Leopold Friedrich Günther von Göckingk
Lieder zweier Liebenden
Leopold Friedrich Günther von Göckingk

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Bei Übersendung einer Locke

            Vor meinem Spiegel stand ich früh,
Hielt Musterung der Locken, zog von allen
Die Nadeln aus, daß auf die Schultern sie
Wie Bäch' herab von Felsen fallen.

Die schönste sucht' ich dir heraus,
Ich schnitt sie ab mit deiner Bilderschere,
Und weinend stieß ich da den Seufzer aus:
Ach! daß es eine Krone wäre!

Doch so – nur eine Locke, Freund!
Die nicht verdient, daß sie hinauf sich schwinge,
Wo hell das Haar von Berenicen scheint,
Noch daß ein Dichter sie besinge.

Und dennoch hat sie Wert, o Mann!
Denn du erhältst mit ihr mein Herz voll Liebe;
Und böt ein Fürst für das mir Kronen an,
So glaube, daß die Kron ihm bliebe.

Freund! nimm denn meine Locke hin!
Dann werd ich doch, nicht ganz, für dich begraben,
Und wenn ich längst ein Spiel der Winde bin,
Wirst du von mir den Teil noch haben.

 


 


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