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XII

Als Wera an einem der nebligen Herbsttage, die nun anbrachen, nach dem Frühstück bei einer Näharbeit in ihrem Zimmer saß, überreichte ihr Jakow wieder einen auf blaßblauem Papier geschriebenen Brief, den ein Knabe überbracht hatte. Er solle auf Antwort warten, hatte der Überbringer gesagt.

Wera blickte starr vor Bestürzung auf den Brief und nahm ihn wohl eine Minute lang nicht aus Jakows Händen entgegen. Endlich griff sie danach, legte ihn auf den Tisch und sagte: »Es ist gut, du kannst gehen.«

Als Jakow zur Tür hinaus war, blies sie nachdenklich in ihren Fingerhut und wollte mit ihrer Arbeit fortfahren, aber die Hände sanken ihr plötzlich zugleich mit der Arbeit in den Schoß.

Sie stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Welche Qual! Wann wird diese Folter ein Ende nehmen?« flüsterte sie verzweifelt.

Dann stand sie auf, nahm den früheren, noch nicht geöffneten Brief aus der Schublade, legte ihn neben den jetzt gebrachten und setzte sich in derselben Haltung, das Gesicht mit den Händen bedeckend, wieder an den Tisch.

»Was soll ich tun? Welche Antwort, kann er noch erwarten, nachdem wir für immer voneinander geschieden sind? Ruft er mich von neuem? Nein, er wird es nicht wagen! Und wenn er es doch tut?«

Ein Zittern überlief sie.

Sie blickte in ihre Seele und lauschte, ob ihr von dort vielleicht eine Eingebung kam, welche Antwort sie, falls er noch hoffte, ihm geben sollte. Und wiederum erzitterte sie. »Ich kann ihm diese Antwort nicht geben«, sagte sie sich, »solche Antworten kleidet man nicht in Worte. Wenn er die Antwort nicht selbst errät – von mir soll er sie nie hören!«

Sie blickte nach den beiden Briefen mit der ihr bekannten Handschrift. Sie hatte es nicht eilig, sie zu öffnen – nicht, als ob sie um das Geschehene Reue empfunden oder gefürchtet hätte, wieder die Zähne des Tigers zu schauen. Sie beobachtete gleichsam von der Seite, wie die Schlange, die sie noch jüngst in ihren schrecklichen Umwindungen gewürgt hatte, jetzt abseits von ihr dahinkroch, wie die bunte Schuppenhaut, die sie nicht mehr zu blenden vermochte, schillernd und schimmernd lockte. Sie wandte sich ab und fuhr zusammen, in einem Gefühl, das dem früheren nicht mehr glich.

Sie fühlte Beklemmung beim Anblick dieser Briefe, die sie gleichsam auf die andere Seite des Abgrunds zurückversetzten, nachdem sie bereits, vom Kampf ermüdet und geschwächt, für immer mit allem gebrochen hatte, was sie drüben gefesselt, und nachdem sie alle Brücken, die hinüberführten, selbst verbrannt hatte. Sie verstand es nicht, wie er ihr jetzt noch schreiben konnte. Warum war er selbst nicht schon längst auf und davon gegangen?

Hätte er gewußt, welche Wandlung inzwischen oberhalb der Schlucht sich vollzogen, dann hätte er sicherlich nicht geschrieben. Man mußte ihn davon unterrichten, der Bote wartete auf Antwort. Sollte sie die Briefe lesen? Ja, unbedingt!

Sie erbrach beide Briefe zugleich und las zuerst den früher übersandten.

»Sollen wir uns wirklich nie mehr wiedersehen, Wera? Das scheint doch ganz unmöglich. Vor einigen Tagen hätte das noch einen Sinn gehabt, jetzt aber wäre es ein überflüssiges, für beide Teile allzu schweres Opfer. Wir haben über ein Jahr im Verlangen nach dem Glück gekämpft, und nun, da es uns zuteil geworden ist, ergreifst Du zuerst die Flucht – und dabei warst Du es doch, die immer von einer Liebe, die kein Aufhören kennt, geschwärmt hat. Ist das wohl logisch?«

»Ob das logisch ist?« wiederholte sie flüsternd und hielt einen Augenblick inne. Und dann las sie, sich gleichsam Zwang antuend, weiter.

»Ich habe die Erlaubnis zur Abreise erhalten, doch es wäre unehrenhaft, wenn ich jetzt abreiste und Dich verließe. Es könnte so scheinen, daß ich triumphiere und daß es mir leichtfalle, von hier fortzugehen. Ich möchte nicht, daß Du das denkst. Ich kann Dich nicht verlassen, weil Du mich liebst.«

Ihre Hand, in der sie den Brief hielt, sank auf ihren Schoß, und nach einem Weilchen las sie langsam weiter:

»... Und weil ich selbst in Leidenschaft erglüht bin, laß uns glücklich sein, Wera! Sei überzeugt, daß unser ganzer Kampf, alle unsere endlosen Streitigkeiten nichts weiter waren als eine Maske der Leidenschaft. Die Maske ist gefallen – und wir haben keinen Grund mehr zum Streit. Die Frage ist entschieden. Wir stimmen in Wirklichkeit längst überein. Du stellst Dir vor, die Liebe könne ewig dauern; schon viele haben das gedacht, es ist jedoch unmöglich.«

Wiederum hielt sie für einen Augenblick inne.

›Er spricht von Liebe – und meint das Feuer der Leidenschaft‹, dachte sie und lächelte mitleidig. Dann las sie weiter:

»Ich habe den Fehler begangen, daß ich diese Wahrheit viel zu früh Dir gegenüber aussprach; das Leben hätte uns von selbst zu ihr hingeführt. Ich will hinfort Deine Überzeugungen nicht antasten; nicht auf sie kommt es uns an, uns ist allein die Liebe, die Leidenschaft wichtig. Diese aber hat ihre eigenen Gesetze, sie spottet Deiner Überzeugungen und wird mit der Zeit auch der ewigen Liebe spotten, die Du verlangst. Jetzt zeigt sie sich zunächst einmal stärker als ich und meine Pläne. Ich unterwerfe mich ihr, unterwirf auch Du Dich. Vielleicht werden wir, wenn wir gemeinsam handeln, leicht und wohlbehalten von ihr loskommen, während uns bittere Qual bevorsteht, wenn jedes für sich allein ist.

Unsere Überzeugungen vermögen wir so wenig zu ändern wie unsere Natur, und zu heucheln verstehen wir beide nicht. Das wäre auch nicht logisch und nicht ehrlich. Wir müssen uns aussprechen und zusehen, ob wir zu einer Übereinstimmung gelangen. Wir haben es ja schon versucht, ohne eine Übereinstimmung zu erzielen; dann müssen wir eben schweigen und unseren Überzeugungen zum Trotz glücklich sein; die Leidenschaft fragt nicht nach den Überzeugungen. Ich hoffe, daß Du dieser Logik zustimmen wirst.«

Wiederum zuckte um Weras Mund ein Lächeln, das voll Bitterkeit war.

»Man wird Dir wohl nicht erlauben, mit mir abzureisen, und das geht auch nicht an. Nur sinnlose Leidenschaft könnte Dich zu einem solchen Schritt bestimmen, doch darauf rechne ich eben nicht. Du bist keine kopflose Törin, und ich bin kein Knabe. Vielleicht würdest Du Dich zur Abreise mit mir entschließen, wenn Du meine Überzeugungen teiltest und nicht ein sicheres Dasein, wie die Deinigen es für Dich planen, sondern ein unbestimmtes und unsicheres Los, ohne eigenes Nest, ohne Herd und Hof, ohne sichere Existenz, wie es mir beschieden ist, Dir erstrebenswert erscheinen würde. Ich gebe zu, daß es für Dich unmöglich ist, von hier wegzugehen. Folglich muß ich ein Opfer bringen, und ich bin jetzt dazu bereit und will es bringen. Wenn Du glaubst, daß Deine Großtante ihre Einwilligung gibt, wollen wir uns trauen lassen, und ich will so lange hier bleiben, als ... nun, sagen wir auf unbestimmte Zeit. Ich habe alles getan, was ich konnte, Wera, und ich werde erfüllen, was ich einmal verspreche. Jetzt mußt Du handeln. Bedenke, daß, wenn wir uns jetzt trennen, dies eine törichte Komödie sein wird, bei der Dir die undankbarere Rolle zufällt – eine Rolle, über die keiner so lachen würde wie Raiskij, falls er davon erfahren sollte.

Du siehst, daß ich Dich über alles im voraus aufkläre, wie ich es schon früher getan habe.«

Sie machte eine ungeduldige Handbewegung und las flüchtig die letzten Zeilen des Briefes, der mit den Worten schloß:

»Ich erwarte Deine Antwort unter der Adresse meiner Wirtin Sekleteja Burdalachowa.«

Wera schien vom Lesen des Briefes ermüdet. Sie legte ihn gleichgültig zur Seite und nahm den zweiten Brief zur Hand, den ihr Jakow kurz vorher gebracht hatte. Er war hastig mit einem Bleistift niedergeschrieben.

»Ich bin jeden Tag unten am Abhang umhergeirrt und habe Dich dort nach meinem ersten Brief erwartet. Diesen Augenblick nun erfahre ich zufällig, daß es bei Euch im Hause mit der Gesundheit nicht zum besten steht. Das erklärt mir auch, warum Du Dich gar nicht zeigst. Komm doch, Wera, oder wenn Du krank bist, dann schreib mir recht bald ein paar Worte. Ich bin sonst imstande, in das alte Haus zu kommen.«

Wera hielt voll Angst im Lesen inne, dann las sie hastig den Brief zu Ende. Es hieß darin:

»Wenn ich heute keine Antwort bekomme, werde ich morgen um fünf Uhr im Pavillon sein. Ich muß mich nun rasch entscheiden, ob ich abreisen oder dableiben soll. Komm wenigstens auf ein Wort, um Abschied zu nehmen, wenn ... doch nein, ich kann es nicht glauben, daß wir uns jetzt trennen sollten. Auf jeden Fall erwarte ich Dich oder eine Antwort von Dir. Solltest Du krank sein, dann komme ich selbst.«

»Mein Gott! Er ruft mich noch immer dorthin, nach dem Pavillon! Er droht mir, hierherzukommen. Der Bote wartet ... die Schlange windet sich noch immer durchs Gras. Noch ist nicht alles vorüber ... nicht alles tot.«

Sie griff rasch in das Schubfach, nahm ein paar Briefbogen und eine Feder heraus, tauchte diese in die Tinte ein, wollte schreiben – und vermochte es nicht. Ihre Hände zitterten.

Sie legte die Feder fort, barg ihr Gesicht wieder in den Händen, schloß die Augen und suchte ihre Gedanken zu sammeln. Doch sie schossen so wirr und zusammenhanglos durcheinander, und ihr Herz klopfte so stark, es war ihr so beklommen zumute. Sie fuhr mit der Hand nach dem Herzen, als wollte sie die Qual, die sie empfand, zurückdämmen; sie griff wieder zur Feder, um ihm zu schreiben – und warf im nächsten Augenblick die Feder wieder fort.

»Ich kann nicht, ich habe nicht die Kraft dazu, ich ersticke!« Sie goß sich ein wenig Eau de Cologne auf die Hand und rieb sich damit die Stirn und die Schläfen ein. Dann warf sie wieder einen Blick in den zweiten Brief, dann in den ersten, legte beide auf den Tisch und sagte sich: »Ich kann nicht – ich weiß nicht, wie ich anfangen, was ich ihm schreiben soll! Ich weiß nicht mehr, was ich ihm früher schrieb, welchen Ton ich da anschlug ... alles hab ich vergessen!

Welche Antwort soll der Bote ihm bringen? Ich weiß ihm keine Antwort zu geben ... fühle nicht die Kraft in mir ... ich kann ihm gar nichts, gar nichts sagen lassen!«

Sie ging hinunter, huschte durch den Korridor, suchte Jakow auf und befahl ihm, dem Knaben zu sagen, er solle nur gehen, eine Antwort werde später folgen.

›Ja, später – aber wann?‹ fragte sie sich, während sie wieder hinaufging. ›Werde ich die Kraft finden, ihm noch bis zum Abend eine Antwort zu schicken? Ich glaube es nicht. Ich habe nicht Willenskraft genug, es ist nichts mehr von früher in meinem Herzen übriggeblieben. Und morgen wird er dort, im Pavillon, warten. Die getäuschte Erwartung wird ihn aufreizen, er wird wieder Signalschüsse abfeuern, es wird zu einem Renkontre mit den Leuten, mit der Großtante kommen. Ich will selbst gehen, und ich will ihm sagen, daß er nicht ehrlich und nicht logisch verfährt. Von Großmut ist bei ihm überhaupt nicht die Rede, die ist den Wölfen unbekannt.‹

Alles dies ging ihr durch den Kopf; sie griff zur Feder, warf sie wieder hin, wollte selbst gehen und ihn aufsuchen, wollte ihm alles ins Gesicht sagen, kehrtmachen und wieder zurückkommen. Sie griff bald nach der Mantille, bald nach dem Tuch – wie früher, wenn sie zur Schlucht eilen wollte. Und ebenso wie damals ließ sie Mantille und Tuch wieder aus den Händen gleiten, die Hände sanken kraftlos an ihr herab, sie ließ sich auf das Sofa fallen und wußte nicht, was sie tun sollte.

Ob sie es Tantchen sagte? Die würde schon Rat wissen – aber diese Briefe würden ihr neuen Kummer bereiten, und das wollte Wera vermeiden.

Sollte sie sich Boris anvertrauen und ihn beauftragen, Marks Hoffnungen und Erwartungen ein für allemal ein Ende zu machen? Raiskij war ihr natürlicher Beschützer, ihr intimster Freund. Aber war seine eigene Leidenschaft oder dieses Reflexspiel der Leidenschaft in seiner Phantasie, das er selbst für die Leidenschaft hielt, schon geschwunden? ›Und wenn es geschwunden ist‹, überlegte sie weiter, ›vielleicht ist es dann nur darum geschwunden, weil der Kampf, die Nebenbuhlerschaft geschwunden und alles ringsum still geworden ist?‹ Wenn nun der Nebenbuhler wieder auf dem Plan erschien und das Gefühl der Kränkung, der erlittenen Niederlage aufs neue in ihm weckte, würde er kaum die Rolle des selbstlosen Vermittlers durchhalten können, sondern sich von seinem hitzigen Temperament leicht zu irgendeinem gefährlichen Schritt hinreißen lassen.

Tuschin! Ja, der würde die Rolle durchführen, würde keinen Fehler machen und zweifellos sein Ziel erreichen. Aber durfte sie es ihm zumuten, Aug in Auge dem Rivalen gegenüberzutreten, durfte sie ihn mit dem Menschen zusammenführen, der ganz heimlich, wie von ungefähr, seine Hoffnungen auf Glück vernichtet hatte?

Sie vergegenwärtigte sich, was dieser treue Freund, der sie so vergötterte, bei einem Zusammentreffen mit dem Helden der Wolfshöhle, der ihre Zukunft, ihr Glück vernichtet hatte, wohl empfinden würde. Welche Willenskraft und Selbstbeherrschung mußte er an den Tag legen, damit das Zusammentreffen zwischen ihm und dem anderen dort unten in der Schlucht nicht zu einem Zusammentreffen zwischen dem Wolf und dem Bären wurde!

Sie schüttelte abwehrend den Kopf – nein, das ging nicht an. Sie wollte zwar Tuschin von den beiden Briefen Mitteilung machen, er sollte jedoch keinesfalls in die Lösung ihres Dramas eingreifen. Sie mußte seinem Herzen diesen bitteren Kelch ersparen; und dann – hätte es nicht so ausgesehen, als beschwere sie sich über Mark bei ihm, wenn sie ihn jetzt darum bat, mit ihm abzurechnen? Und sie hatte doch keine Beschwerde, keine Anklage gegen jenen zu erheben. Gott bewahre!

So war also wirklich niemand da, an den sie sich in ihrer Bedrängnis hätte wenden können. An der Brust dieser drei Menschen hatte sie Schutz gefunden vor ihrer Verzweiflung, hatte sie allmählich das verlorene Selbstvertrauen wiedergewonnen und wieder den Frieden der Seele empfunden.

Noch ein paar Wochen oder Monate der Ruhe, des Vergessens, des freundschaftlichen Mitgefühls – und sie hätte wieder fest auf den Füßen gestanden und ein neues Leben begonnen. Wenn sie jetzt zögerte, vertrauensvoll die Hand nach ihnen auszustrecken und sie um Hilfe zu bitten, so geschah es nicht mehr aus Stolz, sondern aus Liebe zu ihnen, in dem Bestreben, sie zu schonen. Andererseits jedoch durfte sie nicht zögern und warten. Morgen würde man ihr wieder solch einen Brief bringen, und wenn sie nicht antwortete, würde er selbst erscheinen.

Und das durfte um keinen Preis geschehen! Wenn sie schon zwischen zwei Übeln wählen sollte, so wollte sie doch wenigstens das kleinere wählen; sie wollte die Briefe der Großtante geben und es ihr überlassen, die nötigen Schritte zu tun. Die Großtante würde schon das Rechte treffen, sie verstanden einander jetzt.

Sie überlegte jedoch noch einmal und schrieb dann ein paar Zeilen an Tuschin. Und hatte die Feder ihr noch vor einer halben Stunde den Dienst versagt – jetzt glitt sie willig über das Papier. Zwei Zeilen nur schrieb sie:

»Kommen Sie morgen früh herüber«,

schrieb sie,

»ich habe Sie lange nicht gesehen – und möchte Sie sprechen. Ich habe Langeweile.«

Sie schickte den Brief mit Prochor nach dem Landungsplatz – er sollte ihn dort Tuschins Leuten, die täglich auf ihren Booten zur Stadt gefahren kamen, zur Weiterbestellung übergeben.

Früher hatte Wera ihre Geheimnisse sorgfältig behütet, sie war ganz in sich gekehrt, ganz in ihr Innenleben versunken gewesen und hatte den Verkehr mit den Menschen ihrer Umgebung, denen sie sich überlegen fühlte, nach Möglichkeit gemieden. Jetzt trat das Umgekehrte ein. Das Vertrauen auf die eigene Kraft hatte sich gleich bei der ersten ernstlichen Prüfung als trügerisch erwiesen. Ihr Stolz war gebeugt, in der Stunde des Ungewitters hatte sie sich schwach erwiesen, und als das Ungewitter vorübergezogen war, fühlte sie sich als die hilflose, bemitleidenswerte Waise, die, wie ein schwaches Kind auf dem Arm der Wärterin, die Hände nach den Menschen ausstreckte.

Früher hatte sie ihr Vertrauen nur einer einzigen – der Frau des Priesters, ihrer Freundin – geschenkt, und auch das war mehr aus Gnade als aus innerem Bedürfnis geschehen. Sie hatte ihr gleichsam aus Laune ein paar Brosamen hingeworfen. Jetzt ging sie mit gesenktem Kopf, die andern um Hilfe zu bitten; ihr Selbstgefühl war gedemütigt, sie hatte das Walten einer Kraft gespürt, die stärker war als die ihrige, und wußte, daß es eine Weisheit gab, vor der ihr selbstwilliger Nacken sich nur beugen konnte.

Wera hatte ihrer Freundin stets den ganzen Kalender ihrer alltäglichen kleinen Leiden und Freuden, ihrer Eindrücke, Meinungen und Gefühle mitgeteilt, und auch über ihre Beziehungen zu Mark war jene unterrichtet gewesen. Die Katastrophe jedoch verheimlichte sie vor ihr – sie hatte ihr nur gesagt, daß alles zu Ende sei, daß sie sich für immer getrennt hätten, nichts weiter. Die Frau des Priesters wußte den Ausgang nicht, kannte die Geschichte nicht, die sich dort unten in der Schlucht zugetragen, und sie führte die Krankheit Weras auf ihre Verzweiflung über die Trennung zurück.

Wie für Natalja Iwanowna, so hegte Wera auch für Marfinka ein aufrichtiges Gefühl der Liebe, aber sie liebte sie, wie man Kinder oder gute Bekannte, mit denen man gern zusammen ist, liebt. Sobald ihr Leben wieder in ruhigem Gang dahinfließen wird, wird sie Natalja Iwanowna wieder zu sich rufen und ihr ihre alltäglichen Erlebnisse mit allen Einzelheiten anvertrauen, und jene wird ihr wieder in allem recht geben, wird mit ihr flüstern und ihr die Langeweile vertreiben helfen.

In schicksalsschweren Augenblicken jedoch wird Wera sich stets an die Großtante wenden oder zu Tuschin schicken oder bei Vetter Boris anklopfen.

Und diesmal wandte sie sich an alle drei.


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