Maxim Gorki
Drei Menschen
Maxim Gorki

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XXII

»Ilja! Bitte, steh auf! . . .«

Er öffnete die Augen und erkannte Pawel Gratschew. Pawel saß auf einem Stuhle und stieß mit dem Fuße nach den Füßen des schlafenden Ilja. Ein heller Sonnenstrahl schaute in das Zimmer und fiel gerade auf den Samowar, der bereits siedend auf dem Tische stand. Lunew war vom Licht geblendet und kniff die Augen zusammen.

»Hör' doch mal, Ilja! . . .«

Pawels Stimme war heiser, als ob er eine durchschwärmte Nacht hinter sich hätte; sein Gesicht war gelb, das Haar zerzaust. Lunew sah ihn an, sprang vom Boden auf und rief halblaut:

»Was gibt's?«

»Sie ist gefunden«, sagte Pawel und schüttelte traurig den Kopf.

»Wo ist sie denn?« fragte Lunew, beugte sich über ihn und faßte ihn an der Schulter. Gratschew begann zu schwanken und sagte zerstreut:

»Eingesperrt hat man sie . . .«

»Wofür denn?« fragte Ilja mit jähem Flüstern.

Mascha war erwacht, fuhr bei Pawels Anblick zusammen und sah ihn mit erschrockenen Augen an. Aus der Tür des Ladens schaute Gawrik ins Zimmer und verzog mißbilligend die Mundwinkel.

»Es heißt . . . sie habe einem Kaufmann die Brieftasche gestohlen . . .«

Ilja sah den Kameraden groß an und ging dann schweigend auf die Seite.

»Den Gehilfen des Stadtteilaufsehers hat sie ins Gesicht geschlagen . . .«

»Natürlich«, sprach Ilja mit herbem Lachen. »Wenn sie schon ins Loch muß, springt sie gleich mit beiden Beinen 'rein!«

Mascha hatte begriffen, daß alles dies sie nichts anging, und sagte still lächelnd:

»Wenn sie mich doch ins Gefängnis einsperren möchten!«

Pawel schaute zuerst sie und dann Ilja an.

»Erkennst du sie nicht?« fragte Ilja. »Das ist ja Mascha, Perfischkas Tochter – erinnerst du dich noch?«

»Ach so«, sprach Pawel gleichgültig und wandte sich von Mascha ab, obschon sie ihm als einem alten Bekannten freundlich zulächelte.

»Ilja!« fuhr er düster fort – »und wenn sie das Geld für mich stehlen wollte?«

Ungewaschen und zerzaust, wie er war, setzte sich Lunew aufs Bett zu Maschas Füßen, schaute bald sie, bald Pawel an und war wie betäubt.

»Ich wußte,« sprach er langsam, »daß diese Geschichte kein gutes Ende nehmen wird.«

»Sie hat auf mich nicht gehört«, sprach Pawel gedrückt.

»So, so . . .« rief Lunew spöttisch. »Sie hat auf dich nicht gehört – darum ist's gekommen! Und was konntest du ihr denn sagen?«

»Ich liebte sie . . .«

»Was Teufel sollte ihr deine Liebe?«

Lunew geriet in Hitze. Alle diese Geschichten, das Schicksal Pawels wie dasjenige Maschas, erweckten seinen Grimm. Und da er nicht wußte, an wem er seinen Ärger auslassen sollte, wandte er sich gegen Pawel.

»Jeder Mensch will vergnügt und angenehm leben . . . also auch sie . . .! Und du sagst ihr nur immer: ich liebe dich, also lebe mit mir zusammen und leide an allem Mangel . . . Meinst du, das sei so in Ordnung?«

»Und wie hätt' ich's denn machen sollen?« fragte Pawel kleinmütig.

Diese Frage kühlte Lunew ein wenig ab. Er begann unwillkürlich nachzusinnen.

Aus dem Laden schaute Gawrik ins Zimmer hinein.

»Soll ich den Laden öffnen?« fragte er.

»Hol' der Teufel den ganzen Laden!« rief Lunew heftig. »Was soll man hier für Geschäfte machen?«

»Bin ich dir im Wege?« fragte Pawel. Er saß auf dem Stuhle, nach vorn gebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und schaute auf den Boden. An seiner Schläfe zuckte heftig eine kleine, prall mit Blut gefüllte Ader.

»Du mir im Wege?« rief Lunew und sah ihn an. »Nein, du bist mir nicht im Wege . . . und auch Mascha ist es nicht. Uns allen – dir und mir und Mascha – ist irgendetwas anderes im Wege. Unsre Dummheit mag's sein, oder was sonst, ich weiß es nicht. Jedenfalls werden wir es nie dazu bringen, wie Menschen zu leben. Ich will kein Elend sehen, nichts Häßliches . . . keine Sünde und sonstige Gemeinheit! Ich will es nicht – und dabei habe ich selbst . . .«

Er schwieg und wurde bleich.

»Du denkst nur immer an dich«, sagte Pawel.

»Und an wen denkst du denn?« fragte Ilja höhnisch. »Jeder hat seine eigne Eiterbeule, stöhnt mit seiner eignen Stimme . . . Und ich rede doch nicht nur von mir, sondern von allen . . . weil mich alle beunruhigen . . .«

»Ich gehe schon«, sagte Gratschew und stand schwerfällig vom Stuhl auf.

»Ach,« rief Ilja, »mußt dich doch nicht gleich gekränkt fühlen! . . . Such' lieber die Dinge zu begreifen . . .«

»Ich bin wie mit 'nem Ziegelstein vor den Kopf geschlagen«, erwiderte Pawel. »So leid tut es mir um Wjerka . . . Was soll ich tun?«

»Gar nichts kannst du tun«, sprach Ilja mit Bestimmtheit. »Sie ist mal gefaßt worden und wird verurteilt werden.«

Gratschew nahm wieder auf dem Stuhle Platz.

»Wenn ich aber sage, daß sie es für mich getan hat?« sagte er.

»Bist du vielleicht ein Prinz? Sag's nur, dann kommst auch du ins Loch! . . . Aber's ist Zeit, daß wir hier ein bißchen Ordnung machen. Kannst dich hier waschen . . . und auch du, Mascha . . . Wir gehen solange in den Laden, und du steh auf, mach' dich zurecht und schenk' uns den Tee ein . . .«

Mascha fuhr zusammen, hob den Kopf vom Kissen auf und fragte Ilja:

»Muß ich nach Hause gehen?«

»Der Mensch hat dort sein Haus, wo man ihn wenigstens nicht quält . . .«

Als sie im Laden waren, fragte Pawel mürrisch:

»Was macht sie denn hier bei dir? Sie sieht so elend aus . . .«

Lunew erzählte ihm kurz, wie es Mascha gegangen. Zu seinem Erstaunen machten Maschas Schicksale auf Gratschew einigen Eindruck.

»Dieser alte Satan!« schalt er entrüstet den Krämer.

Ilja stand neben ihm und ließ seinen Blick durch den Laden schweifen. »Du sagtest neulich mal, daß mich der Kram hier auch nicht glücklich machen würde . . .« sprach er zu Pawel.

Er wies mit einer Handbewegung auf die Waren und nickte mit bittrem Lächeln.

»'s ist richtig, er macht mich nicht glücklich. Was gewinn' ich dabei, wenn ich immer auf demselben Fleck stehe und mit all dem Zeug hier handle? Meine Freiheit ist hin, ich kann mich nicht wegrühren. Früher zog ich durch die Gassen, wohin ich wollte, fand ein hübsches, bequemes Plätzchen und saß da ganz vergnügt . . . Und jetzt steck' ich Tag für Tag nur hier – weiter nichts . . .«

»Könntest vielleicht Wjera hier brauchen, . . . als Verkäuferin«, sagte Pawel.

Ilja sah ihn an und schwieg.

»Kommt zum Tee!« rief Mascha.

Beim Tee redeten alle drei nur wenig. Auf der Straße lag heller Sonnenschein, nackte Kinderfüße hüpften auf dem Trottoir; Gemüseverkäufer gingen am Fenster vorüber. Alles sprach vom Frühling, von schönen, warmen, hellen Tagen, und hier in dem engen Zimmer roch es dumpf und feucht. Ab und zu wurde ein düstres, leises Wort verlautbar, und der Samowar summte und spiegelte die Sonne wider.

»Da sitzen wir nun wie beim Leichenschmaus«, sagte Ilja.

»Und Wjerka ist die Tote«, fügte Gratschew hinzu. »Ob ich's am Ende nicht war, der sie ins Gefängnis getrieben hat?«

»Das ist leicht möglich«, pflichtete Ilja ihm mitleidlos bei.

Gratschew sah ihn vorwurfsvoll an.

»Bist doch ein böser Mensch . . .« sagte er.

»Wie käme ich dazu, gut zu sein?« rief Ilja heftig. »Wer hat mir den Kopf gestreichelt? . . . Ein Wesen vielleicht gab's, das mich lieb hatte . . . und das war ein lasterhaftes Weib!«

Die heftige Erregung hatte sein Gesicht gerötet, und seine Augen hatten sich mit Blut gefüllt; in einem Anfall von Zorn sprang er vom Stuhl auf und hätte am liebsten gerast, geschimpft, mit den Fäusten gegen Tisch und Wände geschlagen.

Mascha erschrak, als sie ihn so sah, und begann, wie ein Kind, laut und kläglich zu weinen.

»Ich geh' fort . . . laßt mich«, sagte sie mit zitternder Stimme und bewegte den Kopf hin und her, als wollte sie ihn irgendwo verstecken.

Lunew schwieg, er sah, daß auch Pawel ihn feindselig anblickte.

»Na, was weinst du denn?« sprach er dann ärgerlich zu Mascha. »Ich habe dich doch nicht angeschrien . . . Brauchst nicht wegzugehen . . . ich werde weggehen . . . Ich muß einen Gang machen . . . und Pawel mag hier bleiben mit dir . . . Gawrilo! Wenn Tatjana Wlaßjewna kommt . . . wer ist denn da noch?«

Draußen wurde gegen die verschlossene Ladentür geklopft. Gawrik sah mit fragender Miene auf seinen Prinzipal.

»Öffne!« sprach Ilja.

Auf der Türschwelle erschien Gawriks Schwester. Ein paar Sekunden stand sie unbeweglich da, gerade, den Kopf in die Höhe gerichtet, und sah alle mit zusammengekniffenen Augen an. Dann erschien auf ihrem unschönen, hagern Gesicht eine Grimasse des Ekels, und ohne Iljas Gruß zu beachten, sprach sie zu ihrem Bruder:

»Gawrik, komm doch auf einen Augenblick zu mir heraus!«

Ilja fuhr zornig auf. Die Beleidigung trieb ihm das Blut mit solcher Heftigkeit ins Gesicht, daß ihn die Augen brannten.

»Grüßen Sie hübsch wieder, junges Fräulein, wenn man Sie grüßt!« fuhr er scharf, nur mit Mühe an sich haltend, heraus.

Sie hob den Kopf noch höher, während ihre Augenbrauen sich senkten. Die Lippen fest zusammenpressend, maß sie Ilja mit ihren Blicken und sprach nicht ein Wort. Auch Gawrik schaute unwillig auf seinen Prinzipal.

»Sie sind hier nicht bei Trunkenbolden oder Spitzbuben«, fuhr Lunew, zitternd vor Erregung, fort. »Man ist Ihnen mit Achtung begegnet, und als gebildetes Fräulein müssen Sie sich ebenso betragen.«

»Mach' keine Geschichten, Ssonja«, sagte plötzlich Gawrik in versöhnlichem Tone und ergriff ihre Hand.

Ein peinliches Schweigen trat ein. Ilja und das Mädchen sahen sich gegenseitig herausfordernd an, als ob sie etwas erwarteten. Mascha war leise in eine Ecke gegangen. Pawel blinzelte verständnislos mit den Augen.

»Na, so sprich doch, Ssonjka«, fuhr Gawrik ungeduldig fort. »Denkst wohl gar, man will dich hier beleidigen?« fragte er, und mit einem vielsagenden Lächeln fügte er hinzu: »Sie sind doch mal so . . . so sonderbar!«

Das Mädchen zerrte ihn an der Hand und fragte Lunew trocken und barsch:

»Was wünschen Sie von mir?«

»Nichts, nur wollt' ich sagen . . .«

Ein kluger, klarer Gedanke durchzuckte plötzlich sein Hirn. Er schritt auf das Mädchen zu und sprach so höflich wie möglich:

»Erlauben Sie, daß ich Ihnen erkläre . . . sehen Sie, wir sind hier drei Menschen . . . Leute von dunkler Herkunft, und ungebildet . . . und Sie sind eine Gebildete . . .«

Er suchte ihr seinen Gedanken so klar wie möglich darzulegen und vermochte es doch nicht. Der gerade, strenge Blick ihrer schwarzen Augen, die ihn gleichsam von sich abstießen, verwirrte ihn. Ilja schlug die Augen nieder und murmelte verlegen, in ärgerlichem Tone:

»Ich kann Ihnen das nicht alles sagen. Wenn Sie Zeit haben, kommen Sie doch herein . . . Nehmen Sie Platz.«

Und er trat zur Seite, um sie durchzulassen.

»Warte hier, Gawrik«, sprach das Mädchen und trat, während sie den Bruder an der Tür zurückließ, ins Zimmer. Lunew schob ihr ein Taburett hin, und sie nahm Platz. Pawel begab sich in den Laden, Mascha drückte sich ängstlich in den Winkel am Ofen, und Lunew stand unbeweglich, zwei Schritte von dem Mädchen entfernt, da und mühte sich vergeblich ab, die Unterhaltung einzuleiten.

»Nun?« sagte sie.

»Hören Sie . . . um was es sich handelt«, begann Ilja endlich mit einem tiefen Seufzer. »Dieses Mädchen da, sehen Sie – das heißt, sie ist gar kein Mädchen, sondern eine verheiratete Frau . . . An einen Alten ist sie verheiratet . . . und der tyrannisiert sie . . . Ganz zerschlagen und blutrünstig ist sie von ihm fortgelaufen . . . und zu mir geflüchtet . . . Sie denken vielleicht etwas Schlimmes? Aber nichts derartiges liegt vor . . .«

Er stockte häufig in seiner Rede und sprach in abgerissenen Sätzen, wobei er von dem doppelten Bestreben beherrscht war, sowohl die Geschichte Maschas zu erzählen, als auch seine eigne Ansicht über die Sache vor dem Mädchen darzulegen. Namentlich auf diese Darlegung seiner eignen Gedanken legte er Wert. Sie sah ihn unverwandt an, und ihre Augen bekamen allmählich einen weicheren Ausdruck.

»Ich verstehe Sie«, unterbrach sie Iljas Rede. »Sie wissen nicht, wie Sie in der Sache vorgehen sollen. Vor allem muß sie zum Arzt gebracht werden . . . der soll sie untersuchen . . . Ich kenne einen Doktor – wenn Sie wollen, bringe ich sie zu ihm. Gawrik, sieh doch mal nach, wie spät es ist! Elf Uhr, nicht? Da hat er gerade Sprechstunde . . . Gawrik, hol' mal eine Droschke . . . Und Sie, meine Liebe – aber machen Sie mich doch mit ihr bekannt . . .«

Ilja rührte sich nicht vom Fleck. Er hatte nicht erwartet, daß dieses ernste, strenge Mädchen mit einer so weichen Stimme sprechen könnte. Auch ihr Gesicht setzte ihn in Erstaunen: dieses sonst so stolze Gesicht hatte jetzt einen so besorgten Ausdruck, und wenn auch die großen Nasenlöcher immer weiter wurden, so lag doch in diesen Zügen etwas Schönes und Schlichtes, das Ilja vorher nicht bemerkt hatte. Er betrachtete das Mädchen und lächelte schweigend und verlegen.

Sie aber hatte sich bereits von ihm abgewandt, war an Mascha herangetreten und sprach leise mit ihr:

»Weinen Sie nicht, mein Täubchen! Haben Sie keine Angst . . . Der Doktor ist ein prächtiger Mensch. Er wird Sie untersuchen und Ihnen ein Attest ausstellen . . . das ist alles. Ich werde mit Ihnen hinfahren . . . Nun, meine Liebe, weinen Sie nicht!«

Sie legte ihre Hände auf Maschas Schultern und wollte sie an ihre Brust ziehen.

»Oh! . . . Es schmerzt so«, sprach Mascha mit leisem Stöhnen.

»Was haben Sie denn da?«

Lunew hörte immer nur zu und lächelte dabei.

»Was ist denn das, zum Teufel?« schrie das Mädchen entsetzt und trat von Mascha fort. Ihr Gesicht war ganz bleich geworden, und in ihren Augen lag Schrecken und Empörung.

»Wie furchtbar ist sie zugerichtet . . . oh!«

»So geht es uns«, rief Lunew voll Empörung. »Haben Sie gesehen? Und hier kann ich Ihnen noch einen zeigen – dort steht er! Erlauben Sie, daß ich ihn mit Ihnen bekanntmache: mein Freund Pawel Ssawelitsch Gratschew . . .«

Pawel reichte dem Mädchen die Hand, ohne aufzublicken.

»Medwjedewa, Ssofia Nikonowna«, stellte sie sich vor und betrachtete Pawels düstres Gesicht. »Und Sie nennt man Ilja Jakowlewitsch?« wandte sie sich an Lunew.

»So ist's«, versetzte Ilja lebhaft, drückte kräftig ihre Hand und fuhr, ohne sie loszulassen, fort:

»Wenn Sie schon . . . sehen Sie . . . das eine tun, dann geben Sie uns auch in dem andern Ihren Rat! Auch hier sitzt ein Mensch in der Schlinge . . .«

Sie sah aufmerksam und ernst in sein schönes, erregtes Gesicht und suchte ohne Aufsehen ihre Hand aus der seinigen zu befreien. Er aber erzählte ihr von Wjera und von Pawel, erzählte leidenschaftlich, mit Begeisterung. Und dann schüttelte er ihr kräftig die Hand und sagte:

»Verse hat er gemacht, und was für Verse! Aber in dieser Geschichte – ist er ganz ausgebrannt . . . Und auch sie . . . vielleicht denken Sie, wenn sie eine solche ist, dann sei mit ihr nichts anzufangen? Nein, denken Sie nicht so! Weder im Guten noch im Bösen geht der Mensch ganz auf!«

»Wie ist das zu verstehen?« fragte das Mädchen.

»Nun – wenn der Mensch auch schlecht ist, so ist doch immer in ihm auch etwas Gutes – und ebenso ist in dem Guten immer etwas Schlechtes . . . Unsere Seelen sind alle miteinander scheckig . . . alle miteinander!«

»Das ist ganz richtig, was Sie da sagen«, sprach Gawriks Schwester und nickte mit wichtiger Miene. »Aber lassen Sie, bitte, meine Hand los – Sie tun mir weh!«

Ilja bat sie um Entschuldigung. Sie aber hörte nicht mehr auf ihn, sondern belehrte Pawel in überzeugendem Tone:

»Schämen Sie sich, so darf man die Dinge nicht gehen lassen! Hier heißt es handeln. Man muß für sie einen Verteidiger suchen – einen Advokaten, verstehen Sie? Ich werde Ihnen einen besorgen – hören Sie? Und nichts wird ihr geschehen – freisprechen wird man sie! Ich gebe Ihnen mein Wort darauf!«

Ihr Gesicht war ganz rot geworden, die Haare an den Schläfen sträubten sich wirr, und in ihren Augen glänzte eine ganz besondere Freude. Mascha stand neben ihr und sah sie mit der vertrauensvollen Neugier eines Kindes an. Lunew aber blickte auf Mascha und Pawel mit wichtiger, triumphierender Miene und empfand einen gewissen Stolz, daß dieses Mädchen in seinem Zimmer anwesend war.

»Wenn Sie wirklich helfen können,« sprach Pawel mit bebender Stimme, »dann helfen Sie!«

»Kommen Sie heut' abend um sieben Uhr zu mir – einverstanden? Gawrik wird Ihnen sagen, wo wir wohnen . . .«

»Ich werde kommen . . . Keine Worte hab' ich, um Ihnen zu danken . . .«

»Lassen wir das! Die Menschen sollen einander helfen.«

»Die – und helfen!« rief Ilja mit Bitterkeit.

Das Mädchen wandte sich rasch nach ihm um, Gawrik aber, der sich in diesem Wirrwarr als der einzige vernünftige und gesetzte Mensch vorkam, zog sie am Ärmel und sagte:

»So fahr doch schon!«

»Mascha, ziehen Sie sich an!«

»Ich hab' ja nichts anzuziehen!« erklärte Mascha schüchtern.

»Ach . . . Nun, es ist ganz gleich! Kommen Sie! . . . Sie sind um sieben Uhr da, Gratschew, ja? Auf Wiedersehen, Ilja Jakowlewitsch!«

Die Freunde drückten ihr achtungsvoll und schweigend die Hand, und sie ging mit Mascha, die sie an der Hand führte, fort. An der Tür wandte sie sich nochmals um und sagte zu Ilja, den Kopf hoch emporhebend:

»Ich habe noch vergessen . . . Ich habe Sie vorhin nicht gegrüßt . . . Das war eine Ungezogenheit . . . ich bitte um Entschuldigung – hören Sie?«

Ihr Gesicht ward von heller Röte übergossen, und ihre Augen senkten sich in Verwirrung. Ilja sah sie an, und in seinem Herzen jubelte es freudig.

»Nochmals: entschuldigen Sie! . . . Ich glaubte, es wäre hier bei Ihnen . . . ein Zechgelage . . .«

Sie unterbrach sich, als ob sie ein Wort verschluckt hätte. Darauf fuhr sie fort:

»Und als Sie dann . . . mich tadelten, da dachte ich, Sie sprächen als der Prinzipal hier . . . Ich habe mich geirrt, und das freut mich sehr! Es war das Gefühl menschlicher Würde, das aus Ihnen sprach.«

Ein helles, seelenvolles Lächeln verklärte plötzlich ihre Züge, und sie sprach in herzlichem Tone, gleichsam den Wohlgeschmack ihrer eignen Worte genießend:

»Ich bin sehr froh . . . es ist alles so schön geworden . . . ganz ausnehmend schön!«

Und sie verschwand lächelnd wie eine kleine graue Wolke, die von den Strahlen der Morgenröte beleuchtet wird.

Die beiden Freunde schauten ihr nach. Ihre Gesichter hatten einen feierlichen, dabei unwillkürlich komisch wirkenden Ausdruck. Dann ließ Lunew seine Augen durch das Zimmer schweifen und sagte, Paschka mit dem Ellbogen anstoßend:

»Jetzt ist's hier sauber, was?«

Paschka lächelte still für sich.

»Das war 'n Bild«, fuhr Lunew mit einem leichten Seufzer fort. »Das hat sie gut gemacht . . . wie?«

»Wie ein Wind hat sie alles rein gefegt! . . .«

»Hast du gehört,« sprach Ilja triumphierend, während er mit einer Handbewegung sein Lockenhaar zurückstrich, »wie sie sich entschuldigte – was? So sieht ein wirklich gebildeter Mensch aus, der jeden zu achten weiß . . . aber sich vor keinem beugt! Hast verstanden?«

»Eine edle Persönlichkeit«, bestätigte Gratschew lächelnd.

»Wie ein Stern ist sie aufgeflammt!«

»Hm–ja . . . und wie sie alles mit einemmal in Ordnung brachte und gleich wußte, wie etwas anzufassen ist!«

Lunew lachte vergnügt. Er war froh darüber, daß dieses stolze Mädchen sich als ein so einfaches, kluges Menschenkind entpuppt hatte, und es freute ihn, daß er vor ihr so gut bestanden hatte.

Gawrik drückte sich in ihrer Nähe herum und schien sich zu langweilen.

»Nun, Gawrilka,« sprach Ilja und faßte den Knaben an der Schulter, »deine Schwester ist ein prächtiges Mädchen!«

»Sie hat 'n gutes Herz«, sprach Gawrik in herablassendem Tone. »Wollen wir denn heute noch handeln – oder soll ein Feiertag sein? . . . Ich möchte dann mal ins Freie gehen.«

»Nein, heute wird nicht gehandelt! Komm, Pawel, auch wir wollen spazierengehen!«

»Ich gehe auf die Polizei«, sagte Gratschew, und seine Stirn umwölkte sich wieder. »Vielleicht erlaubt man, daß ich sie sehe . . .«

»Und ich geh' spazieren«, sprach Ilja.

Frisch und freudig bewegt, ging er gemächlichen Schrittes die Straße hinunter, dachte an Gawriks Schwester und verglich dieses Mädchen mit allen Menschen, denen er bisher im Leben begegnet war. Er hörte noch immer die Worte, mit denen sie sich vor ihm entschuldigt hatte, und er stellte sich ihr Gesicht vor, in dem jeder einzelne Zug das unbeugsame Streben nach irgendeinem Ziele zum Ausdruck brachte.

»Und wie sie mich zuerst heruntermachte!« sagte er sich lächelnd und begann darüber nachzudenken, warum sie ihn früher, obschon sie ihn fast gar nicht kannte und kaum ein vernünftiges Wort mit ihm gesprochen hatte, so stolz und hochfahrend behandelt hatte.

Rings um ihn wogte das Leben. Gymnasiasten kamen daher und lachten, Karren mit Ware fuhren rasselnd vorüber, Droschken jagten die Straße entlang, und vor ihm humpelte ein Bettler, der mit seinem Stelzfuße auf die Fliesen des Bürgersteiges aufschlug. Zwei Arrestanten, die von einem Soldaten eskortiert wurden, trugen auf einer Stange einen Zuber mit irgend etwas, und ein kleiner Hund, dem die Zunge aus dem Halse hing, ging träg hinterher.

Das Rasseln, Poltern, Schreien und Stampfen floß zu einem lauten, aufregenden Lärm zusammen. In der Luft schwebte heißer Staub, der die Nasen kitzelte. Vom wolkenlosen blauen Himmel brannte heiß die Sonne nieder und übergoß die Erde mit ihrem strahlenden Glanze. Lunew blickte auf alles dies und empfand dabei eine Lust, wie er sie schon lange nicht kennengelernt hatte. Alles kam ihm so ganz besonders und so interessant vor. Dort kam ein hübsches junges Mädchen daher, mit frischem, rotwangigem Gesicht, und sah Ilja so offen und fröhlich an, als wollte es sagen:

»Was für ein trefflicher Mensch bist du doch!«

Und Lunew erwiderte seinerseits mit einem Lächeln.

Ein Ladenbursche läuft mit einer kupfernen Kanne in der Hand auf dem Bürgersteig umher, gießt kaltes Wasser auf die Steine und bespritzt dabei die Füße der Passanten, während der Deckel der Kanne lustig klappert. Es ist heiß, stickig und geräuschvoll auf der Straße, und das dichte Grün der alten Linden auf dem städtischen Friedhof lockt mit seinem kühlen Schatten und seiner Stille. Der Friedhof ist mit einer weißen Steinmauer umfriedet, sein üppiger alter Baumwuchs erhebt sich wie eine mächtige Woge zum Himmel, und auf dem Kamme der Woge bilden die grünen Laubspitzen gleichsam den krönenden Schaum. Dort in der Höhe zeichnet sich jedes Blatt deutlich vom Himmelsblau ab, und leise erzitternd scheint es zu zerschmelzen . . .

Lunew trat durch die Pforte des Kirchhofs, schritt langsam auf der breiten Allee dahin und sog den aromatischen Duft der blühenden Linden tief in seine Brust ein. Zwischen den Bäumen, im Schatten ihrer Zweige, standen Denkmäler aus Marmor und Granit, plump und schwer und an den Seiten von Moos bedeckt. Da und dort in dem geheimnisvollen Halbdunkel blinkten mit trübem Schein vergoldete Kreuze und Inschriften, die im Laufe der Jahre schon stark verwischt waren. Geißblatt, Akazien, Weißdorn und Holunder wuchsen in den Umgitterungen und verbargen mit ihren Zweigen die Gräber. Hier und da ward in dem dichten Grün ein schlichtes graues Holzkreuz sichtbar, dünne Reiser umgaben es von allen Seiten. Die weißen Stämme junger Birken schimmerten samtartig durch das dichte Laubwerk. Still und bescheiden schienen sie sich wie absichtlich im Schatten zu verbergen und wurden doch um so deutlicher gesehen. Hinter dem Gitterwerk auf den grünen Hügeln blühten bunte Blumen, eine Wespe summte in der Stille, ein weißes Schmetterlingspärchen spielte in der Luft, und geräuschlos schwebten winzig kleine Mückchen daher. Überall sproßten kraftvoll die Kräuter und Gräser dem Licht entgegen und bargen unter sich die traurigen Grabhügel; alles Grün des Friedhofes war erfüllt von dem unwiderstehlichen Drange zu wachsen, sich zu entwickeln, Licht und Luft zu verschlingen und die Säfte der fetten Erde in Farben, in Gerüche, in Schönheit umzuwandeln, welche die Herzen und Augen erfreute. Überall siegt das Leben, alles besiegt das Leben! . . .

Es war Lunew angenehm, inmitten dieser Stille umherzuspazieren und aus voller Brust die süßen Düfte der Linden und der Blumen auf den Gräbern einzusaugen. Auch in ihm war alles still und friedlich. Seine Seele ruhte gleichsam aus, er dachte an nichts und gab sich ganz dem beglückenden Gefühl der Einsamkeit hin, das er schon lange nicht empfunden hatte. Er bog von der Hauptallee nach links ab, in einen schmalen Gang, verfolgte ihn langsam und las die Inschriften auf den Kreuzen und Denkmälern. Ganz eng war der Gang, beiderseits eingefaßt von reichgeschnörkelten Gittern aus Guß- und Schmiedeeisen.

»Unter diesem Kreuz liegt der Staub des Knechtes Gottes
Wonifantij«

las Ilja und lächelte über den sonderbaren Namen. Über Wonifantijs sterblichen Überresten war ein gewaltiger Stein aus grauem Granit errichtet, und in derselben Reihe lag hinter einem zweiten Gitter Peter Babuschkin, achtundzwanzig Jahre alt . . .

»Der ist jung gestorben«, sprach Ilja für sich.

Auf der bescheidenen weißen Marmorsäule las er die Worte:

»Ein Blümlein ward geraubt der Erdenwelt,
Ein Sternlein mehr erglänzt am Himmelszelt.«

Lunew las nachdenklich diesen Zweizeiler und fand, daß darin etwas Rührendes lag. Aber plötzlich war's ihm, als ob er einen jähen Stoß gerade ins Herz erhielte – er taumelte zurück und schloß fest die Augen. Doch auch durch die geschlossenen Augen noch las er die Inschrift, die ihn so jäh erschreckt hatte. Die glänzenden goldenen Buchstaben auf dem braunen Stein hatten sich gleichsam in sein Hirn eingegraben, und sie lauteten:

»Hier liegt der Leib des Kaufmanns der zweiten
Gilde Wassilij Gawrilowitsch Poluektow.«

Entsetzt über seinen eignen Schrecken, öffnete er die Augen und begann scheu rings in den Büschen Umschau zu halten . . . Niemand war zu sehen, nur irgendwo in der Ferne ward eine Totenmesse gelesen. Durch die Stille des Friedhofes klang der feine Tenor eines Kirchendieners, der die Worte sang:

»La–asset uns be–ete–en . . .«

Eine tiefe, anscheinend mit irgend etwas unzufriedene Stimme antwortete ihm:

»Erba–arme Dich . . .«

– und kaum hörbar klang dazwischen das Klirren des Weihrauchfasses.

Mit dem Rücken gegen den Stamm eines Ahorns gelehnt, schaute Lunew auf das Grab des Menschen, den er ermordet hatte. Er hatte seine Mütze mit dem Hinterkopf an den Baum gedrückt, daß sie sich vorn auf seiner Stirn emporhob. Seine Brauen zogen sich zusammen, und die Oberlippe zuckte und ließ die Zähne sehen. Die Hände steckte er ganz tief in die Taschen seines Jacketts, und mit den Füßen stemmte er sich gegen die Erde.

Poluektows Grabdenkmal stellte einen Sarkophag dar, auf dessen Deckel ein offenes Buch, ein Schädel und zwei gekreuzte Schenkelknochen abgebildet waren. Innerhalb desselben Gitters befand sich noch ein zweiter, kleinerer Sarkophag; seiner Aufschrift war zu entnehmen, daß in diesem Grabe die Magd Gottes Eupraxia Poluektowa, zweiundzwanzig Jahre alt, ruhte.

»Seine erste Gattin«, dachte Lunew. Er faßte diesen Gedanken nur mit einem kleinen Teilchen seines Hirns, das im übrigen von anstrengendster Gedankenarbeit in Anspruch genommen war. Er war ganz erfüllt von den Erinnerungen an Poluektow, von der ersten Begegnung mit ihm, von der Szene, in der er ihn würgte und seine Hände von dem Speichel des Greises benetzt wurden. Aber während Lunew alle diese Einzelheiten in seinem Gedächtnis wachrief, fühlte er weder Furcht noch Reue – er schaute auf das Grab mit Haß, Erbitterung und tiefem Groll. Und mit heißem Unwillen im Herzen, aufs tiefste überzeugt von der Wahrheit seiner Worte, sprach er zu dem Kaufmann in Gedanken:

»Deinetwegen, Verfluchter, hab' ich mein ganzes Leben zertrümmert, deinetwegen, du alter Teufel! Wie soll ich nun leben? Für immer hab' ich mich an dir beschmutzt!«

Er empfand das brennende Verlangen, diese Worte mit aller Kraft hinauszuschreien, und vermochte seinen tollen Wunsch kaum zu bezähmen. Vor ihm erschien das kleine, widerliche Gesicht Poluektows; daneben tauchte der grimmige, kahle Kopf des Kaufmanns Strogany mit seinen roten Augenbrauen auf, und die selbstzufriedene Fratze Petruchas, der dumme Kirik, der stumpfnasige Graubart Chrjenow mit seinen kleinen Äuglein – eine ganze Reihe von guten Bekannten. In seinen Ohren klang ein Sausen, und es war ihm, als ob alle diese Menschen ihn umringten und unaufhaltsam gerade auf ihn eindrängten.

Er trat von dem Baume weg – und die Mütze fiel ihm vom Kopfe. Als er sich niederbeugte, um sie aufzunehmen, vermochte er nicht, die Augen von dem Denkmal des Geldwechslers und Hehlers abzuwenden. Es ward ihm so schwül und so übel, das Blut drang ihm ins Gesicht, und die Augen schmerzten ihn von dem unverwandten Schauen. Nur mit großer Anstrengung vermochte er sie von dem Grabstein loszureißen, trat dann dicht an das Gitter heran, hielt sich mit den Händen an den Eisenstäben fest und spie, bebend vor Haß, auf das Grab . . .

Als er das Grab verließ, trat er so schwer auf, als wollte er der Erde mit seinen Fußtritten wehtun.

Er hatte keine Lust, nach Hause zu gehen – auf seiner Seele lag es wie eine schwere Last, und ein krankhaftes Mißbehagen peinigte ihn. Er ging langsam, ohne zu denken, ohne jemand anzuschauen oder sich für etwas zu interessieren. Als er ans Ende der Straße kam, bog er mechanisch um die Ecke, ging noch ein Stück und erkannte, daß er sich nicht weit von der Schenke Petrucha Filimonows befand. Er dachte an Jakow, und als er am Eingang des Filimonowschen Hauses war, schien es ihm, daß es ganz angebracht wäre, dort einen Besuch zu machen, wenn er auch keine allzu große Lust dazu empfand. Als er die Hintertreppe hinaufging, hörte er schon von weitem Perfischkas Stimme:

»Ach ja, ihr guten Leutchen: verschonet nur mich armen Wicht, zerbrechet mir die Rippen nicht . . .«

Lunew blieb in der offenen Tür stehen; mitten durch eine Wolke von Staub und Tabaksqualm erblickte er Jakow hinter dem Büfett. Glatt gescheitelt, in einem Rock mit gestutzten Schößen und kurzen Ärmeln, lief Jakow hin und her, schüttelte den Tee in die Teekannen, zählte die Stückchen Zucker ab, goß Branntwein ein und hantierte geräuschvoll mit der Geldkasse herum. Die Kellnerburschen liefen zu ihm hin und riefen, während sie die Marken auf das Büfett warfen:

»Eine halbe Flasche! Einen Krug Bier! Für einen Zehner Bratfleisch!«

»Er hat's schon gelernt«, dachte Lunew mit einer gewissen Schadenfreude, als er sah, wie flink die roten Hände seines Freundes in der Luft herumfuhren.

»Ach!« rief Jakow freudig überrascht, als Lunew an das Büfett trat, und blickte sogleich unruhig nach der Tür, die zum Wohnzimmer führte. Seine Stirn war ganz von Schweiß bedeckt, und auf den gelben Wangen waren rote Flecke sichtbar. Er faßte Iljas Hand und schüttelte sie.

»Was treibst du?« fragte Lunew, während er sich zu einem Lächeln zwang. »Haben sie dich ins Joch gespannt?«

»Was soll man machen?« meinte Jakow und hustete trocken.

Jakows Brust war eingefallen, und er schien kleiner an Wuchs als früher.

»Wie lange ist's her, daß wir uns nicht gesehen haben?« sprach er und schaute mit seinen gutmütigen, traurigen Augen in Iljas Gesicht. »Ich möcht' gern wieder mal mit dir plaudern . . . der Vater ist gerade nicht da . . . Vielleicht gehst du dort hinein, in dein altes Zimmer . . . ich will nur meine Stiefmutter bitten, mich abzulösen . . .«

Er öffnete die Tür zur Wohnung und rief respektvoll in das anstoßende Zimmer hinein:

»Mamachen! . . . Darf ich auf eine Minute bitten? . . .«

Ilja trat in die kleine Kammer, die er einst gemeinsam mit dem Onkel bewohnt hatte, und betrachtete sie aufmerksam. Sie war nur wenig verändert – die Tapeten waren dunkler geworden, statt zweier Betten war jetzt nur eins darin, und darüber war ein Bücherbrett angebracht. An der Stelle, wo früher Ilja geschlafen hatte, befand sich jetzt ein hoher, plumper Kasten.

»So – jetzt hab' ich mich auf ein Stündchen freigemacht!« rief Jakow, vor Freude strahlend, als er eingetreten war und den Haken an der Tür vorgelegt hatte. »Willst du Tee trinken? Ja? – Heda, Iwa–an! Tee!«

Er begann wieder zu husten und hustete lange, während er sich mit der Hand gegen die Wand stützte, den Kopf vorbeugte und mit gekrümmtem Rücken so dastand, als ob er irgend etwas aus seiner Brust herausstoßen wollte.

»Bellst ja nicht schlecht!« sprach Lunew.

»Ich sieche so hin . . . Wie froh bin ich, daß ich dich wieder mal sehe! . . . Wie solid du aussiehst! . . . Na, wie lebst du denn?«

»Wie ich lebe?« versetzte Lunew zögernd. »Es macht sich . . . und du?«

Lunew hatte keine Lust, von sich zu sprechen, oder überhaupt viel zu reden. Er blickte auf Jakow, und als er den Freund so ausgemergelt sah, hatte er Mitleid mit ihm. Aber es war ein kaltes, inhaltloses Mitleid.

»Ich – trage mein Schicksal, so gut ich kann, Bruder . . .« sprach Jakow halblaut.

»Dein Vater hat dir das Blut ausgesogen . . .«

»Was brauchst du einen Rubel, Kind?
Küss' lieber mich umsonst geschwind!«

sang hinter der Wand Perfischka zu seiner Harmonika.

»Was für ein Kasten ist denn das?« fragte Ilja und zeigte auf das merkwürdige, plumpe Möbelstück, das an der Wand stand.

»Das ist ein altes Harmonium«, sagte Jakow. »Der Vater hat es für mich gekauft, ein Spottgeld hat er dafür bezahlt . . . Lern' darauf spielen, sagte er – später kauf ich ein neues, das stellen wir in der Gaststube auf, und du kannst den Gästen was vorspielen. Wenigstens einen Nutzen wird man dann von dir haben . . . Sehr schlau, nicht wahr? Jetzt sind in allen Schenken Instrumente, nur bei uns nicht. Es macht mir Spaß, darauf zu spielen . . .«

»Was für ein gemeiner Kerl!« sagte Ilja.

»Nein – wieso denn? Er hat recht: er hat wirklich von mir keinen Nutzen!«

Ilja sah unwillig auf den Freund und sagte bitter:

»Sag' ihm doch, er soll dich in der Schenke ausstellen, wenn du stirbst, und Entree dafür nehmen . . . wenigstens 'nen Fünfer die Person! . . . Da bringst du ihm auch noch Nutzen!«

Jakow lächelte verlegen und begann von neuem zu husten, wobei er mit den Händen bald nach seiner Brust, bald nach dem Halse faßte.

Perfischka erzählte drinnen in der Schenke von irgend jemand:

»Die Fasten streng er halten tat,
Aß keinen Tag sich richtig satt,
Sein Bauch, der war so leer, so leer,
Doch war dafür gar sauber er . . .«

»A–a–ach! . . . Was hilft's schon!« sagte der Schuster dann, und seine vielgerühmte Harmonika übertönte mit ihren klangvollen Trillern den Text des Liedchens.

»Wie stehst du denn mit deinem Stiefbruder?« fragte Ilja, als Jakows Hustenanfall vorüber war.

Dieser hob sein von der Anstrengung blau angelaufenes Gesicht empor und antwortete:

»Er lebt nicht bei uns: seine Vorgesetzten erlauben es ihm nicht . . . Eine Schenke, sagen sie . . . Er spielt den vornehmen Herrn . . .«

Jakow dämpfte seine Stimme zum Flüstern und fuhr traurig fort:

»Erinnerst du dich noch des Buches? Du weißt doch . . . ja? Das hat er mir abgenommen . . . Es sei ein sehr seltenes Buch, sagte er, das würde mit viel Geld bezahlt – und er nahm es mir fort . . . Ich sagte zu ihm: ›Laß es mir doch!‹ Aber nein, er hat es mir nicht gelassen! . . .«

Ilja mußte lachen über den naiven Jaschka. Man brachte ihnen den Tee. Die Tapeten in dem kleinen Zimmer knisterten, und durch die Spalten in der dünnen Scheidewand fanden die Töne und Düfte ungehindert den Weg. Alles übertönend, ließ sich in der Schenke eine schrille, aufgeregte Stimme vernehmen:

»Du, Mitr Nikolaitsch – verdreh' mir meine ehrlichen Worte nicht auf so hundsföttische Manier im Munde!«

»Ich lese jetzt eine Geschichte, Bruder,« sagte Jakow, »sie heißt: ›Julia oder das Burgverlies in dem Schloß Mazzini‹ . . . Sehr interessant . . . Und du – wie hältst du es mit dem Lesen?«

»Ich spuck' auf alle Burgverliese – wohne selber nicht hoch hier auf Erden«, versetzte Lunew mürrisch.

Jakow sah ihn teilnahmsvoll an und fragte:

»Ist bei dir auch irgend etwas nicht in Ordnung?«

Lunew überlegte, ob er Jakow von Maschas Schicksal etwas erzählen sollte oder nicht. Doch Jakow begann sogleich wieder in seiner sanften Weise:

»Sieh, Ilja – du sträubst und ärgerst dich immer – und es hat doch gar keinen Zweck, nach meiner Meinung! Schließlich sind doch die Menschen an gar nichts schuld, siehst du!«

Lunew trank seinen Tee und schwieg.

»›Und einem jeden wird zugemessen nach seinen Taten‹ – das ist ganz gewiß wahr! Nimm zum Beispiel meinen Vater . . . Offen gesagt: er ist ein Menschenschinder! Aber da erscheint Fjokla Timofejewna auf dem Plan – schwapp mit ihm unter den Pantoffel! Und jetzt führt er ein Leben – ach, ach, ach! Sogar zu trinken hat er schon begonnen vor Gram. Und wie lange ist's her, daß sie geheiratet haben? . . . Jeden Menschen erwartet in Zukunft für seine Schlechtigkeiten solch eine Fjokla Timofejewna . . .«

Ilja ward des Zuhörens überdrüssig – er drehte ungeduldig seine Tasse auf dem Teebrett hin und her und fragte dann plötzlich den Freund:

»Was erwartest du nun eigentlich?«

»Ich? Woher?« fragte Jakow mit leiser Stimme, während er seine Augen weit öffnete.

»Nun . . . von der Zukunft – was erwartest du?« wiederholte Ilja rauh.

Jakow senkte schweigend den Kopf und wurde nachdenklich.

»Nun?« sagte Ilja halblaut, während er im Herzen eine quälende Unruhe empfand und den lebhaften Wunsch hatte, die Schenke so rasch wie möglich zu verlassen.

»Was soll ich erwarten?« sprach Jakow leise, ohne ihn anzusehen. »Zu erwarten . . . hab' ich nichts mehr! Ich werde sterben . . . das ist alles.«

Er hob den Kopf empor und fuhr mit einem stillen, zufriedenen Lächeln auf dem abgezehrten Gesichte fort:

»Ich seh' jetzt immer blaue Traumbilder . . . Alles ist blau . . . nicht nur der Himmel, sondern auch die Erde, und die Bäume, die Blumen, die Gräser – alles! Und eine solche Ruhe herrscht . . . Als ob es gar nichts gäbe, so unbeweglich ist alles . . . Du schreitest irgendwohin, ohne zu ermatten – weit weg, ohne Ende . . . Und du kannst nicht begreifen: bist du oder bist du nicht? So leicht ist dir ums Herz . . . Blaue Träume sind ein Vorzeichen des Todes!«

»Leb' wohl!« sprach Lunew und erhob sich vom Stuhle.

»Wohin eilst du denn? Bleib doch noch!«

»Nein – leb' wohl!«

Jakow erhob sich gleichfalls.

»Nun – so geh! . . .«

Lunew hielt seine heiße Hand fest und starrte schweigend in das Gesicht des Freundes, ohne zu wissen, was er ihm zum Abschied sagen sollte. Und er wollte ihm doch noch irgend etwas sagen – es war ihm ein Bedürfnis, das er in seinem Herzen fast schmerzlich empfand.

»Was macht denn Maschutka? Es soll ihr nicht besonders gehen«, begann da Jakow selbst.

»Das hab' auch ich gehört . . .« versetzte Ilja.

»Das Schicksal ist uns allen nicht gewogen . . . Auch dir scheint's nicht leicht ums Herz zu sein . . .«

Ein schmerzliches Lächeln umspielte bei diesen Worten seinen Mund. Der Ton seiner Stimme und seine Worte selbst erschienen so blutleer, so farblos . . . Lunew öffnete seine Hand, und Jakows Hand sank kraftlos herab.

»Nun, Jascha, vergib! . . .«

»Gott wird dir vergeben! Du kommst doch bald wieder?«

Ilja ging hinaus, ohne zu antworten.

Auf der Straße fühlte er sich leichter und freier. Es war ihm klar, daß Jakow bald sterben würde, und das reizte ihn zum Zorn gegen irgend jemand. Nicht Jakow war es, den er bedauerte – er hatte sich niemals recht vorstellen können, wie dieser stille Junge unter den Menschen würde leben können. Er hatte den Freund längst als einen dem Tode Geweihten betrachtet. Ihn beunruhigte vielmehr der Gedanke: warum ist dieses Menschenkind, das nie jemand etwas zuleide getan hat, so gequält worden – warum wird es so vor der Zeit aus dem Dasein getrieben? Und aus diesem Gedanken schöpfte sein Haß gegen das Leben, der jetzt schon fast die Grundlage seines Seelenlebens bildete, neue Nahrung und Kraft.

In der Nacht konnte er keine Ruhe finden. In seinem Zimmer war es schwül, obschon das Fenster geöffnet war. Er ging auf den Hof hinaus und legte sich unter einer Rüster, dicht am Zaune, nieder. Er lag auf dem Rücken und blickte zum klaren Himmel empor, und je schärfer er hinblickte, desto mehr Sterne sah er an ihm. Die Milchstraße zog sich als breites, silbernes Band über den Himmel hin. Es ward ihm so wohl, so lauschig ums Herz, als er durch die Zweige des Baumes zu den flimmernden Lichtern emporblickte. Dort oben am Himmel, wo niemand ist, glänzen schimmernde Sterne, und die Erde hier unten – womit ist die geziert? Er kniff die Augen zusammen, und es schien ihm, als ob die Zweige des Baumes höher und höher emporwüchsen. Auf dem blauen, mit flimmernden Lichtern besäten Samtgrund des Himmels erschienen die schwarzen Umrisse des Laubes wie Hände, die zum Himmel emporgestreckt waren und seine Wölbung zu erreichen suchten. Ilja dachte an die blauen Träume des Freundes, und vor ihm tauchte die Gestalt Jakows auf – gleichfalls ganz blau, leicht und durchsichtig, mit guten, hellen Augen, die ein Paar Sternen glichen . . . Und er sagte sich: es lebte ein Mensch, und den quälten sie zu Tode, weil er sanft und friedlich lebte . . . Jene aber, die ihn quälten, leben herrlich und in Freuden . . .


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