Maxim Gorki
Drei Menschen
Maxim Gorki

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XX

Endlich hatte Ilja Lunews Traum sich verwirklicht.

Von stiller Freude erfüllt, stand er vom Morgen bis zum Abend hinter dem Verkaufstisch seines Ladens und schwelgte im Anblick all der Herrlichkeiten, die ihn rings umgaben. In den Regalen an den Wänden prangten, in strenger Ordnung aufgestellt, die Schachteln und Kartons; das Schaufenster hatte er nett ausgeputzt – glänzende Schnallen, Portemonnaies, Seife, Knöpfe waren darin ausgelegt, und farbige Bänder und Spitzen hingen umher. Alles das sah hübsch bunt und sauber aus. Der solide, stattliche Inhaber des Ladens empfing seine Kunden mit einer höflichen Verbeugung und breitete mit Geschick die Waren vor ihnen auf dem Ladentische aus. Das Rauschen der Spitzen und Bänder war für seine Ohren eine angenehme Musik, und die Näherinnen der Umgegend, die bei ihm für ein paar Kopeken irgend etwas kauften, fand er alle gar schön und lieblich. Das Leben erschien ihm mit einemmal so leicht und angenehm, es hatte einen so einfachen, klaren Sinn, und die Vergangenheit war wie in Nebel eingehüllt. Und er hatte nichts andres im Kopfe als seine Waren, seine Kunden, sein Geschäft . . .

Ilja hatte einen kleinen Laufburschen angenommen, er ließ ihm eine hübsche graue Jacke machen und achtete sorgfältig darauf, daß der Junge sich sauber wusch und überhaupt so rein wie möglich hielt.

»Wir handeln beide mit so niedlichen Sachen, Gawrik,« sprach er zu dem Burschen, »da müssen wir uns auch selbst sauber halten.«

Gawrik war ein Junge von zwölf Jahren mit runden Backen, etwas pockennarbig, mit einem Stutznäschen, kleinen grauen Augen und einem beweglichen Gesichtchen. Er hatte eben die städtische Schule beendet und hielt sich für einen erwachsenen, ernsthaften Menschen. Auch ihm bereitete es Vergnügen, in dem sauberen kleinen Laden beschäftigt zu sein; es machte ihm Spaß, mit den Schachteln und Kartons herumzuhantieren, und er bemühte sich, der Kundschaft gegenüber im Punkte der Höflichkeit nicht hinter seinem Prinzipal zurückzubleiben.

Ilja beobachtete den Jungen und erinnerte sich der Zeit, da er selbst in dem Fischladen des Kaufmanns Strogany tätig gewesen war. Er fühlte eine ganz besondere Zuneigung zu dem Bürschchen, scherzte mit ihm freundlich und unterhielt sich mit ihm, wenn im Laden keine Käufer waren.

»Damit du dich nicht langweilst, Gawrik, mußt du in deiner freien Zeit Bücher lesen«, riet er seinem kleinen Mitarbeiter. »Beim Buche vergeht dir die Zeit unbemerkt, und es bereitet dir Vergnügen . . .«

Lunew war überhaupt gegen alle Welt sehr rücksichtsvoll und mild und lachte jeden so gutmütig an, als wenn er sagen wollte:

»Seht, ich hab' Glück gehabt . . . Aber haltet nur aus – auch euch wird das Glück bald lächeln . . .«

Er öffnete sein Magazin um sieben Uhr morgens und schloß es um neun Uhr abends. Es gab nicht viele Kunden, und Lunew saß, wenn er Zeit hatte, auf einem Stuhl vor der Tür, wärmte sich in den Strahlen der Frühlingssonne und dachte an gar nichts weiter. Gawrik saß gleichfalls vor der Tür, beobachtete die Vorübergehenden, neckte sie, lockte die Hunde an sich, warf mit Steinen nach den Tauben und Spatzen oder las, in der Erregung die Luft hörbar durch die Nase ziehend, in irgendeinem Buche. Zuweilen ließ sein Prinzipal sich etwas von ihm vorlesen, aber der Inhalt des Buches interessierte ihn nicht weiter: er horchte, während der Knabe las, vielmehr auf die Stille, den Frieden in seiner Seele. Diese Stille in seinem Innern belauschte er mit wahrem Entzücken, er berauschte sich an ihr, sie war so neu für ihn und so unsagbar angenehm. Zuweilen jedoch ward dieser Zustand wohligen Behagens durch ein kaum definierbares Gefühl, eine Vorahnung schwerer Sorge gestört, die wie ein Schatten über den Frieden seiner Seele huschte.

Dann begann Ilja, sich mit Gawrik zu unterhalten.

»Sag' mal, Gawrik,« fragte er, »was ist eigentlich dein Vater?«

»Briefträger ist er . . .«

»Und eure Familie – ist die groß?«

»Sehr groß! Wir sind 'ne Menge Menschen. Einige sind groß, und manche sind noch klein.«

»Wie viele sind noch klein?«

»Fünf Stück. Und drei sind groß . . . Die Großen sind schon alle in Stellung: ich bei Ihnen, Wassilij in Sibirien, als Telegraphist, und Ssonja – die gibt Stunden. Das ist ein tüchtiges Mädel! Zwölf Rubel monatlich bringt sie nach Hause. Und dann ist noch Mischka da . . . der ist älter als ich . . . er geht ins Gymnasium . . .«

»Dann seid ihr doch vier Große, und nicht drei? . . .«

»Wieso denn?« rief Gawrik und fuhr in belehrendem Tone fort: »Mischka lernt doch noch . . . Groß sind doch nur die, die schon arbeiten!«

»Lebt ihr in Not?«

»Natürlich!« antwortete Gawrik mit Gleichmut und zog mit lautem Geräusch die Luft in seine Nase ein. Dann begann er Ilja von seinen Zukunftsplänen zu erzählen:

»Wenn ich ganz groß bin, werde ich Soldat. Dann wird Krieg sein . . . und ich geh' mit in den Krieg. Ich bin mutig . . . Allen voran werde ich mich auf den Feind stürzen und ihm die Fahne abnehmen . . . Mein Onkel hat auch eine Fahne erobert . . . er hat dafür vom General Gurko ein Kreuz bekommen und fünf Rubel . . .«

Ilja blickte lächelnd auf Gawriks pockennarbiges Gesicht und seine breite, beständig zuckende Nase. Des Abends, nach Geschäftsschluß, begab er sich in sein kleines Zimmer neben dem Laden. Dort stand auf dem Tische schon der Samowar bereit, den Gawrik besorgt hatte, und daneben lagen Brot und Wurst. Gawrik trank ein Glas Tee, aß ein Stück Brot dazu und legte sich dann im Laden zum Schlaf nieder, während Ilja noch lange, oft bis nach Mitternacht, beim Samowar sitzen blieb.

Zwei Stühle, ein Tisch, ein Bett und ein Spind für das Geschirr bildeten die Einrichtung von Iljas neuer Wohnung. Das Zimmer war niedrig und schmal und hatte ein quadratförmiges Fenster, durch das man die Beine der Menschen, die an ihm vorübergingen, das Dach des gegenüberliegenden Hauses und den Himmel über diesem Hause sehen konnte. Das Fenster hatte Ilja mit einem weißen Musselinvorhang versehen. Auf der Straßenseite war ein eisernes Gitter angebracht, was Ilja sehr mißfiel. Über seinem Bett hatte er ein Bild aufgehängt, mit der Unterschrift: »Die menschlichen Altersstufen«. Dieses Bild gefiel Ilja sehr, und er hatte es sich schon längst kaufen wollen, war aber vor Eröffnung des Ladens aus irgendeinem Grunde nicht dazu gekommen, obschon es nur zehn Kopeken kostete.

Die »menschlichen Altersstufen« waren auf einen kühn gewölbten Bogen verteilt, unter dem das Paradies abgebildet war. Hier sprach Zebaoth, von Lichtglanz und Blumen umgeben, mit Adam und Eva. Es waren im ganzen siebzehn Stufen da. Auf der ersten Stufe stand ein kleines Kind, das die Mutter am Gängelband hielt, und mit roten Buchstaben stand darunter geschrieben: »Die ersten Schritte«. Auf der zweiten Stufe war ein Kind, das umherhüpfte und die Trommel schlug, die Unterschrift lautete: »Fünf Jahre – es spielt«. Mit sieben Jahren begann man es zu belehren, mit zehn Jahren kam es in die Schule, mit einundzwanzig stand das erwachsene Menschenkind auf seiner Stufe mit dem Gewehr im Arm und lächelte, und darunter stand: »Dient seine Militärpflicht ab«. Auf der folgenden Stufe ist der Mensch fünfundzwanzig Jahre alt – er trägt einen Frack und hat einen Chapeau claque in der einen, einen Blumenstrauß in der anderen Hand, während darunter steht: »Bräutigam«. Dann ist ihm ein Bart gewachsen, er trägt einen langen Rock mit einem rosa Halstuch, steht neben einer dicken Frau im gelben Kleide und drückt ihr kräftig die Hand. Weiterhin ist er dann fünfunddreißig Jahre alt geworden: mit aufgestreiften Hemdärmeln steht er vor dem Amboß und schmiedet ein Stück Eisen. Auf der Höhe der Stufenleiter sitzt er in einem roten Sessel und liest aus einer Zeitung vor, während seine Frau und vier Kinder ihm zuhören. Er selbst wie seine Familie sind anständig und sauber gekleidet, und die Gesichter aller sind gesund und zufrieden. Auf dieser Stufe ist er fünfzig Jahre alt. Aber nun senken sich die Stufen abwärts. Der Bart des Menschen ist schon grau, er trägt einen langen, gelben Kaftan, und in den Händen hält er ein Netz mit Fischen und ein Tongefäß. Unter dieser Stufe steht die Bezeichnung: »Häusliche Beschäftigung«; auf der folgenden schaukelt er seinen Enkel, auf der nächsten wird er »geführt«, da er bereits ein Achtziger ist, und auf der letzten Stufe, in seinem fünfundneunzigsten Jahre, sitzt er in einem Sessel, mit den Füßen im Sarge, und hinter seinem Sessel steht der Tod, die Sense im Arm . . .

So beim Samowar sitzend, schaute Ilja auf das Bild, und es war ihm angenehm, das Leben des Menschen in dieser genauen, einfachen Art dargestellt zu sehen. Eine gewisse Ruhe ging von diesem Bilde aus, seine grellen Farben lachten den Beschauer an, als wollten sie versichern, daß das menschliche Leben, wie sie es darstellten, das echte, rechte Leben sei, wie jedermann es sich zum Muster nehmen solle. Während IIja diese Darstellung des menschlichen Lebens betrachtete, dachte er darüber nach, daß er das Ziel, nach dem er immer gestrebt, jetzt erreicht habe, und daß nun sein Leben ebenso glatt und akkurat verlaufen werde wie dort auf dem Bilde. Er wird zum Gipfel emporsteigen, und oben auf dem Gipfel, wenn er genug Geld gespart hat, wird er sich mit einem bescheidenen, gebildeten Mädchen verheiraten . . .

Der Samowar brodelte und summte melancholisch. Durch die Fensterscheiben und den Musselinvorhang schaute der Himmel trüb auf Iljas Gesicht herab, die Sterne waren noch kaum sichtbar. Im Blinken der Himmelsgestirne liegt stets etwas so Beunruhigendes . . .

Der Samowar tönte immer leiser, doch hatte der feine Ton etwas Aufdringliches, er klang wie das Summen einer Mücke und verwirrte Iljas Gedanken. Er hatte indes keine Lust, aufzustehen und die Zugröhre des Samowars zuzudecken: wenn dieses Summen aufhörte, wird es im Zimmer doch gar zu still sein.

In seinem neuen Quartier ward Lunew von mancher neuen, bisher ihm unbekannten Empfindung heimgesucht. Früher hatte er stets neben andern Leuten hergelebt – nur dünne Bretterwände hatten ihn von ihnen getrennt; jetzt war er von aller Welt durch steinerne Mauern abgeschieden und merkte nichts von der Anwesenheit von Menschen jenseits derselben.

»Warum muß man nur sterben?« fragte sich Lunew plötzlich, während er auf dem Bilde den Menschen betrachtete, der vom Gipfel des Glücks herab dem Grabe zuschreitet . . . Und er erinnerte sich Jakow Filimonows, der stets über den Tod nachdachte, und an Jakows Worte: »Es muß interessant sein zu sterben . . .«

Ilja suchte diese Erinnerung ärgerlich von sich abzuschütteln und seine Gedanken auf etwas anderes zu lenken.

»Was mögen jetzt Pawel und Wjera treiben?« ging ihm eine neue, überflüssige Frage durch den Kopf.

Eine Droschke fuhr die Straße entlang. Die Fensterscheiben wurden von dem Rasseln der Räder auf dem Straßenpflaster erschüttert, und die Lampe an der Wand zitterte. Dann ließen sich aus dem Laden seltsame Laute vernehmen – es war Gawrik, der im Traume sprach . . . Die dichte Finsternis in der einen Zimmerecke scheint auf und ab zu wogen. Ilja sitzt da; mit den Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Hände gegen die Schläfen haltend, und betrachtet das Bild. Neben dem Herrgott steht ein wohlgestalteter Löwe, auf dem Boden kriecht eine Schildkröte, schreitet ein Dachs daher, springt ein Frosch herum, und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen ist mit mächtigen, blutroten Blumen geschmückt . . . Der alte Mann mit den Füßen im Sarge hat Ähnlichkeit mit dem Kaufmann Poluektow – er ist ebenso kahlköpfig und mager wie dieser, und sein Hals ist ebenso dünn . . . Das dumpfe Geräusch von Schritten hallt von der Straße herein: irgend jemand geht langsam auf dem Bürgersteige an dem Laden vorüber. Der Samowar ist erloschen, und in dem Zimmer ist es jetzt so still, daß auch die Luft zu der gleichen Dichtigkeit wie die Wände erstarrt scheint.

Der Gedanke an den Kaufmann belästigte Ilja nicht, und überhaupt beunruhigten ihn seine düstern Gedanken nicht weiter – sie lagen sanft und weich an der Oberfläche seiner Seele, umwogten sie gleichsam wie die Wolken den Mond. Die Farben auf dem Bilde »Menschliche Altersstufen« erschienen, durch die Schleierhülle der Gedanken gesehen, ein wenig blasser, und es war, als ob ein Fleck auf das Bild fiele. Jedesmal, wenn die Ermordung Poluektows Lunew durch den Kopf ging, sagte er sich in aller Ruhe, daß doch im Leben Gerechtigkeit herrschen müsse, daß also früher oder später den Menschen die Strafe für seine Sünden ereile. Während er aber so dachte, spähte er scharf in die dunkle Ecke des Zimmers, wo es so ganz besonders still war und aus dem Dunkel sich eine bestimmte Gestalt zu formen schien . . . Dann entkleidete sich Ilja, legte sich ins Bett und löschte die Lampe aus. Er blies sie nicht auf einmal aus, sondern drehte erst die Schraube, die den Docht bewegte, hin und her. Die Flamme der Lampe verschwand beinahe und flackerte wieder empor, und die Finsternis hüpfte bald um das Bett herum, bald stürzte sie sich von allen Seiten darauf, um dann wieder in die Ecken des Zimmers zurückzuweichen. Ilja beobachtete, wie die unfühlbaren schwarzen Wogen ihn zu verschlingen suchten, und spielte so eine ganze Weile mit der Finsternis; die weitgeöffneten Augen durchtasteten gleichsam das Dunkel, als wollte er darin mit seinem Blick etwas fangen . . . Endlich zuckte die Flamme zum letztenmal auf und verschwand; das Dunkel füllte für einen Augenblick das ganze Zimmer, schien aber noch nicht beruhigt nach dem Kampfe mit dem Licht und schwankte hin und her. Und mit einemmal trat aus ihm vor Iljas Augen als trüb-blauer Fleck das Fenster hervor. In mondhellen Nächten fielen auf den Tisch und den Fußboden von dem eisernen Gitter vor dem Fenster schwarze Schattenstreifen. In dem Zimmer herrschte eine so gespannte Stille, daß es schien, als müsse alles darin erzittern, wenn jemand nur einen starken Atemzug tat. Lunew hüllte sich fest in seine Decke, umwickelte namentlich seinen Hals sehr sorgfältig und schaute, das Gesicht freilassend, so lange in das Dunkel des Zimmers, bis der Schlaf ihn übermannte. Am Morgen erwachte er rüstig und beruhigt, und er schämte sich fast, wenn er sich der Torheiten vom Abend vorher erinnerte. Er trank mit Gawrik den Morgentee auf dem Ladentisch und besah sich sein Magazin, als wenn es für ihn etwas ganz Neues wäre. Zuweilen erschien Pawel bei ihm von seiner Arbeit – voll Schmutz und Talg, in einer Bluse, die zahlreiche Brandlöcher aufwies, mit rußgeschwärztem Gesichte. Er hatte wieder Arbeit bei einem Brunnenmacher und schleppte einen Kessel mit Zinn, eine Anzahl Bleiröhren und einen Lötkolben mit sich herum. Er hatte es immer eilig, nach Hause zu kommen, und wenn Ilja ihm zuredete, doch noch ein Weilchen zu bleiben, sagte er mit verlegenem Lächeln:

»Ich kann nicht! Ich komm' mir immer vor, Bruder, als hätt' ich zu Hause einen Vogel Phönix im Bauer sitzen, und das Bauer wäre für ihn zu schwach. Ganze Tage lang sitzt sie dort allein . . . und wer will's sagen, woran sie denkt? Ein langweiliges Leben hat für sie begonnen . . . ich begreif das sehr gut . . . Ja, wenn wir ein Kind hätten!«

Und Gratschew seufzte tief . . . Eines Tages sagte er finster zu seinem Freunde:

»Alles Wasser hab' ich von meinem Garten abgeleitet . . . wenn's mich nur nicht überschwemmt!«

Ein andermal, als Ilja fragte, ob Gratschew noch Verse schreibe, antwortete dieser lachend:

»Mit dem Finger an den Himmel, ja . . . Ach, hol' der Teufel die Verse! Das ist kein Geschäft für uns arme Scharwerker . . . Ich sitz' jetzt ganz auf dem Trocknen, Bruder. Nicht ein Funken im Kopfe . . . nicht ein Fünkchen! Stets nur an sie muß ich denken . . . nach ihr meine Sinne lenken . . . Wenn ich löte ein Rohr . . . oder ein Brunnenloch bohr' . . . Immer gehn durch den Schädel Gedanken mir an mein Mädel . . . Siehst du, das sind jetzt meine Verse, ha ha! Leicht fällt ihr übrigens das Leben auch nicht . . .«

»Und dir?« fragte Ilja.

»Auch mir fällt's schwer, natürlich . . . Wenn ich ihr doch mehr bieten könnte – sie ist so an Fröhlichkeit gewöhnt . . . siehst du! Immer denkt sie ans Geld. Wenn man nur irgendwoher recht viel Geld kriegen könnte – sagt sie – dann wäre alles mit einemmal umgewandelt . . . Dumm bin ich gewesen, sagt sie . . . hätte irgend 'nen Kaufmann bestehlen sollen . . . Lauter Unsinn redet sie. Alles, weil ich ihr leid tu' . . . ach . . . ich versteh' sie! . . . Es fällt ihr gar zu schwer . . .«

Und plötzlich wurde er unruhig und lief fort.

Öfters kam auch zu Ilja der zerlumpte, halbnackte Schuster mit seiner unvermeidlichen Harmonika unterm Arm. Er erzählte von den Geschehnissen in Filimonows Hause und von Jakow. Mager, schmutzig und zerzaust, drückte sich Perfischka in der Tür des Ladens herum, lachte übers ganze Gesicht und ließ seiner Zunge freien Lauf:

»Petrucha hat also geheiratet – ein Weib wie 'ne rote Rübe, und einen Stiefsohn dazu wie 'ne Möhre. Einen ganzen Garten, bei Gott! Das Weib ist dick, kurz und rot, und ihr Gesicht drei Stockwerke hoch. Ein dreifaches Kinn nämlich hat sie – und nur einen Mund. Und Äuglein dazu wie ein Schweinchen . . . Und ihr Herr Sohn – der ist gelb und lang und trägt eine Brille. Ein Aristokrat! Er heißt Ssawwa, und er spricht durch die Nase . . . ist vor der Frau Mama gar artig und ehrbar, und hinter ihrem Rücken der erste Bummler. Eine saubere Gesellschaft . . . allen Respekt! . . . Und Jaschka, der macht jetzt 'ne Miene, als wenn er in irgend 'ne Ritze kriechen wollte, wie 'ne erschrockene Schwabe. Er trinkt insgeheim, der arme Junge, und hustet öffentlich so laut, wie er kann. Der Herr Papa hat ihm jedenfalls die Lunge beschädigt, und zwar ganz gehörig! Sie beißen tüchtig auf ihn los – und der Junge ist weich, da werden sie ihn leicht verdauen . . . Dein Onkel hat aus Kiew einen Brief geschickt . . . ich glaube, seine Mühe ist vergeblich: einen Buckligen läßt man sicher nicht in den Himmel 'rein! . . . Und Matizas Beine sind ganz gelähmt: im Wagen fährt sie jetzt. Hat sich 'nen Blinden angenommen, hat ihn vorgespannt und lenkt ihn wie ein Pferd – zum Lachen ist's. Na, sie ernähren sich doch schließlich beide – teilen redlich halb und halb, was sie erbetteln . . . Ein Prachtweib, behaupt' ich, diese Matiza! Und hätt' ich nicht eine gar so gute Frau gehabt – ich hätt' unbedingt eben diese Matiza geheiratet . . . Hab' in meinem Leben nur zwei so grundbrave Weiber kennengelernt: meine Frau und die Matiza . . . Sie trinkt ja, das ist richtig . . . gute Menschen sind eben allemal Saufsäcke . . .«

»Und was macht Maschutka?« fragte ihn Ilja.

Bei der Erwähnung seiner Tochter schwand das Lächeln von dem Gesichte des Schusters, und seine Spaße verstummten, wie wenn ein Herbstwind welke Blätter vom Baume schüttelte. Sein gelbes Gesicht verlängerte sich, und er sprach leise und verlegen:

»Mir ist nichts von ihr bekannt . . . Chrjenow sagte zu mir einfach: zeig' dich ja nicht in der Nähe, sonst kriegt sie ihre Prügel . . . Spendier' doch was, Ilja Jakowlewitsch, daß ich mir ein Gläschen kaufen kann . . .«

»Es geht mit dir abwärts, Perfilij!« sagte Ilja mitleidvoll.

»Unwiderruflich abwärts geht's«, bestätigte der Schuster gelassen. »Viele Leute werden um mich trauern, wenn ich sterbe!« fuhr er dann selbstbewußt fort. »Denn ich bin ein lustiger Bruder und weiß die Leute zu unterhalten. Alle jammern: Ach und Weh! O Sünde – o je! . . . Und da komm' ich mit einemmal, sing' ihnen ein Lied vor und bring' sie zum Lachen. Ob du für'n Groschen gesündigt hast oder, für tausend Rubel – sterben mußt du so und so, und die Teufel werden dich auf gleiche Weise peinigen . . . Laßt auch mal 'nen lustigen Menschen auf Erden leben! . . .«

So schwatzend, lachend und sich ereifernd, glich er ganz einem zerzausten alten Zeisig. Schließlich verschwand er aus dem Laden, und Ilja begleitete ihn zur Tür, nickte ihm zu und lächelte. Er fühlte, daß Perfischka ihm leid tat, und sagte sich andrerseits, daß sein Mitleid nicht angebracht sei. Seine Vergangenheit lag noch so gar nicht weit zurück, und alles, was ihn daran erinnerte, versetzte ihn in Unruhe. Er glich einem Menschen, der müde ist und sich zum Ausruhen hingelegt hat, an dessen Ohr aber die Herbstfliegen zudringlich summen und ihn am Schlaf verhindern. Wenn Ilja mit Pawel plauderte oder Perfischkas Erzählungen anhörte, lächelte er teilnahmsvoll, nickte mit dem Kopfe und wartete, bis sie endlich gingen. Pawels Reden namentlich machten auf ihn oft einen peinlichen Eindruck. Er bot ihm immer wieder Geld an und meinte achselzuckend:

»Auf andre Weise kann ich dir nicht helfen . . . Höchstens, daß ich dir rate: laß deine Wjera laufen . . .«

»Das kann ich nicht«, sagte Pawel leise. »Man läßt jemanden laufen, den man nicht nötig hat . . . ich aber hab' Wjera sehr nötig . . . Leider wollen andere sie mir entreißen. Da liegt der Haken! . . . Und vielleicht lieb' ich sie gar nicht mit der Seele, sondern aus Bosheit und Trotz. Sie ist das Beste, was das Leben mir geboten hat – mein Stückchen Glück. Soll ich mir das rauben lassen? Was bleibt mir dann übrig? . . . Nein, ich tret' sie keinem ab – um keinen Preis! Töten werde ich sie, aber nicht von ihr lassen . . .«

Gratschews mageres Gesicht bedeckte sich mit roten Flecken, und er ballte trotzig die Fäuste.

»Hast du denn bemerkt, daß sie hinter ihr her sind?«

»Das nicht . . .«

»Wen meinst du also, wenn du sagst: man wolle sie dir entreißen?« fragte Ilja nachdenklich.

»Es gibt eben solch eine Gewalt . . . die sie mir entreißen will . . . Ach, zum Teufel! Mein Vater ist eines Weibes wegen zugrunde gegangen, und ich habe, scheint's, dasselbe Los zu erwarten . . .«

»Dir ist eben nicht zu helfen!« sagte Lunew, und er fühlte dabei eine gewisse Genugtuung. Er bedauerte Pawel noch mehr als Perfischka, und wenn Gratschew so recht voll Haß und Wut sprach, erwachte auch in Iljas Herzen der Haß gegen irgend jemand. Aber der Feind, der Pawel gekränkt und sein Glück zerstört hatte, ließ sich nicht blicken – er blieb unsichtbar. Und Lunew fühlte, daß sein Haß ebenso überflüssig war wie sein Mitleid, wie fast alle seine Gefühle gegen andere Menschen. Alle diese Empfindungen schienen ihm unnötig und überflüssig.

»Ich weiß es – mir kann kein Mensch helfen . . .« erwiderte ihm Pawel finster. Er sah dem Kameraden mit forschendem Blick in das Gesicht und fuhr mit fester, unheimlicher Zuversicht fort: »Du hast dich in diesen Winkel zurückgezogen – und gedenkst hier ruhig zu sitzen . . . Ich aber sage dir: schon gibt es jemand, der in der Nacht nicht schlafen kann, sondern immer nur darauf sinnt, wie er dich hier herausbeißen könnte . . . Und sie werden dich herausbeißen – oder du selbst gibst die Sache auf . . .«

»Da kannst du lange warten!« sagte Ilja lachend.

Aber Gratschew blieb bei seiner Meinung. Er blickte dem Freunde scharf ins Gesicht und redete hartnäckig auf ihn ein.

»Und ich sage dir – du gibst es auf! Nicht von der Art ist dein Charakter, daß du dein ganzes Leben still und friedlich in einem dunklen Loch verbringen könntest. Entweder fängst du an zu trinken, oder du machst Bankrott . . . irgend etwas wird jedenfalls mit dir geschehen . . .«

»Aber weshalb denn?« rief Lunew verwundert.

»Nun, so . . . Es steht dir nicht an, so ruhig zu leben . . . Du bist ein prächtiger Kerl, ein Mensch, der eine Seele besitzt . . . Es gibt solche Menschen: ihr ganzes Leben lang halten sie sich gerade, sind niemals krank, und mit einemmal geht's: schwapp!«

»Was – schwapp?«

»Sie fallen hin und sind tot . . .«

Ilja lachte, streckte seine Glieder, ließ seine straffen Muskel spielen und seufzte dann tief, aus voller Brust.

»Das ist ja alles Unsinn!« sagte er.

Am Abend jedoch, als er vor dem Samowar saß, erinnerte er sich unwillkürlich der Worte Gratschews und dachte über seine geschäftlichen Beziehungen zu Madame Awtonomow nach. Erfreut über ihren Vorschlag, auf gemeinsame Kosten einen Laden aufzumachen, hatte er allem zugestimmt, was sie ihm vorgeschlagen hatte. Und jetzt ward ihm plötzlich klar, daß, obschon er mehr als sie in das Geschäft eingelegt hatte, er eher ihr Kommis als ihr Kompagnon war. Diese Entdeckung versetzte ihn in Bestürzung und Wut.

»Aha! Darum also umarmst du mich so herzhaft – willst dich unbemerkt an meine Taschen heranmachen!« sprach er in Gedanken zu Tatjana Wlaßjewna. Und er beschloß, sein letztes Geld dranzugehen, um seiner Geliebten das Ladengeschäft abzukaufen und die Beziehungen zu ihr abzubrechen.

Es ward ihm nicht schwer, diesen Entschluß zu fassen. Tatjana Wlaßjewna war ihm in letzter Zeit geradezu lästig gefallen, er konnte sich an ihre immer seltsameren Zärtlichkeiten nicht gewöhnen und sagte ihr eines Tages ins Gesicht:

»Was für ein schamloses Weibsbild bist du doch, Tanja!«

Aber sie hatte auf seine Bemerkung nur ein Kichern als Antwort. Sie erzählte ihm nach wie vor Geschichten aus den Kreisen ihrer Bekannten, und eines Tages bemerkte Ilja zweifelnd:

»Wenn du die Wahrheit sagst, Tatjana, dann ist euer sogenanntes anständiges Leben nicht einen Schuß Pulver wert!«

»Weshalb denn? Es ist doch recht lustig so!« versetzte sie achselzuckend.

»Eine saubere Lustigkeit! Am Tage – nichts als Knickerei, und in der Nacht – Ausschweifungen . . .«

»Wie naiv du doch bist!« rief Tatjana Wlaßjewna lachend.

Und sie begann wieder vor ihm das saubere, bürgerlich-anständige, behagliche Leben zu rühmen und bemühte sich, den Schmutz und die Roheiten dieses Lebens zu beschönigen.

»Ist denn das gut so?« fragte Ilja.

»Du bist doch ein spaßiger Mensch! Ich sage nicht, daß es gut ist, aber wenn's nicht so wäre, dann wär's eben – langweilig!«

Zuweilen belehrte sie ihn:

»Es ist Zeit, daß du endlich deine Zitzhemden ablegst: anständige Leute tragen Leinenwäsche . . . Und dann gib acht, wie ich die Worte ausspreche, und lerne sie richtig aussprechen! Es heißt ›tausend‹ und nicht ›dausend‹, wie du zu sagen pflegst; und man sagt auch nicht ›wennehr‹, sondern ›wenn‹ . . . Du bist jetzt kein Bauer mehr, mußt also auch deine Bauernsprache ablegen.«

Immer häufiger wies sie auf diesen Unterschied zwischen ihm, dem Bauernburschen, und ihr selbst, der gebildeten Frau, hin, und nicht selten verletzten diese Hinweise Ilja. Als er noch mit Olympiada zusammenlebte, hatte er doch zuweilen das Gefühl gehabt, als ob dieses Weib ihm nahestände wie ein guter Kamerad. Tatjana Wlaßjewna weckte niemals ein kameradschaftliches Gefühl in ihm; er sah, daß sie interessanter war als Olympiada, doch hatte er die Achtung vor ihr ganz und gar verloren. Als er noch bei Awtonomows wohnte, hatte er öfter gehört, wie Tatjana Wlaßjewna vor dem Schlafengehen mitten in dem hastig hingemurmelten Vaterunser plötzlich ihren Gatten anfuhr:

»Kirja, steh auf und mach' die Küchentür zu – es zieht so! . . .«

»Warum kniest du auch auf dem kalten Fußboden!« antwortete ihr Kirik träg.

»Sei still, stör' mich nicht!« flüsterte sie darauf – und fuhr fort in ihrem rasch hingeflüsterten Gebet: »Schenk' Deine Gnade, o Herr, Deinen Knechten Wlaß, Nikolaj, dem frommen Asketen Mardarij . . . und Deinen Mägden Eudoxia und Maria . . . schenk' auch Gesundheit, o Herr, der Tatjana, dem Kirik, dem Sserafim . . .«

Diese Hast ihres Gebets gefiel Ilja nicht: er begriff, daß sie nicht aus innerem Bedürfnis, sondern aus Gewohnheit betete.

»Glaubst du an Gott, Tatjana?« fragte er sie eines Tages.

»Was für eine Frage!« rief sie verwundert. »Natürlich glaube ich an ihn! Warum fragst du?«

»So . . . weil du es bei deinem Gebet immer so eilig hast, Schluß zu machen . . .« sagte Ilja lächelnd.

»Man sagt nicht ›Schluß machen‹, sondern ›fertig werden‹«, belehrte ihn Tatjana Wlaßjewna. »Merk' dir das endlich! Ich werde am Tage immer so müde, siehst du, daß Gott mir meine Flüchtigkeit sicher verzeiht.« Und in überzeugtem Tone fügte sie, mit einem sinnenden Aufblick nach oben, hinzu: »Er verzeiht alles. Er ist barmherzig . . .«

»Dazu habt ihr Ihn auch nur nötig, daß Er euch eure Gemeinheiten verzeihe«, dachte Ilja bitter. Ganz anders hatte Olympiada ihre Gebete verrichtet. Sie hatte stets lange und schweigend vor den Heiligenbildern gekniet, neigte den Kopf immer tief auf die Brust und verharrte so unbeweglich, wie versteinert . . . Ihr Gesicht war düster und streng, und wenn man sie nach etwas fragte, antwortete sie nicht.

Jetzt, da Lunew begriff, daß Tatjana Wlaßjewna ihn in der Angelegenheit mit dem Laden geschickt übertölpelt hatte, empfand er einen heftigen Widerwillen gegen sie.

»Wenn sie mir fremd wäre,« sagte er sich im stillen – »dann wollte ich nichts sagen. Alle sind darauf bedacht, ihre Mitmenschen zu betrügen . . . Aber sie ist doch gewissermaßen . . . mein Weib . . . sie küßt und liebkost mich . . . die abscheuliche Katze! . . . Nur die ärgste Dirne kann so handeln . . .«

Sein Benehmen gegen sie ward kühl und zurückhaltend, und er suchte ihren zärtlichen Annäherungen unter allerhand Vorwänden aus dem Wege zu gehen.

Um jene Zeit tauchte eine neue weibliche Erscheinung in seinem Lebenskreise auf. Es war Gawriks Schwester, die zuweilen in den Laden kam, um nach ihrem Bruder zu sehen. Sie war hochgewachsen, schlank und wohlgebaut, doch gar nicht hübsch, und wenn auch Gawrik versicherte, daß sie erst neunzehn Jahre alt sei, schien sie doch Ilja weit älter zu sein. Ihr Gesicht war lang, gelb und verhärmt; die hohe Stirn war von feinen Fältchen durchfurcht. Die weiten Löcher ihrer Entennase schienen wie im Zorn aufgeblasen, und die dünnen Lippen des kleinen Mundes waren stets fest geschlossen. Sie sprach mit deutlicher Betonung, doch offenbar ungern, durch die Zähne; ihre Gang war rasch, und sie ging mit hoch erhobenem Kopfe, als rühmte sie sich ihres häßlichen Gesichtes. Es war jedoch möglich, daß ihr Kopf durch den dicken, langen Zopf schwarzer Haare nach rückwärts gezogen wurde . . . Die großen, schwarzen Augen dieses Mädchens blickten streng und ernst, und alle Züge ihres Gesichts gaben zusammengenommen ihrer Erscheinung einen auffallend geraden und unbeugsamen Ausdruck. Lunew fühlte sich schüchtern ihr gegenüber; sie erschien ihm stolz und erweckte in ihm Achtung. Jedesmal, wenn sie in dem Laden erschien, reichte er ihr höflich einen Stuhl und lud sie ein:

»Bitte, setzen Sie sich!«

»Ich danke!« antwortete sie mit kurzer Verneigung des Kopfes und nahm Platz. Lunew betrachtete verstohlen ihr Gesicht, das sich so scharf von allen ihm bisher bekannten Frauengesichtern unterschied, und musterte ihr braunes, sehr abgetragenes Kleid, ihre geflickten Schuhe, und ihren gelben Strohhut. Sie saß da und sprach mit ihrem Bruder, und während sie mit den langen Fingern ihrer rechten Hand unhörbar auf ihrem Knie trommelte, schwang sie in der Linken ein durch einen Riemen zusammengehaltenes Paket Bücher. Es hatte für Ilja etwas Überraschendes, ein Mädchen, das so schlecht angezogen war, so stolz zu sehen. Zwei, drei Minuten saß sie in dem Laden, dann sagte sie zu ihrem Bruder:

»Na, leb' wohl! Mach' nicht zu viel Dummheiten! . . .«

Und dem Prinzipal des Bruders schweigend mit dem Kopf zunickend, ging sie mit dem raschen Schritt eines tapferen Soldaten, der auf den Feind losstürmt, ihrer Wege.

»Wie ist doch deine Schwester so . . . streng!« sagte einmal Lunew zu Gawrik.

Gawrik blies seine Nase auf, riß die Augen weit auf, spreizte die Lippen auseinander und gab so seinem Gesichte einen absichtlich karikierten Ausdruck, der es dem Gesichte seiner Schwester auffallend ähnlich machte. Dann erklärte er dem Prinzipal lächelnd:

»So sieht sie aus . . . aber sie verstellt sich . . .«

»Warum sollte sie sich verstellen?«

»So . . . sie liebt es, sich zu verstellen! Auch ich kann jedes beliebige Gesicht nachmachen . . .«

Ilja interessierte sich lebhaft für das Mädchen, und wie früher von Tatjana Wlaßjewna, so dachte er jetzt von dieser:

»Eine solche müßte ich heiraten . . .«

Eines Tages brachte sie ein dickes Buch mit und sagte zu ihrem Bruder:

»Da, lies . . .«

»Was ist es denn? Darf ich's mir mal ansehen?« fragte Ilja höflich.

Sie nahm das Buch aus den Händen des Bruders, reichte es Lunew und sagte:

»Don Quixote ist's . . . Die Geschichte eines wackeren Ritters . . .«

»Ah! Von Rittern hab' ich auch viel gelesen«, sprach Ilja mit liebenswürdigem Lächeln, während er ihr ins Gesicht sah.

Ihre Augenbrauen zuckten, und sie sagte in beabsichtigt trockenem Tone:

»Sie haben Märchen gelesen – das hier aber ist ein schönes, verständiges Buch. Darin wird ein Mensch beschrieben, der sich der Verteidigung der Unglücklichen, von menschlicher Ungerechtigkeit Unterdrückten geweiht hat . . . Dieser Mensch war stets bereit, sein Leben für das Glück anderer zu opfern – verstehen Sie? Das Buch ist in komischem Tone gehalten – aber das verlangte der Geschmack der Zeit, in der es geschrieben ist . . . Man muß es mit Ernst lesen.«

»So wollen wir's auch lesen«, sagte Ilja.

Es war das erstemal, daß das Mädchen mit ihm sprach. Er empfand dabei eine ganz besondere Genugtuung und lächelte. Sie aber sah ihm ins Gesicht und sagte trocken:

»Ich glaube nicht, daß es Ihnen gefallen wird . . .«

Und sie ging. Es schien Ilja, daß sie das Wort »Ihnen« besonders deutlich betont hatte. Das verletzte ihn, und er sagte zu Gawrik, der sich die Bilder in dem Buche besah:

»Na, jetzt ist keine Zeit zum Lesen . . .«

»Es sind doch keine Kunden da!« versetzte Gawrik, ohne das Buch zu schließen.

Ilja sah ihn an und schwieg. In seiner Erinnerung klangen die Worte des Mädchens über das Buch nach. Und von ihr selbst dachte er mit Mißbehagen in seinem Herzen: »Was für eine . . . wichtige Person!«


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