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II

Eine halbe Stunde wohl lag Wera ohnmächtig da, dann erwachte sie und blickte um sich. Der kalte Luftstrom, der durch das offene Fenster hereindrang, erfrischte sie. Sie blieb einen Augenblick auf dem Teppich sitzen, erhob sich dann, schloß das Fenster, schritt schwankend auf das Bett zu und sank darauf nieder. Unbeweglich, nur mit dem großen Tuch bedeckt, das sie am Abend aufs Bett geworfen, blieb sie liegen.

Sie war ganz entkräftet und fiel in einen schweren Schlaf. Der erschöpfte Organismus versagte gleichsam, Bewußtsein und Wille waren ausgeschaltet. Das aufgelöste Haar war über das Kissen gebreitet. Sie war ganz bleich und schlief wie eine Tote.

Drei Stunden später weckten der Lärm im Hof, das Gewirr menschlicher Stimmen, das Räderknarren und Glockengeläut sie aus ihrer Lethargie. Sie öffnete die Augen, ließ sie durchs Zimmer schweifen, lauschte auf den Lärm draußen, kam für einen Augenblick zum Bewußtsein, schloß dann wieder die Augen und fiel wieder in ihren Zustand, der halb Schlaf, halb Qual war, zurück.

Da klopfte jemand leise an die Tür ihres Zimmers. Sie rührte sich nicht. Das Klopfen wurde lauter wiederholt. Sie hörte es, stand plötzlich vom Bett auf, sah in den Spiegel und erschrak vor sich selbst.

Sie wickelte rasch ihr Haar um die Hand, schlang es zu einem Knoten und befestigte diesen, so gut es ging, mit einer großen schwarzen Haarnadel auf dem Kopf. Dann nahm sie das Tuch um die Schultern, hob den für Marfinka bestimmten Blumenstrauß vom Boden auf und legte ihn auf den Tisch.

Das Klopfen wiederholte sich, während zugleich jemand leise an der Tür kratzte.

»Sofort!« sagte sie und öffnete die Tür.

Marfinka kam hereingeflogen – wie ein Regenbogen schimmernd in ihrer Schönheit, ihrem Festschmuck, ihrer Fröhlichkeit. Sie blickte auf Wera und blieb plötzlich stehen.

»Was ist dir, Werotschka?« fragte sie. »Du bist nicht wohl!«

Ihre Fröhlichkeit schwand, und helle Angst malte sich auf ihrem Gesicht.

»Nein, nicht ganz«, antwortete Wera mit schwacher Stimme. »Nun, ich wünsche dir Glück!«

Sie küßten sich.

»Wie reizend du bist, wie hübsch angezogen!« sagte Wera und versuchte zu lächeln.

Doch es gelang ihr nicht, zu lächeln – die Lippen kräuselten sich wohl, aber die Augen lachten nicht mit. Der starre, unbewegliche Blick, der fast an das glanzlose Auge einer Toten erinnerte, das man zu schließen vergessen, stand in seltsamem Gegensatz zu den begrüßenden Worten.

Wera fühlte, daß sie nicht Herrin ihrer selbst war, nahm rasch den Blumenstrauß und reichte ihn Marfinka.

»Welch ein herrliches Bukett!« sagte Marfinka entzückt und roch an den Blumen. »Und was ist denn das?« fügte sie plötzlich hinzu, als sie unter dem Bukett etwas Hartes in der Hand fühlte. Es war ein kostbarer, mit Perlen verzierter Buketthalter, der ihre Namenschiffre trug.

»Ach, Werotschka, auch du, auch du! Was ist denn das – wie kommt es, daß ihr mich alle so lieb habt?« sagte sie und war wieder den Tränen nahe. »Auch ich liebe euch ja so sehr ... oh, wie ich euch liebe, mein Gott! Aber wie soll ich euch das nur zeigen? Ich weiß es wirklich nicht in Worte zu kleiden, wie sehr ich euch liebe!«

Wera war gerührt, vermochte ihr jedoch nicht zu antworten, sondern holte nur tief Atem und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Ich will mich setzen«, sagte sie, »ich habe in der Nacht schlecht geschlafen!«

»Tantchen läßt dir sagen, du möchtest zur Messe kommen.«

»Ich kann nicht, mein Herzchen – sag nur, ich fühlte mich nicht wohl und würde heute nicht ausgehen.«

»Du willst überhaupt nicht hinüberkommen?« fragte Marfinka erschrocken.

»Ich will im Bett bleiben, ich muß mich gestern erkältet haben – aber sag nur Tantchen, es sei nicht weiter schlimm!«

»Wir werden zu dir heraufkommen!«

»Gott behüte! Ich muß Ruhe haben, ihr würdet mich stören!«

»Nun, dann schicken wir dir von allem etwas herauf! Wieviel Geschenke ich bekommen habe! Wieviel Blumen und Konfekt! Ich will dir alles zeigen!«

Marfinka zählte alle Geschenke auf, die sie bekommen hatte, und nannte jedesmal den Namen des Gebers.

»Jaja ... sehr nett ... sehr lieb! Du wirst es mir dann zeigen ... ich komme später hinüber«, sagte Wera, die kaum zuhörte, zerstreut.

»Und was ist denn das? Noch ein Bukett!« sagte plötzlich Marfinka, als sie den Orangenblütenstrauß am Boden sah. »Warum liegt es denn auf dem Fußboden?«

Sie hob das Bukett auf und reichte es Wera. Diese erbleichte.

»Für wen ist denn das? Nein, wie wundervoll!«

»Das ist ... auch für dich ...«, antwortete Wera tonlos.

Sie nahm das erste beste Band, das ihr in die Hand fiel, nebst einigen Stecknadeln aus der Kommode und befestigte mit Mühe, kaum die Finger bewegend, die Orangenblüten an Marfinkas Brust. Dann küßte sie sie und setzte sich erschöpft auf das Sofa.

»Du bist wirklich krank – sieh doch in den Spiegel, wie blaß du bist!« versetzte Marfinka ernsthaft. »Soll ich es nicht Tantchen sagen? Sie wird den Arzt kommen lassen! Was meinst du, Herzchen – soll Iwan Bogdanowitsch kommen? Wie traurig! Gerade an meinem Geburtstag! Jetzt ist mir der ganze Tag verdorben!«

»Nicht doch, nicht doch – es wird vorübergehen. Sag Tantchen nicht ein Wort, ängstige sie nicht! Und nun geh, laß mich allein!« flüsterte Wera. »Ich ruhe mich aus!«

Marfinka wollte sie küssen und sah plötzlich, daß Weras Augen voll Tränen standen. Sie begann gleichfalls zu weinen.

»Was ist dir denn?« fragte Wera leise, während sie unbemerkt ihre Tränen zu trocknen suchte.

»Wie soll ich nicht weinen, wenn du weinst, Werotschka! Was ist denn mit dir, mein liebes, gutes Schwesterchen? Du hast einen Kummer, erzähl doch!«

»Nichts, nichts! Sieh mich nicht an! Es sind nur die Nerven! Sei nur vorsichtig, wenn du es Tantchen sagst, sonst erschrickt sie!«

»Ich werde sagen, daß du Kopfschmerzen hast. Von den Tränen sag ich nichts, sonst ist sie den ganzen Tag verstimmt.«

Marfinka verließ das Zimmer. Wera verschloß die Tür hinter ihr und legte sich auf das Sofa.


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