Maxim Gorki
Drei Menschen
Maxim Gorki

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XV

Ein paar Tage später brachte Lunew in Erfahrung, daß als mutmaßlicher Mörder des Kaufmanns Poluektow ein hochgewachsener Mensch in einer Lammfellmütze gesucht werde. Bei den Nachforschungen, die in dem Geschäft des Ermordeten angestellt worden waren, hatte man zwei silberne Metallbeschläge von Heiligenbildern gefunden, und es stellte sich heraus, daß sie gestohlen waren. Der Laufbursche, der in dem Wechselgeschäft angestellt war, hatte angegeben, daß diese Beschläge drei Tage vor dem Morde von einem hochgewachsenen Menschen in kurzem Pelz mit Namen Andrej gekauft worden waren, daß dieser Andrej an Poluektow bereits zu verschiedenen Malen silberne und goldene Gegenstände verkauft hatte, und daß Poluektow ihm Geld auf Vorschuß gab. Ferner wurde bekannt, daß am Abend vor dem Morde und am Tage der Tat ein Mensch, auf den die Beschreibung des Laufburschen paßte, in den öffentlichen Häusern der Stadt viel Geld verjubelt habe.

Jeden Tag hörte Ilja irgend etwas Neues in dieser Angelegenheit. Die ganze Stadt interessierte sich lebhaft für das so raffiniert ausgeführte Verbrechen, und überall, in den Schenken wie auf den Straßen, sprach man von dem Morde. Für Lunew hatten alle diese Gespräche nur geringen Reiz. Die Furcht vor der Gefahr war von seinem Herzen abgefallen, wie der Schorf von einer Wunde, und statt ihrer empfand er jetzt nur das Gefühl einer gewissen Unbeholfenheit. Er dachte nur an eins: wie wird sich jetzt wohl sein Leben gestalten? Er kam sich vor wie ein Rekrut vor der Aushebung, oder wie ein Mensch, der sich nach einem weiten, unbekannten Ziel auf den Weg macht.

In der letzten Zeit hatte sich ihm Jakow wieder mehr genähert. Zerzaust und unordentlich angezogen, drückte er sich zwecklos in der Schenke und auf dem Hofe herum, blickte auf alles zerstreut, wie mit irren Augen, und hatte das Aussehen eines Menschen, der von ganz besonderen Vorstellungen in Anspruch genommen war. Wenn er Ilja traf, fragte er ihn geheimnisvoll, mit halblauter Stimme oder im Flüsterton:

»Hast du keine Zeit, mal mit mir zu plaudern?«

»Hab' Geduld! Jetzt kann ich nicht . . .«

»Ach, du! 's ist was sehr Wichtiges . . .«

»Was denn?« fragte Ilja.

»Ein Buch! Ich sag' dir, Bruder, was da drin steht – oh, oh!« sprach Jakow mit schreckhafter Miene.

»Laß mich mit deinen Büchern! Sag' mir lieber – warum sieht mich dein Vater jetzt immer so finster an?«

Aber für das, was in Wirklichkeit geschah, hatte Jakow nun einmal keinen Sinn. Auf Iljas Frage machte er ein ganz erstauntes Gesicht, als ob er sie nicht recht verstände, und sagte:

»Was? Ich weiß nichts. Das heißt . . . einmal hörte ich, wie er mit deinem Onkel sprach . . . irgend was, du sollst falsches Geld vertreiben . . . Aber das hat er nur so aus Unsinn gesagt . . .«

»Woher weißt da denn, daß er's nur aus Unsinn sagte?« fragte Ilja lächelnd.

»Na, was heißt denn das? Falsches Geld! Dummes Gerede!« Und mit einer abweisenden Handbewegung schnitt er Ilja das Wort ab. »Plaudern also willst du mit mir nicht? Hast keine Zeit?« fragte er dann nach einer Weile, während er mit seinen unsteten Augen den Kameraden ansah.

»Von deinem Buche?«

»Ja–a . . . Da ist dir eine Stelle, die ich neulich las . . . au, au, au, mein Lieber!«

Und der Philosoph schnitt eine Grimasse, als ob er sich mit irgendetwas verbrüht hätte. Lunew schaute auf den Freund wie auf einen Sonderling, einen halben Idioten. Zuweilen erschien ihm Jakow wie ein Blinder. Er hielt ihn für einen unglücklichen Menschen, der dem Leben nicht gewachsen war. Im Hause sprach man davon – und die ganze Straße wußte es bereits –, daß Petrucha Filimonow sich mit seiner Geliebten, die in der Stadt ein öffentliches Haus hielt, verheiraten wolle. Doch Jakow verhielt sich gegen dieses Gerücht vollkommen gleichgültig. Als Lunew sich bei ihm erkundigte, wann die Hochzeit sein würde, fragte er einfältig:

»Wessen Hochzeit?«

»Na, deines Vaters Hochzeit . . .«

»Ach – wer mag's wissen . . . Der Schamlose! Eine schöne Hexe hat er sich ausgesucht!«

»Weißt du auch, daß sie einen Sohn hat – einen großen Jungen, der das Gymnasium besucht?«

»Nein, ich wußte es nicht . . . Warum?«

»Er wird deinen Vater mal beerben . . .«

»Aha!« sagte Jakow gleichgültig. Plötzlich aber wurde er lebendig:

»Einen Sohn? Das wäre für mich ganz günstig, nicht? Mein Vater könnte ihn hinters Büfett stecken – und ich könnte dann machen, was ich will. Das würde mir passen . . .«

Und wie im Vorgeschmack der ersehnten Freiheit schmatzte er mit den Lippen. Lunew sah ihn mitleidig an und sagte spöttisch:

»Das Sprichwort hat doch recht: Gib dem dummen Kinde eine kleine Möhre, dann will's kein Brot haben! Ach, du! Ich kann mir's wirklich nicht vorstellen, wie du einmal leben wirst!«

Jakow stutzte, sah Ilja mit seinen großen, vorquellenden Augen an und sagte dann hastig flüsternd:

»Ich hab' schon darüber nachgedacht, wie ich leben werde! Vor allem muß man Ordnung schaffen in seiner Seele . . . Man muß begreifen, was Gott von einem verlangt! Jetzt seh' ich nur eins: die Wege der Menschen haben sich verwirrt wie Fäden, und nun werden sie nach verschiedenen Seiten gezogen; keiner weiß, woran er sich halten, nach welcher Seite er sich ziehen lassen soll! Da wird nun der Mensch geboren – niemand weiß, warum, und lebt – ich weiß nicht, weshalb, und der Tod kommt – und bläst allen das Lebenslicht aus . . . Vor allem muß ich doch wissen, wozu ich auf der Welt bin – nicht wahr?«

»Ach, du! Hast dich ganz in deine Hirngespinste eingesponnen!« sagte Ilja. »Möcht' wissen, was für einen Sinn die haben!«

Er fühlte, daß Jakows dunkle Reden ihm jetzt doch stärker ans Herz faßten als früher, und daß die Worte des Kameraden in ihm ganz besondere Gedanken weckten. Es schien ihm, daß irgendein geheimnisvolles Wesen in ihm – eben jenes, das stets seinen einfachen und klaren Vorstellungen von einem sauberen, behaglichen Leben widersprach – mit besonderer Begier auf Jakows Reden lauschte und sich dabei in seiner Seele wälzte, wie das Kind im Mutterleibe. Das war Ilja unbequem, es verwirrte ihn und schien ihm überflüssig, und darum ging er den Gesprächen mit Jakow aus dem Wege. Es war jedoch nicht so leicht für ihn, diesen loszuwerden, wenn er sich einmal mit ihm eingelassen hatte.

»Was für einen Sinn? Sehr einfach! Wenn du dir nicht darüber klar wirst, wohin du gehst, ist's, als wenn du brennen wolltest ohne Feuer«, erklärte ihm Jakow.

»Du bist wie ein alter Mann, Jakow . . . langweilig bist du. Ich denke mit dem Sprichwort: ›Sehnt nach dem Glück sich selbst das Schwein, wie kann's beim Menschen anders sein?‹«

Es war ihm nach solchen Gesprächen zumute, als ob er zu viel Gesalzenes gegessen hätte: ein starker Durst bemächtigte sich seiner, es gelüstete ihn nach irgend etwas Besonderem. Seine schwerfälligen, nebelhaften Gedanken über Gott hatten jetzt etwas Erbittertes, Unbotmäßiges.

»Er sieht alles – und läßt es doch zu!« sagte er sich in dem dunklen Gefühl, daß seine Seele in einen unlöslichen Widerspruch verwickelt war. Er ging dann zu Olympiada und suchte in ihren Armen Vergessen und Ruhe vor seinen quälenden Gedanken.

Zuweilen besuchte er auch Wjera. Das lustige Leben, das sie führte, hatte sie nach und nach in seinen tiefen Strudel hineingezogen. Sie erzählte Ilja voll Begeisterung von den Schmausereien mit reichen jungen Kaufleuten, mit Beamten und Offizieren, von den Restaurants und den Spazierfahrten in der Troika, zeigte ihm die Kleider, Jäckchen und Ringe, die ihre Verehrer ihr geschenkt hatten. Üppig, wohlgebaut und kräftig, wie sie war, brüstete sie sich stolz damit, wie ihre Anbeter sich um ihren Besitz stritten. Lunew hatte seine Freude an ihrer Gesundheit, Schönheit und Munterkeit, doch sprach er mehr als einmal warnend zu ihr:

»Daß Sie nur nicht schwindlig werden bei diesem Spiel, Wjerotschka . . .«

»Was schadet's denn? Das ist doch mein Weg . . . Wenigstens lebt man mit Schick. Ich nehme vom Leben, soviel ich kann . . . damit basta!«

»Und Pawel? . . .«

Ihre Brauen zuckten, und ihre Heiterkeit verschwand.

»Wenn er mich doch laufen ließe«, sagte sie. »Es macht ihm so viel Kummer . . . und er quält sich so. Ich kann nicht mehr haltmachen . . . die Fliege sitzt im Syrup fest.«

»Lieben Sie ihn denn nicht?« fragte Ilja.

»Ihn muß man doch lieben«, entgegnete sie ernsthaft. »Er ist ein so prächtiger Junge . . .«

»Na also, dann sollten Sie doch mit ihm zusammenleben!«

»Ich sollt' ihm auf dem Halse sitzen? Er hat ja kaum sein Stückchen Brot für sich, wie soll er mich da erhalten? Nein, da tut er mir viel zu leid . . .«

»Sehen Sie sich vor, daß nichts Böses geschieht . . . er ist ein Hitzkopf«, warnte sie Lunew eines Tages.

»Ach, mein Gott!« rief Wjera ärgerlich. »Wie soll ich's nun machen? Bin ich denn nur für einen Menschen geboren? Ein jeder will doch lustig leben . . . Und jeder lebt, wie es ihm gefällt . . . Er genau so wie Sie und wie ich.«

»N–nein, so ist's doch nicht«, sprach Ilja düster und nachdenklich. »Wir leben wohl alle . . . aber nur nicht für uns . . .«

»Und für wen denn?«

»Nehmen wir Sie zum Beispiel: Sie leben für die Kaufleute, für allerhand leichtlebige Menschen . . .«

»Ich bin doch selbst leichtlebig«, sagte Wjera und lachte vergnügt.

Lunew verließ sie in niedergeschlagener Stimmung. Pawel hatte er in dieser ganzen Zeit nur zweimal ganz flüchtig gesehen. Als er ihn einmal bei Wjera traf, hatte er finster und verdrossen dagesessen . . . schweigsam, die Zähne fest aufeinander gepreßt, mit roten Flecken auf den mageren Wangen. Ilja begriff, daß Pawel auf ihn eifersüchtig war, und das schmeichelte seiner Eitelkeit. Zugleich aber sah er deutlich, daß Gratschew hier in ein Netz verstrickt war, aus dem er sich kaum ohne Schaden würde befreien können. Er bedauerte Pawel, noch mehr aber Wjera, und er hörte auf, sie zu besuchen. Mit Olympiada verlebte er einen neuen Honigmonat. Doch auch hier schlich sich ein kalter Schatten ein, der Ilja die Ruhe benahm. Zuweilen versank er mitten in der Unterhaltung plötzlich in schweres Brüten; dann sagte Olympiada in verliebtem Geflüster zu ihm:

»Mein Lieber, so laß doch das dumme Grübeln! . . . Es gibt so wenig Menschen in der Welt, deren Hände rein sind!«

»Hör' mal,« versetzte er dann trocken und ernst, »ich bitte dich, sprich nicht so mit mir! Nicht an die Hände denk' ich. Du bist ein kluges Mädchen, aber was mich bewegt, kannst du nicht begreifen . . . Sag' einmal, wie soll man's anfangen, um ehrbar und gerecht unter den Menschen zu leben? . . . Von dem Alten schweig nur . . .«

Aber sie brachte es nicht fertig, von dem Alten zu schweigen, und beschwor Ilja immer wieder, ihn zu vergessen. Lunew ärgerte sich dann und ging fort. Und wenn er wiederkam, schrie sie wie toll, daß er sie nur aus Furcht liebe, daß sie das nicht möge und lieber von ihm lassen, lieber ganz aus der Stadt wegziehen wolle. Und sie weinte, kniff Ilja, biß ihn in die Schultern, küßte seine Füße, und dann warf sie wie eine Rasende ihre Kleider von sich, stellte sich nackt vor ihn hin und rief:

»Bin ich nicht schön? Ist mein Körper nicht voll Reiz? Und mit jeder Ader, mit jedem Tropfen meines Blutes liebe ich dich . . . Zerfleische mich – ich werde dazu lachen! . . .«

Ihre blauen Augen wurden dunkler, die Lippen bebten in heißer Gier, und ihr Busen wogte empor, wie wenn er Ilja entgegenstrebte. Er umarmte und küßte sie mit aller Kraft, und wenn er dann nach Hause ging, dachte er bei sich: wie konnte sie, die so voll Leben, so heißblütig ist – wie konnte sie die widerlichen Liebkosungen dieses Greises ertragen? Olympiada erschien ihm dann so verabscheuenswert, daß er mit Ekel ausspeien mußte, wenn er an ihre Küsse dachte.

Eines Tages, nach einem solchen Ausbruch ihrer Leidenschaft, sagte er, von ihren Liebkosungen ermüdet:

»Seit ich den alten Satan erwürgt habe, liebst du mich viel leidenschaftlicher!«

»Nun ja . . . und was weiter?«

»Nichts weiter. Ich muß nur lachen, wenn ich dran denke . . . Es gibt eben Leute, denen ein faules Ei besser schmeckt als ein frisches, und die den Apfel erst essen, wenn er angegangen ist . . . Sonderbar!«

Olympiada sah ihn mit trüben Augen an und sprach mit müder Stimme:

»Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen, wie das Sprichwort sagt . . . Der eine liebt die Eulen, der andere die Nachtigallen . . .«

Und sie versanken beide in dumpfes Brüten.

Eines Tages, als Ilja aus der Stadt zurückkehrte und sich eben umzog, kam ganz leise Onkel Terentij ins Zimmer. Er schloß die Tür fest hinter sich zu, blieb ein paar Sekunden vor ihm stehen, als ob er auf etwas horchte, und schob dann, seinen Buckel schüttelnd, den Riegel vor. Ilja bemerkte alles das und blickte spöttisch in sein Gesicht.

»Iljuscha«, begann Terentij halblaut, während er auf einem Stuhle Platz nahm.

»Nun?«

»Es sind hier über dich verschiedene Gerüchte im Umlauf . . . man spricht schlecht von dir!«

Der Bucklige seufzte schwer und schlug die Augen nieder.

»Was denn zum Beispiel?« fragte Ilja, während er seine Stiefel auszog.

»Die einen reden das, die andern jenes . . . Diese meinen, du wärst in die Geschichte mit dem erwürgten Kaufmann verwickelt . . . Und jene sagen wieder, du vertreibest falsches Geld . . .«

»Sind wohl neidisch, was?« fragte Ilja.

»Es waren hier verschiedene Leute . . . Geheimpolizisten schienen es . . . so eine Art Spione . . . Sie fragten alle den Petrucha nach dir aus . . .«

»So laß sie doch! Mögen sie nur kommen!« sagte Ilja gleichgültig.

»Gewiß, was gehen sie uns an, wenn wir uns keiner Sünde bewußt sind?«

Ilja lachte und streckte sich auf seinem Bett aus.

»Jetzt kommen sie nicht mehr her . . . Aber Petrucha selbst fängt immer davon an«, sagte Terentij verlegen und schüchtern. »Du solltest dir vielleicht irgendwo ein kleines Stübchen nehmen, Iljuscha . . . ein eignes Zimmerchen, um darin zu wohnen? . . . ›Ich kann dunkle Ehrenmänner in meinem Hause nicht dulden,‹ sagt Petrucha, ›ich bin eine bekannte Persönlichkeit . . .‹«

Ilja wandte sein von Zorn gerötetes Gesicht dem Onkel zu und sagte laut:

»Wenn seine lackierte Fratze ihm lieb ist, dann soll er schweigen! Sag' ihm das! Hör' ich von ihm nur ein einziges ungehöriges Wort über mich – dann schlag' ich ihm den Schädel ein . . . Wer ich auch sein mag – jedenfalls hat er, dieser Spitzbube, nicht über mich zu richten . . . Und von hier werde ich fortziehen, wann's mir beliebt. Will noch vergnügt sein mit frohen und ehrlichen Leuten . . .«

Der Bucklige erschrak, als er Iljas Zornesausbruch sah. Er saß ein Weilchen schweigend auf dem Stuhle, kratzte sich den Rücken und schaute voll Angst auf seinen Neffen. Ilja preßte die Lippen fest zusammen und starrte mit weitgeöffneten Augen zur Decke empor. Terentij musterte aufmerksam seinen Lockenkopf, sein schönes, ernstes Gesicht mit dem kleinen Schnurrbärtchen und dem trotzigen Kinn, betrachtete die breite Brust und den ganzen straffen und wohlgebildeten Körper seines Neffen und sprach dann leise:

»Was für ein stattlicher Junge du geworden bist! . . . Im Dorfe würden dir die Mädchen in Herden nachlaufen . . . Hm – ja . . . Da würdest du ein Leben führen! Ich gäbe dir Geld, würde dir ein Geschäft einrichten – du heiratest ein reiches Mädchen! . . . Dann würde dein Leben hinfliegen wie ein Schlitten, der bergab fährt . . .«

»Aber vielleicht will ich bergauf!« meinte IIja mürrisch.

»Ein leichtes Leben wär's, mein' ich«, sprach Terentij erklärend. »Und natürlich geht's schließlich nach oben, zum Gipfel.«

»Und wenn ich oben bin – was dann?« fragte Ilja.

Der Bucklige sah ihn an und kicherte in sich hinein. Er redete noch weiter, doch Ilja hörte nicht auf ihn, sondern dachte an das, was er selbst durchlebt hatte. Wie glatt doch alles im Leben sich aneinanderreiht, gleich den Fäden im Netz! Da umgeben nun die Zufälle den Menschen und führen ihn, wohin sie wollen, wie die Polizei den Spitzbuben. Immer schon hatte er daran gedacht, dieses Haus zu verlassen, um für sich zu leben – und nun kommt ihm von selbst ein solcher Zufall zu Hilfe! In seine Gedanken versunken, richtete er den Blick auf den Onkel, als plötzlich an die Tür geklopft wurde und Terentij von seinem Sitz auffuhr.

»So öffne doch!« rief Ilja ärgerlich dem Onkel zu.

Der Bucklige zog den Riegel zurück, und auf der Schwelle erschien Jakow, mit einem großen braunroten Buche in den Händen.

»Ilja, hör' mal . . . komm doch mit zur Maschutka«, sagte er lebhaft, an das Bett herantretend.

»Was ist denn mit ihr?« fragte Ilja rasch.

»Mit ihr? Das weiß ich nicht . . . Sie ist nicht zu Hause.«

»Wo treibt sie sich denn jetzt immer des Abends herum?« fragte der Bucklige in argwöhnischem Tone.

»Sie geht immer mit Matiza fort«, sagte Ilja.

»Viel Gutes wird sie da nicht lernen!« versetzte Terentij gedehnt.

Jakow faßte Ilja am Ärmel und zog ihn mit sich fort.

»Sag' mal,« sprach Lunew, »was ist mit dir? Du bist ja aus Rand und Band!«

»Denk dir – es ist da! Die ›schwarze Magie‹ ist da!« flüsterte Jakow mit strahlender Miene.

»Wer?« fragte Ilja, während er seine Filzstiefel anzog.

»Na, das Buch, weißt du . . . bei Gott! Wirst ja sehen . . . Komm! Wunderdinge, kann ich dir sagen!« schwärmte Jakow, während er den Freund durch den dunklen Flur hinter sich herzog. »Schrecklich zu lesen ist's . . . wie in einen Abgrund zieht es einen hinein . . .«

Ilja sah die Aufregung des Freundes und hörte, wie seine Stimme zitterte. Als sie in das Stübchen des Schusters gekommen waren und Licht angemacht hatten, sah er, daß Jakows Gesicht blaß war und seine Augen vergeistert und selig dreinschauten, wie die Augen eines Betrunkenen.

»Hast du Branntwein getrunken, was?« fragte Ilja und sah Jakow mißtrauisch dabei an.

»Ich? Nein – heut' nicht einen Tropfen! . . . Ich trink' jetzt überhaupt nicht . . . höchstens mal, wenn der Vater zu Hause ist – um mir Mut zu machen . . . So zwei, drei Gläschen! Ich fürcht' mich vor dem Vater . . . Ich trinke auch immer nur, was nicht zu stark riecht . . . Nun, hör' zu!«

Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, daß es krachte, schlug das Buch auf, beugte sich tief darüber, und während er mit dem Finger über die dicken, vom Alter vergilbten Blätter hinfuhr, las er mit hohler, zitternder Stimme:

»›Drittes Kapitel. Über den Ursprung des Menschen‹ . . . So hör' doch zu!«

Er seufzte tief auf, nahm die linke Hand herauf und las laut, während der Zeigefinger der rechten Hand schrittweise in der alten Scharteke vorrückte:

»Es wird berichtet, daß das erste Sein der Menschen, nach dem Zeugnis des Diodor, von tugendhaften Männern, die über das Wesen der Dinge geschrieben haben, also aufgefaßt ward: daß die Welt nicht geschaffen, sondern unvergänglich ist und das Menschengeschlecht ohne Anfang von Urzeiten her bestand . . .«

Jakow hob den Kopf von dem Buche auf und sagte flüsternd, während er mit der Hand in der Luft herumfuchtelte:

»Hörst du? Ohne Anfang! . . .«

»Lies weiter«, sprach Ilja, während er das alte, in Leder gebundene Buch mißtrauisch betrachtete. Und abermals ließ sich Jakows Stimme leise und feierlich vernehmen:

»Dieser Meinung waren – nach dem Zeugnis des Cicero – Pythagoras von Samos, Archytas von Tarent, Plato von Athen, Xenokrates, Aristoteles von Stagira und viele andere Peripatetiker, welche der Meinung waren, daß alles, was ist, von Ewigkeit her ist und keinen Anfang hat – siehst du? wieder ›keinen Anfang‹! – Es gibt jedoch einen gewissen Kreis von Wesen . . .«

Ilja streckte die Hand aus, schlug das Buch zu und sagte spöttisch:

»Wirf's fort! Zum Teufel damit! . . . Irgendein Deutscher hat da seine Schlauheit ausgekramt! Gar nichts versteht man davon . . .«

»Erlaub' doch mal!« rief Jakow, während er sich ängstlich umsah, schaute den Freund mit großen Augen an und fragte leise:

»Kennst du vielleicht deinen Anfang?«

»Was für einen Anfang?« schrie Ilja ärgerlich.

»Schrei nicht so! . . . Nehmen wir mal die Seele . . . Mit der Seele wird doch der Mensch geboren, nicht wahr?«

»Na – und?«

»Also müßte er doch wissen, woher er kommt, und auf welche Weise?! Die Seele ist unsterblich, heißt es . . . sie war immer da . . . nicht wahr? Doch nicht darum handelt es sich, zu wissen, wie du geboren wurdest, sondern wie du begriffen hast, daß du lebst? Du bist lebend geboren worden – nun, und wann bist du denn lebendig geworden? Im Mutterleibe? Schön! Und warum erinnerst du dich nicht mehr dessen, was vor deiner Geburt war, und nicht einmal dessen, was bis zu deinem fünften Jahre war? Und wenn du eine Seele hast – wie ist sie in dich hineingeschlüpft? Na? Sag's einmal!«

Jakows Augen strahlten triumphierend, sein Gesicht erhellte ein zufriedenes Lächeln, und mit einer Freude, die Ilja recht seltsam erschien, rief er:

»Siehst du – da hast du die Seele!«

»Dummkopf!« sagte Ilja und warf ihm einen strengen Blick zu. »Was freust du dich denn so?«

»Aber ich freu' mich doch nicht . . . ich sag' nur eben . . .«

»›Ich sag' nur eben!‹ Nicht darauf kommt's an, wie ich lebendig geworden bin, sondern wie ich leben soll! Wie ich leben soll, daß alles rein sei, daß niemand mir weh tue und auch ich niemanden kränke! Such' mir ein Buch, das mir darüber Klarheit schafft! . . .«

Den Kopf auf die Brust geneigt, saß Jakow nachdenklich da. Seine freudige Stimmung war verschwunden, da sie kein Echo fand. Und nach einer Weile meinte er dann zu Ilja:

»Wenn ich dich so anseh' . . . gefällt mir irgend was nicht an dir . . . Deine Gedanken begreif' ich nicht . . . Doch seh' ich: seit einiger Zeit bist du so stolz auf irgend etwas . . . als wenn du ein Gerechter wärst . . .«

Ilja lachte laut auf.

»Was lachst du denn? Es ist doch richtig! Urteilst über alle so streng . . . Liebst keinen Menschen . . .«

»Da hast du recht!« fiel Ilja trotzig ein. »Wen soll ich lieben? Und wofür? Was haben mir die Menschen Gutes getan? Jeder will sein Stück Brot mühelos, durch fremde Arbeit erwerben, jeder ruft: Liebe mich! Achte mich! Gib mir einen Teil von dem Deinigen, vielleicht werde ich dich dann in mein Herz schließen! Alle sind in gleicher Weise nur aufs Fressen bedacht . . .«

»Na, ich meine, die Menschen suchen doch nicht bloß ihr Fressen«, versetzte Jakow mürrisch und unzufrieden.

»Das weiß ich wohl! Jeder sucht sich mit irgendwelchen schönen Eigenschaften zu schmücken, aber das ist nur eine Maske. Ich sehe, wie mein Onkel mit dem Herrgott feilschen will, gleich dem Kommis, der mit seinem Herrn abrechnet. Dein Papa hat ein paar Kirchenfahnen gestiftet – ich schließe daraus, daß er entweder jemanden begaunert hat oder es noch tun will . . . Und so treiben es alle, wohin ich nur seh' . . . Da hast du einen Groschen – aber gib mir fünf zurück! . . . Und so suchen alle einander Sand in die Augen zu streuen und sich voreinander zu rechtfertigen. Meine Ansicht aber ist: hast du gesündigt, ob freiwillig oder unfreiwillig – halt deinen Hals hin! . . .«

»Darin hast du recht«, sprach Jakow nachdenklich. »Was du vom Vater und vom Buckligen sagtest – beides war richtig . . . Ach, wir zwei sind unter einem schlimmen Stern geboren! Du hast wenigstens deine Bosheit . . . tröstest dich damit, daß du alle verurteilst, und zwar immer strenger verurteilst . . . Ich aber habe nicht einmal das . . . Könnt' ich doch fort von hier, irgendwohin!« sprach er mit schmerzlichem Aufschrei.

»Fort von hier . . . wohin willst du denn gehen?« fragte Ilja mit flüchtigem Lächeln.

Sie saßen am Tische einander gegenüber, finster und schweigend. Auf dem Tische aber lag das große, rotbraune Buch mit dem Ledereinband und dem Stahlschloß . . .

Aus dem Flur des Kellers ließ sich mit einemmal ein Geräusch vernehmen, man hörte leise Stimmen, und eine Hand suchte lange an der Tür nach dem Klopfer. Die beiden Freunde warteten lautlos. Die Tür ging langsam auf, und in den Keller stürzte der Schuster Perfischka. Er war über die Schwelle gestolpert und zu Falle gekommen, und nun lag er auf den Knien, den rechten Arm mit der Harmonika hoch emporstreckend.

»Prrr!« rief er und stieß ein trunkenes Lachen aus. Gleich hinter ihm kam Matiza ins Zimmer gekrochen. Sie beugte sich über den Schuster, faßte ihn unter den Armen und suchte ihn aufzurichten, wobei sie mit lallender Stimme ihn schalt:

»Da – wie er sich vollgetrunken hat . . . Ach, du Saufsack!«

»Gevatterin! Rühr' mich nicht an, . . . Ich steh' ganz allein auf . . . ganz allein!«

Er schwankte hin und her, kam schließlich auf die Beine und ging auf die beiden Freunde zu. Er streckte ihnen seine Linke hin und rief:

»Seid gegrüßt! Willkommen in meinem Hause!«

Matiza ließ ein grunzendes, albernes Lachen hören.

»Woher kommt ihr denn?« fragte Ilja.

Jakow sah lächelnd auf die beiden Betrunkenen und schwieg.

»Woher? Vom weiten Meer! . . . Ha ha! Ihr lieben, guten Jungen . . . ach ja!«

Perfischka stampfte mit den Füßen auf den Boden auf und sang dazu:

»Knöchelchen, ihr kleinen,
Ich möchte um euch weinen,
Kaum seid ihr ausgewachsen,
Müßt ihr beim Kaufmann knacksen . . .«

»Gevatterin! Sing mit!« schrie er, zu Matiza gewandt. »Oder singen wir lieber das Lied, das du mich gelehrt hast . . . Na, los!«

Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Ofen, an dem auch Matiza bereits eine Stütze gefunden hatte, und stieß sie mit dem Ellbogen in die Seite, während er mit den Fingern an den Tasten der Harmonika herumsuchte.

»Wo ist Maschutka?« fragte plötzlich Ilja in finsterem Tone.

»Ja, sagt mal,« schrie auch Jakow und sprang vom Stuhl auf – »wo ist Marja? Sagt mal!«

Aber das betrunkene Paar achtete nicht auf die Fragen. Matiza neigte den Kopf zur Seite und sang:

»Ei, Herr Gevatter, wie schmeckt der Branntwein gut! . . .«

Und Perfischka fiel mit seinem hohen Tenor ein:

»Trink, Herr Gevatter, das wärmet uns das Blut!«

Ilja trat auf den Schuster zu, packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn, daß er mit dem Genick gegen den Ofen flog.

»Wo ist deine Tochter?« herrschte er ihn an.

»Und ach! sein Töchterlein verschwund . . . just um die mitternächt'ge Stund'«, schwatzte Perfischka, während er mit der Hand nach seinem Kopfe faßte.

Jakow versuchte es, von Matiza die Wahrheit zu erfahren, aber sie meinte schmunzelnd:

»Ich sag's nicht! Ich sag's und sag's nicht!«

»Sie haben sie ganz gewiß verkauft, die Teufel!« sprach Ilja mit finsterem Lachen zu seinem Freunde. Jakow sah ihn erschrocken an und fragte den Schuster mit kläglicher Stimme:

»Perfilij! So hör' doch – wo ist Maschutka? . . .«

»Ma–aschut–ka?« wiederholte Matiza höhnisch. »Jetzt hast du dich gefangen! . . .«

»Ilja, was meinst du? Was sollen wir jetzt tun?« fragte Jakow bekümmert.

Ilja blickte finster auf die Betrunkenen und schwieg. Matiza sah mit ihren unheimlichen großen Augen bald Ilja, bald Jakow an und brüllte plötzlich unter plumpen Armbewegungen los:

»Hinaus aus meiner Hütte! Das ist hier meine Hütte! Wir machen nämlich Hochzeit . . .«

Der Schuster hielt sich den Bauch vor Lachen.

»Komm, Jakow«, sagte Ilja. »Der Teufel soll aus ihnen klug werden! . . .«

»Wart' noch!« rief Jakow in ängstlicher Aufregung. »Perfischka . . . sag' – wo ist Mascha?«

»Matiza! Meine Gemahlin – pack' sie doch an! Fass', fass' . . . Bell' auf sie los, beiß sie! . . . Wo Mascha ist?«

Perfischka spitzte den Mund, als ob er pfeifen wollte, doch konnte er keinen Ton herausbringen, und statt zu pfeifen, zeigte er Jakow die Zunge und lachte wieder. Matiza drang mit ihrer mächtigen Brust auf Ilja ein und brüllte laut:

»Wer bist du denn, eh? Denkst wohl, man weiß es nicht!«

Ilja gab ihr einen Stoß und verließ den Keller. Im Hausflur holte ihn Jakow ein, er faßte ihn an der Schulter, hielt ihn im Dunkeln fest und sagte:

»Darf denn das sein? Ist denn das erlaubt? Sie ist doch noch so klein, Ilja! Haben sie sie wirklich verheiratet?«

»Na, so winsle doch nicht!« fuhr Ilja ihn heftig an. »Es hat keinen Zweck. Hättest früher die Augen offen halten sollen . . . Du hast den Anfang gesucht, und sie haben, ehe du dich versehen, ihre Sache zu Ende gebracht . . .«

Jakow schwieg, doch schon in der nächsten Minute, als er hinter Lunew über den Hof schritt, begann er von neuem:

»Ich bin nicht schuld . . . Ich wußte nur, daß sie irgendwo aufwartet . . .«

»Was geht's mich an, ob du es wußtest oder nicht!« sagte Ilja grob und blieb mitten im Hofe stehen. »Fort will ich endlich aus diesem Hause . . . anzünden sollte man's!«

»O Gott . . . Gott!« seufzte Jakow, der sich hinter Lunew hielt, leise, ließ die Arme kraftlos herabhängen und neigte seinen Kopf, als erwarte er einen Schlag.

»Wein' doch!« sagte Ilja spöttisch, ließ den Freund mitten in dem dunklen Hofe stehen und ging davon.

Am nächsten Morgen erfuhr Ilja von Perfischka, daß Maschutka an den Krämer Chrjenow, einen fünfzigjährigen Witwer, der vor kurzem seine Frau verloren hatte, verheiratet war.

»Ich hab' zwei Kinder, sagte er mir,« berichtete Perfischka, »und ich müßte ihnen eine Kinderfrau halten . . . Aber eine Kinderfrau, sagt er, ist doch 'ne fremde Person . . . wird mich bestehlen, und so weiter . . . Rede also mit deiner Tochter, ob sie mich heiraten will . . . Na, und so redete ich mit ihr . . . Und auch Matiza redete ihr zu . . . Und weil eben Mascha ein vernünftiges Kind ist, so begriff sie die Sache gleich . . . was sollte sie sonst anfangen? . . . Gut, ich will's tun, sagt sie – und so ging sie zu ihm. In drei Tagen war alles abgemacht . . . Wir beide – ich und Matiza – bekamen je drei Rubel . . . die haben wir gestern gleich vertrunken! . . . Himmel, kann diese Matiza trinken . . . Kein Pferd kann so viel saufen! . . .«

Ilja hörte zu und schwieg. Er begriff, daß Mascha es besser getroffen hatte, als man erwarten konnte. Gleichwohl aber tat ihm das Mädchen leid. In der letzten Zeit hatte er sie fast gar nicht gesehen und kaum an sie gedacht, und jetzt schien's ihm auf einmal, daß dieses Haus ohne Mascha noch häßlicher sein würde.

Das fahle, aufgedunsene Gesicht Perfischkas grinste vom Ofen herab auf Ilja, und seine Stimme knarrte wie ein abgebrochener Ast im Herbstwind.

»Eine Bedingung hat mir der Krämer Chrjenow gestellt: daß ich mich niemals bei ihm zeige! In den Laden, sagt er, kannst du ab und zu mal kommen, ich will dir 'ne Kleinigkeit auf Schnaps geben . . . aber mein Haus bleibt dir verschlossen, wie das Paradies! . . . Wie wär's, Ilja Jakowlewitsch – möchtest du nicht mit 'nem Fünfer rausrücken? Ich möcht' meinen Kater ersäufen . . . gib mir doch, bitte . . .«

»Was wirst du jetzt anfangen?« fragte ihn Lunew.

Der Schuster spuckte aus und antwortete:

»Ich werde jetzt ganz und gar zum Säufer werden . . . Wie Mascha noch nicht versorgt war, hab' ich mir noch Zwang angetan . . . hab' manchmal gearbeitet . . . aus Gewissenhaftigkeit gegen sie, sozusagen . . . Na, und jetzt weiß ich, daß sie satt ist, daß sie Schuhe und Kleider hat und wie im Spind, sozusagen, eingeschlossen ist. Ich kann mich also jetzt ungehindert dem Trinkerberuf widmen . . .«

»Kannst du wirklich den Branntwein nicht lassen?«

»Niemals!« antwortete der Schuster und schüttelte energisch verneinend den zottigen Kopf. »Warum denn auch? Der Mensch hängt doch nicht von seinem Willen ab, sondern vom Schicksal. Wenn freilich ein Mensch ohne Boden ist, daß das Schicksal nichts in ihn hineinlegen kann, vermag auch das Schicksal nichts für ihn zu tun. Einmal hab' ich's versucht, selbst etwas zu wollen . . . zu Lebzeiten meiner Verstorbenen war's noch . . . Auf Großvater Jeremas Schatz hatt' ich's damals abgesehen, hätte da gern 'nen Griff hineingetan . . . Bestehl' ich ihn nicht – bestiehlt ihn ein anderer, dacht' ich . . . na, und Gott sei Dank: wirklich sind sie mir in dieser Sache zuvorgekommen! . . . Ich beklag' mich darum nicht . . . Aber damals hab' ich begriffen, daß man auch das Wollen verstehen muß . . .«

Der Schuster lachte, kletterte vom Ofen herunter und sagte:

»Na, gib mal jetzt den Fünfer her . . . Die Leber brennt mich so . . . ich halt's nicht länger aus . . .«

»Da, trink ein Gläschen!« sagte Ilja, sah lächelnd auf Perfischka und meinte: »Du bist ein Scharlatan und ein Trunkenbold, das ist ganz sicher. Manchmal aber scheint es mir, daß ich keinen besseren Menschen kenne als dich.«

Perfischka schaute ungläubig in Lunews ernstes, doch dabei freundliches Gesicht.

»Beliebst wohl zu scherzen?« sagte er.

»Glaub's oder glaub's nicht – es ist so. Ich sag's nicht, um dich zu loben . . . sondern nur so . . . die andern taugen eben nichts . . .«

»Das ist mir zu hoch . . . Mein Schädel scheint zu dumm, um so feinen Zucker damit zu klopfen . . . Hab' dich wirklich nicht verstanden! Laß mich erst mal 'nen Schluck nehmen . . . vielleicht werde ich dann klüger . . .«

»Noch eine Frage!« sprach Lunew, ihn am Hemdärmel zurückhaltend. »Fürchtest du Gott?«

Perfischka trat ungeduldig von einem Fuß auf den andern und sagte in einem Tone, der fast beleidigt klang:

»Ich hab' doch keinen Grund, Gott zu fürchten! . . . Ich füge den Menschen kein Leid zu . . .«

»Und wie ist's – betest du?« fragte Ilja leise.

»Na ja . . . ich bete, freilich . . . nicht oft . . .«

Ilja sah, daß der Schuster keine Lust hatte zu reden, daß es ihn mit aller Gewalt nach der Schenke zog.

»Geh schon, geh!« sagte er nachdenklich. »Aber merk' es dir: wenn du gestorben bist, wird der Herr dich fragen: ›Wie hast du gelebt, o Mensch?‹«

»Dann sprech' ich: ›O Herr! Wie ich geboren wurde, war ich klein, und wie ich starb, war ich betrunken – ich kann also nichts wissen . . .‹ Da wird er lachen und mir vergeben . . .«

Der Schuster lächelte zufrieden und ging fort.

Lunew blieb allein in dem Keller. Es ward ihm so sonderbar zumute, als er sich vorstellte, daß in dieser engen, schmutzigen Höhle niemals mehr Maschas zarte Gestalt erscheinen würde, und daß man auch Perfischka bald hinausjagen würde.

Durchs Fenster schaute die Aprilsonne herein und beschien den lange nicht mehr gefegten Fußboden des Zimmers. Alles war so unordentlich, so häßlich und traurig darin – als hätte man eben einen Toten hinausgetragen . . .

Ilja saß gerade aufgerichtet auf dem Stuhle, betrachtete den mächtigen, an den Seiten abgeriebenen Ofen, und finstere Gedanken gingen ihm, einer nach dem andern, durch den Kopf.

»Soll ich vielleicht doch hingehen und . . . meine Sünde bekennen?« blitzte es plötzlich hell in ihm auf.

Aber er wies diesen Gedanken sogleich unwillig zurück.


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