Maxim Gorki
Drei Menschen
Maxim Gorki

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXIV

Eines Morgens, als Ilja erwacht war und eben, auf dem Bett sitzend, darüber nachdachte, daß nun wieder ein neuer Tag angebrochen sei, den er durchleben müsse, erscholl draußen an der Ladentür ein mehrmaliges, rasches Klopfen.

Ilja dachte, es sei die Köchin, die ihm den Samowar bringe; er öffnete die Tür – und sah sich Auge in Auge seinem Onkel Terentij gegenüber.

»Ha, ha, ha!« lachte der Bucklige und schüttelte den Kopf. »Neun Uhr ist's – und bei dir ist der Laden noch nicht auf! Ein schöner Kaufmann!«

Ilja stand vor dem Onkel, ihm den Weg versperrend, und lächelte gleichfalls. Terentijs Gesicht war von der Sonne verbrannt, und wie verjüngt sah er aus; seine Augen blickten heiter und klar. Zu seinen Füßen lagen Reisetasche und Bündel, und er selbst sah zwischen ihnen aus wie ein Bündel.

»So laß mich doch 'rein in deine Wohnung!« sagte Terentij.

Ilja beförderte schweigend das Gepäck hinein, während Terentijs Augen das Heiligenbild suchten. Er bekreuzte sich vor diesem, verneigte sich tief und sagte:

»Ehre sei dir, o Herr! – Nun bin ich also daheim! Sei mir gegrüßt, Ilja!«

Als Lunew den Onkel umarmte, fühlte er, daß der Körper des Buckligen kräftiger, straffer geworden war.

»Zuerst möcht' ich mich waschen«, sagte Terentij und sah sich im Zimmer um. Das Umherwandern mit dem Pilgersack auf dem Rücken schien seinen Buckel heruntergepreßt zu haben, er ging jetzt gerader, straffer, und trug den Kopf aufrecht.

»Was treibst du denn?« fragte er seinen Neffen, während er mit der hohlen Hand das Wasser über sein Gesicht goß.

Es war Ilja angenehm, den Onkel so verjüngt zu sehen. Er machte sich am Tische zu schaffen, bereitete den Tee und antwortete auf die Fragen des Buckligen, wenn auch mit Vorsicht und Zurückhaltung.

»Und wie ist's dir ergangen?« fragte er den Onkel.

»Mir? Ganz vortrefflich!« Terentij schloß die Augen und nickte zufrieden lächelnd mit dem Kopfe. »Ein schönes Stück bin ich herumgekommen. Ganz wundersam war es! Lebendiges Wasser hab' ich getrunken, mit einem Wort . . .«

Er setzte sich an den Tisch, wickelte sein Bärtchen um den Finger und begann, den Kopf zur Seite geneigt, zu erzählen:

»Ich war bei Afanassij dem Sitzenden, und bei den Wundertätern von Perejaßlawl, und bei Mitrofanij von Woronesh, und bei Tichon Sadonskij . . . setzte auch nach der Insel Walaam über . . . ein gutes Stück Erde hab' ich durchpilgert! Und zu gar vielen Nothelfern hab' ich gebetet, eben komm' ich von dem letzten her: von Peter Fawronij in Murom . . .«

Er fand offenbar ein großes Vergnügen darin, all die Namen der Heiligen und der Städte, die er besucht hatte, aufzuzählen. Sein Gesicht hatte einen seligen Ausdruck, die Augen blickten selbstbewußt. Er trug seine Reden in jener singenden Weise vor, in der geübte Erzähler die Volkssagen oder das Leben der Heiligen vorzutragen pflegen.

»In den Höhlen des heiligen Klosters von Kiew ist es so feierlich still, Finsternis herrscht in ihnen, daß einem bange wird, und in der Finsternis blinken die Lämpchen wie Kinderäuglein, und es duftet nach heiligem Chrisam . . .«

Draußen ging plötzlich ein heftiger Regen nieder. Ein Winseln und Heulen ertönte, das Eisenblech der Dächer knatterte und dröhnte, das Wasser, das von ihnen niederrann, gluckerte, und in der Luft zitterte gleichsam ein Netz von dicken Stahlfäden.

»So–o«, meinte Ilja gedehnt, »Na, und ist dir leichter geworden ums Herz?«

Terentij schwieg eine Weile, dann beugte er sich zu Ilja hinüber und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Ich will's durch ein Gleichnis ausdrücken, weißt du: wie der Stiefel den Fuß, so drückte mir die Sünde das Herz – meine unfreiwillige Sünde, die ich nur beging, weil Petrucha mir Zwang antat. Denn wär' ich damals ihm nicht gefolgt, so hätt' er mich aus dem Hause geworfen. Auf die Straße gesetzt hätt' er mich, glaubst du's?«

»Gewiß glaub' ich's«, stimmte Ilja ihm bei.

»Na, also . . . und wie ich nun ging – da fühlte ich eine solche Erleichterung in meiner Seele. Ich pilgerte dahin und sprach: O Herr, siehst Du mich? Ich geh' zu Deinen Heiligen . . .«

»Du hast also mit Ihm abgerechnet?« fragte Lunwe lächelnd.

»Wie Er mein Gebet aufnehmen wird, weiß ich nicht!« sprach der Bucklige mit frommem Augenaufschlag.

»Und dein Gewissen? Ist das ruhig?«

Terentij sann einen Augenblick nach, als ob er auf irgend etwas horchte, und sprach dann:

»Es schweigt . . .«

Ilja stand vom Stuhl auf und trat ans Fenster. Breite Bäche trüben Wassers flossen über den Bürgersteig; auf dem Straßendamm, zwischen den Steinen, standen kleine Lachen; der Regen klatschte auf sie nieder, und sie zitterten: es war, als ob die ganze Straße erschauerte. Das Haus gegenüber hatte ein unfreundliches Aussehen, es war ganz naß, die Fensterscheiben waren angelaufen, und man konnte die Blumen auf dem Fensterbrett nicht sehen. Auf der Straße war es still – nur der Regen rauschte nieder, und die Bäche murmelten leise. Eine einzelne Taube suchte unter dem Dachsims auf der Brüstung des Giebelfensters Schutz, und die ganze Straße atmete öde, graue Langeweile.

»Der Herbst beginnt«, ging es Ilja durch den Kopf.

»Womit sonst will man sich rechtfertigen, wenn nicht durchs Gebet?« sprach Terentij, während er seinen Reisesack öffnete.

»Eine sehr einfache Sache«, versetzte Ilja unwirsch, ohne sich nach dem Onkel umzudrehen. »Hast du gesündigt, dann bete – und du wirst wieder rein, kannst wieder aufs neue lossündigen . . .«

»Wieso denn? Im Gegenteil: lebe streng . . .«

»Warum denn?«

»Damit du ein reines Gewissen hast . . .«

»Warum denn ein reines Gewissen?«

»Na, na, na«, sprach Terentij mißbilligend. »Wie du das sagen kannst!«

»Gewiß sag' ich's«, versetzte Ilja trotzig und hart, während er dem Onkel den Rücken zuwandte.

»Das ist Sünde!«

»Mag's doch Sünde sein!«

»Du wirst dafür gestraft werden . . .«

»Nein . . .«

Jetzt wandte er sich vom Fenster ab und sah Terentij fest an. Der Bucklige suchte, mit den Lippen schmatzend, lange nach einer Entgegnung, und als er endlich Worte fand, sprach er:

»Und doch wird's der Fall sein! . . . Sieh mich zum Beispiel: auch ich hab' gesündigt und wurde dafür gestraft . . .«

»Wodurch denn?« fragte Ilja düster.

»Durch die Furcht. Immerfort lebt' ich in Furcht – es könnte plötzlich herauskommen . . .«

»Und ich habe gesündigt und fürchte nichts«, erklärte Ilja lachend.

»Red' keinen Unsinn«, sprach Terentij in strengem Tone.

»Ich fürchte mich wirklich nicht! Schwer genug fällt mir das Leben, und doch . . .«

»Ahaa!« rief Terentij, während er sich triumphierend aufrichtete. »Das ist die Strafe!«

»Wofür denn?« schrie Ilja außer sich, und seine Kinnlade bebte dabei. Terentij sah ihn ganz erschrocken an und fuchtelte mit einer Schnur, die er in der Hand hielt, in der Luft.

»So schrei doch nicht, schrei nicht!« rief er halblaut.

Doch Ilja fuhr fort zu schreien. Seit langem schon hatte er mit keinem Menschen gesprochen, und jetzt suchte alles, was sich in diesen Tagen der Vereinsamung in seiner Seele aufgehäuft hatte, nach einem Ausweg.

»Nicht nur rauben, auch morden darfst du – niemand wird dich strafen! . . . Nur die Dummköpfe werden bestraft; wer es geschickt anfängt, der darf alles tun, alles.«

Plötzlich ließ sich hinter der Tür ein Poltern und Rollen vernehmen. Sie zuckten beide zusammen.

»Was war das?« fragte der Bucklige leise, in furchtsamem Tone.

Ilja ging schweigend zur Ladentür, öffnete sie und warf einen Blick auf die Straße. Ein leises Pfeifen, Klatschen und Rauschen – ein ganzer Wirbel von Lauten – drang ins Zimmer.

»Ein paar Kartons sind heruntergefallen«, sprach Lunew, schloß die Tür und ging wieder an seinen Platz am Fenster.

Terentij setzte sich auf den Fußboden und machte sich an seinem Gepäck zu schaffen.

»Besinn dich, Ilja!« sprach er nach einer Weile. »Rede nicht so gottlos! Was für Worte hast du ausgestoßen, Bruder, oh, oh! Durch Gottlosigkeit kannst du den Herrn nicht erzürnen, wohl aber dich selbst zugrunde richten . . . Es sind weise Worte . . . hab' sie unterwegs von einem frommen Manne gehört . . . Wieviel Weisheit hab' ich da vernommen! . . .«

Er begann wieder von seiner Reise zu erzählen, während er Ilja von der Seite ansah. Dieser hörte auf seine Rede nur obenhin, wie auf das Rauschen des Regens, und hing seinen eignen Gedanken nach. Er überlegte, wie er sich jetzt mit dem Onkel einrichten sollte.

Sie richteten sich schließlich miteinander ganz leidlich ein. Terentij machte sich in jener Ecke, in der zur Nachtzeit die Finsternis zu nisten schien, zwischen dem Ofen und der Tür, aus alten Kisten ein Bett zurecht. Er übernahm alle Verpflichtungen Gawriks, stellte den Samowar zurecht, räumte den Laden und das Zimmer auf, holte das Essen aus dem Wirtshaus und murmelte dabei beständig fromme Lobgesänge vor sich hin. An den Abenden erzählte er seinem Neffen fromme Geschichten, wie die Frau des Hallelujew Christum den Herrn vor den Feinden rettete, indem sie ihr eignes Kind in den glühenden Ofen warf und den kleinen Christus dafür auf die Arme nahm; wie ein Mönch dreihundert Jahre lang dem Gesang eines Vögleins im Walde lauschte; dann die Legende von Kirik und Ulitta und noch viele, viele andere Geschichten. Lunew ließ ihn erzählen und war dabei in seine eignen Gedanken vertieft. An den Abenden ging er häufig spazieren, und dabei zog es ihn stets aus der Stadt hinaus – dort im Freien war es zur Nachtzeit so still, so dunkel und einsam wie in seiner Seele . . .

Acht Tage nach seiner Rückkehr begab sich Terentij zu Petrucha Filimonow und kam von ihm ganz trostlos und tief empört zurück. Als Ilja fragte, was ihm wäre, antwortete er ausweichend.

»Nichts, nichts weiter . . . Wollte bloß mal sehen, was sie dort treiben . . . wollt' ein bißchen plaudern . . .«

»Wie geht es Jakow?« fragte Ilja.

»Jakow? Der wird wohl nicht mehr lange machen . . . So gelb ist er, und hustet . . .«

Terentij schwieg, guckte in den Winkel und schaute ganz kläglich drein.

Gleichmäßig und einförmig ging ihr Leben dahin; alle Tage glichen einander, wie kupferne Fünfer von derselben Prägung. Tief in Lunews Seele barg sich finstrer Grimm, gleich einer großen Schlange, die alle Eindrücke dieser Tage verschlang. Niemand von den alten Bekannten kam zu ihm: Pawel und Mascha schienen einen neuen Weg im Leben gefunden zu haben; Matiza war durch den Hufschlag eines Pferdes zu Schaden gekommen und im Krankenhause gestorben; Perfischka war spurlos verschwunden, als wäre er in den Boden versunken. Lunew war immer auf dem Sprunge, Jakow noch einen Besuch abzustatten, hatte jedoch die Empfindung, daß er eigentlich mit dem todkranken Freunde nichts weiter zu reden hätte. Er las am Morgen die Zeitung, saß den Tag über im Laden, guckte zum Fenster hinaus und sah, wie der Herbstwind das gelbe Laub durch die Straßen jagte. Zuweilen verirrte sich auch in den Laden solch ein welkes Blättchen . . .

»Ehrwürdiger Vater Tichon, bitte den Herrn für uns . . .« sang Terentij, während er sich im Zimmer zu tun machte, mit seiner gleich trocknem Laub raschelnden Stimme.

Eines Sonntags, als Ilja die Zeitung entfaltete, sah er auf der ersten Seite ein Gedicht mit dem Titel: »Einst und jetzt« und der Unterschrift »P. Gratschew«. Gewidmet war es einer Dame, deren Name durch die Initialen »S. N. M.« angedeutet war.

Es lautete:

Von bittrer Not bedrängt
In rauhen Jugendtagen,
Hab' ich in hartem Kampf
Durchs Leben mich geschlagen.

Die junge Seele tief
In Finsternis befangen,
Bin aufs Geratewohl
Ich meinen Weg gegangen.

Kein helles Leitgestirn
Durch Nacht und Nebel blinkte,
Kein leuchtend Wanderziel
Dem geistig Blinden winkte.

Doch von des Herzens Grund
Tönt' stets ein mahnend Klingen:
Wird endlich nicht ein Strahl
Die Finsternis durchdringen?

Und immer lauter klang's
Aus heißen Seelenqualen:
Ach, wollt' auf meinem Pfad
Das Licht mir doch erstrahlen!

Da plötzlich tratest du
Dem Suchenden entgegen,
Und sieh: ein heller Schein
Erglänzte allerwegen.

Er kam von jenem Licht,
Das deine Seel' erfüllte
Und durch das Dunkel brach,
Das meinen Geist umhüllte.

Ich sah den finstern Bann
Der Nebel jäh entschweben,
Und sonnig lag vor mir
Ein neues, frohes Leben.

Es führte deine Hand
Mich zu der Freunde Zelten
Und wies den Feind mir, dem
Fortan mein Kampf soll gelten . . .

Lunew las das Gedicht und warf die Zeitung grollend zur Seite.

»Immer dichte, immer denk' dir was aus! Freunde . . . Feind! . . . Wer ein Dummkopf ist, dem ist jedermann ein Feind . . . ja!« dachte er höhnisch lachend. Doch plötzlich, wie wenn noch ein zweites Herz in ihm redete, ging's ihm durch den Sinn:

»Wie wär's, wenn ich mal plötzlich bei ihnen vorspräche? Ich komm' einfach und sage: ›Hier bin ich!‹ . . . Verzeiht mir! . . .«

»Was denn verzeihen?« fragte er sich dann wieder und brach diesen ganzen Gedankengang jäh mit den düstren Worten ab:

»Sie wird mich fortjagen . . .«

Dann nahm er mit bittrem Neid im Herzen noch einmal die Zeitung auf, las nochmals Gratschews Gedicht und mußte wieder an das Mädchen denken.

»Sie ist stolz . . . wird mich so auf ihre Art ansehen . . . Na, und ich kann abziehen, wie ich gekommen bin . . .«

In derselben Zeitung las er unter den amtlichen Bekanntmachungen die Notiz, daß am dreiundzwanzigsten September im Bezirksgericht in der Diebstahlssache wider die Wjera Kapitanowa eine Verhandlung stattfinden würde. Ein schadenfrohes Gefühl regte sich in ihm, und er sprach, in Gedanken zu Pawel gewandt:

»Du dichtest Verse? Und sie sitzt immer noch im Gefängnis! . . .«

»O Herr, sei mir Sünder gnädig«, flüsterte Terentij und schüttelte traurig seufzend den Kopf. Dann blickte er auf seinen Neffen, der noch immer in die Zeitung vertieft war, und rief ihn an:

»Ilja!«

»Was gibt's?«

»Dieser Petrucha . . .«

Der Bucklige lächelte traurig und schwieg.

»Was denn?« fragte Lunew.

»Besto–ohlen hat er mich!« sprach Terentij mit leiser Stimme und lächelte trübselig.

Ilja schaute gleichgültig in das Gesicht des Onkels und fragte:

»Wieviel habt ihr eigentlich damals gestohlen?«

Der Onkel rückte mit seinem Stuhle vom Tische ab, neigte den Kopf vor und bewegte, während seine Hände auf den Knien lagen, die Finger hin und her.

»Zehntausend, nicht wahr?« sagte Lunew.

Der Bucklige hob erstaunt den Kopf und sprach gedehnt:

»Ze–ehn? . . . Was denkst du, Herr des Himmels! Dreitausendsechshundert waren es im ganzen, und noch 'ne Kleinigkeit – und du redest von zehntausend! . . .«

»Aber der Alte hatte doch mehr als zehntausend Rubel!« sprach IIja lächelnd.

»Ist's möglich?«

»Gewiß . . . er hat es selbst gesagt . . .«

»Konnte er's denn überhaupt zusammenzählen?«

»Ebenso gut wie du und Petrucha . . .«

Terentij wurde nachdenklich, und abermals senkte sich sein Kopf.

»Um wieviel hat dich denn Petrucha betrogen?«

»Um siebenhundert«, sprach Terentij mit einem Seufzer. »Du meinst also, es wären mehr als zehntausend gewesen? Wo hätte er aber so 'ne Menge Geld verstecken können?« fragte der Bucklige ganz erstaunt. »Wir haben doch alles weggenommen, soviel ich weiß . . . Oder hat mich am Ende Petrucha schon damals betrogen . . . wie?«

»Schweig endlich davon!« sprach Lunew hart.

»Ja, es lohnt nicht mehr, jetzt davon zu reden«, stimmte Terentij ihm bei und seufzte tief.

Lunew dachte, wie habgierig doch die Menschen seien und wieviel Niedertracht in der Sucht nach Geld ihren Grund habe. Dann aber sagte er sich, wie schön es wäre, wenn er selbst so recht viel Geld hätte, Zehntausende, Hunderttausende, und stellte sich vor, wie er dann die Menschen in Erstaunen setzen würde. Auf allen vieren würde er sie kriechen lassen, haha! . . . Und ganz hingerissen von dieser Vorstellung, schlug er voll Ingrimm mit der Faust auf den Tisch, daß er selbst von dem heftigen Schlage erbebte.

Als er auf den Onkel blickte, sah er, daß auch dieser ganz verblüfft, mit angstvollen Augen und offenem Munde, nach ihm schaute.

»Es geschah nur so in Gedanken«, sprach er verdrießlich und stand vom Tische auf.

»Glaub's schon«, versetzte Terentij mißtrauisch.

Als IIja in den Laden ging, schaute der Bucklige ihm forschend nach, und seine Lippen bewegten sich dabei tonlos. Ilja aber schien diesen verdächtigenden Blick hinter seinem Rücken zu spüren – er hatte schon längst bemerkt, daß der Onkel ihn beobachtete und ihn gar zu gern über irgend etwas ausgeforscht hätte.

Das veranlaßte Lunew, den Gesprächen mit dem Onkel aus dem Wege zu gehen. Er fühlte es mit jedem Tage deutlicher, daß der Bucklige ihn in seiner Lebensführung behindere, und immer häufiger stellte er sich selbst die Frage:

»Wie lange soll sich das noch hinziehen?«

In Lunews Seele war das Geschwür allmählich reif geworden, immer trostloser erschien ihm das Leben, und schlimmer als alles andere war, daß er zu keiner Tätigkeit Lust hatte. Zu nichts zog es ihn hin, und zuweilen war es ihm, als ob er langsam in eine dunkle Grube versänke, immer tiefer und tiefer.

Bald nach Terentijs Ankunft erschien auch Tatjana Wlaßjewna auf der Bildfläche, die eine Zeitlang außerhalb der Stadt geweilt hatte. Beim Anblick des buckligen Bäuerleins, das in dem braunen Barchenthemd umherging, verzog sie verächtlich die Mundwinkel und fragte Ilja:

»Das ist Ihr Onkel?«

»Ja«, antwortete Lunew kurz.

»Wird er bei Ihnen wohnen?«

»Selbstverständlich.«

Tatjana Wlaßjewna fühlte etwas Feindseliges, Herausforderndes in den Antworten ihres Kompagnons und lenkte ihre Aufmerksamkeit von dem Buckligen ab. Terentij, der auf Gawriks Platze an der Tür stand, zwirbelte an seinem gelben Kinnbärtchen und schaute mit neugierigem Blick auf die schlanke, in Grau gekleidete Gestalt des kleinen Weibchens. Auch Lunew sah zu, wie sie gleich einem Sperling im Laden herumsprang, wartete schweigend, was sie noch fragen würde, und war bereit, sie mit bittren Schmähworten zu überschütten. Sie aber schaute nur von der Seite auf sein haßerfülltes Gesicht und verschonte ihn mit weiteren Fragen. Sie stand hinter dem Pult, durchblätterte das Kassenbuch und redete davon, wie angenehm es sei, ein paar Wochen auf dem Lande zuzubringen, wie billig sich das einrichten lasse, und wie günstig es auf die Gesundheit wirke.

»Wir hatten da einen Bach, ganz ruhig floß er dahin . . . Und eine lustige Gesellschaft . . . Ein Telegraphist spielte großartig auf der Geige . . . Ich hab' auch rudern gelernt . . . Aber was abscheulich ist – das sind die Bauernkinder. Die reine Plage! Zudringlich wie die Mücken – jammern und betteln in einem fort: Gib, gib, gib! Das bringen ihnen ihre Eltern bei . . .«

»Kein Mensch bringt's ihnen bei«, versetzte Ilja frostig. »Ihre Eltern sind bei der Arbeit, und die Kinder wachsen ohne Aufsicht auf . . . Was Sie sagen, ist nicht wahr!«

Tatjana Wlaßjewna sah ihn erstaunt an und öffnete den Mund, als ob sie etwas erwidern wollte. In diesem Augenblick jedoch begann Terentij mit respektvollem Lächeln:

»Wenn sich jetzt mal Herrschaften im Dorf zeigen – so ist das ein Wunderding . . . Früher verblieben die Herren für ihr ganzes Leben in ihren Dörfern . . . Jetzt zeigen sie sich dort nur ganz gelegentlich . . .«

Die Awtonomowa sah erst Terentij und dann Ilja an und blickte hierauf wieder, ohne ein Wort zu sagen, in das Kassenbuch. Terentij ward verlegen und begann an seinem Hemd zu zupfen. Eine Minute vielleicht schwiegen alle in dem Laden – man hörte nur das leise Geräusch der Blätter des Kassenbuches und ein leises Schurren: Terentij rieb sich den Buckel am Türpfosten . . .

»Hör' mal, du, Onkel,« ließ sich plötzlich Ilja in trockenem Tone vernehmen, »wenn du wieder mal mit Herrschaften reden willst, dann bitt' sie vorher erst um Erlaubnis, hörst du? Geruhen Sie, bitte, mußt du sagen – und mußt vor ihnen hinknien . . .«

Das Buch entschlüpfte den Händen Tatjanas und glitt an dem Schreibpult herunter, doch konnte sie es noch fassen, schlug laut mit ihrer Hand darauf und lachte. Terentij beugte den Kopf vor und ging auf die Straße hinaus. Dann sah Tatjana Wlaßjewna von der Seite lächelnd auf Lunews finstres Gesicht und fragte leise:

»Bist wohl böse? Weshalb denn?«

Ihr Gesicht hatte den alten schelmischen, lockenden Zug, und ihre Augen blitzten verführerisch.

Lunew streckte den Arm aus und packte sie bei der Schulter. In ihm loderte der Haß gegen sie auf und ein tierisches Begehren, sie an seine Brust zu pressen und das Knacken ihrer dünnen Knochen zu hören. Er zog sie, die Zähne fletschend, an sich heran, sie aber hatte seinen Arm umfaßt und suchte ihre Schulter von ihm zu befreien, wobei sie flüsterte:

»Oh . . . laß doch los! . . . Es tut ja weh . . . Bist du verrückt geworden? . . . Hier können wir uns doch nicht umarmen . . . Du, hör' mal: den Onkel kannst du hier nicht behalten! Er ist bucklig . . . Die Kunden werden Angst vor ihm haben . . . So laß doch los! . . . Wir müssen sehen, daß wir ihn irgendwo unterbringen – hörst du?«

Aber er hatte sie bereits umfaßt und beugte langsam den Kopf mit den weitaufgerissenen Augen über ihr Gesicht.

»Was willst du denn? . . . Nicht doch . . . Laß mich los! . . .«

Sie ließ sich plötzlich niedergleiten und schlüpfte glatt wie ein Fisch unter seinen Armen fort. Lunew sah sie durch den heißen Nebel vor seinen Augen an der Ladentür stehen. Mit zitternden Händen zupfte sie ihre Jacke zurecht und sprach:

»Ach, wie grob du doch bist! Kannst du denn nicht warten?«

In seinem Kopfe rauschte es, als wenn darin Bergströme niederstürzten. Unbeweglich, mit fest zusammengekrampften Fingern stand er hinter dem Ladentisch und schaute auf sie, als sähe er in ihr alles Böse, alles Übel, alles Unglück seines Lebens verkörpert.

»Es ist ja sehr schön, mein Lieber, daß du so leidenschaftlich bist – aber man muß sich doch beherrschen können! . . .«

»Geh fort!« sprach Ilja.

»Ich geh' schon. Heut' kann ich dich nicht empfangen, aber morgen, am dreiundzwanzigsten, hab' ich Geburtstag. Da kommst du doch?«

Sie nestelte, während sie sprach, an ihrer Brosche herum und sah Ilja nicht an.

»Geh fort!« wiederholte er, zitternd vor Begierde, sie zu packen und zu quälen.

Sie ging.

Gleich darauf erschien Terentij und fragte respektvoll: »Das war sie wohl, deine Geschäftsteilhaberin?«

Lunew nickte mit dem Kopfe und seufzte erleichtert auf . . .

»Die hat's in sich . . . ach, du! So klein sie ist . . .«

»So gemein ist sie«, sprach Ilja mit tiefer Stimme.

»Hm«, brummte Terentij ungläubig.

Ilja fühlte auf seinem Gesichte den neugierigen, scharf beobachtenden Blick des Onkels und sprach ärgerlich:

»Na, was guckst du denn?«

»Ich? Der Herr erbarme sich! Wie du heute redest . . .«

»Ich weiß, was ich rede . . . Ich sagte, daß sie gemein ist – und damit basta. Könnte noch was Schlimmeres sagen – und auch das wäre wahr . . .«

»Wirklich? Das also ist's«, rief der Bucklige mit schmerzlich bewegter Stimme.

»Was denn?« schrie Ilja heftig.

»Du hast also . . .«

»Was hab' ich also . . .«

Terentij stand vor Ilja und trippelte, durch sein Schreien zugleich eingeschüchtert und verletzt, auf einer Stelle hin und her. Sein Gesicht zeigte eine klägliche Miene, und seine Augen blinzelten.

»Also . . . du kennst sie ja am besten . . .« sprach er nach einer Weile.

»Ob ich sie kenne! . . .« erwiderte Ilja und schwieg. Dann trat er zur Ladentür hinaus auf die Straße.

Draußen war es ungemütlich, seit einigen Tagen schon regnete es beständig. Die blanken grauen Pflastersteine des Fahrdamms starrten langweilig zu dem ebenso grauen Himmel empor, und sie glichen ganz und gar menschlichen Gesichtern. In den Vertiefungen zwischen ihnen lag der Schmutz, der ihre kalte Sauberkeit noch hervorhob . . . Das gelbe Laub an den Bäumen erbebte in todesbangem Schauern. Irgendwo wurden mit Stöcken Teppiche oder Pelzsachen ausgeklopft – die kurzen, häufigen Schläge erstarben rasch in der feuchten Luft. Am Ende der Straße stiegen hinter den Dächern der Häuser dichte blaue und weiße Wolken am Himmel empor. Schwer, in gewaltigen Klumpen, krochen sie in die Höhe, eine nach der andern, höher und höher, beständig ihre Gestalt verändernd, bald dunklen Rauchsäulen gleichend, bald steilen Bergen oder den trüben Wogen eines Stromes. Es schien, daß sie alle zu der grauen Höhe nur emporstrebten, um von dort um so wuchtiger auf die Häuser, Bäume und Fluren herabzufallen.

Vor Kälte und Mißbehagen zitternd, blickte Lunew auf die lebendige Wolkenwand vor seinen Augen und überließ sich seinen Gedanken.

»Ich muß das alles hier fahren lassen . . . den Laden und alles andre . . . Mag der Onkel das Geschäft betreiben . . . mit Tanja zusammen . . . Und ich geh' meiner Wege . . .«

Er stellte sich das weite, feuchte Feld vor, und den von grauem Gewölk bedeckten Himmel, und die breite, mit Birken bepflanzte Landstraße. Er schreitet dahin, mit einem Bündel auf dem Rücken, seine Füße versinken im Straßenkot, und der kalte Regen schlägt ihm ins Gesicht. Auf dem Felde wie auf der Straße ist nicht eine Menschenseele zu schauen – nicht einmal Dohlen sitzen auf den Bäumen, nur die grauen Wolken ziehen stumm über seinem Haupte dahin . . .

»Ich häng' mich auf«, dachte er voll Gleichmut.


 << zurück weiter >>