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VIII

Wera befand sich am Morgen nicht besser. Sie schlief zwar, hatte jedoch immer noch Fieber und phantasierte.

Raiskij begab sich zu Tatjana Markowna und betrat zugleich mit Wassilissa ihr Schlafzimmer.

Sie lag noch genauso wie am Tage vorher, in unveränderter Lage da.

»Sieh doch nach, Wassilissa, was mit Tantchen ist! Ich fürchte mich näher zu treten, um sie nicht zu erschrecken«, flüsterte Raiskij.

»Soll ich die gnädige Frau nicht wecken?«

»Es wäre wohl nötig, Wera ist krank. Ich weiß nicht, ob wir nicht vielleicht nach dem Arzt schicken sollten?«

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als Tatjana Markowna sich plötzlich im Bett aufrichtete.

»Wera ist krank?« wiederholte sie.

Raiskij atmete erleichtert auf.

Auf dem Antlitz der Großtante, das gestern noch wie versteinert erschienen war, zeigte sich plötzlich der Ausdruck des Lebens, der Furcht und der Sorge. Sie machte ihm ein Zeichen mit der Hand, er solle hinausgehen, und nach einer halben Stunde hatte sie ihre Toilette beendet.

Mit großen eiligen Schritten, bange Besorgnis in den Zügen, schritt sie über den Hof nach dem alten Hause – zu Wera. Jede Spur von Müdigkeit war aus ihrem Wesen gewichen. Das Leben war in sie zurückgekehrt, und Raiskij begrüßte die Furcht, die sich in ihren Zügen malte, als ein willkommenes Zeichen der Besserung.

Sie betrat leise Weras Zimmer, richtete einen tiefen, forschenden Blick auf das bleiche Gesicht der Schlafenden und flüsterte Raiskij zu, er solle den alten Doktor holen lassen. Jetzt erst bemerkte sie die Frau des Priesters, die ermüdet und abgespannt aussah. Sie umarmte sie und sagte, sie möchte hinübergehen und drüben einen ganzen Tag ausruhen.

»Jetzt ist hier niemand nötig; ich bin da«, sagte sie und installierte sich neben Weras Bett.

Der Doktor kam. Tatjana Markowna suchte ihn, so gut es ging, über Weras leidenden Zustand aufzuklären. Er verschrieb ihr etwas gegen das Fieber und meinte, sobald dieses geschwunden, sei nichts weiter zu befürchten.

Wera nahm im Halbschlummer die Arznei und sank gegen Abend in einen festen Schlaf.

Tatjana Markowna setzte sich ihr zu Häupten nieder – so, daß sie den Kopf auf Weras Kissen legen konnte. Sie schlief nicht, sondern achtete aufmerksam auf jede Bewegung, jeden Atemzug der Kranken.

Wera erwachte und fragte: »Schläfst du, Natascha?« Und als sie keine Antwort erhielt, schloß sie die Augen, um sie von Zeit zu Zeit, sobald sie sich ihrer Lage wieder bewußt ward, mit einem schmerzlichen Seufzer zu öffnen.

Sie suchte wieder in ihren Schlummerzustand zurückzusinken; die Nacht, die sie umgab, erschien ihr wie ein schreckliches, finsteres Gefängnis.

Nach einiger Zeit bewegte sie sich und verlangte zu trinken. Eine Hand reichte ihr über das Kopfkissen hin den erfrischenden Trank.

»Was macht Tantchen?« fragte sie, öffnete die Augen und schloß sie wieder.

»Wo bist du denn, Natascha? Komm doch hierher, warum versteckst du dich?«

Keine Antwort erfolgte.

Sie seufzte tief auf und verfiel wieder in einen Halbschlummer.

»Tantchen kommt nicht! Tantchen liebt mich nicht!« flüsterte sie bang, als sie für einen Augenblick erwachte. »Tantchen verzeiht mir nicht!«

»Tantchen ist gekommen! Tantchen liebt dich! Tantchen hat dir wahrhaft verziehen!« erklang eine Stimme zu ihren Häupten.

Wera fuhr jäh empor, sprang aus dem Bett und stürzte zu Tatjana Markowna.

»Tantchen!« schrie sie auf und barg, einer Ohnmacht nahe, ihren Kopf an der Brust der Alten.

Tatjana Markowna brachte sie wieder ins Bett und legte ihren grauen Kopf auf das Kissen, neben das bleiche, schöne, verhärmte Gesicht, das in dem dichten, dunklen Haar bald verschwand.

An die Brust der Greisin geschmiegt, die ihr mehr war, als selbst eine Mutter ihr sein konnte, ließ Wera ohne Worte, in einer Flut von Tränen, in krampfhaftem Schluchzen ihre Beichte und Reue, ihren ganzen, plötzlich mit jähem Ungestüm hervorbrechenden Gram und Schmerz ausströmen.

Die Großtante hörte schweigend dieses Schluchzen und trocknete mit ihrem Taschentuch Weras Tränen; sie ließ sie schluchzen und weinen und preßte nur den Kopf der Weinenden an ihre Brust, ihn immer wieder mit Küssen bedeckend.

»Liebkosen Sie mich nicht, Tantchen ... ich verdiene es nicht ... lieben Sie Marfinka!«

Aber die Großtante drückte sie nur noch fester an ihre Brust.

»Deine Schwester bedarf meiner Liebe nicht mehr – ich aber bedarf der deinigen. Stoß mich nicht von dir, Wera, wende dich nicht länger ab von mir ... ich bin so verwaist!« sagte sie und begann selbst zu weinen.

Wera schloß sie mit aller Kraft, die ihr zu Gebote stand, in ihre Arme.

»Meine Mutter ... verzeihen Sie mir!« flüsterte sie.

»Schweig ... nicht ein Wort davon ... niemals!«

»Ich habe nicht auf Sie gehört ... Gott hat mich gestraft, um Ihretwillen!«

»Was sprichst du da, Wera?« rief Tatjana Markowna jäh, vor Schreck erbleichend, und glich wieder jener trostlosen Alten, die wie geistesgestört durch Wälder und Schluchten geirrt war.

»Ich dachte«, sagte sie, »daß mein Wille und Verstand mir genug sein würde fürs ganze Leben, daß ich klüger sei als ihr alle.«

Tatjana Markowna atmete frei auf. Sie hatte offenbar einen andern Sinn aus Weras Worten herausgelesen.

»Du bist klüger als ich und hast mehr gelernt«, sagte sie. »Gott hat dir einen reichen Geist gegeben – aber du bist nicht erfahrener als Tantchen.«

›Jetzt ... bin ich auch erfahrener‹, dachte Wera und preßte ihr Gesicht gegen die Schulter der Tante. »Nehmen Sie mich fort von hier ... lassen Sie mich Ihre Marfinka sein ... es soll keine Wera mehr geben!« flüsterte sie. »Ich will fort aus diesem alten Hause ... dorthin will ich, zu Ihnen!«

Die Großtante liebkoste sie schweigend.

Beider Köpfe lagen nebeneinander auf dem Kissen, und weder Wera noch die Großtante sprachen fernerhin ein Wort. Sie schmiegten sich dicht aneinander und schliefen so, sich innig umarmend, gegen Morgen ein.


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