. Noch schlummerte ja in ihr ungeweckt das Weib.

»Gerhard!«

Und sie entwand sich ihm. Fast ein Fortstoßen war es.

»Ich hab' dich ja so lieb!«

Mit heißen Worten flüsterte er es, noch ganz im Bann seiner Empfindungen. Es war das erstemal, daß seinem Munde das Geständnis entfloh. Doch in zitternder Entrüstung traf ihn ihr Blick.

»So küßt man keine Frau, die man achtet! Das tut kein Mann von Ehre.«

»Eke!«

Er schrak zusammen. Seine Hand streckte sich zu ihr hin. Aber sie wich davor zurück, als wäre sie unrein. Da erblaßte er. Mit einem kurzen Schritt trat er beiseite. Der Weg war ihr frei.

Einen Moment stand sie noch, wie wartend. Auf ein Wort der Abbitte. Doch als es nicht kam, trat sie an ihm vorüber.

Aus seinen Augen wich aller Glanz. Das konnte doch nicht sein! Denn wenn sie jetzt ging – dann war es ja aus. Sein Stolz kannte kein Nachgeben, lieber zugrunde gehen!

Wußte sie denn so wenig von ihm, daß sie das nicht ahnte? Oder ging sie – mit vollem Bewußtsein dessen?

In einem flehenden Beschwören klammerten sich seine Blicke an sie. Aber seine Lippen blieben fest zusammengebissen.

Und Eke ging wirklich, ohne das Haupt auch nur um eines Haares Breite noch einmal nach ihm zurückzuwenden. Nun verschwand sie hinter den Stämmen.

Er preßte die Hände ineinander, daß jeder Blutstropfen aus den Knöcheln trat. Und nun endlich ein Laut von seinen Lippen. Hart und schrill wie springendes Glas. Dann wandte auch er sich ab, nach der entgegengesetzten Richtung, stürmte vorwärts, irgendwohin. So wühlte er sich tief hinein in die Einsamkeit des Waldes, Wie ein Tier. das den tödlichen Schuß empfangen. –

Bis die Dunkelheit sich niedersenkte und ihm den Weg verlegte, lief Gerhard Bertsch hoch droben durch den Bergwald. Da mußte er umkehren, notgedrungen.

Als die Lichter von Rödig endlich vor ihm aufleuchteten, war es inzwischen völlig Nacht geworden, vom Kirchturm drunten im Unterdorf schlug es elf.

Die Rückkehr in die Nähe der Menschen, mit all ihrem Zwang, tat nun ihre Wirkung. Als ob er sich schämte, daß er sich so stundenlang seinem Schmerz hingegeben, kam eine schneidende Bitterkeit über ihn und ein wilder Trotz. Ein brennendes Verlangen nach irgendeiner Tat, um sich und ihr zu zeigen: Es war vorbei mit dem kurzen Narrenwahn.

So schritt er durch das Dorf hin, das schon in tiefem Schlummer lag. Es reizte seinen grimmigen Hohn auf. Philisterseelen, alle miteinander! Jetzt ein paar rechte Kumpane hier haben, Desperados wie die Kerls da drüben überm großen Wasser, und dann ein Bechern, voll bacchantischer Raserei, mit grausigem Nervenkitzel. Wüste Erinnerungsbilder schossen in seinem zuckenden Hirn auf: der kaltblaue Morgenschein über fahlen, trunkgedunsenen Gesichtern. Hallo, Jonny, die Wette gilt! Drei Schuß nach dem Pfeifenstummel in deinem Munde. Treff ich, hast du verloren – eine Runde Whisky. Fehl ich auch nur einmal, zahl ich drei!

So brandete es in ihm, wie er durch die nachtdunkle Dorfstraße hinschritt.

Nun bog er ab in das stille Seitengäßchen, das von hinten her zum Hirschen führte. An den Gärten mußte er hier vorbei, von allen Seiten schlug ihm der warme, duftgeschwängerte Hauch der Sommernacht entgegen.

Was das für eine Luft war! So seltsam schwül und schwer.

Er riß den Hut vom Kopfe, aber dennoch sog seine Brust den süßbetäubenden Atem der tausend Blüten ein. Gierig fast. Auf seine zuckenden Nerven legte es sich, sanft, schmeichelnd, wie eine weiche Frauenhand! Wohltuend, aber zugleich auch namenlos aufreizend.

Er war jetzt am Hirschen angelangt. Längs der Gartenmauer des Grundstücks ging er hin. Aber plötzlich stutzte er. Was war das für ein leises Rascheln gerade über ihm?

Ein Besinnen kam ihm, ein Erinnern. Sein Blick glitt nach oben. Über der Mauerbrüstung sah er es im Sternenlicht weiß aus den dunkeln Büschen schimmern. Wie ein weibliches Gewand. Da hielt er den Schritt an.

»Fräulein Reusch?«

Unwillkürlich hatte er die Stimme gedämpft. Und eine sonderbare Spannung schwang in ihm, wie er auf Antwort lauschte.

Nun kam sie.

»Ja – ich bin's.«

Da kehrte er sich ihr zu, deren Antlitz er jetzt auch ungewiß über sich wahrnahm, und legte die Arme auf die Brüstung.

»Was machen Sie denn noch hier im Garten – so spät?«

Eine kleine Pause. Dann die Entgegnung. Kühl, ablehnend – und doch! Seine erregt vibrierenden Sinne waren heute hellhörig, verbarg sich da bei ihr nicht etwas, wie sie so gleichgültig hinsagte:

»Ich sitze doch manchmal hier, noch des Abends. Es ist jetzt immer so schwül in den Zimmern. Und ich kann doch noch nicht schlafen.«

»So geht's mir auch!« Und es zuckte plötzlich etwas in ihm auf. Dunkel, dämonisch. »Wenn Sie erlauben – komme ich also noch auf ein Viertelstündchen in den Garten.«

Wieder ein Schweigen. Er fühlte dabei, wie es in seinen Pulsen allmählich zu pochen begann. Schneller und stärker – ein lockender, wilder Rhythmus.

Nun hatte sie sich entschieden. Ein Achselzucken:

»Ich kann es Ihnen nicht verbieten.«

Wie ein geheimes Frohlocken durchfuhr es ihn. Eilends glitten seine Arme von der Brüstung, und er ging zum Gartenpförtchen. Eine Minute später war er bei ihr. Sie saß auf dem erhöhten Platz an der Mauer, auf der kleinen Bank, die dort unter den Jasminbüschen stand.

»Guten Abend, Fräulein Marga!«

Sie überließ ihm ihre Hand. Die Berührung durchschauerte ihn. Noch nie hatte er es so wahrgenommen, wie weich diese Fingerspitzen waren. Und er hielt sie fest, während er sich neben ihr auf der Mauerbrüstung niederließ.

»Was Sie für wunderbare Hände haben, Fräulein Marga!«

Ein leises Auflachen. Ein feiner, spröder Klang. Doch suchte sie, von ihm freizukommen. »Sie dürfen sich Ihre Liebenswürdigkeiten bei mir ruhig sparen.«

»Warum?«

»Ich weiß nachgerade, was ich davon zu halten habe.«

»Das müssen Sie mir erst erklären.«

Nur fester noch umschlossen seine Hände ihre gegen ihn ankämpfenden Finger.

»Alles ist Ihnen nur Laune, Augenblicksstimmung.«

»Kennen Sie mich wirklich so schlecht, Fräulein Marga?«

»Vielleicht können Sie auch anders sein – anderswo. Aber was kümmert das mich? Ich bin mir jedenfalls zu gut für ein Spiel.«

Gewaltsam wollte sie ihm die Rechte entreißen. Aber wie mit eisernen Klammern hielt er sie. Der Streich hatte getroffen in die noch zuckende Wunde. Lodernd brannte alles wieder in ihm auf. Sein zertretener Mannesstolz, seine zertretene Liebe. Und plötzlich ein dämonisches Durchbrechen aus den Tiefen dunkler Triebe herauf.

»Sie irren, Marga.« Jäh beugte er sich vor. »Kein Spiel! Ich meine es, wie ich's sage.«

Ganz kalt wurde die schmale Hand in der seinen.

»Wie soll ich Ihnen das glauben?«

»Fühlen sollen Sie's!«

Und plötzlich brannten seine Lippen auf ihren Fingern.

Sie sprang empor.

»Herr Bertsch!«

»Marga, ich war ein Narr – war blind. Du bist so schön!«

Ehe sie es noch hindern konnte, hatte er sie schon an sich gerissen. Ein heftiges Aufzucken bei ihr, dann erstarb ihr Widerstand. Schwer atmend lag sie an seiner Brust. Die Augen geschlossen. Und während seine Küsse ihre Lippen sengten, ging es durch sie hin. Ein Lösen qualvoller, verzehrender Spannung, ein unhörbares Aufjauchzen befriedigten Ehrgeizes. Also nun doch am Ziel!

Aber wie seine Liebkosungen dann immer weiter auf sie einstürmten, atem- und sinnberaubend, da versank ihr langsam dies klare, verstandeskühle Bewußtsein. Der lodernde Brand sprang über auf sie. Nun war er der ihre – nach dessen harter, herrischer Mannheit sie sich so lange gesehnt! Ein Zittern lief durch ihre Glieder, die bisher wie betäubt seine Umarmung nur geduldet hatten, und plötzlich warf sie sich ihm entgegen. Ihre eigene Leidenschaft erwachte. Sie suchte und fand ihn.

* * *


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