Maxim Gorki
Drei Menschen
Maxim Gorki

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XXV

Als Ilja am Morgen des nächsten Tages erwachte, las er auf dem Abreißkalender die schwarze Ziffer »Dreiundzwanzig« und erinnerte sich, daß an diesem Tage die Verhandlung gegen Wjera stattfand. Er freute sich, daß er einen Anlaß hatte, den Laden zu verlassen, und empfand eine lebhafte Teilnahme für das Schicksal des Mädchens; rasch trank er seinen Tee aus und begab sich fast laufend nach dem Gerichtsgebäude. Man ließ ihn nicht hinein – eine Menschenmenge drängte sich an der Freitreppe und wartete, bis die Tür geöffnet wurde.

Lunew stand, mit dem Rücken gegen die Mauer gelehnt, an der Tür. Ein weiter, freier Platz dehnte sich vor dem Gerichtsgebäude, und mitten auf dem Platze stand eine große Kirche. Das Antlitz der Sonne erschien blaß und müde am Himmel, um sogleich wieder hinter dem Gewölk zu verschwinden. Fast in jeder Minute senkte sich weit hinten auf dem Platze ein großer, dunkler Schatten herab, kroch auf den Steinen vorwärts, kletterte an den Bäumen empor und schien so schwer, daß die Äste der Bäume sich förmlich unter ihm beugten; dann hüllte er die Kirche vom Fundament bis zum Kreuz hinauf ein, wälzte sich über sie hinweg und bewegte sich geräuschlos weiter auf das Gerichtsgebäude und die Menschen vor der Tür zu . . .

Diese Menschen sahen alle merkwürdig grau aus und hatten recht hungrige Gesichter; sie schauten einander mit müden Augen an und sprachen langsam. Einer von ihnen – ein Langhaariger in einem leichten, bis ans Kinn hinauf zugeknöpften Paletot und zerknittertem Hute – drehte mit den von der Kälte steifen Fingern seinen spitzen, fuchsroten Bart und scharrte ungeduldig mit den in schadhaften Schuhen steckenden Füßen. Ein anderer, in einem geflickten Wams ohne Ärmel und tief in die Augen gezogener Mütze, stand da, den Kopf auf die Brust gesenkt, die eine Hand im Hemdenlatz, die andere in der Tasche. Er schien zu schlafen. Ein ganz schwarzer, kleiner Kerl in einem Jackett und hohen Stiefeln, der einem Käfer glich, schien sich sehr zu beunruhigen: er hob sein spitzes, blasses Gesichtchen empor, blickte zum Himmel auf, pfiff, runzelte die Brauen, suchte mit der Zunge seinen Schnurrbart zu fassen und sprach mehr als alle andern.

»Öffnen sie denn noch nicht?« rief er, legte den Kopf auf die Seite und begann zu lauschen. »Nein . . . hm!« sprach er weiter. »Und 's ist doch schon spät . . . Sie sind nicht in die Bibliothek gegangen, mon cher?« fragte er den Langhaarigen.

»Nein, es ist zu früh . . .« versetzte dieser mürrisch.

»Verdammt kühl ist's heute, nicht wahr?«

»Wir würden schön zappeln, wenn wir das Gericht und die Bibliothek nicht hätten!« meinte der Langhaarige.

Der Schwarze zuckte schweigend die Achseln. Ilja betrachtete diese Leute und horchte auf ihre Gespräche. Er merkte, daß es dunkle Ehrenmänner einer gewissen Art waren, die von allerhand lichtscheuen Geschäften lebten, die Bauern betrogen, ihnen Bittschriften und allerhand sonstige Schriftstücke aufsetzten oder mit Bettelbriefen die Häuser abklapperten.

Ein Taubenpaar ließ sich auf dem Fahrdamm, nicht weit von der Freitreppe, nieder. Der dicke Tauber mit dem vorstehenden Kropf ging laut gurrend, von einer Seite immer nach der andern wackelnd, um die Taube herum.

»Fjuh!« pfiff der kleine Schwarze schrill. Der Mensch im Wams fuhr zusammen und hob den Kopf empor. Sein Gesicht war gedunsen, blau, mit gläsernen Augen.

»Ich kann Tauben nicht leiden«, bemerkte der Schwarze, während er den davonfliegenden Vögeln nachsah. »Sie sind so gefräßig . . . wie reiche Krämer . . . Und dann das ewige Girren . . . zuwider ist mir's! – Sind Sie angeklagt?« wandte er sich unerwartet an Ilja.

»Nein . . .«

Der Schwarze musterte Lunew vom Scheitel bis zu den Zehen und brummte vor sich hin:

»Das ist doch sonderbar . . .«

»Was ist sonderbar?« fragte Ilja lachend.

»Sie haben das Gesicht eines Angeklagten . . .« warf der Schwarze hin . . . »Aha, jetzt wird geöffnet!«

Er schlüpfte als erster in die offene Tür des Gerichtsgebäudes. Verblüfft durch seine Bemerkung, folgte ihm Ilja und stieß in der Tür mit dem Langhaarigen zusammen.

»Nicht so drängen, Flegel«, sprach dieser halblaut, versetzte seinerseits Ilja einen Stoß und trat vor ihm ein.

Dieser Stoß beleidigte Ilja nicht, sondern setzte ihn nur in Erstaunen.

»Merkwürdig!« dachte er. »Stößt hier, als ob er ein vornehmer Herr wäre und überall die erste Geige spielte – und ist doch ein solcher Jammerkerl . . .«

Im Gerichtssaal war es düster und still. Der lange, mit grünem Tuch überzogene Tisch, die Sessel mit den hohen Lehnen, die lebensgroßen Zarenporträts in den schweren Goldrahmen, die karmoisinroten Stühle für die Geschworenen, die lange hölzerne Bank hinter dem Gitter – alles das wirkte bedrückend auf das Gemüt und heischte Respekt. Die Fenster traten tief zurück in die grauen Wände, und die Segeltuchvorhänge fielen in dicken Falten über die Fenster herab, deren Scheiben dadurch matt erschienen. Die schweren Türen öffneten sich geräuschlos, und ohne Geräusch gingen auch alle die uniformierten Menschen in dem Saal hin und her. Lunew sah sich um, mit einem bangen Gefühl im Herzen; und als der Beamte verkündete, daß das »Gericht kommt«, zuckte er zusammen und sprang vor allen andern auf, ohne daß er wußte, daß der Brauch das Aufstehen verlangte.

Einer von den vier Menschen, die nun eintraten, war jener Gromow, der in dem Hause gegenüber von Iljas Laden wohnte. Er nahm auf dem mittleren Sessel Platz, fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar und zupfte den reich mit Gold gestickten Kragen seiner Uniform zurecht. Sein Gesicht beruhigte Ilja ein wenig: es war so gutmütig und rot wie immer, nur die Enden seines Schnurrbarts hatte Gromow nach oben gedreht. Rechts von ihm saß ein gemütlicher Alter, stumpfnasig, mit einer Brille auf den Augen und einem kleinen Bärtchen, und links ein Kahlkopf mit einem zweiteiligen roten Vollbart und gelbem, unbeweglichem Gesichte. Dann stand noch an dem Schreibpult ein junger Richter mit einem runden, glattgeschorenen Kopfe und hervorstehenden schwarzen Augen. Sie verharrten alle eine Zeitlang in Schweigen und blätterten in den Akten auf dem Tische; Lunew sah voll Respekt nach ihnen hin und erwartete, daß sogleich, im nächsten Augenblick, einer von ihnen sich erheben und laut und würdevoll irgendetwas sagen würde . . .

Aber plötzlich, als Ilja seinen Kopf nach links wandte, sah er das wohlbekannte, glänzende, gleichsam frisch lackierte Gesicht Petrucha Filimonows. Petrucha saß auf einem der karmoisinroten Stühle in der ersten Reihe, stützte sich mit dem Nacken gegen die Lehne des Stuhles und betrachtete ruhig das Publikum. Zweimal glitt sein Auge über Iljas Gesicht, und jedesmal verspürte Lunew in sich den Wunsch, aufzustehen und Petrucha oder Gromow oder allen Leuten im Saal etwas zuzurufen.

»Seht hin! . . . Er hat seinen Sohn ermordet! . . .« hätte er rufen mögen, und es war ihm, als brenne ihn etwas in der Kehle . . .

»Sie sind angeklagt . . .« begann Gromow zu irgend jemandem mit freundlicher Stimme; aber Ilja sah nicht, zu wem Gromow sprach: er sah nur in Petruchas Gesicht, ganz niedergedrückt von schweren Zweifeln und unfähig, sich mit der Tatsache abzufinden, daß dort ein Filimonow saß – als Richter! . . .

»Sagen Sie, Angeklagter,« sprach der Vorsitzende mit träger Stimme, während er sich die Stirn rieb – »Sie haben zu dem Krämer Anissimow gesagt: ›Wart', das will ich dir heimzahlen‹?«

Irgendwo drehte sich kreischend ein Luftfenster.

»J–u . . . i–u . . . i–u . . .«

Unter den Geschworenen sah Ilja noch zwei ihm bekannte Gesichter. Hinter Petrucha saß der Bauunternehmer Ssilatschew, ein großer Mensch mit langen Armen und einem kleinen, grimmig dreinschauenden Gesicht, ein Freund Filimonows, der immer mit ihm Puff spielte. Von Ssilatschew hieß es, er habe sich einmal auf dem Bau mit seinem Polier gezankt und diesen vom Gerüst gestoßen, was eine schwere Verletzung und den Tod des Poliers herbeigeführt habe. Und in der ersten Reihe, zwei Plätze von Petrucha entfernt, saß Dodonow, der Inhaber eines Engrosgeschäfts in Galanteriewaren, einer von Iljas Lieferanten, der schon zweimal Bankrott gemacht und seine Gläubiger mit zehn Prozent abgefunden hatte.

»Zeuge! Wann haben Sie gesehen, daß Anissimows Haus brannte? . . .«

»J–u . . . iju . . . ju . . . ju«, kreischte das Luftfenster, und auch in Ilja tönte es wie ein dumpfes Kreischen.

»Der Dummkopf!« flüsterte leise jemand in Iljas Nähe. Ilja wandte sich um und erblickte dicht neben sich den kleinen schwarzen Menschen, der ihn draußen vor dem Gerichtsgebäude angesprochen hatte.

»Wer ist ein Dummkopf?« fragte Ilja.

»Der Angeklagte . . . Hatte eine so schöne Gelegenheit, den Zeugen zu widerlegen – und hat sie verpaßt! Ich hätt' ihm . . . äh!«

Ilja warf einen Blick auf den Angeklagten, einen hochgewachsenen Bauern mit eckigem Kopfe. Sein Gesicht war finster, erschrocken, und er fletschte die Zähne wie ein müder, verprügelter Hund, der sich, von den Gegnern umgeben, in eine Ecke drückt und nicht mehr die Kraft hat, sich zu verteidigen. Petrucha aber, Ssilatschew, Dodonow und die andern schauten ruhig, mit satten Augen, auf ihn. Es schien Lunew, daß sie alle einig waren in dem Gedanken:

»Hast dich erwischen lassen – also bist du schuldig . . .«

»Es ist langweilig«, flüsterte der Nachbar Ilja zu. »Eine uninteressante Sache . . . Der Angeklagte ist dumm, der Staatsanwalt – eine Schlafmütze, und die Zeugen sind Tölpel, wie immer. Wenn ich so Staatsanwalt wäre – ich hätte ihn in zehn Minuten verspeist . . .«

»Ist er denn schuldig?« fragte Lunew, während ein frostiger Schauer ihn überlief.

»Ich glaube . . . kaum – aber verurteilen kann man ihn . . . Er versteht es nicht, sich zu verteidigen. Die Bauern verstehen das überhaupt nicht. Ein zu dämliches Volk! Nichts als Knochen und Fleisch – aber von Verstand und Fixigkeit: nicht die Spur!«

»Das stimmt . . .«

»Haben Sie ein Zwanzigkopekenstück?«

»Ja . . .«

»Geben Sie es mir . . .«

IIja zog seinen Geldbeutel hervor und gab ihm das Geldstück, noch bevor er es recht überlegt hatte, ob er es geben sollte oder nicht. Als er es bereits fortgegeben hatte, dachte er, während er seinen Nachbar mit unwillkürlicher Achtung von der Seite ansah:

»Der versteht's!«

»Meine Herren Geschworenen!« begann der Staatsanwalt mit sanfter, doch dabei eindringlicher Stimme. »Betrachten Sie einmal das Gesicht dieses Menschen – es ist beredter als die Aussagen der Zeugen, durch welche die Schuld des Angeklagten unwiderleglich festgestellt ist . . . Dieses Gesicht muß Sie mit Notwendigkeit davon überzeugen, daß vor Ihnen ein Feind der gesetzlichen Ordnung, ein Feind der Gesellschaft steht . . .«

Der Feind der Gesellschaft saß zwar, aber es mußte ihm wohl unschicklich erschienen sein, zu sitzen, während von ihm behauptet wurde, daß er stehe – und so erhob er sich langsam, mit gesenktem Kopfe. Seine Arme hingen kraftlos am Rumpfe herunter, und die ganze lange, graue Gestalt beugte sich vor, als wenn er sich vorbereitete, in den Schlund der Gerechtigkeit unterzutauchen . . .

Als Gromow die Unterbrechung der Sitzung ankündigte, ging Ilja mit dem schwarzen Kerlchen zusammen auf den Korridor hinaus. Der Schwarze zog aus der Tasche seines Jacketts eine zerdrückte Zigarette, glättete sie mit den Fingern und sagte:

»Er beteuert in einem fort, der dumme Kerl, daß er das Haus nicht angezündet hat. Aber hier hilft kein Beteuern, hier heißt es: Hosen runter – und feste drauf feuern! . . . Wir sind hier gestrenge Herren! Wie kann man einem Krämer die Bude ausräuchern?«

»Ist er schuldig oder nicht? Was meinen Sie?« fragte Ilja nachdenklich.

»Gewiß ist er schuldig, weil er eben – dumm ist. Kluge Leute pflegen nicht schuldig zu sein«, schwatzte der Kleine in seiner sicheren, raschen Weise, während er forsch seine Zigarette paffte.

»Unter den Geschworenen sitzen Leute . . .« begann Ilja leise und schwerfällig.

»Geschäftsleute meistenteils«, fiel der Schwarze ihm ruhig ins Wort.

Ilja sah ihn an und sagte: »Einige davon kenn' ich . . .«

»Aha! . . .«

»Böse Brüder . . . wenn man die Wahrheit sagen soll . . .«

»Spitzbuben«, meinte der Kleine. Er sprach ganz laut, ohne sich irgendeinen Zwang aufzuerlegen. Als er seine Zigarette zu Ende geraucht hatte, spitzte er den Mund, begann zu pfeifen und guckte alle Leute unverfroren an, während alles an ihm, jedes kleinste Knöchelchen, in hungriger Unruhe zuckte.

»Das kann schon sein, daß Spitzbuben darunter sind«, fuhr er fort. »Überhaupt ist die ganze sogenannte Justiz in den meisten Fällen nichts weiter als eine Art Komödie . . . von ganz leichter Art. Die satten Leute vertreiben sich damit die Zeit, die hungrigen Leute von ihren bösen Neigungen zu kurieren . . . Ich war schon sehr oft bei Verhandlungen – aber ich hab's noch nie erlebt, daß die Hungrigen über einen Satten zu Gericht gesessen hätten . . . Und wenn die Satten einen Satten verurteilen, dann geschieht 's höchstens wegen gar zu großer Gier . . . Sollst nicht alles für dich nehmen, sollst auch uns was lassen . . .«

»Man sagt ja auch: Der Satte kann den Hungrigen nicht verstehen«, bemerkte Ilja.

»Unsinn!« versetzte der Schwarze. »Ausgezeichnet versteht er ihn . . . Darum ist er auch so streng gegen ihn . . .«

»Ich will nichts dagegen sagen, wenn einer satt und ehrbar ist,« sagte Ilja halblaut, »aber wenn er satt ist und ein Schuft dazu – wie kann er dann einen Menschen richten?«

»Die Schufte sind die strengsten Richter«, versetzte das schwarze Kerlchen ruhig. »Na, jetzt wollen wir uns mal die Diebstahlsgeschichte anhören . . .«

»Die Angeklagte kenn' ich«, sagte Lunew leise.

»Ah!« rief das Kerlchen und musterte Ilja mit einem raschen Blick. »Wollen uns mal Ihre Bekannte ansehen . . .«

In Iljas Kopfe war es wirr und wüst. Er hätte den flinken kleinen Kerl, dem die Worte so glatt über die Lippen rollten wie Erbsen aus einem Sack, gerne noch manches gefragt, aber es war etwas Unangenehmes in dem ganzen Wesen dieses Menschen, das Lunew zurückschreckte. Im übrigen drückte die Vorstellung, daß ein Petrucha hier als Richter sitzen konnte, alles Denken in ihm nieder. Diese Vorstellung legte sich wie ein eiserner Ring um sein Herz und beengte darin den Raum für alles andere . . .

Als er an die Saaltür kam, bemerkte er in der Menge vor der Tür den kräftigen Nacken und die kleinen Ohren Pawel Gratschews. Er war erfreut, ihn zu sehen, zupfte ihn am Ärmel seines Paletots und verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. Auch Pawel lächelte, aber man sah es ihm an, daß er sich dazu zwang.

Sie standen ein paar Sekunden lang einander schweigend gegenüber.

»Bist hergekommen, um dir's anzusehen?« sagte Pawel.

»Und jene . . . ist sie da?« fragte Ilja verwirrt.

»Wer?«

»Deine Ssofia Nik . . .«

»Sie ist nicht ›meine‹ . . .« unterbrach ihn Pawel frostig.

Sie betraten beide den Saal.

»Komm, setz' dich zu mir!« schlug Lunew vor.

»Ja . . . siehst du . . . ich bin in Gesellschaft . . .« antwortete Pawel stotternd.

»Ach so . . . na, auch gut . . .«

»Auf Wiedersehen!«

Gratschew ging rasch nach der entgegengesetzten Seite. Ilja blickte ihm nach mit einem Gefühl, als ob Pawel ihm mit seiner Hand rauh über eine wunde Stelle am Körper gefahren wäre. Ein stechender Schmerz bemächtigte sich seiner. Es ärgerte ihn, daß Gratschew einen soliden, neuen Paletot trug, und daß sein Gesicht in diesen letzten Monaten eine gesündere, reinere Farbe bekommen hatte.

Auf der Bank, auf der Pawel Platz nahm, saß auch Gawriks Schwester. Pawel sprach etwas zu ihr, und sie wandte ihren Kopf rasch nach Lunew um. Als dieser ihr weit vorgestrecktes Gesicht auf sich gerichtet sah, wandte er sich ab, und seine Seele hüllte sich noch fester und dichter in Groll und Kränkung.

Man hatte Wjera in den Saal geführt: sie stand hinter dem Gitter in einem grauen, langen Rock ohne Taille und einem weißen Tuch auf dem Kopfe. Eine Strähne ihres goldblonden Haares drängte sich an der linken Schläfe unter dem Tuch hervor; die Wangen waren blaß, die Lippen fest geschlossen, und ihre weit geöffneten Augen sahen unbeweglich und ernst auf Gromow.

»Ja . . . ja . . . nein . . .« klang ihre Stimme matt in Iljas Ohren.

Gromow sah sie freundlich an und sprach mit ihr in gedämpftem, weichem Tone, wie wenn ein Kater schnurrte.

»Bekennen Sie sich, schuldig, Kapitanowa, daß Sie in jener Nacht . . .« kroch gleichsam seine geschmeidige, saftige Stimme an sie heran.

Lunew schaute auf Pawel, der mit tief vorgebeugtem Kopfe, die Augen zu Boden geschlagen, dasaß und seine Mütze in den Händen zerknüllte. Seine Nachbarin verharrte in kerzengerader Haltung und schaute drein, als ob sie selbst über alle – über Wjera, die Richter, das Publikum – zu Gericht säße. Ihr Kopf drehte sich bald nach der einen, bald nach der anderen Seite, um ihre Lippen spielte ein verächtlicher Zug, und unter den zusammengezogenen Brauen blitzten die stolzen Augen kalt und streng . . .

»Ich bekenne mich schuldig«, sagte Wjera. Ihre Stimme klirrte gleichsam, wie wenn man an eine gesprungene feine Tasse klopfte.

Zwei von den Geschworenen, Dodonow und sein Nachbar, ein rothaariger, glattrasierter Mensch, steckten die Köpfe zusammen, bewegten leise die Lippen und betrachteten das Mädchen mit lächelnden Augen. Petrucha Filimonow hatte sich mit dem ganzen Körper vorgebeugt: sein Gesicht war noch röter als sonst, und sein Schnurrbart zuckte. Auch von den andern Geschworenen schauten einige auf Wjera mit einem ganz besonderen Ausdruck, den Lunew richtig deutete, und der seinen Unwillen erregte.

»Sollen über sie Gericht halten – und starren sie schamlos an, die lüsternen Kerle!« dachte er und biß die Zähne fest aufeinander. Und er hatte nicht übel Lust, Petrucha zuzurufen:

»He, du – Spitzbube! Woran denkst du?«

Es stieg ihm etwas in die Kehle wie eine schwere Kugel, und es würgte ihn und benahm ihm den Atem . . .

»Sagen Sie mir, äh – Kapitanowa –« sprach der Staatsanwalt mit träger Stimme, während er die Augen herausdrückte wie ein Widder, dem die Hitze zusetzt – »beschäftigen Sie sich . . . äh – schon lange mit der Prostitution?«

Wjera fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wenn seine Frage sich an ihren errötenden Wangen festgeklebt hätte.

»Schon lange«, antwortete sie fest. Durch das Publikum ging ein Flüstern, als ob Schlangen über den Boden kröchen. Gratschew bückte sich noch tiefer, als wollte er sich verstecken, und zerknüllte seine Mütze in den Händen.

»Wie lange schon? . . .«

Wjera schwieg und sah ernst und streng, mit weit geöffneten Augen, Gromow ins Gesicht.

»Ein Jahr? Zwei Jahre? Fünf Jahre?« fragte der Staatsanwalt beharrlich.

Wjera schwieg noch immer. Grau, wie aus Stein gehauen, stand sie unbeweglich da, nur die Enden des Kopftuches bewegten sich auf ihrer Brust.

»Sie haben das Recht, nicht zu antworten, wenn Sie nicht wollen«, sprach Gromow und fuhr mit der Hand über seinen Schnurrbart.

Da sprang der Advokat auf, ein magerer Mensch mit spitzem Bärtchen und länglichen Augen. Seine Nase war dünn und lang und sein Nacken breit, was sein Gesicht einem Beile ähnlich erscheinen ließ.

»Sagen Sie, Kapitanowa, was hat Sie veranlaßt, sich . . . diesem Gewerbe zu ergeben?« fragte er mit hellklingender, scharfer Stimme.

»Nichts hat mich veranlaßt«, antwortete Wjera und sah ihre Richter an.

»Hm . . . das stimmt doch nicht ganz . . . Sehen Sie . . . mir ist bekannt . . . Sie haben mir erzählt . . .«

»Nichts ist Ihnen bekannt«, sprach Wjera. Sie wandte den Kopf nach ihm hin, maß ihn mit ihren Blicken und fuhr unwillig fort:

»Nichts hab' ich Ihnen erzählt . . .«

Sie ließ ihre Augen über das Publikum hinschweifen, wandte sich dann zum Richtertisch und fragte, mit dem Kopfe nach dem Verteidiger nickend:

»Darf ich ihm die Antwort verweigern?«

Wiederum war es, als ob Schlangen durch den Saal huschten, aber diesmal zischten sie schon lauter und kräftiger. Ilja zitterte vor Aufregung und blickte auf Gratschew.

Er erwartete von ihm irgend etwas, erwartete es ganz bestimmt. Aber Pawel, der hinter seinem Vordermann hervorlugte, schwieg und rührte sich nicht. Gromow lächelte und sagte etwas mit glatten, süßlichen Worten. Dann sprach Wjera mit leiser, doch fester Stimme:

»Ich wollte reich sein, ganz einfach . . . Darum nahm ich's, und weiter liegt nichts vor . . . Bin immer so gewesen . . .«

Die Geschworenen begannen miteinander zu flüstern. Ihre Gesichter verfinsterten sich, und auch auf den Gesichtern der Richter zeigte sich Unzufriedenheit. Im Saal war es still geworden; von der Straße her vernahm man ein gleichmäßiges, dumpfes Geräusch von Schritten – Soldaten marschierten vorüber.

»In Anbetracht des Geständnisses der Angeklagten würde ich vorschlagen . . .« so begann der Staatsanwalt sein Plaidoyer.

Ilja hielt es auf seinem Platze nicht länger aus. Er erhob sich und begann auf und ab zu schreiten.

»Ruhig da!« rief laut der Gerichtsdiener.

Da setzte er sich wieder und neigte, gleich Pawel, den Kopf auf die Brust. Er konnte das rote Gesicht Petruchas nicht sehen, das jetzt einen aufgeblasenen, wichtigtuerischen Ausdruck hatte, als wenn es durch etwas beleidigt wäre. Und in dem unverändert liebenswürdigen Gromow sah er hinter dem nachsichtigen Richter den Menschen mit dem eisig kalten Herzen und begriff, daß dieser allezeit heitere Herr gewohnt war, Menschen zu richten, wie ein Tischler gewohnt ist, Bretter zu hobeln. Und durch Iljas Seele zuckte der bittre Gedanke:

»Wenn ich bekennen wollte – dann würden sie mich ganz ebenso richten: Petrucha würde mich verurteilen! . . . In die Zwangsarbeit würde er mich schicken, er selbst aber würde hier bleiben . . .«

Ilja vertiefte sich in diesen Gedanken und saß da, ohne irgend jemand anzuschauen oder auf etwas zu hören.

»Ich will nicht, daß ihr darüber redet!« rief Wjera laut durch den Saal mit zitternder Stimme, im Tone tiefer Kränkung. Und sie begann zu schreien, faßte mit den Händen nach ihrer Brust und riß sich das Tuch vom Kopfe.

»Ich will nicht . . . Ich will nicht!«

Wirrer Lärm erfüllte den Saal. Alle waren durch das Geschrei des Mädchens in Aufregung versetzt. Wjera aber warf sich hinter dem Gitter hin und her, als hätte sie sich verbrannt, und brach in herzzerreißendes Schluchzen aus.

Ilja stand auf und wollte sich vorwärts stürzen, aber das Publikum riß ihn mit fort, und plötzlich sah er sich auf den Korridor hinausgedrängt.

»Ihre Seele haben sie entblößt!« vernahm er die Stimme des kleinen Schwarzen.

Pawel Gratschew stand bleich und verstört an der Wand, seine Kinnlade bebte. Ilja trat auf ihn zu und sah mit finstren, boshaften Augen in das Gesicht des alten Freundes.

»Was nun?« sprach er bitter zu Pawel. Dieser sah ihn an, öffnete den Mund und fand keine Worte.

»Hast einen Menschen auf dem Gewissen«, sagte Lunew zu ihm.

Da fuhr Pawel zusammen, als ob ein Peitschenhieb über seinen Rücken gesaust wäre, hob die Hand empor, legte sie auf Lunews Schulter und fragte erregt:

»Bin ich wirklich schuld? Wir werden appellieren.«

Ilja befreite seine Schulter von Pawels Hand. Er wollte ihm zurufen:

»Ja, du bist schuld! Hättest frei hinausrufen sollen, daß sie für dich gestohlen hat!«

Aber statt dessen sagte er:

»Und Petrucha Filimonow ist ihr Richter! . . . Ist das Gerechtigkeit, wie?« Und er lächelte.

Pawel richtete sich auf, sein Gesicht wurde rot, und er begann hastig irgend etwas darzulegen, doch Lunew hörte nicht auf ihn, sondern wandte sich zum Gehen.

Mit einem Lächeln um den Mund trat er auf die Straße hinaus und ging langsam weiter. Bis zum Abend wanderte er wie ein verlaufener Hund von Straße zu Straße, bis ein herbes Hungergefühl ihn aus seinem Brüten weckte.


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