Maxim Gorki
Drei Menschen
Maxim Gorki

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XIX

Während der nächsten Tage beriet Lunew gemeinsam mit Tatjana Wlaßjewna die Einzelheiten des neuen Unternehmens. Sie wußte alles und sprach von allem mit solcher Sicherheit, als ob sie ihr Leben lang mit Galanteriewaren gehandelt hätte. Ilja hörte sie mit Erstaunen an, lächelte und schwieg. Er wollte so bald wie möglich mit der Sache beginnen und ging auf alle Vorschläge der Awtonomowa ein, ohne weiter über sie nachzudenken.

Es stellte sich heraus, daß Tatjana Wlaßjewna auch bereits einen passenden Laden in Bereitschaft hatte. Er war ganz so beschaffen, wie Ilja sich ihn vorgestellt hatte: in einer sauberen Straße gelegen, klein und nett, mit einem Zimmer für den Mieter. Alles ging nach Wunsch, bis in die geringste Kleinigkeit, und Ilja triumphierte.

Frisch und fröhlich erschien er bei seinen Freunden im Krankenhause; dort begegnete ihm Pawel, der gleichfalls in guter Stimmung war.

»Morgen werde ich gesund geschrieben!« erzählte er Ilja freudig erregt, bevor er noch seinen Gruß erwidert hatte. »Von Wjerka hab' ich einen Brief bekommen . . . Sie schimpft darin . . . der kleine Satan! . . .«

Seine Augen glänzten, seine Wangen waren gerötet. Er konnte nicht ruhig auf einem Fleck stehen, scharrte mit den Pantoffeln auf der Erde, fuchtelte mit den Armen.

»Nimm dich jetzt nur in acht,« sprach Ilja zu ihm – »sei auf der Hut!«

»Natürlich! Ich frage ganz einfach: Mamsell Wjera, wollen Sie heiraten? Bitte! Nein? Dann gibt's einen Messerstich ins Herz!«

Über Pawels Gesicht und Körper ging ein krampfhaftes Zittern.

»Na, na!« sagte Ilja lachend. »Wer wird gleich mit dem Messer drohen!«

»Nein, glaub's mir – ich hab' es satt! Ohne sie leben kann ich nicht . . . Schmutzereien hat sie genug getrieben – die muß sie endlich satt haben . . . Ich hab' jedenfalls genug von der Sache. Morgen entscheidet es sich zwischen uns . . . so oder so . . .«

Lunew sah dem Freunde ins Gesicht, und plötzlich tauchte in seinem Kopfe ein einfacher, heller Gedanke auf. Er errötete, und ein Lächeln ging über sein Gesicht . . .

»Paschutka, denke dir: ich hab' mein Glück gemacht!« begann er nach einem Weilchen.

Und er erzählte dem Freunde in aller Kürze, was ihm in den letzten Tagen begegnet war. Pawel hörte ihm zu, ließ seufzend den Kopf hängen und sagte:

»Ja–a, du hast Glück . . .«

»Ich schäm' mich sogar vor dir meines Glücks . . . wahrhaftig! Ich spreche ganz aufrichtig.«

»Schönen Dank auch dafür!« sagte Pawel lachend.

»Weißt du was?« sagte Ilja leise. »Ich will mich nicht etwa brüsten, sondern sag's im Ernst, daß ich mich schäme . . .«

Pawel sah ihn schweigend an und senkte dann wieder nachdenklich den Kopf.

»Ich will dir nun etwas sagen,« fuhr Ilja fort – »wir haben in der Not zusammengehalten, laß uns auch die Freude teilen!«

»Hm–m,« brummte Pawel – »ich hörte, daß man die Freude so wenig teilen kann, wie ein Weib . . .«

»Man kann's! . . . Erkundige dich einmal, was alles nötig ist, um ein Brunnenmachergeschäft einzurichten – was für Instrumente, Materialien und so weiter . . . und wieviel das kostet . . . das Geld dazu will ich dir geben . . .«

»Nanu–u–u?« rief Pawel gedehnt und sah den Freund ungläubig an. Lunew faßte voll Herzlichkeit seine Hand und drückte sie fest.

»Wirklich, du Sonderling . . . ich geb' es dir!«

Er mußte jedoch noch lange auf Pawel einreden, um ihn von der Ernsthaftigkeit seiner Absicht zu überzeugen. Pawel schüttelte in einem fort den Kopf, brummte und sagte:

»Nein, das wird nichts . . .«

Endlich gelang es Lunew, ihn gefügig zu machen. Und dann umarmte ihn Paschka seinerseits und sprach mit vor Rührung bebender Stimme:

»Ich danke dir, Bruder! Ziehst mich heraus aus dem Loche . . . Nur hör', was ich sage: eine eigne Werkstatt mag ich nicht – die hol' der Teufel! Das ist nichts für mich . . . Gib mir etwas Geld – ich will Wjerka zu mir nehmen und von hier fortmachen. So ist's für dich leichter – denn du brauchst nicht so viel zu geben – und für mich bequemer. Ich fahr' irgendwohin und tret' als Geselle in eine Werkstatt ein . . .«

»Unsinn!« sagte Ilja. »Es ist doch besser, sein eigner Herr zu sein . . .«

»Ich und mein eigner Herr!« rief Pawel vergnügt. »Nein, ein eignes Geschäft, und was sonst drum und dran hängt, ist nicht nach meinem Geschmack . . . Einen Bock kannst du nicht mit einemmal zum Schwein umwandeln . . .«

Lunew begriff Paschkas Auffassung vom Wesen eines Prinzipals nicht recht, doch fand er an ihr Gefallen.

»'s ist wahr: du siehst wirklich einem Bock ähnlich,« sagte er scherzend, »bist ebenso mager . . . Weißt du, an wen du mich erinnerst? An den Schuster Perfischka! . . . Na, also morgen treffen wir uns, und da geb' ich dir Geld für den Anfang . . . solange du keine Stellung hast . . . Und jetzt will ich mal nach Jakow sehen . . . Wie stehst du denn mit ihm?«

»Wie früher . . . wir können uns nicht recht besehen . . .« sprach Gratschew lachend.

»Er ist ein unglücklicher Mensch . . .« sagte Ilja nachdenklich.

»Davon haben wir alle etwas . . .« versetzte Pawel achselzuckend. »Es scheint mir immer, als sei er nicht ganz bei Verstande. Ein Pechvogel sozusagen . . .«

Als Ilja ihn bereits verlassen hatte, rief er, mitten im Korridor stehend, noch einmal hinter ihm her:

»Ich danke dir, Bruder!«

Ilja nickte ihm lächelnd zu.

Den armen Jakow traf er ganz traurig und niedergeschlagen. Er lag auf seinem Bett, das Gesicht der Decke zugekehrt, schaute mit weit geöffneten Augen nach oben und bemerkte es gar nicht, als Ilja an ihn herantrat.

»Nikita Jegorytsch ist in einen andern Saal gekommen«, sprach er düster zu Ilja.

»Das ist gut,« versetzte Lunew – »er sah schon gar zu schrecklich aus.«

Jakow sah ihn vorwurfsvoll an und begann zu husten.

»Geht's dir besser?« fragte Ilja.

»Ja–a . . .« antwortete Jakow mit einem Seufzer. »Nicht mal krank sein darf ich, solange ich will . . . Gestern war der Vater wieder da. Er hat ein zweites Haus gekauft, sagt er. Noch eine Schenke will er aufmachen. Und das alles soll ich mal auf den Hals kriegen . . .«

Ilja hätte zu ihm gern von seinen eignen Erfolgen gesprochen, doch hielt ihn irgend etwas davon zurück.

Die Frühlingssonne lachte heiter zum Fenster herein, und die gelben Wände des Krankenhauses erschienen in ihrem Lichte noch gelber. Der Anstrich zeigte in der hellen Beleuchtung allerhand Flecke und Risse. Zwei von den Kranken saßen schweigend auf ihren Betten und spielten Karten. Ein hochgewachsener, magerer Mensch ging geräuschlos, den verbundenen Kopf tief auf die Brust gesenkt, im Saale hin und her. Es war still in dem Raume, nur ein unterdrücktes Husten vernahm man irgendwoher, und vom Korridor hörte man die Pantoffeln der Kranken schlurren. Jakows gelbes Gesicht erschien wie leblos, und seine Augen hatten einen bekümmerten Ausdruck.

»Ach, ich möchte sterben!« sprach er mit seiner knarrenden Stimme. »Wenn ich so daliege, sag' ich mir: es muß interessant sein, zu sterben.« Seine Stimme klang immer leiser, gedämpfter. »Freundliche Engel sind da . . . Sie können dir alles erklären, jede deiner Fragen beantworten . . .«

Er schwieg und beobachtete blinzelnd, wie an der Decke der bleiche Reflex eines Sonnenstrahls spielte.

»Hast du Maschutka nicht gesehen!« fragte er dann plötzlich.

»N–nein . . . Ich hab' nicht dran gedacht, sie zu besuchen . . . es hat nicht alles Platz im Kopfe . . .«

»Ins Herz mußt du dir's schreiben, nicht in den Kopf!«

Lunew ward verlegen und schwieg. Jakow seufzte und warf unruhig seinen Kopf auf dem Kissen hin und her.

»Nikita Jegorytsch muß nun sterben,« sagte er, »und er will nicht . . . Der Feldscher sagte es mir: er muß sterben! . . . Und ich will sterben – und kann nicht! Ich werde wieder gesund und geh' hinters Büfett, wo ich keinem was nütze.«

Seine Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. Er sah den Freund ganz sonderbar an und sprach weiter:

»Um es in diesem Leben auszuhalten, müßte man eiserne Lenden und ein eisernes Herz haben . . .«

Ilja hörte aus Jakows Worten etwas Feindseliges, Kaltes heraus, und er runzelte die Stirn.

»Und ich bin wie Glas zwischen Steinen,« fuhr Jakow fort – »dreh' ich mich um – dann gibt's einen Sprung . . .«

»Du jammerst schon gar zu gern«, sagte Lunew obenhin.

»Und du?« fragte Jakow.

Ilja wandte sich ab und schwieg. Dann, als er merkte, daß Jakow sich nicht zum Weiterreden anschickte, sagte er nachdenklich:

»Wir haben es alle schwer. Nimm zum Beispiel Pawel! . . .«

»Ich lieb' ihn nicht«, sagte Jakow und verzog mürrisch sein Gesicht.

»Warum nicht?«

»So . . . ich lieb' ihn einmal nicht . . .«

»Hm ja . . . ich muß jetzt gehen . . .«

Jakow reichte ihm schweigend die Hand und bat dann plötzlich mit kläglicher, bettelnder Stimme:

»Erkundige dich doch . . . nach Maschutka! Ja? Um Christi willen! . . .«

»Gut, ich will's tun«, sprach Ilja.

Er atmete erleichtert auf, als er Jakow verlassen hatte. Seine Bitte aber, er möchte sich doch nach Mascha erkundigen, hatte bewirkt, daß Ilja sich seines Verhaltens gegen Perfischkas Tochter schämte, und er beschloß, Matiza aufzusuchen, die sicherlich wußte, wie sich Maschutka in ihre neue Lage gefunden hatte.

Ilja ging in der Richtung auf Filimonows Schenke zu, und in seiner Seele drängten sich allerhand Gedanken über seine Zukunft. Sie schien ihm hold zu lächeln, diese Zukunft, und ganz seinem Grübeln hingegeben, ging er, ohne es zu merken, an der Schenke vorüber. Als er dann zurückschaute, hatte er keine Lust, wieder umzukehren. Er ging aus der Stadt hinaus: weithin breiteten sich die Felder, die in der Ferne durch den dunkel emporragenden Wald begrenzt wurden. Die Sonne ging unter, auf dem jungen Rasengrün lag ihr rosig schimmernder Abglanz. Ilja schritt erhobenen Hauptes vorwärts und schaute zum Himmel auf, wo in der Ferne rötliche Wolken unbeweglich über der Erde standen und in den Sonnenstrahlen flammten. Es war ihm angenehm, so dahinzuwandern: jeder Schritt vorwärts und jeder Atemzug erweckte in seiner Seele einen neuen Gedanken. Er stellte sich vor, daß er reich und mächtig geworden sei und es in der Gewalt habe, Petrucha Filimonow zu ruinieren. Er hatte ihn schon an den Bettelstab gebracht, und Petrucha stand vor ihm und weinte, er aber, Ilja Lunew, sprach zu ihm:

»Mitleid soll ich mit dir haben? Und du – hast du mit jemand Mitleid gehabt? Hast du nicht deinen Sohn getreten und mißhandelt? Hast du nicht meinen Onkel zur Sünde verführt? Hast du mich nicht von oben herab angesehen und verhöhnt? In deinem verfluchten Hause ist niemand glücklich gewesen, hat niemand die Freude gesehen. Durch und durch verfault ist dein Haus, ein Gefängnis für die Menschen, die darin wohnen . . .«

Petrucha steht da, zitternd und stöhnend vor Furcht, ganz jämmerlich wie ein Bettler, und Ilja fährt in seiner Strafpredigt fort:

»Ich will dein Haus verbrennen, denn es bringt allen Unglück, die darin wohnen. Du aber geh umher in der Welt und bitte alle, die du beleidigt hast, um Vergebung; bis zu deinem Tode geh so umher, und stirb dann vor Hunger, wie ein Hund! . . .«

Die abendliche Dämmerung hatte sich auf das Feld gesenkt; der Wald erhob sich in der Ferne wie eine dichte, dunkle Wand, wie ein Berg. Eine Fledermaus flog geräuschlos wie ein kleiner schwarzer Fleck durch die Luft, und es schien, als ob sie es wäre, die die Finsternis säete. Von weitem, vom Flusse her, vernahm man das Rauschen und Klatschen der Räder eines Dampfers. Es war, als wenn irgendwo in der Ferne ein ungeheurer Vogel dahinschwebe und mit mächtigen Schlägen seiner Fittiche die Luft aufwühle. Lunew erinnerte sich aller jener Leute, die ihm auf seinem Lebenswege hindernd entgegengetreten waren, und sie alle zog er schonungslos vor sein Strafgericht. Er hatte davon ein angenehmes Gefühl der Erleichterung, und wie er so einsam durch die Felder schritt, überall von Finsternis umwogt, begann er leise zu singen . . .

Plötzlich machte sich ein modriger, herber Düngergeruch in der Luft bemerkbar. Ilja hörte auf zu singen: dieser Duft erweckte in ihm angenehme Erinnerungen. Er war an die städtische Abladestelle gelangt, zu der Schlucht, in der er früher so oft mit Großväterchen Jeremjej nach brauchbaren Abfällen gesucht hatte. Das Bild des alten Lumpensammlers tauchte in Iljas Erinnerung auf, und er ließ seinen Blick umherschweifen, um im Dunkel das Plätzchen zu finden, an dem der Alte einst mit ihm auszuruhen pflegte. Doch er vermochte den Platz nicht zu entdecken: offenbar war er unter den Bergen von Schutt und Müll verschwunden. Ilja stieß einen Seufzer aus – er fühlte, daß auch in seiner Seele irgend etwas unter dem Schutt des Lebens verschwunden war.

»Hätt' ich den Kaufmann nicht erwürgt . . . dann würde mir jetzt nichts mehr fehlen zum Leben«, fuhr's ihm plötzlich durch den Kopf. Gleich darauf aber erfolgte aus seinem Herzen gleichsam die Antwort eines andern:

»Was hat der Kaufmann damit zu tun? Er ist nur mein Unglück, nicht meine Sünde . . .«

Ein leises Geräusch ließ sich plötzlich vernehmen. Ein kleiner Hund huschte an Iljas Füßen vorüber und flüchtete mit leisem Gewinsel. Ilja fuhr zusammen. Es war, als sei vor ihm ein Teil dieser nächtlichen Finsternis lebendig geworden und unter Gestöhn entschwunden.

»'s ist alles gleich,« ging's ihm durch den Sinn, »auch ohne diesen Kaufmann wäre in meinem Herzen kein Friede. Wieviel Kränkungen habe ich selbst erfahren, wieviel andere erdulden sehen! Ist das Herz einmal verwundet, dann wird es nie aufhören zu schmerzen . . .«

Er ging langsam am Rande der Schlucht entlang. Seine Füße versanken im Schmutz, und er vernahm das Knistern der Holzspäne und das Rascheln des Papiers unter seinen Tritten. Ein freies, noch nicht verschüttetes Stück des Bodens zog sich vor ihm als schmaler Pfad in die Schlucht hinein. Er ging auf diesem schmalen Streifen weiter bis dahin, wo er jäh zu Ende war, setzte sich dort nieder und ließ die Füße in die Schlucht hinunterbaumeln. Die Luft war hier frischer, und als sein Auge die Schlucht entlang schweifte, erblickte Ilja in der Ferne das stählerne Band des Stromes. Auf dem Wasser, das unbeweglich wie Eis schien, zitterten sanft die Lichter der unsichtbaren Fahrzeuge, und eins derselben schwankte wie ein roter Fleck in der Luft. Ein zweites, grünlich schimmernd, wie unheilkündend, brannte unbeweglich, ohne Strahlen . . . Und zu Iljas Füßen lag, von dichtem Nebel angefüllt, der weite Rachen der Schlucht, die selbst wie ein Strombett erschien, in dem die schwarzen Luftmassen unhörbar dahinflossen. Schwermut kehrte in Lunews Herz ein; er schaute in die Schlucht und dachte:

»Eben noch war mir so wohl zumute, das Schicksal schien mir zuzulächeln – und nun ist alles wieder weg . . .«

Es fiel ihm ein, wie feindselig sich Jakow heute gegen ihn verhalten hatte, und es ward ihm noch trauriger zumute bei dieser Erinnerung . . . Aus der Schlucht ertönte plötzlich ein Geräusch: ein Erdklumpen hatte sich wahrscheinlich losgelöst. Ilja streckte den Hals vor und spähte hinunter in das Dunkel. Der feuchte Nachthauch umwehte sein Gesicht . . . Er blickte zum Himmel empor. Dort flammten schüchtern die Sterne auf, und über dem Walde erhob sich langsam die große, rötliche Scheibe des Mondes wie ein gewaltiges, fühlloses Auge. Und wie kurz vorher die Fledermaus durch die Dämmerung geflattert war, so schwirrten jetzt dunkle Vorstellungen und Erinnerungen durch Iljas Seele: sie erschienen und schwanden, ohne die Rätsel, die ihn beschäftigten, zu lösen. Und immer dichter und schwerer senkte sich Finsternis in seine Seele.

Er saß lange da, dachte nach und schaute bald in die Schlucht hinab, bald zum Himmel empor. Das Licht des Mondes, der in die finstere Schlucht hineinschaute, beschien die tiefen Risse und das Gebüsch an ihrem Abhang. Von dem Gebüsch fielen förmliche Schatten auf die Erde. Der Himmel war klar und rein, kein Wölkchen verdeckte die flimmernden Sterne. Es war kühl geworden; Ilja erhob sich und ging, in der Nachtkälte zitternd, langsam übers Feld nach der Stadt zu, deren Lichter in der Ferne blinkten. Er wollte an nichts mehr denken. Die kalte Ruhe und einsame Leere des Himmels, in dem er früher seinen Gott gefühlt, hatte sich in der nächtlichen Stille in seine Brust gesenkt . . .

Er kam spät nach Hause, stand nachdenklich vor der Tür und zögerte, die Klingel zu ziehen. Die Fenster waren bereits dunkel – seine Wirtsleute schliefen also schon. Es war ihm peinlich, Tatjana Wlaßjewna, die stets selbst die Tür zu öffnen pflegte, noch so spät zu beunruhigen, aber er mußte doch schließlich ins Haus hinein. Leise zog Lunew an dem Griff der Klingel. Fast in demselben Augenblick öffnete sich die Tür, und vor Ilja stand, in Weiß gehüllt, die schlanke Gestalt seiner Wirtin.

»Schließen Sie rasch zu!« sprach sie zu Ilja mit seltsam veränderter Stimme. »Es ist kühl . . . ich bin entkleidet . . . Mein Mann ist nicht zu Hause.«

»Ich bitte um Entschuldigung«, murmelte Lunew.

»Wie spät Sie kommen! Woher denn? Wie?«

Ilja schloß die Tür zu, wandte sich um, um ihr zu antworten und – streifte plötzlich ihre Brust; sie wich vor ihm nicht zurück, sondern schmiegte sich vielmehr noch dichter an ihn an. Auch er konnte nicht zurückweichen, die Tür war in seinem Rücken. Sie ließ ein Lachen hören – ein leises, zitterndes Lachen. Lunew hob seine Arme auf und legte behutsam die Hände auf ihre Schultern. Er bebte vor Aufregung und Verlangen, sie zu umarmen. Da reckte sie selbst sich in die Höhe, umfing seinen Hals fest mit ihren schlanken, heißen Armen und sagte mit wohlklingender Stimme:

»Wo treibst du dich denn herum in den Nächten? Warum denn das? Du kannst es doch hier näher haben . . . mein Geliebter . . . mein schöner . . . starker Junge! . . .«

Ilja suchte wie im Traume ihre herben Küsse und wankte unter den stürmischen Bewegungen ihres schlanken Leibes. Sie aber hing an seiner Brust wie eine Katze und küßte ihn in einem fort. Er umfaßte sie mit seinen starken Armen und trug sie in sein Zimmer – leicht, wie wenn er durch die Luft schwebte, schritt er mit seiner Last daher . . .

Am Morgen erwachte Ilja mit Angst in der Seele.

»Wie soll ich jetzt Kirik in die Augen schauen?« dachte er. Und zu der Angst vor dem Revieraufseher gesellte sich auch die Scham.

»Wenn ich wenigstens auf ihn erzürnt wäre, oder er mir nicht gefiele . . . Aber so ohne weiteres . . . ihn zu kränken, um nichts und wieder nichts . . .« dachte er mit bangem Herzen, und in seiner Seele regte sich ein Gefühl der Abneigung gegen Tatjana Wlaßjewna. Es schien ihm, daß Kirik unbedingt die Untreue seiner Gattin erraten würde.

»Wie sie sich auf mich gestürzt hat – gleich einer Hungrigen!« dachte er in beunruhigendem, peinigendem Zweifel und fühlte zugleich in seinem Herzen den angenehmen Kitzel der Eigenliebe. Eine Frau, die von aller Welt respektiert wurde – eine saubere, gebildete, verheiratete Frau hatte ihr Auge auf ihn geworfen!

»Es muß doch etwas Besonderes an dir sein«, flüsterte seine Eitelkeit ihm zu. »Es ist schändlich, schändlich . . . aber ich bin doch nicht von Stein . . . ich konnte sie doch nicht fortjagen . . .«

Er war schließlich jung, und seine Phantasie beschäftigte sich unwillkürlich mit den Liebkosungen dieses Weibes – ganz besonderen, ihm bisher unbekannten Liebkosungen. Andererseits sagte ihm auch sein praktischer Sinn, daß diese neue Beziehung ihm verschiedene Vorteile bieten könne. Aber diesen Vorstellungen folgten auf dem Fuße – gleich einer dunklen Wolke – andere, düstre Gedanken.

»Da bin ich nun wieder in die Sackgasse geraten . . . Wollte ich das? Ich habe dieses Weibchen geachtet . . . Nie hatte ich auch nur einen bösen Gedanken mit Bezug auf sie . . . und nun ist es so gekommen . . .«

Und dann verdeckte wieder den Aufruhr seiner Seele und all die Widersprüche darin die angenehme Vorstellung, daß nun bald für ihn das saubere, behagliche Leben beginnen werde. Zuletzt aber blieb doch der peinliche, stechende Gedanke:

»Es wäre schließlich ohne das besser gewesen . . .«

Er blieb absichtlich so lange im Bett, bis Awtonomow in den Dienst gegangen wäre, und er hörte, wie der Revieraufseher, mit den Lippen schmatzend, zu seiner Frau sagte:

»Also zum Mittagessen machst du mir Fleischpasteten, Tanja. Nimm etwas mehr Schweinefleisch, und dann mach' sie ganz klein wenig braun – daß sie mich vom Teller wie rosige junge Ferkelchen angucken . . . Du weißt doch, Mamachen! Und tu hübsch ordentlich Pfeffer dazu, mein Täubchen – du weißt, wie ich's gern habe!«

»Na, geh schon, geh! Als ob ich deinen Geschmack nicht wüßte . . .« sprach seine Frau zärtlich zu ihm.

»Und jetzt, mein Täubchen, mein Tatjanchen . . . erlaub' mir noch ein Küßchen! . . .«

Als Lunew das Schmatzen des Kusses vernahm, fuhr er zusammen. Peinlich und lächerlich zugleich erschien ihm die Sache.

»Tschik! tschik! tschik!« rief Awtonomow, während er seine Frau küßte, und sie lachte dazu. Als sie die Tür hinter ihm verriegelt hatte, kam sie sogleich in Iljas Zimmer gehüpft, sprang auf sein Bett und rief munter:

»Küss' mich, rasch – ich hab' keine Zeit.«

»Sie haben doch eben erst Ihren Mann geküßt«, meinte Ilja finster.

»Wa–as? ›Sie‹? . . . Ach, er ist eifersüchtig!« rief sie mit Genugtuung, sprang lachend vom Bett und zog den Fenstervorhang zu.

»Eifersüchtig!« sagte sie, »das ist nett! Eifersüchtige Männer lieben mit Leidenschaft . . .«

»Nicht aus Eifersucht sagte ich das . . .«

»Mund gehalten!« kommandierte sie schelmisch, während sie ihm den Mund mit der Hand zuhielt . . .

Als sie genug gekost hatten, sah Ilja sie lächelnd an und konnte es sich nicht versagen, zu bemerken:

»Das heißt – dreist bist du doch . . . ein richtiger Tollkopf! Dicht unter der Nase des Mannes solche Streiche zu machen . . .«

Ihre grünlich schillernden Augen funkelten gereizt, und sie entgegnete:

»Das ist doch etwas ganz Gewöhnliches! Gar nichts Besonderes ist dabei! Meinst wohl, es gibt viele Frauen, die ihren Männern treu sind? Nur die Häßlichen und Kranken sind's . . . Einer hübschen Frau wird es immer Vergnügen machen, einen kleinen Roman zu haben . . .«

Den ganzen Morgen gab sie Ilja Belehrungen über diesen Punkt, erzählte ihm vergnüglich allerhand Geschichten von Weibern, die ihre Männer betrogen. In ihrem roten Jäckchen, die Schürze vorgebunden und die Ärmel aufgestreift, geschmeidig und leicht, hüpfte sie in der Küche umher, bereitete für ihren Gatten die Fleischpasteten und ließ in einem fort ihre helle Stimme erklingen:

»Der Herr Gemahl . . . meinst du, der müsse einer Frau genügen? Der Gemahl kann ihr doch zuweilen sehr mißfallen, selbst wenn sie ihn liebt! Und dann macht er ja auch nicht viel Umstände, wenn er mal seine Frau bei günstiger Gelegenheit betrügen kann . . . So ist's auch für die Frau langweilig, ihr ganzes Leben lang immer nur zu denken: Mein Mann, mein Mann, mein Mann! Es macht Spaß, mal mit einem andern Manne eine Kurzweil zu haben – es ist unterhaltend. Man lernt die andern kennen und weiß, welcher Unterschied zwischen den Männern besteht. Es gibt doch auch verschiedene Biersorten: einfaches Bier, bayrisches Bier, Wacholderbier, Moosbeerbier . . . Es ist dumm, immer nur einfaches Bier zu trinken . . .«

Während Ilja ihr zuhörte, trank er seinen Tee, und es schien ihm, daß dieser einen bittren Beigeschmack hatte. In den Reden dieses Weibes war etwas unangenehm Kreischendes, das für ihn neu war. Unwillkürlich erinnerte er sich Olympiadas, ihrer tiefen Stimme, ihrer ruhigen Bewegungen und glühenden Worte, in denen eine Kraft lag, die das Herz packte. Allerdings war Olympiada ein Frauenzimmer ohne höhere Bildung, darum war sie auch in ihrer Schamlosigkeit einfacher, schlichter . . . Auf Tatjanas Scherze antwortete Ilja mit einem gezwungenen Lächeln. Es war ihm nicht wohl ums Herz, und er lachte nur darum, weil er nicht wußte, wovon und wie er mit dieser Frau reden sollte. Andererseits hörte er jedoch mit Interesse auf ihr Geplauder und sagte schließlich nachdenklich:

»Ich hätte nicht geglaubt, daß in eurem reinen Leben solche Zustände herrschen . . .«

»Die Zustände, mein Lieber, sind überall die gleichen, die Zustände werden von den Menschen geschaffen, und die Menschen haben überall dasselbe Ziel: angenehm, das heißt ruhig, satt und behaglich zu leben, und um das zu können, brauchen sie Geld. Das erste Ziel des Menschen ist also: Geld. Geld erlangt man entweder durch eine Erbschaft oder durch einen Glücksfall. Wer ein Lotterielos besitzt, der darf auch auf Glück hoffen. Eine hübsche Frau besitzt schon von Haus aus ein Gewinnlos – ihre Schönheit. Mit Schönheit kann man viel gewinnen – oh! Und wer keine reichen Verwandten, keine Schönheit oder sonstige Lose besitzt, der muß eben arbeiten. Das ganze Leben arbeiten, ist eine dumme Sache . . . Und ich, siehst du, arbeite, obgleich ich sogar zwei Lose besitze! Nun – die will ich eben beide an dich verpfänden. Nur Pasteten zu backen und einen finnigen Revieraufseher zu küssen – das genügt mir nicht als Gewinn . . . Ich möcht' eben auch dich küssen . . .«

Sie sah Ilja an und fragte scherzend:

»Es ist dir doch nicht unangenehm? . . . Warum schaust du denn so böse drein?«

Sie legte ihre Arme um Iljas Schultern und sah ihm neugierig ins Gesicht.

»Ich bin nicht böse«, sagte Ilja.

»Wirklich nicht? Ach, wie gut von dir!« rief sie und lachte hell auf.

»Ich dachte eben darüber nach,« versetzte Ilja, die Worte langsam aussprechend, »daß alles richtig ist, was du sagst . . . aber es liegt etwas Böses darin . . .«

»Oho–o, was bist du für ein stachliger Igel! Etwas Böses – was heißt denn das? Erklär's mir mal!«

Doch er vermochte nichts zu erklären. Er selbst begriff nicht, was ihm eigentlich an ihren Worten mißfiel. Olympiada hatte weit plumper gesprochen, doch hatten ihre Worte sein Herz nie so peinlich verletzt wie das Gezwitscher dieses kleinen, sauberen Vögelchens. Den ganzen Tag dachte er hartnäckig über das seltsame Gefühl der Unzufriedenheit nach, das in seinem Herzen durch diese für ihn so schmeichelhafte Verbindung erregt worden war, und er konnte den Ursprung dieses Gefühls nicht begreifen . . .

Als er am Abend nach Hause kam, begegnete ihm Kirik in der Küche und sagte vergnügt:

»Na, heute hat aber Tanjuscha was Gutes gekocht! Fleischpastetchen, sag' ich dir – leid tut's einem, sie zu essen! Sünde ist's beinahe, wie wenn man lebendige Nachtigallen äße. Ich habe dir einen Teller voll übriggelassen, Bruderherz! Häng' dein Magazin ab, setz' dich hin und laß dir sie gut schmecken . . .«

Ilja sah ihn schuldbewußt an und sagte still lächelnd:

»Ich danke recht sehr!« Und mit einem Seufzer fügte er hinzu: »Sie sind ein guter Mensch . . . weiß Gott!«

»Ach was!« wehrte Kirik ab. »Ein Teller voll Pasteten – 'ne Bagatelle! Nein, Bruder, wenn ich Polizeimeister wäre, hm – da könntest du vielleicht in die Lage kommen, mir mal Dankeschön zu sagen, o ja! Aber Polizeimeister werde ich nicht. Ich gebe den Dienst bei der Polizei auf und trete wahrscheinlich als Prokurist bei einem Kaufmann ein. Ein Prokurist – das ist schon etwas!«

Seine Frau machte sich am Ofen zu schaffen und sang dabei leise vor sich hin. Ilja schaute sie an und fühlte wiederum ein peinliches Mißbehagen. Allmählich jedoch verschwand dieses Gefühl unter der Einwirkung neuer Eindrücke und Sorgen. Er hatte während dieser Tage keine Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen: die Einrichtung des Ladens und der Einkauf der Waren beschäftigte ihn ganz und gar. Unmerklich gewöhnte er sich dabei mit jedem Tage mehr an dieses Weib. Als Geliebte gefiel sie ihm immer mehr, wenn auch ihre Liebkosungen oft in ihm Scham, ja selbst Furcht vor ihr erweckten. Diese Liebkosungen, im Verein mit ihren Gesprächen, bewirkten, daß er sie als Weib verachten lernte. Jeden Morgen, wenn Kirik in den Dienst gegangen war, oder am Abend, wenn er sich in den Klub begab, rief sie Ilja zu sich herein oder kam in sein Zimmer und erzählte ihm allerhand Geschichten aus dem »Leben«. Alle diese Geschichten waren auf denselben lüsternen Ton gestimmt – wie wenn sie in einem Lande vorgefallen wären, das von lauter Betrügern und Betrügerinnen bewohnt wurde, welche nackt umhergingen und kein größeres Vergnügen als den Ehebruch kannten.

»Ist das wirklich alles wahr?« fragte Ilja finster. Er wollte ihren Worten nicht glauben, doch war er ebensowenig imstande, sie zu widerlegen. Sie aber lachte nur, während sie ihn küßte, und suchte ihre Behauptungen mit Tatsachen zu belegen:

»Fangen wir von oben an: der Gouverneur lebt mit der Frau des Kameralhof-Direktors, und dieser hat erst kürzlich einem seiner Beamten die Frau entführt, hat ihr eine Wohnung in der Hundegasse eingerichtet und fährt zweimal in der Woche ganz offen bei ihr vor. Ich kenne sie: ein ganz junges Ding ist's, noch kein Jahr verheiratet. Und ihren Gatten hat man als Steuerinspektor in die Provinz geschickt. Ich kenne auch ihn – was ist das für ein Inspektor? Ein ganz oberflächlicher Mensch, ein Dummkopf, ein Lakai . . .«

Sie erzählte Ilja von Kaufleuten, die unreife Mädchen kauften und zum Laster verführten, von Kaufmannsfrauen, die sich Liebhaber hielten, von Damen aus der Gesellschaft, die, wenn sie schwanger wurden, sich die Leibesfrucht abtrieben.

Ilja hörte zu, und das Leben der Menschen erschien ihm wie eine Senkgrube, in der die Menschen gleich Würmern wimmelten.

»Pfui Teufel!« sprach er, von ihren Schilderungen ermüdet. »Und ist denn das Reine und Wahre nirgends zu finden? Sprich!«

»Was nennst du das ›Wahre‹?« fragte sie verwundert. »Was ich erzähle, sind doch alles wahre Geschichten! . . . Bist du sonderbar! Ich hab' mir das alles doch nicht selbst ausgedacht!«

»Ich rede nicht davon! Gibt's irgendwo etwas Wahres, Reines – oder nicht? Das möcht' ich wissen . . .«

Sie verstand ihn nicht und lachte über ihn. Zuweilen nahm ihre Unterhaltung auch einen andern Charakter an. Sie sah ihn mit ihren grünlichen, in sinnlichem Feuer glühenden Augen an und fragte ihn:

»Wie hast du eigentlich zum erstenmal kennengelernt, was ein Weib ist? Erzähl' einmal!«

Ilja schämte sich dieser Erinnerung, die ihm peinlich war. Er suchte dem zudringlichen Blicke seiner Geliebten auszuweichen und sprach düster, in vorwurfsvollem Tone:

»Was für widerliche Fragen du stellst! . . . Schämen solltest du dich! . . .«

Doch sie lachte ganz vergnügt und begann immer wieder in solcher Art zu reden, daß es Lunew zuweilen vorkam, als sei er von ihren schmutzigen Worten wie mit Pech besudelt. Und wenn sie dann in seinem Gesichte den Ausdruck der Unzufriedenheit und den Abscheu vor ihr bemerkte, weckte sie dreist in ihm die Begierde des Mannes und wußte durch ihre Liebkosungen die ihr feindlichen Regungen aus seinem Gemüte zu verscheuchen.

Eines Tages, als Ilja aus dem Laden heimkam, in dem die Tischler gerade mit der Einrichtung der Regale beschäftigt waren, sah er zu seinem nicht geringen Erstaunen in der Küche Matiza sitzen. Sie saß am Tische, hatte ihre großen Hände darauf gelegt und sprach mit der Wirtin, die am Ofen stand.

»Da,« sprach Tatjana Wlaßjewna lächelnd, mit einer Kopfbewegung nach Matiza – »diese Dame erwartet Sie . . . schon lange . . .«

»Schönen guten Abend«, sprach die »Dame« und erhob sich schwerfällig von der Bank.

»Bah!« rief Ilja. »Lebst du auch noch?«

»Einen fauligen Klotz mögen nicht mal die Schweine fressen . . .« versetzte Matiza mit ihrer tiefen Stimme.

Ilja hatte sie schon lange nicht mehr gesehen und betrachtete sie mit aufrichtigem Mitleid. Sie trug einen zerrissenen Barchentrock, ihren Kopf bedeckte ein vom Alter verschossenes Tuch, und ihre Füße waren bloß. Sie schleppte sich kaum über den Boden hin, mußte sich mit den Händen gegen die Wand stützen und kam so langsam in Iljas Zimmer, wo sie schwer auf den Stuhl niederfiel und mit heiserer Stimme zu reden begann:

»Nu werd' ich wohl bald krepieren . . . Die Beine sind schon stark gelähmt . . . und wenn sie ganz hin sind, kann ich mir kein Brot mehr suchen . . . Dann heißt es: stirb! . . .«

Ihr Gesicht war schrecklich aufgedunsen und ganz mit dunklen Flecken bedeckt, und die großen Augen waren zwischen den angeschwollenen Lidern nur als schmale Streifen sichtbar.

»Was guckst du dir meine Larve so an?« sprach sie zu Ilja. »Denkst wohl, ich hab' Prügel bekommen? Nein, das ist meine Krankheit . . .«

»Was treibst du denn eigentlich?« fragte Ilja.

»Auf den Kirchentreppen bettle ich mir ein paar Groschen zusammen«, ließ Matiza gleichmütig ihre Trompetenstimme erklingen. »Ich habe ein Anliegen an dich . . . hab' von Perfischka gehört, daß du hier bei einem Beamten wohnst – und da bin ich gekommen . . .«

»Möchtest du Tee trinken?« schlug ihr Lunew vor. Es war ihm peinlich, Matizas Stimme zu hören und ihren schon bei Lebzeiten verwesenden, großen, morschen Körper zu sehen.

»Mögen die Teufel mit deinem Tee sich die Schwänze waschen . . . Gib mir lieber 'nen Fünfer . . . Und warum ich zu dir gekommen bin? Rate mal!«

Das Sprechen wurde ihr schwer. Sie war kurzatmig, und ein beklemmender Dunst ging von ihr aus.

»Na – warum denn?« fragte Ilja; er wandte sich von ihr ab und dachte an die Kränkung, die er ihr einstmals angetan hatte.

»Erinnerst du dich noch der Maschutka? Wie? Hast wohl ein schwaches Gedächtnis . . . seit du reich geworden bist?«

»Was macht sie denn? Wie geht's ihr?« fragte Ilja hastig.

Matiza schüttelte langsam den Kopf und sagte kurz:

»Aufgehängt hat sie sich noch nicht . . .«

»So rede doch vernünftig!« rief Ilja ärgerlich. »Was nörgelst du an mir herum? Hast sie doch selbst für 'nen Dreirubelschein verkauft! . . .«

»Ich schimpfe auch nicht über dich – über mich schimpf ich . . .« versetzte Matiza ruhig und begann ächzend von Mascha zu erzählen.

Ihr Gatte sei eifersüchtig und quäle Mascha auf jede Weise. Nirgends lasse der alte Kerl sie hingehen, auch nicht in den Laden: sie sitze im Zimmer und dürfe nicht einmal auf den Hof hinaus, ohne ihn zu fragen. Seine Kinder habe er irgendwo untergebracht und lebe nun allein mit Mascha. Er quäle sie und räche sich an ihr dafür, daß sein erstes Weib ihn betrogen hätte – beide Kinder nämlich seien nicht von ihm. Schon zweimal sei Mascha von ihm weggelaufen, aber die Polizei habe sie jedesmal wieder eingefangen und zu ihm zurückgebracht, und er habe sie dafür gepeinigt und sie hungern lassen.

»Ja – eine saubere Geschichte habt ihr da mit Perfischka eingefädelt!« sprach Ilja finster.

»Ich dachte doch, sie würde es bei ihm gut haben«, fuhr Matiza mit ihrer knarrenden Stimme fort. »Nun ist sie schlimmer dran als vorher. Besser wär's gewesen, wie ich's erst wollte, sie einem Reichen zu verkaufen . . . Er hätte ihr Quartier und Kleider gegeben, und alles andere . . . Und dann hätte sie ihn laufen lassen und hätte so gelebt . . . Wie viele machen es nicht so!«

»Na – und warum bist du jetzt gekommen?« fragte Ilja.

»Du wohnst doch bei einem Polizeimann . . . Die sind's, die sie immer fangen . . . Sag' ihm, man solle sie nicht fangen . . . Mag sie doch fortlaufen! Vielleicht findet sie irgendwo ein Unterkommen . . . Soll denn ein Mensch nicht mal mehr weglaufen dürfen?«

Ilja sann nach, was er wohl für Mascha tun könnte, doch fiel ihm nicht gleich etwas ein.

Matiza stand vom Stuhl auf und schob sich vorsichtig auf ihren Beinen vorwärts.

»Leb' wohl! . . . Ich werde nun bald krepieren«, murmelte sie. »Dank' dir auch schön, feines Bürschchen, reicher Junge! . . .«

Als sie zur Tür hinaus war, kam Tatjana Wlaßjewna sogleich in Iljas Zimmer gestürzt, hing sich ihm an den Hals und fragte lachend:

»Das war sie also – deine erste Flamme, nicht wahr?«

Ilja befreite seinen Hals von den Armen seiner Geliebten, die ihn fest umschlungen hielten, und sprach unwillig:

»Siehst doch, daß sie kaum die Beine bewegt – und redest von solchen Dingen!«

Die Wirtin blickte neugierig in sein besorgtes Gesicht und ließ nicht nach, bis er ihr Maschas Geschichte erzählt hatte.

»Was ist da zu tun?« fragte er sie.

»Nichts weiter«, antwortete Tatjana Wlaßjewna achselzuckend. »Nach dem Gesetz gehört die Frau an die Seite des Mannes, und niemand hat das Recht, sie ihm wegzunehmen . . .«

Und mit der wichtigen Miene eines Menschen, der mit den Gesetzen gut Bescheid weiß und von ihrer Unerschütterlichkeit überzeugt ist, bewies sie Ilja haarklein, daß Mascha nichts weiter übrigbleibe, als sich den Anforderungen ihres Gatten zu fügen.

»Geduld muß sie haben«, sagte sie. »Er ist alt – sobald er stirbt, ist sie frei, und sein Vermögen gehört ihr . . . Und dann heiratet mein Ilja eine junge Witwe mit Geld – nicht wahr?«

Sie lachte hell auf und begann von neuem, Ilja Belehrungen zu geben:

»Am besten ist's, wenn du die Beziehungen zu deinen alten Bekannten ganz und gar abbrichst. Jetzt passen die nicht mehr zu dir . . . und könnten dich sogar in Verlegenheit bringen. Sie sind alle so schmutzig und gewöhnlich . . . Der zum Beispiel, dem du neulich Geld geborgt hast . . . so ein Magerer, weißt du, mit finsteren Augen . . .«

»Gratschew? . . .«

»Na ja – meinetwegen Gratschew . . . Was für lächerliche Vogelnamen die Leute aus dem Volke doch haben – Gratschew, Lunew, Pjetuchow, Skworzow. In unseren Kreisen sind schon die Namen vornehmer und schöner – Awtonomow, Korßakow, oder, wie mein Vater, Florianow! Und wie ich noch ein junges Mädchen war, machte mir ein Rechtskandidat Gloriantow den Hof . . . Einmal, auf der Eisbahn, raubte er mir das Strumpfband vom Bein und drohte mir mit einem Skandal, wenn ich es mir nicht selbst bei ihm holen würde . . .«

Ilja hörte ihre Erzählungen an und dachte dabei an seine Vergangenheit. Er fühlte sich durch unsichtbare Fäden mit ihr verknüpft, insbesondere mit Petrucha Filimonows Hause, das, wie es ihm schien, ihn stets an einem behaglichen, ruhigen Leben behindern würde . . .


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