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XI

Tage vergingen, und mit ihnen trat wieder Ruhe ein in Malinowka. Das Leben, das durch die Katastrophe wie durch eine Stromschnelle aufgehalten worden war, hatte das Hindernis überwunden und floß gleichmäßig weiter.

Aber dieser Ruhe fehlte die Sicherheit. Wie über der äußeren Natur, so lag auch über den Menschen eine herbstliche Stimmung. Alle waren nachdenklich, in sich gekehrt, schweigsam. Ein kühler Hauch ging von allen aus, und wie das Laub von den Bäumen, so war das Lächeln, der heitere Frohsinn von den Gesichtern geschwunden. Kummer und Gram waren wohl verweht, aber das Kolorit und der Ton des früheren Lebens waren gleichfalls dahin.

Zwischen Wera und der Großtante hatten sich stillschweigend sehr enge und intime Beziehungen gebildet. Seit jenem Abend, an dem sie einander gegenseitig gebeichtet hatten, war zwischen ihnen Ruhe und Frieden eingetreten, doch fürchtete immer noch eine für die andere, und mit unsicherem, fragendem Blick, wie in Angst vor den kommenden Dingen, schauten sie in die Zukunft.

Wird die Großtante diesen unvorhergesehenen Kummer, der wie ein Erdbeben den Frieden ihrer Seele erschüttert hat, wohl auf die Dauer überwinden? So fragte sich Wera, und sie suchte in Tatjana Markownas Augen zu lesen, ob sie sich wohl an die neue Wera und das ungewisse Schicksal, das dieser Wera bevorstand, gewöhnen würde. War sie nicht im stillen ungehalten darüber, daß sie so jäh aus dem glücklichen Hindämmern ihrer Greisentage herausgerissen worden war? Wird die ruhige Klarheit ihrer Seele wohl je wiederkehren?

Und Tatjana Markowna suchte ihrerseits die Zukunft Weras zu erraten, sie fragte sich bang, ob sie auch stark genug sein würde, um in Demut das Kreuz zu tragen, das nach ihrer Meinung das Schicksal ihr zur Buße und Sühne auferlegt hatte. Werden der verletzte Stolz und das verwundete Selbstgefühl ihre zarten, jugendlichen Kräfte nicht untergraben? War ihr Kummer zu heilen, würde er nicht die Form eines chronischen Leidens annehmen?

Mechanisch ergriff die Großtante wieder die Zügel der Regierung in ihrem Reich. Wera vertiefte sich mit Eifer in die häuslichen Sorgen, namentlich bekümmerte sie sich um Marfinkas Ausstattung, bei deren Herrichtung sie ihren guten Geschmack und ihren Fleiß bekunden konnte.

Während sie einerseits irgendeine ernsthafte, ihren geistigen Kräften entsprechende Aufgabe vom Leben erwartete, ging sie doch andrerseits keiner noch so einfachen und anspruchslosen Tätigkeit, die sich ihr darbot, aus dem Wege. Sie fand, daß die Verachtung gegen das Kleinliche, Alltägliche und die vergebliche Erwartung irgendwelcher unerhörten Taten und Aufgaben, wie sie von manchen Leuten zur Schau getragen wurde, bei den meisten nur ein Vorwand war, um Trägheit und Unfähigkeit oder eine krankhafte, über die Grenzen des eignen Könnens hinausstrebende Eitelkeit zu verbergen.

Sie war der Meinung, daß solche nie dagewesenen Aufgaben sich nicht auf Wunsch und Kommando einstellen, daß sie vielmehr im gegebenen Augenblick durch die Macht der Umstände aus den Verhältnissen heraus erwachsen, und daß nur Werke und Taten, die auf diesem natürlichen Wege zustande kommen, von Wert und Bedeutung sind. Es hieß daher, so folgerte sie weiter, sorgfältig Umschau halten, ob nicht irgendwo ein noch ungetanes notwendiges Werk der zugreifenden Hand harre, und sich in acht nehmen, daß man nicht irgendeinem Irrlicht, irgendeiner trügerischen Fata Morgana, wie Raiskij sich ausdrückte, nachjagte.

Vor allem durfte sie nicht die Hände in den Schoß legen, nicht dem lähmenden Frieden des Nichtstuns, der untätigen Muße verfallen.

Sie war jetzt noch blasser als früher, in ihren Augen war weniger Glanz, in ihren Bewegungen weniger Lebhaftigkeit. Alles dies konnte eine Folge der Krankheit, des noch rechtzeitig unterdrückten Fiebers sein; so wenigstens dachten alle, mit denen sie zusammenkam. In Gegenwart der Hausgenossen hielt sie sich einfach, wie immer, nähte und trennte auf, plauderte mit den Schneiderinnen, führte die Bücher und Rechnungen, tat alles, was die Großtante ihr auftrug. Und niemand merkte ihr auch nur das Geringste an.

»Unser Fräulein erholt sich wieder«, meinten die Leute.

Auch Raiskij bemerkte die Wandlung zum Besseren, die sich in ihrem Wesen vollzog. Wenn er sie zuweilen so recht nachdenklich sah oder eine heimliche Träne in ihrem Auge bemerkte, dann erriet er, daß dies nur die letzten Spuren der verrauchten Leidenschaft, des abgezogenen Gewitters waren. Er war mit ihr zufrieden, und seine eigne Erregung legte sich nach und nach in dem Maße, wie all die aufreizenden Momente, die Zweifel, die Ungewißheit, die Eifersucht seinem Gemüt fernblieben.

Die Großtante hatte darauf bestanden, daß Wera ihm über ihre Beziehungen zu Watutin eine oberflächliche Aufklärung gab. Tatjana Markowna selbst hätte ein solches Geständnis ihm gegenüber nicht über die Lippen gebracht. Daß irgendeine Schuld mit hineingespielt hätte – darüber schwieg auch Wera, und so blieb es für Raiskij noch immer ein ungelöstes Rätsel, woher die Großtante, die er für eine Jungfrau hielt, die Kraft und die fast männliche, bei einem Mädchen jedenfalls befremdende Energie nahm, um nicht nur selbst diese schwere Prüfung der letzten Wochen zu ertragen, sondern obendrein auch Wera noch zu trösten und vor dem sittlichen Untergang, der Verzweiflung zu bewahren.

Und doch hatte sie dieses Werk vollbracht. Wie war es ihr nur gelungen, Weras Vertrauen zu erobern, sie so willfährig zu machen? Er sann und sann darüber – und empfand für die Großtante nur immer mehr Bewunderung, die er unverhohlen zum Ausdruck brachte.

Er legte ihr gegenüber eine tiefe, zärtliche Verehrung und respektvolle Ergebenheit an den Tag. Der halb ernste, halb scherzhafte Kampf der Meinungen, der früher zwischen ihnen bestanden, hatte auf seiner Seite einer ganz besonderen Ehrerbietung, die jedes Wort, jeden Wunsch, jede Absicht von ihren Lippen abzulesen suchte, Platz gemacht. Selbst in seinen Bewegungen, die etwas Zurückhaltendes, fast Schüchternes annahmen, kam diese Ehrerbietung zum Ausdruck.

Er wagte es nicht, wie früher, sich in ihrer Gegenwart aufs Sofa zu legen, erhob sich, wenn sie näher kam, folgte ihr achtungsvoll, wenn sie ins Dorf oder aufs Feld ging und ihn aufforderte, sie zu begleiten, hörte geduldig ihre Ausführungen über die Wirtschaft an. Alle, auch die unbedeutendsten Beziehungen zwischen ihm und ihr verrieten etwas von jener Bewunderung, die eine Frau von starker geistiger Macht unwillkürlich einflößt.

Sie selbst aber verwandelte sich, nachdem sie in diesen Stürmen, die jede schwächere Natur niedergeworfen hätten, siegreich geblieben und nicht nur die eigne, sondern auch noch eine fremde Bürde großherzig auf sich genommen, nunmehr vor seinen Augen allmählich wieder in die einfache, schlichte Frau, die mit ganzer Seele bei den kleinen Interessen des Lebens war und ihre Seelengröße bis zu einer neuen, geeigneten Gelegenheit verwahrt zu haben schien.

Von ihrer Größe, ihrem Heldentum schien ihr nichts mehr bewußt zu sein.

Über dem Hofgesinde lag, nachdem die ihnen völlig unverständliche Gewitterwolke sich verzogen hatte, etwas wie ein dumpfer Druck, den es sich nicht erklären konnte. Die Leute gingen schweigend umher, man hörte kein Lärmen, Lachen und Schelten; wenn Jegorka mit den Mägden zu spaßen versuchte, gingen sie nicht darauf ein.

In einer ganz besonders schwierigen Lage befand sich Wassilissa. Sie hatte, gleich Jakow, für den Fall, daß die gnädige Frau wieder gesund würde, ein Gelübde getan. Er wollte, wie bereits berichtet, für das Heiligenbild in der Ortskirche eine vergoldete dicke Wachskerze stiften, während sie versprochen hatte, zu Fuß nach Kiew zu pilgern.

Jakow war eines schönen Morgens vom Hof verschwunden – er hatte von dem Geld, das ihm die Herrin regelmäßig anwies, damit er die Lämpchen vor den Heiligenbildern im Hause mit Öl versorge, einen Teil genommen, um dafür die angelobte Kerze zu kaufen. Nachdem er diese fromme Angelegenheit erledigt hatte, war ihm noch ein Rest von der mitgenommenen Summe verblieben. Unter häufigen Bekreuzigungen und Verbeugungen verließ er die Kirche und begab sich nach der Vorstadt, wo er den Rest des Kerzengeldes in geeigneter Weise anlegte. In heiterer Stimmung, mit einer zarten Röte auf Wangen und Nase, kehrte er heim, und das Unglück wollte es, daß Tatjana Markowna ihm begegnete. Sie roch schon von weitem, daß er Branntwein getrunken hatte.

»Was ist mit dir, Jakow?« fragte sie verwundert. »Du hast wohl gar ...«

»Ich habe ein Gelübde erfüllt, Herrin!« antwortete er, legte den Kopf andächtig auf die Seite und faltete die Hände über der Brust.

Auch Wassilissa erklärte er, daß er ein Gelübde erfüllt habe. Diese geriet bei seinen Worten in Bestürzung; auch sie hatte ja ein Gelübde abgelegt, doch über der Sorge um die Gnädige und den Vorbereitungen für Marfinkas Hochzeit hatte sie es ganz und gar vergessen. Und nun hatte Jakow sein Gelübde bereits erfüllt, an einem einzigen Vormittag, und ging voll innerer Glückseligkeit im Hause umher, während ihr noch die Wallfahrt nach Kiew bevorstand!

›Wie soll ich denn den langen Weg zurücklegen, das halt ich gar nicht aus!‹ dachte sie voll Verzweiflung, während sie ihren Körper betastete. ›Ich habe ja gar keine Knochen im Leibe, alles nur weiches Fleisch! Ich komm ja gar nicht bis Kiew – Gott, verzeih mir!‹

Damit, daß sie keine Knochen im Leibe hatte, mochte sie recht haben. In den dreißig Jahren, die sie auf ihrem Stuhl am Fenster, zwischen all den Aufgußflaschen, immer nur um ihre Herrin herum trippelnd und nie an die Luft gelangend, verbracht hatte, war ihr Körper ganz weich geworden, und die Kartoffeln und Gurken, die großen Mengen von Kaffee und Tee, die sie, selbst wenn keine Fastenzeit war, vertilgte, hatten diesen Zustand der Erweichung nur gefördert.

Sie begab sich zu Vater Wassilij, um ihre Zweifel zu beschwichtigen. Sie hatte gehört, daß die guten Väter häufig von solchen Gelübden, die man nicht erfüllen kann, ganz entbinden oder sie durch andere Gelübde ersetzen. ›Aber was kann er mir wohl statt dessen auferlegen?‹ fragte sie sich, während sie zu Vater Wassilij ging.

Sie erzählte ihm, aus welchem Anlaß sie das Gelübde geleistet hätte, und fragte, ob sie wohl nach Kiew gehen müsse.

»Wenn du es versprochen hast, mußt du natürlich hingehen«, meinte Vater Wassilij. »Das ist selbstverständlich!«

»Aber ich habe das doch damals nur in meiner Angst gelobt, weil ich dachte, unsere gnädige Frau würde sterben. Nun ist sie schon nach drei Tagen wieder vom Bett aufgestanden, warum soll ich da eine so große Reise machen?«

»Ja, weit genug ist es schon bis Kiew. Aber das geht doch nicht, daß man etwas verspricht und es dann nicht hält!« schalt er. »Wenn du nicht gehen wolltest, hättest du es nicht versprechen sollen.«

»Ich wollte schon gehen, Väterchen, aber die Kraft reicht nicht, meine Glieder sind doch ganz erweicht. Schon wenn ich hierher, bis zur Kirche gehe, wird mir das Atmen schwer. Ich gehe doch bereits auf die Siebzig zu. Etwas anderes wäre es, wenn die Gnädige drei Monate lang krank im Bett gelegen hätte, wenn sie die Ölung und das Abendmahl bekommen und Gott sie auf mein Gebet hin gesund gemacht hätte – dann wäre ich gegangen, sei's auch auf allen vieren. Aber so hat ihre Krankheit doch keine Woche gedauert.«

Vater Wassilij mußte lächeln.

»Ja – was machen wir dann nur?« sagte er.

»Ich möchte etwas anderes geloben. Kann ich mein Gelübde denn nicht ändern?«

»Was möchtest du denn geloben?«

Wassilissa begann nachzudenken.

»Ich möchte mir ein Fastengelübde auferlegen; daß ich zum Beispiel bis an mein Lebensende kein Fleisch mehr essen will.«

»Ißt du denn Fleisch so gern?«

»Gott bewahre! Nicht sehen kann ich's. Ich weiß gar nicht mehr, wie es schmeckt.«

Vater Wassilij mußte wieder lächeln.

»Ja, wie soll das denn werden? Wenn du schon dein Gelübde ändern willst, dann mußt du doch etwas gleich Schweres an die Stelle setzen, oder etwas noch Schwereres. Und du hast dir das Leichteste ausgesucht!«

Wassilissa seufzte.

»Fällt dir nichts ein, was du nur ungern und mit Überwindung tun würdest? Denk einmal nach!«

Wassilissa dachte nach und sagte, daß ihr nichts einfalle.

»Ja, dann wirst du wohl nach Kiew gehen müssen!« entschied er.

»Ich würde ja gehen, bei Gott, wenn nicht diese Erweichung wäre.«

Vater Wassilij überlegte.

»Wie soll ich dir nur die Sache erleichtern?« sagte er dann. »Was ißt oder trinkst du denn ganz besonders gern?«

»Na, Tee, Kaffee ... Pilzsuppe, Kartoffelsuppe ...«

»Kaffee trinkst du also gern?«

»Sehr gern.«

»Na, dann enthalte dich einmal des Kaffees, trink ihn gar nicht mehr!«

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus.

›Ach, das ist doch gar zu schwer‹, dachte sie, ›das ist ja fast dasselbe, als ob ich eine Wallfahrt nach Kiew machte!‹ »Was soll ich denn dann genießen, Väterchen?« fragte sie.

»Iß Fleisch.«

Sie sah ihn an, ob er nicht vielleicht lache. Und er sah sie wirklich lächelnd an.

»Du ißt es nicht gern – also überwinde dich! Das ist auch ein Opfer.«

»Fleisch ist doch keine Fastenspeise, Väterchen – welchen Nutzen habe ich denn dann?«

»Du brauchst es nur dann zu essen, wenn kein Fasttag ist. Auch Nutzen wirst du davon haben; deine Knochenerweichung wird sich verlieren. Ein halbes Jahr lang halte es so – dann mag dein Gelübde erfüllt sein.«

Tiefbekümmert verließ sie den Geistlichen, und vom nächsten Tag an begann sie, gehorsam das neue Gelübde zu erfüllen. Aber ein Seufzer entfuhr ihr unwillkürlich, und sie mußte die Nase wegwenden, wenn sie des Morgens ihrer Herrin den Kaffee servierte. Um dieselbe Zeit trug sich auch mit Marina etwas Unangenehmes zu. Noch vor der Erkrankung der Gnädigen war sie ganz verstört und nachdenklich umhergegangen, hatte sich dann öfters hinlegen müssen, um auszuruhen, und blieb schließlich ganz liegen, mit der Erklärung, daß sie krank sei und nicht aufstehen könne.

»Das ist Gottes Strafe!« sagte ihr Mann, während er sie krächzend in warme Decken hüllte.

Wassilissa machte der Herrin Meldung, und Tatjana Markowna ließ die Quacksalberin rufen, der sie für gewöhnlich die erkrankten Dienstboten sowie sonstige kranke Leute zum Kurieren übergab.

Die Quacksalberin nahm eine sorgfältige Untersuchung der Kranken vor und flüsterte Wassilissa heimlich zu, daß ihre Kenntnisse nicht zureichten, um Marina wieder gesund zu machen. Man brachte daher Marina nach einer Klinik in einer zweihundert Werst entfernten Stadt. Sawelij selbst brachte sie hin, und als er zurückkehrte und die Leute vom Hof ihn mit Fragen bestürmten, sah er nur alle nacheinander an, zog die Haut auf seiner Stirn noch höher, so daß sich eine fingerdicke Falte bildete, spuckte aus, kehrte den Fragern den Rücken und verschwand in seiner Wohnung.

Nach etwa anderthalb Wochen kehrte Marfinka mit ihrem Bräutigam und dessen Mutter wieder von der anderen Seite der Wolga zurück, noch heiterer, glücklicher und gesünder, als sie abgefahren war. Sie sowohl wie Wikentjew hatten zugenommen. Sie brachten ihr helles Lachen, ihr fröhliches Geplauder, ihr lebhaftes Lärmen und Rumoren nach Malinowka mit.

Kaum aber waren sie zwei Stunden lang im Hause, als sie auch scheu und schüchtern wurden, da sie für ihre lärmenden Kundgebungen bei niemandem ein Echo fanden. Ihr munteres Lachen und Plaudern verhallte wie in einem leeren Raum.

Über allem schien gleichsam ein Nebel zu liegen. Selbst das Geflügel fand sich nicht mehr vor dem Balkon ein, von dem aus Marfinka ihm früher Futter gestreut hatte. Die Schwalben, Stare und sonstigen sommerlichen Bewohner des Hains waren davongeflogen, und auch die Kraniche ließen sich nicht mehr über der Wolga sehen. Die jungen Katzen lagen nicht mehr in der Sonne, sondern hatten sich irgendwo verkrochen.

Die Blumen waren verwelkt, der Gärtner hatte sie auf den Kehrichthaufen geworfen, und vor dem Hause sah man statt des Blumengartens schwarze Häufchen aufgeworfener Erde, die mit bleichem Rasen eingefaßt waren, und kahle Streifen – die einstigen Blumenbeete, die jetzt leer waren. Die Obstbäume waren teilweise in Bastmatten eingehüllt. Der Hain hatte schon fast ganz seinen Blätterschmuck verloren, und die Wolga, deren Fluten nun dunkler erschienen, war dem Zufrieren nahe.

Doch das war die Natur, die zwar die grämliche Stimmung der Menschen steigern, aber sie doch nicht ganz allein verursachen konnte. Was war aber mit den Menschen, dem ganzen Hause vorgegangen? fragte sich Marfinka, während sie voll Bestürzung um sich schaute.

Marfinkas Nestchen, ihre kleinen Zimmer im Oberstock, hatten ganz ihren heiteren Anstrich verloren. Düsteres Schweigen war mit Wera darin eingezogen.

Tränen traten in Marfinkas Augen. Wie konnte sich nur alles so verändern? Warum war Werotschka aus dem alten Hause hierher übergesiedelt? Wo steckte Tit Nikonytsch? Warum schalt Tantchen gar nicht mehr? Nicht ein Wort hatte sie darüber gesagt, daß Marfinka statt einer Woche vierzehn Tage weggeblieben war. Vielleicht war ihre Liebe erkaltet? Warum ging Werotschka nicht mehr allein in Feld und Hain spazieren, wie sie es früher getan hatte? Warum machten alle einen so trübseligen Eindruck – keins sprach mit dem andern, niemand neckte sie mit ihrem Bräutigam, wie es vor der Abreise der Fall gewesen. Was hatte das Schweigen von Tantchen und Wera zu bedeuten? Was war hier im Hause vorgefallen?

Als Marfinka zu fragen begann, gab man ihr irgendeine beliebige oder auch gar keine Antwort. Wera, so hieß es, sei aus dem alten Hause übergesiedelt, weil der Ofen dort nichts taugte. Tit Nikonytsch habe sich nach seinem Gut begeben, weil die Bauern dort unruhig geworden seien. Und wenn Wera jetzt nicht mehr so viel spazierengehe, so geschehe es aus Vorsicht – sie habe sich das letztemal erkältet, habe drei Tage im Bett zugebracht und beinahe das Fieber bekommen.

Als Marfinka das Wort Fieber hörte, erschrak sie ganz gewaltig und begann zu weinen. Auf die Frage, warum Tantchen und Wera so schweigsam seien, warum jene nicht mehr schelte, ob sie sie denn nicht mehr gern habe, gab Tatjana Markowna keine Antwort, sondern nahm nur ihren Kopf zwischen die Hände und küßte sie nachdenklich, mit einem Seufzer, auf die Stirn. Das stimmte Marfinka nur noch trauriger.

»Wir sind viel geritten, Nikolai Andrejitsch hat einen Damensattel kommen lassen. Ich bin auch allein gerudert, bin mit den Bauernfrauen in den Wald gegangen!« erzählte Marfinka, in der Hoffnung, daß sie für diese losen Streiche doch endlich ein Wort des Tadels hören würde.

Tatjana Markowna schüttelte zwar den Kopf, als ob sie das alles mißbillige, aber Marfinka sah, daß dies nur zum Schein geschah, daß die Großtante an ganz andere Dinge dachte. Zuweilen sagte sie auch gar nichts, sondern ging einfach zu Wera und setzte sich neben sie.

Marfinka war wirklich recht bekümmert und dabei von Eifersucht auf die Schwester geplagt, doch fürchtete sie sich, etwas zu sagen, und weinte nur im stillen. Es war wohl der erste ernsthafte Kummer, den Marfinka in ihrem Leben hatte. Unwillkürlich verfiel auch sie jener verschleiert-ernsten Stimmung, die über Malinowka und seinen Bewohnern lag.

Schweigend saß sie neben Wikentjew; sie hatten sich nichts zuzuflüstern, wie sie denn auch früher über ihre Geheimnisse immer ganz laut vor den andern gesprochen hatten. Nur selten einmal gelang es Raiskij, Marfinka zum Plaudern zu bringen, und nur ab und zu vermochte Wikentjew sie so weit zu bringen, daß sie laut lachte, worauf sie dann freilich erschrak, sich ängstlich umsah und ihm schweigend mit dem Finger drohte.

Wikentjew fand dieses Schweigen, diese Zurückhaltung, diesen ganzen traurigen Ton durchaus nicht nach seinem Geschmack. Er ließ seiner Mutter keine Ruhe, bis sie bei Tatjana Markowna für Marfinka die Erlaubnis erwirkt hatte, noch einmal nach Koltschino mitzugehen und bis zu der auf Ende Oktober festgesetzten Hochzeit da zu bleiben. Die Erlaubnis wurde zu seiner Freude leicht und rasch erteilt, und die jungen Leutchen flogen gleich einem Schwalbenpaar unter munterem Zwitschern davon, um das herbstlich gestimmte Malinowka gegen ihr zukünftiges Nest zu vertauschen, in dem Wärme, Licht und fröhliches Lachen herrschten.

Marfinkas Betrübnis war der Großtante nicht entgangen, doch sie war bemüht gewesen, ihre Aufmerksamkeit möglichst abzulenken und allen Nachforschungen und Vermutungen einen Riegel vorzuschieben. Es gelang ihr, sie zu beruhigen, und unter zärtlichen Liebkosungen entließ sie sie in heiterer, sorgloser Stimmung, nachdem sie versprochen hatte, sie selbst abzuholen, wenn sie sich dort hübsch klug und artig aufführte.

Raiskij begab sich nach dem Gut von Tit Nikonytsch, um ihn wieder zurückzuholen. Er brachte ihn als Halblebenden an, ganz mager und gelb war er geworden, konnte sich kaum bewegen und kam erst wieder zu sich, als er Tatjana Markowna erblickte und wieder in ihrem Reich weilen durfte. Hier, an ihrem Tisch, mit der hinter den Kragen gesteckten Serviette, oder auf dem Taburett am Fenster, neben ihrem Sessel, mit dem von ihr eingeschenkten Glas Tee in der Hand, erholte er sich nach und nach wieder und wurde so vergnügt und lustig wie ein Kind, dem man unerwartet ein weggenommenes Spielzeug wiedergegeben. Vor lauter Freude lachte er zuweilen unvermutet hell auf und versteckte sich hinter der Serviette, oder er rieb sich voll Eifer die Hände, oder er stand auf, verneigte sich ohne jede Veranlassung vor allen Anwesenden und machte seinen Kratzfuß. Und wenn dann alle über ihn lachten, lachte er am lautesten mit, nahm seine Perücke ab und rieb sich den kahlen Schädel, falls er nicht zufällig Wassilissa, die er mit Paschutka verwechselt hatte, die Wange streichelte.

Er war, mit einem Wort, ganz aus dem Häuschen und kam erst am dritten Tag wieder zu sich, worauf er dann ebenso nachdenklich und ernstgestimmt wurde wie die andern.

Der Familienkreis von Malinowka vermehrte sich in dieser Zeit um ein neues Mitglied. Raiskij erschien eines Tages in Begleitung seines Freundes Koslow zum Mittagessen. Herzlicher als dieser von seiner ungetreuen Frau verlassene Ehegatte wurde wohl nie ein Mensch irgendwo empfangen. Tatjana Markowna ließ es ihn mit feinem weiblichem Takt nicht merken, daß sie um sein eheliches Ungemach wußte. Gewöhnlich wird ein Gast unter gleichen Umständen mit betretenem Schweigen empfangen, sie aber schlug sogleich einen scherzhaft munteren Ton an, der ihm alle Verlegenheit ersparte, und die anderen folgten ihrem Beispiel.

»Sag einmal, Leontij Iwanowitsch, hast du uns denn ganz und gar vergessen?« begann sie, ihn mit dem traulichen »Du« anredend. »Borjuschka meinte, ich verstände nicht, dich richtig zu bewirten, meine Kocherei sei nicht nach deinem Geschmack. Stimmt das?«

»Wieso denn? Wann soll ich das gesagt haben?« wandte Leontij sich in strengem Ton an Raiskij.

Alle lachten laut.

»Ach so, Sie haben nur gespaßt!« versetzte Leontij mit gezwungenem Lächeln.

Er hatte sich mit seinem Herzeleid bereits so weit abgefunden, daß er es als notwendig erkannte, wenigstens vor den Leuten den Schleier des Anstands über sein persönliches Unglück zu ziehen.

»Ja, ich bin schon lange nicht bei Ihnen gewesen, meine Frau ist nämlich ... nach Moskau gefahren ... zu Verwandten«, sprach er leise, während er die Augen niederschlug. »Und da konnte ich ...«

»Zieh doch ganz zu uns«, sagte Tatjana Markowna, »du langweilst dich doch sicher zu Haus, wenn du so allein bist.«

»Ich erwarte sie doch ... und ich möchte nicht, daß sie ankommt, während ich nicht zu Hause bin.«

»Man wird dich doch gleich benachrichtigen. Und dann muß sie ja hier vorüberfahren – sowie ihr Wagen sich zeigt, halten wir sie an. Aus dem Fenster des alten Hauses kann man sehen, wenn jemand auf der Straße daherkommt.«

»Ja, in der Tat ... man übersieht von oben die Straße nach Moskau«, bemerkte Koslow, indem er mit lebhaftem, fast freudigem Gesichtsausdruck zu Tatjana Markowna aufblickte.

»Na, siehst du – dann zieh doch her!«

»Ich möchte ja ganz gern.«

»Ich lasse dich einfach nicht mehr fort, Leontij«, sagte Raiskij. »Ich langweile mich ohnedies so allein. Wir quartieren uns beide drüben im alten Hause ein. Und dann, nach Marfinkas Hochzeit, reise ich ab, und du bleibst hier bei Tantchen und Wera als Premierminister, Hausfreund und Trabant zurück.«

Leontij sah alle Anwesenden nacheinander an.

»Ich danke herzlich für die Einladung – wenn ich nur keine Ungelegenheiten bereite.«

»Schäm dich doch, so zu reden!« sagte die Großtante.

»Iß lieber, statt solchen Unsinn zu reden – deine Suppe wird kalt.«

»Ja, ich habe wirklich Hunger!« sagte er plötzlich, griff nach dem Löffel und begann mit Appetit zu essen. »Ich habe schon lange nichts Rechtes mehr gegessen.«

Sein verträumter Blick schweifte irgendwohin in die Ferne, in der Richtung der Moskauer Landstraße, er aß mechanisch seine Suppe, dann die ihm vorgelegte Pastete, eine Portion Braten und die Nachspeise.

»Bei Ihnen ist es so ruhig, so nett«, sagte er nach dem Mittagessen, während er durchs Fenster schaute. »Auch Grün sieht man noch, und die Luft ist so rein. Höre einmal, Boris Pawlowitsch, ich möchte die Bibliothek wieder hierherbringen.«

»Gut, bring sie meinetwegen schon morgen, sie gehört ja dir. Mach mit ihr, was du willst.«

»Nicht doch, nicht doch, was soll sie mir jetzt? Ich werde sie herbringen und achtgeben, daß nicht wieder dieser Mark ...«

Raiskij räusperte sich so laut, daß es im ganzen Zimmer widerhallte. Wera hob den Kopf nicht von ihrer Näharbeit, und Tatjana Markowna blickte schweigend zum Fenster hinaus.

Raiskij führte Koslow nach dem alten Hause hinüber, besichtigte das Zimmer, in das die Großtante bereits ein Bett für den Gast hatte stellen lassen, und ordnete an, daß man die Winterfenster einsetzen und den Ofen für die Nacht heizen solle.

Koslow trat sogleich an die Fenster und suchte festzustellen, aus welchem man am besten die Straße nach Moskau übersehen konnte.


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