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Die Sache mit Lulu war der letzte Grund für die Wesensänderung Kikimoras. Es war ihr stärkstes Erlebnis. Seltsam, nicht wahr? Solch eine Vogelscheuche! Solch ein Blendwerk! Solch eine vielleicht von einem bäuerlichen Ausstopfer nicht einmal sehr geschickt gemachte Gliederpuppe! Und dennoch größer in seiner Wirkung als die Reisen durch Palästina, Italien und Griechenland? Etwa: weil die Gebundenheit der Sinne dieser kleinen Eule verwehrte, die Herrlichkeiten einer Südlandfahrt zu erkennen? Etwa: weil jene Gebundenheit der Sinne ihr versagte, das Ding vor der Krähenhütte zu ergründen?
Nicht deshalb, liebe Freunde! Oh, laßt ab von eurer vermeintlichen Halbgöttlichkeit! Und laßt ab von der törichten Meinung: die Welt stehe dem Tier nur offen bis zu den Grenzen, in denen sie von seinem »Instinkte« zu ermessen sei. Laßt ab von der wunderlichen Befangenheit, daß nur der Mensch einen klaren Verstand habe, der ihn befähige zu folgerichtigem Schließen und Handeln!
Kleine Ursachen, große Wirkungen. Es stand kein Ereignis in Kikimoras Leben, das sie so unmittelbar ergriffen hatte und so tief. Sie hatte sich den Spott der Freunde zugezogen durch ihre Berichte. (Wer vermöchte zu zweifeln, daß sich die Tiere unterhalten? Daß sie sich kurzweilen durch Erzählungen, daß sie sich überzeugen, einander helfen, belehren, beglücken durch Wort und Tat? Hast du das noch nicht beobachtet? Und du? … Dann hat sich die Natur, die große Verkünderin, dir gegenüber recht stief benommen! Und du möchtest dich nicht prüfen, ob die Gebundenheit deiner Sinne dir den Zutritt zu freundlichen Gärten der Erde versagt?)
Also: die Eulen konnten das Geheimnis bei der Krähenhütte nicht lösen. Es ging ihnen wie den Menschen vor diesem und jenem Begebnis: sie fanden den Faden nicht. Aber die Starrheit dieser Erscheinung erkannten sie. Lulu war anders wie einst. Erst krank geworden durch den Unverstand eines Menschen. Dann armselig und tot. Danach spitzfindig wieder zu einer Art von Dasein erweckt. Ein bemitleidenswertes Ding. Von erschütternder Hilflosigkeit. Unbrauchbar.
Und die Folge? Die Abneigung gegen den Menschen, die Abneigung der Tiere, die das alles gewissermaßen mitangesehen hatten. Ihre Furcht! Die Erkenntnis von des Menschen Überlegenheit? O ja. Mehr noch: von des Menschen Feindschaft.
Im Gegensatz dazu: wo derartige Wahrnehmungen fehlen, herrscht auf seiten der Tiere restloses Vertrauen. Das ist leicht zu erschüttern. Durch die geringste Täuschung, die ihnen der Mensch bereitet. Es wird hinweggefegt auch durch die Erziehung, schon bei den Nestvögeln. Oder es ist von Anfang an brüchig, eine Folge der Vererbung und der üblen Erfahrungen, die die Tiere durch Geschlechter hindurch machen mußten?
Der Fall mit der Ohreule (weil er in seiner ganzen Entwicklung von den Freunden der Spinnstube verfolgt werden konnte) war ein Fall von nachwirkender erziehlicher Kraft. Kikimora war früher durch die Menschen zeitweilig verstimmt. Sie war auch unglücklich gewesen. Doch keine dieser Erfahrungen konnte sie einsiedlerisch, gehässig, menschenscheu machen. Dazu war sie zu liebenswürdig.
Andere haben andere Erlebnisse. Aber jedes Erlebnis schafft eine Umwertung, schafft ein Gepräge. Wie beim Menschen. Und jedes Lebendige wird dadurch zum Einzelwesen. Wird einmalig. Wird in seinen Grenzen zur Persönlichkeit. Oder glaubt ihr … Doch der Ausblicke sind zu viele; aus der Nacht des Unerforschten tauchen Lichter auf wie die Sterne. Könnt ihr sie zählen?
Darum: dichten wir etwas in die Tiere hinein? Ja? Oder ist es nicht vielmehr so: dichten wir noch lange nicht alles aus ihnen heraus?
Die Liebenswürdigkeit des Türmers Nauke blieb auch in der folgenden Zeit nicht ohne Einfluß auf Kikimora. Seine unerhörte Sinnesschärfe und Wachheit mußte sie immer von neuem bewundern.
O ja, doch ihr Schlummer wurde verscheucht, wenn eine Fliege spätsommerfroh an ihr vorüberstrich. Auch sie sah die singende Lerche hoch unter dem Sonnenhimmel stehen. Und sie sah die nagende Maus vom Kirchturm aus auf den schmalen Gängen zwischen den Grabhügeln um Mitternacht. Aber ihr Geschlecht war schwerblütig. War oft von unerforschlicher Langsamkeit der Gedanken. Deshalb durfte ein Mensch kommen und eine aus ihren Reihen mit der Hand vom Gebälk nehmen. Dem Turmfalken, diesem Wächter aus seiner Natur heraus, konnte so etwas nicht passieren.
Die ganze Spinnstube stand sich ausgezeichnet mit ihm. Und doch sah man sich selten. Die Stunden der Ruhe waren für Nauke kurz. In der Nacht war er zwar daheim. Aber er ließ sich da nicht sprechen. Nur Kikimora traf ihn hin und wieder auf einem Flug über Land. Kikimora war eine große Freundin des Tages, in viel stärkerem Grade als ihre Vettern mit dem Schleier, als die Baumkäuze, als die Ohreulen.
Übrigens: Graukopf und seine Frau hatten nicht umhin gekonnt, sich eine Kinderstube anzulegen! Und es war doch die Zeit, in der die Bauern auf den Feldern nur noch die Hackfrüchte zu ernten brauchten.
»Hör' mal,« sagte Kikimora zu Kilian, »nicht, daß ich auch an derlei Dinge gedacht hätte! Und nicht, daß ich unsere Ehe nicht mehr für ganz einwandfrei hielte. Ach nein. Aber ich finde, du läßt dich von dieser behäbigen Gevatterin zu sehr ausnützen.«
Kilian fand das auch. Ja. Aber in seiner Gutmütigkeit wurde ihm die Fürsorge für die Kunzin nicht lästig. Zudem war Kikimora infolge ihres Reiselebens von einer Regsamkeit, die seinem Geschmack nicht immer entsprach. Auch seine Lebensauffassung deckte sich häufig nicht mit der ihren.
»Ich habe gestern bei Nauke einen Baumkauz kennengelernt,« sagte Kikimora, als sie die Kunzin in der Felsenburg traf. »Peter heißt er. Du solltest dir angelegen sein lassen, dir wieder einen eigenen Hausstand zu gründen! Was meinst du dazu, Kilian?«
»Ach nun ja,« sagte der, »es ist aber jetzt stille Zeit. Wenn die Fähnchen wieder an den Haselbüschen wehen, dann ist das etwas anderes.«
Kikimora war vom Kirchturme gekommen. Die Mitternacht war noch nicht lange vorüber. Es herbstelte schon stark in der Welt. Sie schob den Kopf so zur Türe herein und lugte auf die Kunzin hin, die im Winkel offenbar träumte. Dabei schnitt sie die wunderlichsten Gesichter.
»Na, Gevatterin!« ermahnte Kikimora sie energisch. »Haben Sie nicht Lust, eine nette Herrenbekanntschaft zu machen droben in der Glockenstube?«
»Herrenbekanntschaft? O ja. Jawohl …« besann sich die Kunzin. »Aber ist es nicht noch ein bißchen zu früh dazu? Und dann: eine anständige Eule kann doch in solch einer Nacht nicht ausfliegen.«
»Huhuhuuu!« lachte Kikimora. Nun ja, der Herbstwind spielte draußen mit fallendem Laub. Jagte einen Ballen Nebel durch den Wald. Plätscherte hin und wieder einen Regenschauer hinein. Aber schlecht Wetter? Das konnte nur der Kunzin ausgekochte Faulheit behaupten. Sie suchte nach einer Menge von Ausflüchten. Ihr Neues – es war gerade erst fertig geworden! Die anderen waren noch nicht einmal so weit. Deshalb war sie um so stolzer darauf. Und dann: das Zipperlein! Sie behauptete, das hätte sie sich bei jenem Unwetter auf dem Turme geholt. Richtig, es hatte damals ein bißchen gezogen, während sie so neugierig im Schalloche saß und dem Glöckner nachschaute! »Das kommt davon, wenn man sich für andere opfert,« behauptete die Kunzin.
»Ach lieber gar,« unterbrach sie Kikimora. »Sie wurden damals nur von Ihrer Neugier getrieben.«
Die Kunzin wollte das natürlich nicht Wort haben. Und wie das in der Art solcher Frauen liegt, brachte sie das Gespräch auf hunderterlei Dinge. Darüber hätte Kikimora beinah ihren Auftrag vergessen.
»Ich glaube, daran ist auch mein Mann schuld, daß Sie so ungeheuer verwöhnt sind,« begann sie wieder; »denn sonst … Sie wissen doch: eine richtige Kauzenfrau schafft sich sofort einen neuen Mann an, wenn dem alten ein Unglück passiert ist.«
»Mag sein,« sagte die Kunzin. »Ich bin eben eine Ausnahmeerscheinung.«
»Und Sie bilden sich wohl ein, Sie könnten sich bis Mittwinter oder darüber hinaus in unserer Felsenburg, aufhalten? Nein, nein, meine Liebe! Es kommen nun Tage und Nächte, die fesseln auch unsereinen ans Haus. Mein Mann und ich sollen da wohl vorn in der Zugluft sitzen, während Sie Ihren dicken Leib dort im warmen Winkel pflegen? übrigens finde ich Sie in Ihrem Neuen sehr schön. Wir anderen sehen alle noch sehr übergangsmäßig aus. Sie aber sind fertig. Das wird auf den Mann Eindruck machen.«
»Meinen Sie?«
»Nu, natürlich.«
»Aber das Wetter! Das Zipperlein …« Sie suchte nach allerhand Ausreden. Die eine, daß dieser Herr Peter ja zu ihr kommen könne, konnte sie aber nicht brauchen; denn es ist bei den Vögeln von altersher so: die Frau beginnt zu werben. Damit offenbart sie den Wunsch, zu besitzen. Und erst wenn dies geschehen ist, bemüht sich der Mann. Durch freundliche Spiele, durch Flugkünste, durch sein Lied. Durch alles, was ihn bei der Dame seines Herzens in Gunst zu setzen vermag, treibt er die Dinge dann vorwärts bis zur Hochzeit. (Bei Kilian und Kikimora war der Hergang nur deshalb ein wenig anders gewesen, weil Kilian der einzige seiner Art in der ganzen Umgebung war. Aber da sich die Zeit erfüllt hatte, erschien Kikimora doch als die Werbende im Feldholz.)
Und siehe da, die Kunzin ward begehrlich! »Sagen Sie mal – Peter – Peter … Was ist denn das für ein Peter?«
»Sehr netter Herr. Stattlich. In den besten Jahren natürlich. Seine Frau ist gestern früh von Hans Urian dem Sperber geschlagen worden. Nauke ist wie immer gerade des Weges gekommen. Nauke ist überall. Das wissen wir ja. Sie haben Hans Urian zwar nach Kräften zugesetzt. Aber gegen diesen Strauchdieb und Strolch ist wenig zu machen. Und fortan wird Peter in der Glockenstube wohnen. Der Türmer hat ihn dazu aufgefordert. Sie verdanken ihm also schließlich Ihren neuen Gatten.«
»Nicht übel,« sagte die Kunzin. »Wenn er anstellig ist, ritterlich und zuvorkommend, wie sich das für einen Mann gehört …«
»Sie verlangen gleich ein bißchen viel, aber …«
»Ich bin das von meinem ersten so gewöhnt. Der zweite hat es ebenso gehalten. Schade, daß Kilian in festen Händen ist. Ich würde mich an seine kleine Figur nicht stoßen.«
»Glaub' ich, glaub' ich,« lachte Kikimora. »Aber damit können Sie nun einmal nicht rechnen.«
»Das erste, was Peter zu tun hätte – er müßte sofort die Schallöcher gegen Abend und Mitternacht zustopfen. Es zieht da mächtig. Bedenken Sie bloß: mein Zipperlein!«
»Das wird sich ja alles finden, liebe Kunzin.«
»Tja, finden! Es findet sich gar nichts! Man muß da vorsichtig sein, sag' ich Ihnen. Ich kenne Fälle, in denen Frauen mit ihren Männern ihre schwere Not gehabt haben.«
Na, dann flogen sie hin. In der Glockenstube hatten sich in dieser Nacht sehr viele Eulen versammelt. Die Schleierkäuze waren vollzählig. Der Kunzin tat es sichtlich wohl, daß aller Augen auf sie warteten. Sie bildete viel zu gern den Mittelpunkt einer Gesellschaft. Etliche Baumkäuzinnen kicherten zwar, als sie die Dicke sahen. Sie hatte nämlich Mühe, im Schalloch von draußen anzufliegen. Aber dann trat sie sicher und klug auf. Jedenfalls: Peter, dem Neuen, gefiel sie über die Maßen. Sie ließ ihn auch keinen Augenblick im Zweifel, daß er ihr willkommen sei. Deshalb nahm die Sache einen raschen Verlauf.
Es ging gegen Morgen, da kehrten Kilian und Kikimora von der Hochzeit heim in die Felsenburg.
Sehr befreit fühlte sich Kikimora nach der Kunzin Abschied. Aber die Sommerwochen hatten auch manches Gute gehabt. Vor allem hatte Kilian einen schätzenswerten Sinn für die Häuslichkeit bekommen.
Sie waren sich darüber einig: diese schöne und sichere Wohnung in der Königsnase wollten sie behalten. Sie wurden hier von keinem belästigt. Und sie hatten eine herrliche Rundsicht. Dabei kam es ihnen natürlich nicht auf das vollendete Landschaftsbild an, sondern auf den Überblick über ihren Jagdbezirk.
Ihre Neigungen von ehemals hatte Kikimora bei den Erfahrungen dieses Sommers gründlich nachgeprüft. Und zum Teil gewandelt. Das gute Verhältnis mit den Tagvögeln vor allem war ein schöner Traum geblieben.
Nun färbte der Herbst die Wälder. Nun läuteten letzte Kuhglocken auf den Wiesen. Nun spannen die Nebel die Tage ein. Nun schwieg das Lied der Vögel in den Hainen. Der Sturm sprang im raschelnden Laube herum.
»Huhuhuuu!«
Hübsch war es um diese Zeit droben in der Burg Kilians. Der hatte von der Kunzin gelernt, daß man sich seine Wohnung mit etlichem Weichwerk aus dem Walde ganz komfortabel einrichten könne. Freilich sehr bescheiden waren die Ansprüche des Kauzenpaares in dieser Hinsicht.
Wenn in der Dämmerung noch ein letztes Frachtschiff talwärts glitt, flogen Kilian und Kikimora gern auf die Spitze des Masts. Dann machten sie eine kleine Reise stromab. Das dauerte nicht lange, denn sobald in den Häusern am Strome die Lichter angingen, rasselte auch die Ankerkette nieder, und das Schiff lag still. Oder manchmal spät in der Nacht, da schwang sich Kikimora auf die Bordwand des Bootes, wenn den Fährmann ein dumpfes »Hol über!« aus dem Schlafe geweckt hatte. So war das nun mit ihr, der Weitgereisten.
Und dann gespensterten sie zusammen ein bißchen um die erleuchteten Fenster der kleinen Häuser. »Komm mit! Komm mit!« Oder sie schlugen leise Kreise um ein paar Kinder, die sich verspätet hatten und Hand in Hand nach Hause eilten. Sie bliesen aus den Erlenbäumen am Strome, riefen aus den Silbernebeln ihren heimlich-unheimlichen Nachtruf. Grausig klang das wohl manch einer jungen abergläubischen Heimkehrerin ins Herz. Und hier und da tat sich ein Fenster auf, und ein Menschenmägdlein versuchte, den hohlen Eulenruf nachzuahmen.
Die ganze Nacht hindurch trieben die beiden von der Königsnase ihr Spiel um Hag und Häuslein, um Baum und Busch. Und allgemach gehörte das zur Landschaft wie zum Frühling das Blühen.
An Herden und Kachelöfen ward es noch eins so gemütlich, wenn draußen die Eulen heulten. Und die Kinder, wiewohl sie sich innerlich recht abgrauten dabei, warteten auf den Schrei der »Waldhexe«. Die Nacht fiel dann rascher, wenn erst die Eulen riefen. Die Herdflammen wärmten traulicher. Die Stimmen um die Tische wurden leiser. Die Herzen feierlicher.
»Huhuhuhuuu!«
Und wo da und dort ein Schiffer auf dunklem Steige fürbaß ging, oder wo ein Mädchen heimhuschte aus der süßen Verlorenheit einer Liebesstunde … ach ja, es schreckte so leis' ins Herz hinein, wenn Kikimora ihr stahlscharfes »Komm mit!« über den mitternächtlichen Weg warf. Ach ja, es schauerte sich so sachte durch die Seelen, so oft Kilian droben auf der Königsnase in sein Wächterhorn stieß. »Huhuhuhuuu!« Aber es war doch schön und fast märchenhaft.
Darum: wenn der Sturm einmal recht wild schrie, nur der Sturm, dann war den Menschen im Tale bange. Und sie lauschten hinaus in die Nacht und suchten mit allen Sinnen in der Finsternis nach dem Ruf ihrer kleinen Waldhexe.