Maxim Gorki
Drei Menschen
Maxim Gorki

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XVI

Am Abend desselben Tages ward Ilja gezwungen, das Haus des Petrucha Filimonow zu verlassen. Es geschah dies in folgender Weise. Als er aus der Stadt zurückkehrte, empfing ihn im Hofe der Onkel mit ganz verzagtem Gesichte, führte ihn in den Winkel hinter einem Holzstoß und sagte dort:

»Nun, Iljuschka, jetzt mußt du fort von hier . . . Was es hier bei uns heut' gegeben hat!«

Der Bucklige schloß in seiner Angst die Augen, fuchtelte mit den Armen und schlug sich auf die Hüften.

»Jaschka hat sich betrunken und seinem Vater ins Gesicht gesagt: Du Dieb! . . . Und noch andere böse Worte sagte er: schamloser Lüstling, herzloser Wicht . . . wie ein Wahnsinniger hat er geschrien! . . . Und Petrucha schlug ihn in die Zähne, riß ihn bei den Haaren, trat ihn mit den Füßen und so weiter . . . ganz blutig schlug er ihn! Jetzt liegt Jaschka in der Stube und stöhnt . . . Und dann fing Petrucha mit mir an: Du bist schuld, brüllte er. Bring mir den Ilja weg! . . . Du habest nämlich, meint er, den Jaschka gegen ihn aufgehetzt . . . Ganz fürchterlich schrie er . . . Zum Erschrecken war's . . .«

Ilja nahm den Riemen von seiner Schulter, reichte seinen Kasten dem Onkel hin und sagte:

»Halt mal . . .«

»Wart' doch! Wohin denn? . . .«

Die Hände zitterten Ilja vor Wut über Petrucha und aus Mitleid mit Jakow.

»Halt mir den Kasten, sag' ich . . .« sprach er ungeduldig zu Terentij und ging in die Schenke hinein. Er biß die Zähne so fest aufeinander, daß ihm die Kiefer weh taten und ein Sausen ihm durch den Kopf ging. Mitten durch dieses Sausen hörte er, wie der Onkel ihm irgend etwas von der Polizei, von sich zugrunde richten, vom Gefängnis nachrief, doch ließ er sich nicht aufhalten.

In der Schenke stand Petrucha hinter dem Büfett und unterhielt sich lächelnd mit einem zerlumpten Menschen. Auf seinen kahlen Kopf fiel das Licht der Lampe, und es schien, als lächle sein glänzender Schädel zufrieden mit.

»Ach, Herr Kaufmann!« rief er spöttisch bei Iljas Anblick und zog finster die Brauen empor. »Du kommst mir gerade recht . . .«

Er stand vor der Tür zu seinem Zimmer, die er mit seiner Gestalt verdeckte. Ilja ging an ihn heran, barsch und trotzig, und sagte laut:

»Tritt zur Seite!«

»Wa–as?« fragte Petrucha gedehnt.

»Laß mich durch . . . ich will zu Jakow!«

»Ich will dir den Jakow anstreichen!«

Ohne ein Wort zu sagen, holte Ilja mit aller Kraft aus und schlug Petrucha auf die Backe. Der Büfettier brüllte laut auf und stürzte zu Boden. Aus allen Winkeln eilten die Kellnerburschen herbei, und irgend jemand schrie:

»Haltet ihn! Haut ihn! . . .«

Die Gäste sprangen auf, als wenn sie plötzlich mit heißem Wasser begossen worden wären. Aber Ilja sprang über Petrucha hinweg, ging durch die Tür ins Zimmer und verriegelte sie hinter sich. In dem kleinen Zimmer, das ganz mit Weinkisten und allerhand Koffern verstellt war, brannte flackernd eine Blechlampe. In dem engen, dunklen Raume sah Lunew den Freund nicht sofort. Jakow lag auf dem Boden, sein Kopf war im Schatten, und sein Gesicht erschien ganz schwarz und schrecklich entstellt. Ilja nahm die Lampe in die Hand, kauerte sich nieder und betrachtete den Mißhandelten bei Lichte. Blaue Flecke und Beulen bedeckten Jakows Gesicht gleich einer scheußlichen, dunklen Maske. Seine Augen waren ganz verschwollen. Er atmete schwer und ächzte und sah offenbar nichts, denn er fragte, als Ilja eingetreten war:

»Wer ist da?«

»Ich bin es«, sprach Lunew leise, während er sich aufrichtete.

»Gib mir zu trinken!«

Ilja wandte sich um. Es wurde laut gegen die Tür gepocht, und irgend jemand rief:

»Von der Hintertreppe aus wollen wir's versuchen . . .«

Petruchas winselnde Stimme ließ sich durch den Lärm vernehmen:

»Ich hab' ihn nicht angerührt . . .«

Ilja lächelte schadenfroh. Er trat vor und begann durch die Tür hindurch mit den Belagerern zu verhandeln.

»Heda, ihr da draußen, hört auf zu grölen! Wenn er eins ins Maul gekriegt hat, dann wird er nicht gleich krepieren, und ich krieg' meine Strafe vom Gericht. Mischt euch also nicht ein . . . drängt nicht so gegen die Tür, ich mach' gleich auf . . .«

Er öffnete die Tür und stand in der Öffnung wie in einem Rahmen, indem er für den Fall eines Angriffs die Fäuste ballte. Die Andrängenden wichen vor seiner kraftvollen Gestalt und seiner kampfbereiten Miene zurück. Nur Petrucha brüllte, die andern zur Seite stoßend:

»Aha–a, du Räuber! . . .«

»Schiebt ihn mal beiseite und seht hierher – bitte, wenn's gefällig ist!« rief Ilja, während er die Gäste zum Nähertreten einlud. »Seht's euch mal an, wie er den armen Menschen zugerichtet hat!«

Etliche der Gäste traten, indem sie Ilja von der Seite anschielten, ins Zimmer und beugten sich über Jakow. Einer von ihnen sprach ganz bestürzt und erschüttert:

»Der ist ja geradezu verstümmelt!«

»Bringt Wasser!« sprach Ilja. »Und dann muß die Polizei geholt werden . . .«

Die Gäste waren auf seiner Seite, er merkte es an ihren Mienen und sagte laut und mit scharfer Betonung:

»Ihr alle kennt Petruschka Filimonow und wißt, daß er der größte Betrüger in der ganzen Straße ist . . . Wer aber kann von seinem Sohne etwas Böses sagen? Nun – und eben dieser Sohn liegt hier, ganz blutig geschlagen, vielleicht ein Krüppel für sein ganzes Leben, und seinem Vater wird dafür nichts geschehen. Ich habe Petruschka nur einen Schlag versetzt – dafür wird man mich verurteilen . . . Ist das recht und billig? Ist das der Gerechtigkeit gemäß? Und so ist's in allem – dem einen ist alle Willkür erlaubt, und der andere darf nicht mit der Wimper zucken . . .«

Ein paar von den Anwesenden seufzten mitleidvoll, andere gingen schweigend aus dem Zimmer. Petrucha trieb alle mit quiekender Stimme zur Tür hinaus.

»Geht! Geht! Das ist hier meine Angelegenheit . . . es ist mein Sohn! Macht, daß ihr fortkommt . . . Vor der Polizei hab' ich keine Angst . . . und auch das Gericht brauch' ich nicht . . . Ich werde mit dir auch so fertig werden, mein Lieber . . . Mach', daß du hinauskommst!«

Ilja kniete am Boden, reichte Jakow ein Glas Wasser und sah mit tiefem Mitgefühl die zerschlagenen, verschwollenen Lippen des Freundes. Jakow trank das Wasser und sagte flüsternd:

»Das Atmen wird mir so schwer . . . Bring' mich aus dem Hause . . . Iljuscha, mein Lieber! . . .«

Aus den verschwollenen Augen flossen Tränen über seine Wangen.

»Er muß ins Krankenhaus gebracht werden«, sprach Ilja finster, zu Petrucha gewandt.

Der Büfettier sah auf seinen Sohn und murmelte irgend etwas unverständlich vor sich hin. Das eine seiner Augen war weit geöffnet, das andere gleichfalls, wie bei Jakow, von Iljas Faustschlag dick aufgeschwollen.

»Hast du gehört?« schrie Ilja ihn an.

»Schrei nicht so!« sprach Petrucha auffallend still und friedlich. »Ins Krankenhaus kann er nicht gebracht werden – das gibt 'nen Skandal und schadet meiner Reputation! . . .«

»Alter Schurke!« sagte Ilja und spuckte verächtlich vor Filimonow aus. »Ich sage dir – bring' ihn ins Krankenhaus! Tust du's nicht – dann gibt's noch 'nen ganz andren Skandal . . .«

»Nun, nun, nun! . . . Ärgre dich nicht! Glaub' mir's, er verstellt sich nur . . .«

Ilja sprang empor bei diesen Worten, aber Filimonow stand schon an der Tür und rief einem Kellner zu:

»Iwan, hol' rasch eine Droschke – ins Krankenhaus, in die letzte Klasse! . . . Jakow, zieh dich an . . . Verstell' dich nicht länger . . . Es war kein Fremder, der dich geschlagen hat, sondern dein eigner Vater . . . Ich wurde noch ganz anders geprügelt!«

Er lief im Zimmer auf und ab, nahm Jakows Kleider von der Wand und warf sie Ilja zu, wobei er immer wieder eifrig zu erzählen wußte, wieviel Prügel er in seiner Jugend erhalten habe . . .

Hinter dem Büfett stand Onkel Terentij. In Iljas Ohr klang seine höfliche, schüchterne Stimme:

»Wieviel soll ich eingießen? Für drei oder für fünf Kopeken? . . . Etwas Kaviar? Kaviar ist leider ausgegangen. Vielleicht essen Sie ein Sardinchen . . .«

Am nächsten Tage mietete Ilja sich ein Quartier – ein kleines Zimmerchen neben einer Küche. Eine Dame in einem roten Jäckchen vermietete es ihm. Ihr Gesicht war rosig, mit einem keck geschwungenen Vogelnäschen und einem niedlichen kleinen Munde; die schmale Stirn war von schwarzem Lockenhaar eingerahmt, das sie häufig mit einer raschen Bewegung ihrer feinen, kleinen Hand zurechtstrich.

»Fünf Rubel für ein so hübsches Zimmerchen – das ist nicht teuer!« sagte sie lebhaft und lächelte, als sie sah, daß ihre dunklen, munteren Äuglein den breitschultrigen jungen Burschen in einige Verlegenheit brachten. »Die Tapeten sind ganz neu . . . das Fenster geht auf den Garten hinaus – was wünschen Sie noch mehr? Frühmorgens stell' ich Ihnen den Samowar hin – hineintragen müssen Sie ihn sich schon selbst . . .«

»Sind Sie hier das Stubenmädchen?« fragte Ilja neugierig.

Die Dame hörte auf zu lächeln, ihre Augenbrauen zuckten, und während sie sich hoch aufrichtete, sagte sie würdevoll: »Ich bin kein Stubenmädchen, sondern die Inhaberin dieser Wohnung, und mein Mann . . .«

»Sind Sie denn verheiratet?« rief Ilja erstaunt und sah ungläubig auf ihre schlanke, zierliche Gestalt.

Diesmal ärgerte sie sich nicht, sondern lachte hell und munter.

»Wie komisch Sie sind!« sagte sie. »Bald halten Sie mich für ein Stubenmädchen, bald wollen Sie nicht glauben, daß ich verheiratet bin . . .«

»Wie soll ich's denn glauben, wenn Sie ganz wie ein junges Mädchen aussehen?« sprach Lunew gleichfalls lachend.

»Ich bin schon im dritten Jahre verheiratet, und mein Mann ist Revieraufseher . . .«

Ilja sah ihr ins Gesicht und lächelte still – er wußte selbst nicht, weshalb.

»Was für ein Sonderling!« rief die Dame achselzuckend, während sie Ilja neugierig musterte. »Na, wie ist's also – mieten Sie das Zimmer?«

»Abgemacht! Soll ich ein Angeld geben?«

»Natürlich!«

»In zwei, drei Stunden zieh' ich ein . . .«

»Bitte sehr . . . Ich freue mich, einen solchen Mieter zu haben . . . Sie sind, wie es scheint, ein lustiger Herr . . .«

»Nicht besonders lustig . . .« sagte Lunew lächelnd.

Er trat schmunzelnd, mit einem angenehmen Gefühl in der Brust, auf die Straße hinaus. Ihm gefiel sowohl das Zimmer mit den blauen Tapeten als auch das kleine, flinke Frauchen. Ganz besonders angenehm aber schien es ihm, daß er bei einem Revieraufseher wohnen sollte. Er fand darin etwas Spaßhaftes, eine gewisse Ironie, und zugleich eine Gefahr für seine Person. Er wollte Jakow im Krankenhause besuchen, und um recht schnell hinzukommen, nahm er eine Droschke. Während der Fahrt dachte er darüber nach, was er mit seinem Gelde anfangen, wo er es verstecken sollte.

Im Krankenhause sagte man ihm, daß Jakow vor einer Weile ein Wannenbad genommen habe und jetzt schlafe. Ilja blieb im Korridor am Fenster stehen und wußte nicht, was er beginnen – ob er fortgehen oder warten sollte, bis Jakow erwacht wäre. An ihm vorüber schritten, leise mit den Pantoffeln schlurrend, hintereinander die Kranken in ihren gelben Schlafröcken und schauten ihn mit vergrämter Miene an. In ihr halblautes Geflüster klang ein schmerzliches Gestöhn, das irgendwoher aus der Ferne herüberhallte . . . Ein dumpfes Echo, das jeden Laut verstärkte, tönte durch den langgestreckten Korridor . . . Es war, als ob in der von Gerüchen erfüllten Luft des Krankenhauses unsichtbar und geräuschlos irgend jemand dahinschwebte und ächzend klagte . . .

Es drängte Ilja, diese gelben Mauern so rasch wie möglich zu verlassen. Da trat einer der Kranken auf ihn zu, streckte ihm die Hand hin und sagte leise:

»Sei gegrüßt! . . .«

Lunew blickte auf und trat erstaunt einen Schritt zurück.

»Pawel? Auch du bist hier?«

»Wer ist denn noch da?« fragte Gratschew rasch. Sein Gesicht war eigentümlich grau, seine Augen blinzelten unruhig und verlegen.

Ilja erzählte ihm kurz, was mit Jakow vorgefallen war, und rief dann aus:

»Und du – wie verändert siehst du aus!«

Pawel seufzte; seine Lippen zuckten, und er senkte den Kopf, als ob er sich schuldig fühlte.

»Verändert seh' ich aus?« versetzte er mit heiser flüsternder Stimme.

»Was fehlt dir denn?« fragte Lunew teilnehmend.

»Was mir fehlt? Kannst dir's wohl denken . . .«

Pawel blickte flüchtig in Iljas Gesicht und ließ den Kopf wieder sinken.

»Hast du dich angesteckt?« fragte Lunew flüsternd.

»Leider . . .«

»Doch nicht von Wjera?«

»Von wem denn sonst?« antwortete Pawel düster.

Ilja schüttelte den Kopf.

»So wird's wohl auch mir einmal gehen«, meinte er.

Pawel blickte ihm zutraulich in die Augen und sagte:

»Ich dachte, du würdest dich vor mir ekeln . . . Ich geh' hier spazieren und seh' mit einemmal: Ilja! . . . Ich schämte mich und wandte mich erst ab, als ich an dir vorüberging . . .«

»Das war mal schlau«, sagte Ilja vorwurfsvoll.

»Wer kann's gleich wissen, wie jemand darüber denkt? 's ist eine widerwärtige Krankheit. Schon die zweite Woche sitz' ich hier . . . Was für eine Qual, was für eine Langeweile! . . . Die Nächte besonders sind schlimm – als ob man auf glühenden Kohlen läge . . . Die Zeit zieht sich so lang hin, wie ein Haar in der Milch . . . Es ist, als zöge dich etwas in einen Sumpf hinein, und du könntest niemand zu Hilfe rufen . . .«

Er sprach fast flüsternd, und sein Gesicht zuckte, während die Hände krampfhaft an den Schößen des Schlafrocks herumzupften.

»Wo ist denn Wjera?« fragte Ilja nachdenklich.

»Der Teufel mag's wissen«, sprach Gratschew mit bitterem Lächeln.

»Besucht sie dich nicht?«

»Einmal war sie da – aber ich hab' sie fortgejagt . . . Nicht sehen kann ich sie, die gemeine Dirne!« flüsterte Pawel zornig.

Ilja blickte vorwurfsvoll in sein entstelltes Gesicht und sprach: »Schwatz' nicht so törichtes Zeug! Wenn du Gerechtigkeit verlangst, dann sei auch selber gerecht . . . Worin liegt denn ihre Schuld?«

»Wen soll ich sonst beschuldigen?« rief Pawel leidenschaftlich, wenn auch mit gedämpfter Stimme. »Wen? Ich lieg' oft die ganze Nacht da und denke darüber nach, wie es kommt, daß mein Leben so verpfuscht ist. Ob es wohl davon kommt, daß ich Wjera so lieb gewann? . . . Wie ich sie geliebt habe, ist nicht mit Worten zu sagen, noch mit Sternenschrift an den Himmel zu schreiben . . .«

Pawels Augen röteten sich, und zwei große Tränen rollten von ihnen nieder. Er wischte sie mit dem Ärmel seines Schlafrocks von den Wangen ab.

»Alles das sind leere Worte«, sagte Lunew, der Wjera noch mehr bedauerte als Pawel . . . »Du hast den Met getrunken und hast ihn gerühmt, er sei stark! Und jetzt, da du betrunken bist, schiltst du, daß er berauschend sei. . . . Wie steht's denn mit ihr? Sie ist doch auch angesteckt?«

»Gewiß, auch sie ist's«, sprach Pawel und fuhr dann mit bebender Stimme fort: »Meinst du, sie tue mir nicht auch leid? Als ich sie fortjagte und sie von mir ging und zu weinen begann . . . so ganz leise, so bitterlich, da krampfte sich mir das Herz zusammen . . . Selbst hätt' ich weinen mögen, doch ich hatte in jener Stunde nur Steine in meiner Seele . . . Und da begann ich über alles das nachzudenken . . . Ach, Ilja, das Leben meint es nicht gut mit uns . . .«

»Ja«, sprach Lunew gedehnt, mit seltsamem Lächeln. »Es geht schon merkwürdig zu . . . hier im Leben! Es hat uns alle an der Kehle gepackt und würgt und würgt uns. Dem armen Jakow verbittert sein Vater das Leben, Maschutka wird an einen alten Satan verkuppelt, du steckst hier im Spital . . .«

Er begann plötzlich leise zu lächeln und sagte in gedämpftem Tone:

»Nur ich allein habe Glück! Sobald ich mir etwas wünsche – bitte, es steht bereit!«

»Es gefällt mir nicht, was du da sagst«, sprach Pawel und musterte ihn forschend. »Machst dich über dich lustig, wie?«

»Nein – es ist ein anderer, der sich über mich lustig macht! Über uns alle macht sich irgend jemand lustig . . . Wohin ich sehe im Leben – nirgends gibt es Gerechtigkeit . . .«

»Das sehe auch ich«, rief Pawel leise, doch aus seinem Innersten heraus. Auf seinen Wangen wurden rote Flecke sichtbar, und seine Augen funkelten hell und lebhaft wie früher, da er noch gesund war.

Sie standen in einem halbdunklen Winkel des Korridors, neben dem Fenster, dessen Scheiben mit gelber Farbe bestrichen waren, und hier, dicht aneinandergeschmiegt, redeten sie leidenschaftliche Worte, und jeder von ihnen suchte die Gedanken des andern gleichsam im Fluge zu erhaschen. Irgendwoher aus der Ferne ertönte ein langgedehntes Stöhnen, ähnlich dem dumpfen Klange einer Saite, die irgend jemand in bestimmten Zwischenräumen anschlägt, und die erzittert und hoffnungslos weiterklingt, als wüßte sie, daß nirgends ein lebendiges Herz ist, welches fähig wäre, ihr schmerzliches Zittern zu beschwichtigen. Pawel war entflammt von Empörung über die Kränkungen, die das Leben ihm mit schwerer Hand zugefügt hatte. Auch er zitterte, wie jene Saite, vor Erregung und flüsterte hastig, ohne Zusammenhang, dem Freunde seine Beschwerden und Anklagen zu. Ilja fühlte, daß Pawels Worte ihm wie Funken aus dem Herzen sprangen und in seiner eigenen Brust jenes dunkle, widerstrebende Etwas weckten, das ihn immer wieder beunruhigte. Es war ihm, als wäre an Stelle der Zweifel, mit denen er bisher dem Leben gegenübergestanden hatte, jetzt mit einemmal etwas anderes in seiner Seele aufgelodert, das ihre Finsternis erhellen und ihr für immer Ruhe schaffen würde.

»Warum bist du heilig und unverletzbar, wenn du satt bist, warum hast du recht, wenn du gelehrt bist?« flüsterte Pawel, während er Herz an Herz neben Ilja stand. Und er schaute ringsum, wie wenn er die Nähe des Feindes witterte, der sein Leben so verpfuscht hatte.

»Wer wird unsere Worte verstehen? Wir sind allen fremd . . .« sagte Ilja hart.

»So ist's . . . mit wem sollen wir reden?« versetzte Pawel und verstummte dann.

Lunew schaute, in Nachdenken versunken, vor sich hin in die weite Korridorflucht. Das dumpfe Stöhnen ließ sich wieder vernehmen – jetzt, da sie schwiegen, unterschied man es deutlicher. Es war, als ob es aus der Brust eines großen, starken Wesens käme, die einen schweren Schmerz erlitt . . .

»Bist du immer noch mit Olympiada zusammen?« fragte Pawel den Freund.

»Ja – noch immer«, antwortete Ilja. »Und denk' dir,« sagte er dann lächelnd, in gedämpftem Tone – »Jakow ist jetzt mit seinem Lesen glücklich so weit gekommen, daß er an Gott zweifelt . . .«

»Wirklich?« fragte Pawel obenhin, während er ihm ins Gesicht sah.

»Ja . . . Er hat solch ein Buch gefunden . . . Und du – wie denkst du über diesen Punkt?«

»Ich, siehst du . . .« sagte Pawel leise und nachdenklich – »ich hab' darüber nicht weiter nachgedacht . . . In die Kirche geh' ich nicht . . .«

»Und ich denk' viel darüber nach . . . Ich kann nicht begreifen, wie Gott das alles duldet . . .«

Wieder begannen sie in hastigem Gespräch miteinander zu reden. Und ganz in ihre Unterhaltung vertieft, blieben sie so lange beieinander, bis ein Wärter auf sie zutrat und Lunew in strengem Tone fragte:

»Was versteckst du dich hier – he?«

»Ich verstecke mich nicht . . .« sagte Ilja.

»Siehst du nicht, daß bereits alle Besucher fort sind:«

»Hab's nicht gesehen . . . leb' wohl, Pawel! Besuch' auch Jakow einmal! . . .«

»Na, vorwärts, vorwärts . . . raus!« rief der Wärter.

»Komm bald wieder!« bat ihn Gratschew.

Auf der Straße versank Lunew in Nachsinnen über das Schicksal seiner Freunde. Er sagte sich, daß es ihm doch noch besser ging als den andern. Aber dieses Bewußtsein bereitete ihm durchaus keine Befriedigung. Er lächelte nur und schaute mißtrauisch um sich . . .


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