Maxim Gorki
Drei Menschen
Maxim Gorki

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IV

Großvater Jeremjej kaufte für Ilja ein Paar Stiefel, einen großen, schweren Paletot, eine Mütze – und so ausgerüstet schickte man den Jungen in die Schule. Neugierig und ängstlich zugleich ging er dahin – und finster, gekränkt, mit Tränen in den Augen, kam er aus der Schule heim. Die Knaben hatten in ihm den Begleiter des alten Jeremjej erkannt und im Chor zu spotten begonnen:

»Lumpensammler! Stinker!«

Die einen kniffen ihn, andere zeigten ihm die Zunge, und ein besonders Kecker trat auf ihn zu, zog die Luft in die Nase und schrie laut, während er mit einer Grimasse des Abscheus sich von ihm abwandte:

»Wie eklig der Kerl riecht!«

»Warum lachen sie mich aus?« fragte Ilja den Onkel voll Entrüstung und Zweifel. »Ist's denn eine Schande, Lumpen zu sammeln?«

»Nicht doch«, versetzte Terentij, den Kopf seines Neffen streichelnd, während er sein Gesicht vor den forschenden Augen des Knaben zu verbergen suchte. »Das tun sie nur . . . einfach so . . . aus Ungezogenheit . . . Mußt es eben tragen! . . . Wirst dich dran gewöhnen . . .«

»Auch über meine Stiefel lachen sie, und über den Paletot! . . . Fremde Lumpen wären's, sagen sie, aus 'ner Müllgrube hätt' ich sie 'rausgezogen!«

Auch Großvater Jeremjej tröstete ihn, wobei er vergnügt mit den Augen blinzelte:

»Trag's, mein Lieber! Gott wird's ihnen schon vergelten! . . . Er! Außer Ihm – gibt es niemand!«

Der Alte sprach von Gott mit einer solchen Freude und solchem Vertrauen auf seine Gerechtigkeit, als ob er ganz genau alle Gedanken Gottes wüßte und in alle seine Absichten eingeweiht wäre. Und Jeremjejs Worte beschwichtigten ein wenig das Gefühl der Kränkung im Herzen des Knaben. Am nächsten Tage jedoch wallte dieses Gefühl von neuem um so heftiger in ihm auf. Ilja hatte sich bereits daran gewöhnt, sich als eine wichtige Person, einen richtigen Arbeiter zu betrachten. Mit ihm sprach sogar der Schmied Ssawel in freundlicher Weise, und diese Schuljungen lachten ihn aus und verspotteten ihn! Er vermochte sich mit dieser Tatsache nicht zu befreunden: die beleidigenden und bitteren Eindrücke der Schule verstärkten sich mit jedem Tage, prägten sich immer tiefer seinem Gemüte ein. Der Schulbesuch wurde für ihn zu einer lästigen Pflicht. Durch sein leichtes Auffassungsvermögen hatte er sogleich die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich gelenkt; der Lehrer hielt ihn den andern als Muster vor, was wieder dazu beitrug, seine Beziehungen zu den Schülern zu verschlechtern. Er saß auf der ersten Bank und fühlte die Anwesenheit der Feinde in seinem Rücken, sie aber hatten ihn nun allezeit vor Augen, wußten geschickt alles herauszufinden, was irgend an ihm lächerlich scheinen konnte, und lachten über ihn. Jakow besuchte dieselbe Schule und war gleichfalls bei seinen Kameraden schlecht angeschrieben. Sie nannten ihn nur den »Kalbskopf«. Er war zerstreut, lernte schwer und wurde fast täglich vom Lehrer gestraft, doch verhielt er sich gleichgültig gegen alle Strafen. Er schien überhaupt alles, was um ihn her vorging, zu übersehen, und in der Schule wie zu Hause in seiner ganz besondren Welt zu leben. Fast jeden Tag setzte er Ilja durch seine seltsamen Fragen in Erstaunen.

»Sag' mal, Ilja – wie kommt's denn, daß die Menschen so kleine Augen haben und doch damit alles sehen? . . . Die ganze Straße sieht man, die ganze Stadt – wie kommt's nur, daß sie, die doch so groß ist, in unserm kleinen Auge Platz hat?«

Anfänglich sann Ilja über Jakows seltsame Reden ernsthaft nach, dann aber begannen ihn seine Einfälle zu stören, da sie seine Gedanken von jenen Dingen ablenkten, die ihn zunächst angingen. Und solcher Dinge waren doch gar viele, und der Knabe hatte schon gelernt, recht scharf auf sie zu achten.

Eines Tages kam er aus der Schule nach Hause und sagte mit höhnischem Ausdruck um die Lippen zum alten Jeremjej:

»Unser Lehrer?! Haha! Der ist mir auch schön! . . . Gestern hat der Sohn des Kaufmanns Malafjejew eine Fensterscheibe zerschlagen, und er hat ihn dafür nur ganz leicht gescholten. Und heute hat er die Scheibe einsetzen lassen und aus seiner Tasche bezahlt . . .«

»Siehst du, was für ein guter Mensch das ist?!« versetzte Jeremjej gerührt.

»Ein guter Mensch, jawohl! Und wie neulich Wanjka Klutscharew eine Scheibe zerschlug, da ließ er ihn ohne Mittagessen nachsitzen, und dann ließ er Wanjkas Vater kommen und sagte ihm: ›Du, zahl' mal für die Scheibe vierzig Kopeken‹ . . . Und Wanjka bekam dann Prügel von seinem Vater! . . .«

»Mußt auf so was nicht achten, Iljuscha«, sprach der Alte, während er unruhig mit den Augen blinzelte. »Sieh es so an, als ob es dich gar nichts anginge. Zu entscheiden, was unrecht ist, kommt Gott zu und nicht uns. Wir verstehen das nicht. Er aber kennt Maß und Gewicht aller Dinge. Ich zum Beispiel – ich habe gelebt, gelebt, geschaut und geschaut – und wieviel Unrecht ich gesehen habe, vermag niemand zusammenzuzählen. Die Wahrheit aber hab' ich nie geschaut! . . . Das achte Jahrzehnt ist nun schon über mich hingegangen . . . Es kann doch nicht sein, daß in dieser langen Zeit die Wahrheit nicht ein einziges Mal in meiner Nähe gewesen ist! . . . Ich aber hab' sie nicht gesehen . . . Kenne sie nicht . . .«

»Na,« sprach Ilja zweifelnd, »was ist da viel zu wissen? Wenn der eine vierzig Kopeken zahlen muß, muß es auch der andre: das ist die Wahrheit!«

Der Alte wollte ihm durchaus nicht recht geben. Er sprach noch gar vielerlei von sich selbst, von der Blindheit der Menschen und davon, daß sie nicht imstande seien, einander gerecht zu beurteilen, sondern daß Gottes Urteil allein gerecht sei. Ilja hörte ihn aufmerksam an, doch ward sein Gesicht dabei immer düstrer, und seine Augen schauten immer finstrer.

»Wann wird denn Gott kommen, um zu richten?« fragte er plötzlich den Alten.

»Das weiß man nicht! . . . Sobald die Stunde schlägt, wird er herabkommen von den Wolken, zu richten die Lebendigen und die Toten; aber wann es sein wird, das weiß man nicht . . . Wir wollen doch mal beide in den Abendgottesdienst gehen . . .«

»Gut, gehen wir!«

»Abgemacht! . . .«

Am Sonnabend stand Ilja mit dem Alten auf den Treppenstufen der Kirche, zusammen mit den Bettlern, zwischen den beiden Türen. Sobald die Außentür geöffnet wurde, verspürte Ilja den kalten Luftzug, der von der Straße hereindrang, die Füße wurden ihm steif, und er trippelte leise auf den Fliesen hin und her. Durch die Glasscheiben der Tür aber sah er, wie die Flammen der Kerzen sich gleichsam zu schönen, aus zitternden Goldpunkten gefügten Mustern vereinigten und das Metall der Meßgewänder, die dunklen Köpfe der andächtigen Menge, die Gesichter der Heiligenbilder und das prachtvolle Schnitzwerk des Heiligenschreins beleuchteten.

Die Menschen erschienen in der Kirche besser und friedlicher als auf der Straße. Sie waren auch schöner in dem goldenen Lichtglanz, der ihre dunklen, in ehrfurchtsvollem Schweigen verharrenden Gestalten beleuchtete. Sobald die innere Kirchentür sich öffnete, strömte die weihrauchduftende, warme Woge des Gesanges auf die Vortreppe hinaus: liebkosend umfächelte sie den Knaben, und er atmete entzückt die wohlriechende Luft ein. Es war ihm angenehm, so dazustehen neben dem Großvater Jeremjej, der seine Gebete flüsterte. Er lauschte, wie der feierlich schöne Gesang durch das Gotteshaus flutete, und wartete mit Ungeduld, bis die Tür sich wieder öffnen und der Gesang von neuem auf ihn einströmen, der balsamische warme Luftstrom ihn wieder umfangen würde. Er wußte, daß oben auf dem Kirchenchor Grischka Bubnow sang, einer der schlimmsten Spötter in der Schule, und auch Fedjka Dolganow, ein kräftiger, raufsüchtiger Bursche, der ihn schon mehr als einmal geprügelt hatte. Jetzt aber empfand er ihnen gegenüber keinen Haß und kein Rachegefühl, sondern nur ein wenig Neid. Er selbst hätte dort oben auf dem Chor singen und von da auf die Leute herabschauen mögen. Es mußte gar zu schön sein, dort an der goldenen Mitteltür der Altarwand zu stehen und zu singen. Als Ilja die Kirche verließ, hatte er das Gefühl, als sei er besser geworden, und er war bereit, sich mit Bubnow und Dolganow und überhaupt mit allen Schülern zu versöhnen. Am folgenden Montag jedoch kam er, ebenso wie früher, finster und beleidigt aus der Schule heim . . .

Überall, wo Menschen in größerer Zahl zusammen sind, befindet sich einer darunter, der sich unter ihnen nicht wohl fühlt, und es ist nicht gerade notwendig, daß er darum besser oder schlechter sei als die andern. Man kann das Übelwollen der andern gegen sich schon durch ein Mindermaß an Verstand oder durch eine lächerliche Nase hervorrufen. Die Menge wählt sich einfach irgend jemanden zum Gegenstand ihrer Belustigung, wobei sie nur von dem Wunsche beseelt ist, sich die freie Zeit mit ihm zu vertreiben. Hier war die Wahl auf Ilja Lunew gefallen. Die Sache hätte ohne Zweifel für ihn ein schlechtes Ende genommen, wenn nicht in seinem Leben Ereignisse eingetreten wären, die sein Interesse an der Schule herabminderten und ihn gegen ihre kleinen Unannehmlichkeiten gleichgültig machten.

Es begann damit, daß eines Tages, als Ilja und Jakow zusammen von einem Ausgang heimkehrten, sie im Torweg des Hauses einen Auflauf bemerkten.

»Sieh doch,« sagte Jakow zu seinem Freunde, »da scheinen sie sich wieder zu prügeln! Komm, laß uns rasch hinlaufen!«

Hals über Kopf eilten sie nach Hause, und als sie auf den Hof kamen, sahen sie, daß dort fremde Menschen sich angesammelt hatten und wirr durcheinander schrien:

»Ruft die Polizei! Bindet ihn doch!«

Vor der Schmiede standen dichtgedrängt Menschen mit erschrockenen Gesichtern. Kinder hatten sich vorgedrängt und wichen nun entsetzt zurück. Zu ihren Füßen auf dem Schnee lag mit dem Gesicht zur Erde eine Frau. Ihr Nacken war mit Blut und mit einer teigartigen Masse bedeckt, und der Schnee rings um ihren Kopf war gleichfalls rot von Blut. Neben ihr lag ein zerknülltes weißes Kopftuch und eine große Schmiedezange. In der Tür der Schmiede hockte Ssawel und starrte stumm auf die Arme des Weibes. Sie waren vorgestreckt, die Finger waren tief in den Schnee eingegraben. Die Brauen des Schmiedes waren finster zusammengezogen, das Gesicht war verzerrt; man sah, daß er die Zähne fest zusammenbiß; die Backenknochen traten wie zwei große Zapfen hervor. Mit der rechten Hand stützte er sich gegen den Türpfosten. Seine schwarzen Finger bewegten sich zuckend, wie die Krallen einer Katze, und außer diesen Fingern war alles an ihm unbeweglich. Schweigend starrten die Umstehenden ihn an. Ihre Gesichter waren streng und ernst, und während sonst im Hofe Lärm und Verwirrung herrschte, war hier, um die Schmiede herum, alles still.

Da mit einemmal kroch aus der Menge der alte Jeremjej hervor, ganz zerzaust und mit Schweiß bedeckt; mit zitternder Hand reichte er dem Schmied einen Eimer voll Wasser:

»Da, nimm . . . trink! . . .«

»Gib ihm doch kein Wasser, dem Mörder! 'nen Strick um den Hals verdient er«, sagte jemand halblaut.

Ssawel nahm den Eimer mit der linken Hand und trank lange, lange, und als er alles Wasser ausgetrunken hatte, schaute er in das leere Gefäß und sprach mit dumpfer Stimme:

»Ich hab' sie gewarnt . . . Laß es sein, du Aas, sagte ich, sonst schlag' ich dich tot! Ich hab' ihr verziehen! . . . Wie oft hab' ich ihr verziehen! . . . Aber sie wollt's nicht lassen . . . na . . . und da ist es so gekommen! . . . Mein Paschka . . . ist jetzt eine Waise . . . schau' nach ihm, Großväterchen . . . dich liebt der Herr . . .«

»A–a–ach, du–u!« klagte wehmütig der Greis und faßte mit seiner zitternden Hand den Schmied an der Schulter, während jemand aus der Menge rief:

»Hört mal den Bösewicht! . . . Er redet noch von Gott!!«

Da runzelte der Schmied die Brauen und brüllte plötzlich wie ein wildes Tier:

»Was wollt ihr? Packt euch alle!«

Sein Aufschrei wirkte wie ein Peitschenschlag auf die Menge. Sie murrte dumpf und wich von ihm zurück. Der Schmied erhob sich und schritt auf sein totes Weib zu, machte jedoch plötzlich kehrt und wandte sich kerzengerade, in ganzer Höhe aufgerichtet, der Schmiede zu. Alle sahen, wie er dort, in seiner Werkstatt, sich auf den Amboß setzte, mit den Händen nach dem Kopfe griff, als wenn er plötzlich einen unerträglichen Schmerz darin fühlte, und den Oberkörper langsam auf und nieder bewegte. Ilja empfand Mitleid mit dem Schmied; er schritt wie im Traume von der Schmiede hinweg und irrte im Hofe umher, von einer Gruppe zur andern, ohne von den Gesprächen, die er vernahm, etwas zu begreifen.

Die Polizei erschien an der Mordstätte und trieb die Leute vom Hofe. Dann nahm sie den Schmied fest und führte ihn ab.

»Leb' wohl, Großväterchen!« schrie Ssawel, als er aus dem Tore schritt.

»Leb' wohl, Ssawel Iwanytsch, leb' wohl, mein Lieber!« rief der alte Jeremjej mit seiner dünnen Stimme – hastig, wie wenn er ihm nacheilen wollte.

Niemand außer ihm nahm Abschied von dem Schmied . . .

In kleinen Gruppen standen die Leute noch immer auf dem Hofe, besprachen das Ereignis und schauten mit düsterem Blick auf den Körper der Erschlagenen. Irgend jemand bedeckte ihren Körper mit einem Kohlensack. In der Tür der Schmiede, an der Stelle, wo Ssawel gesessen hatte, saß jetzt ein Polizeiwachtmann mit der Pfeife im Munde. Er rauchte, spuckte zur Seite aus, schaute mit seinen trüben Augen den alten Jeremjej an und hörte ihm zu.

»War er's denn, der gemordet hat?« sprach leise, geheimnisvoll der Alte. »Die schwarze Macht hat's getan, sie allein! Der Mensch kann den Menschen nicht morden . . . Nicht er ist's, der mordet, meine guten Leute!«

Jeremjej legte seine Hände auf die Brust, als wehrte er mit ihnen etwas von sich ab, und suchte hüstelnd den Umstehenden die Bedeutung des Ereignisses darzulegen.

»Schon lange hat der Schwarze es ihm ins Herz geflüstert: Schlag sie doch tot!« sprach er, zu dem Wachtmann gewandt.

»Aber mit der Zange hat doch nicht der Teufel, sondern der Schmied geschlagen«, meinte der Polizist und spuckte aus.

»Und wer hat's ihm eingegeben?« schrie der Alte. »Das zieh mal in Betracht! Wer hat's ihm eingegeben?«

»Sag' mal,« versetzte der Polizist, »in welchen Beziehungen stehst du denn zu dem Schmied? Ist er dein Sohn?«

»Nicht doch, bewahre! . . .«

»Aber verwandt bist du sicher mit ihm, was?«

»Nein. Ich hab' gar keine Verwandten . . .«

»Warum regst du dich dann so auf?«

»Ich? O Gott . . .«

»Ich will dir mal was sagen«, sprach streng der Polizist. »Aus Altersschwäche schwatzt du so . . . Mach' lieber, daß du fortkommst!«

Der Wachtmann stieß eine dichte Rauchwolke aus seinem Mundwinkel hervor und wandte dem Alten den Rücken, Jeremjej aber ließ sich nicht abschrecken, sondern sprach immer noch weiter, rasch, weinerlich, mit den Händen fuchtelnd.

Ganz blaß, mit weitgeöffneten Augen war Ilja im Hofe herumgegangen und bei einer Gruppe stehengeblieben, in der sich der Kutscher Makar, der Schuster Perfischka und Matiza mit ein paar anderen Weibern aus den Dachstuben befanden.

»Sie hat sich ja schon vor der Hochzeit mit andern abgegeben, meine Lieben!« meinte eins von den Weibern. »Wahrscheinlich ist auch Paschka nicht Ssawels Sohn, sondern der Sohn eines Lehrers, der beim Kaufmann Malafjejew wohnte . . .«

»Meinst du den, der sich erschossen hat?« fragte Perfischka.

»Ganz recht . . . Sie hatte sich mit ihm eingelassen . . .«

Auch Perfischkas gelähmte Frau war aus dem Keller hervorgekrochen und saß, ganz mit Lumpen umwickelt, an ihrem gewohnten Platz im Kellereingang. Ihre Arme ruhten unbeweglich auf den Knien; sie hatte den Kopf emporgehoben und schaute mit ihren schwarzen Augen zum Himmel auf. Ihre Lippen waren fest zusammengepreßt, die Mundwinkel nach unten verzogen. Ilja schaute bald in die dunkeln Augen der Schustersfrau, bald gleichfalls, wie sie, zum Himmel empor, und er dachte bei sich, daß Perfischkas Weib vielleicht dort oben den Herrgott sehe und ihn schweigend um etwas bitte.

Bald hatten sich alle Kinder des Hauses an dem Kellereingange zusammengefunden. Sie hüllten sich fester in ihre Kleider, saßen dicht beieinander auf den Stufen der Kellertreppe und horchten in angstvoller Neugier auf das, was Ssawels Sohn von der Untat erzählte. Paschkas Gesicht war verstört, und seine sonst so kecken Augen schauten unsicher und verwirrt drein. Doch fühlte er sich als Held des Tages: noch niemals hatten die Leute ihm soviel Aufmerksamkeit geschenkt wie heute. Wohl zum zehnten Male erzählte er immer wieder dasselbe, und seine Erzählung klang nun schon ganz gleichgültig und mürrisch.

»Wie sie vorgestern wegging,« berichtete er, »da hat der Vater schon mit den Zähnen geknirscht, und von der Zeit an war er in einem fort wütend und brüllte immer. Mich zog er jeden Augenblick an den Haaren . . . Ich sah schon was voraus – ja wohl! Und endlich kam sie. Die Wohnung war fest verschlossen – wir waren in der Schmiede, ich stand beim Blasebalg. Mit einemmal seh' ich, wie sie näher kommt und in der Tür steht. Gib den Schlüssel, sagt sie. Der Vater aber nahm die Zange und ging auf sie los . . . Ganz leise ging er, wie schleichend . . . Ich machte sogar die Augen zu – schrecklich war's! Ich wollt' schon rufen: Lauf weg, Mutter! Aber ich rief nicht . . . Wie ich die Augen aufmachte, ging er immer noch auf sie zu. Und seine Augen brannten so! Da wollte sie zurückweichen . . . Sie drehte ihm den Rücken zu und wollte weglaufen . . .«

Paschkas Gesicht erzitterte, und sein magerer, eckiger Körper begann zu zucken. Tief aufseufzend sog er die Brust voll Luft, atmete dann langsam wieder aus und sprach:

»Da schlug er sie mit der Zange auf den Schädel! . . .«

Die Kinder, die bisher unbeweglich gesessen hatten, kamen in Bewegung.

»Sie streckte die Arme aus und fiel hin . . . wie wenn sie ins Wasser plumpste . . .«

Er nahm ein Spänchen auf, betrachtete es aufmerksam und warf es dann über die Köpfe der Kinder hinweg. Sie saßen alle unbeweglich, als wenn sie von ihm noch irgend etwas erwarteten. Doch er schwieg und senkte den Kopf tief auf die Brust.

»Hat er sie ganz totgeschlagen?« fragte Mascha mit ihrer feinen, zitternden Stimme.

»Dummes Ding!« versetzte Paschka, ohne den Kopf aufzuheben.

Jakow legte den Arm um die Kleine und zog sie dicht an sich heran, während Ilja näher an Paschka heranrückte und ihn leise fragte:

»Tut sie dir leid?«

»Was geht's dich an?« versetzte Paschka böse.

Die Kinder schauten ihn an – schweigend, alle zugleich.

»Sie hat sich immer 'rumgetrieben . . .« ließ sich Mascha vernehmen, aber Jakow fiel ihr sogleich eifrig ins Wort:

»'rumgetrieben! . . . Was war das auch für'n Mensch, der Schmied! . . . Immer so schwarz und brummig – Angst mußte man vor ihm haben . . . Und sie war so lustig wie Perfischka . . .«

Paschka schaute ihn an und sprach ernst und düster, wie ein Großer:

»Ich sagte ihr immer: Mutter, sagt' ich, nimm dich in acht! Er wird dich totschlagen . . . Aber sie hörte nicht. Sie bat mich nur immer, ich sollte ihm nichts sagen. Dafür kaufte sie mir Naschwerk. Und der Feldwebel schenkte mir jedesmal einen Fünfer. Bracht' ich ihm 'nen Brief von ihr, gleich bekam ich meinen Fünfer . . . Er ist ein guter Kerl! . . . Und so stark . . . und 'nen mächtigen Schnurrbart hat er . . .«

»Hat er auch einen Säbel?« fragte Mascha.

»Und was für einen!« sagte Paschka, und mit Stolz fügte er hinzu: »Ich hab' ihn mal aus der Scheide gezogen. Ganz zis'liert ist die Klinge!«

»Jetzt bist du also auch eine Waise, wie Iljuschka . . .« meinte Jakow nach einer Weile nachdenklich.

»Mag ich's doch sein!« versetzte Paschka unwirsch. »Meinst wohl, ich werde auch unter die Lumpensammler gehen? Da spuck' ich drauf!«

»Das meine ich nicht! . . .«

»Ich werde jetzt leben, wie es mir paßt«, versetzte Paschka stolz, während er den Kopf erhob und seine Augen grimmig funkeln ließ. »Ich bin gar keine Waise . . . ich stehe nur so . . . allein in der Welt. Und ich will auch ganz für mich bleiben. Der Vater wollt' mich nicht in die Schule schicken – und jetzt werden sie ihn ins Gefängnis sperren . . . Und ich werde einfach in die Schule gehen und lernen . . . noch mehr als ihr!«

»Woher wirst du denn die Kleider nehmen?« fragte ihn Ilja und lachte dabei triumphierend. »In zerrissenen Sachen darfst du da nicht hinkommen!«

»Kleider? Ich werde . . . die Schmiede verkaufen.«

Alle blickten respektvoll auf Paschka, und Ilja fühlte sich besiegt. Paschka bemerkte den Eindruck, den seine Worte hervorgebracht hatten, und verstieg sich noch höher.

»Auch ein Pferd werde ich mir kaufen, ein lebendiges, richtiges Pferd! . . . Ich werde in die Schule reiten . . .«

Dieser Gedanke gefiel ihm so gut, daß er sogar lächelte, wenn es auch nur ein ganz, ganz schüchternes Lächeln war, das flüchtig um seinen Mund zuckte und sogleich wieder verschwand.

»Hauen wird dich jetzt niemand«, sagte plötzlich Mascha zu Paschka, während sie ihn voll Neid betrachtete.

»Werden sich schon Liebhaber finden«, versetzte Ilja in überzeugtem Tone.

Paschka sah ihn an, spuckte wegwerfend zur Seite aus und fragte:

»Was willst du damit sagen? Fang nur mit mir an!«

Von neuem mischte sich Jakow ins Gespräch:

»Wie merkwürdig ist es doch, Kinder! Da lebte also ein Mensch, ging umher und sprach, und so weiter . . . war voll Leben, wie alle andern. – Und mit einemmal kriegt er eins mit der Zange über den Schädel – und ist nicht mehr!«

Die Kinder schauten voll Spannung auf Jakow, dessen Augen mit lächerlichem Ausdruck unter der Stirn hervorquollen.

»Ja, darüber hab' ich auch schon nachgedacht«, meinte Ilja.

»Es heißt immer: er ist gestorben«, fuhr Jakow leise und geheimnisvoll fort. »Aber was ist denn das – – ›gestorben‹?«

»Die Seele ist fortgeflogen«, erklärte Paschka finster.

»In den Himmel«, fügte Mascha hinzu, und während sie sich an Jakow anschmiegte, schaute sie zum Himmel empor.

Dort waren bereits die Sterne aufgeflammt; einer von ihnen – ein großer, heller Stern, der gar nicht flimmerte – war der Erde näher als die andern und schaute wie ein kaltes, unbewegliches Auge auf sie nieder. Nach Mascha hoben auch die drei Knaben ihre Köpfe empor. Paschka blickte auf und lief gleich darauf irgendwohin weg. Ilja schaute lange und scharf hinauf, mit furchtsamem Ausdruck, und Jakows große Augen irrten an dem blauen Himmel auf und ab, als ob sie dort oben irgend etwas suchten.

»Jakow!« rief sein Kamerad und senkte wieder den Kopf.

»Was?«

»Ich denke immer darüber nach . . .« Ilja hielt in seiner Rede inne.

»Worüber denkst du nach?« fragte Jakow ebenso leise wie jener.

»Über die Leute . . . Da ist ein Mensch totgeschlagen worden . . . Und alle laufen hin und her und tun so wichtig . . . und reden allerhand . . . aber keiner hat geweint . . . nicht ein einziger! . . .«

»Jeremjej hat geweint.«

»Der hat immer Tränen in den Augen . . . Aber Paschka . . . wie der sich aufführt! Als ob er ein Märchen erzählte . . .«

»Er stellt sich nur so . . . Ihm tut sie schon leid, aber er schämt sich vor uns . . . Und jetzt ist er irgendwohin gelaufen und heult jedenfalls, was das Zeug hält . . .«

Fest aneinandergeschmiegt, saßen sie noch ein paar Minuten da. Mascha war auf Jakows Knien eingeschlafen, das Gesicht noch immer zum Himmel gewandt.

»Hast du Angst?« fragte Jakow ganz leise.

»Ja«, versetzte Ilja ebenso leise.

»Jetzt wird ihre Seele hier umgehen . . .«

»Ja–a . . . Und Mascha ist eingeschlafen . . .«

»Wir müssen sie in die Wohnung bringen . . . Ich habe sogar Angst, hier wegzugehen . . .«

»Gehen wir zusammen!«

Jakow legte den Kopf des schlafenden Mädchens gegen seine Schulter, umfaßte ihren schmächtigen Körper mit den Armen und erhob sich mit Anstrengung, wobei er Ilja, der ihm im Wege stand, zuflüsterte:

»Wart', laß mich vorausgehen . . .«

Unter seiner schweren Last schwankend, schritt er die Kellerstufen hinab, während Ilja, der ihm folgte, fast mit der Nase an seinen Nacken stieß. Es war Ilja, als ob eine unsichtbare Gestalt hinter ihm herschliche, als ob er ihren kalten Hauch an seinem Halse fühlte und jeden Augenblick fürchten müßte, von ihr gepackt zu werden. Er stieß den Freund in den Rücken und rief ihm kaum hörbar zu:

»Geh schneller!«


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