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Fahrten und Abenteuer

In dem zerrissenen Geklipp der Bergzinne lag eine richtige Kauzenstadt. Ihre Gründung fiel in ein sehr frühes Jahrhundert. Etliche Familien hatten Ahnenreihen, die bis in die Zeit des Auszuges der Kinder Israel aus Ägypten und bis zur Gesetzgebung zurückreichten.

Trotz alledem: die Stadt der Kauze mochte sich hinsichtlich der Kopfzahl wohl stark entwickelt haben, aber all diese Leute waren ein wenig engsinnig geblieben. Sie fuhren in den Nächten um den Berg. Sie besuchten die Viehweiden. Sie geisterten in den Klüften herum. Sie sorgten für Erhaltung ihrer Art. Das war auch alles. Sie waren auf dem Berge geboren und führten ihr Dasein nach den strengen Regeln ihres Ordens. Mönche waren sie.

Aber zu denen im Kloster unterhielten sie keine Beziehungen. Auch in die Kapannen der Hirten kehrten sie nie ein. Kikimora verstand das nicht. Mit Mutter Wöbken hatte sie natürlich auch kein Gevatterschaftsverhältnis gehabt; aber es war doch ein Einvernehmen von einer gewissen Herzlichkeit zwischen ihnen gewesen. Hier gingen sich Kauz und Mensch aus dem Wege. Das lag an den Käuzen; denn die Klosterleute waren sehr freundliche Nachbarn. Etliche Kauzenfamilien wohnten sogar in den Luftschächten über den Mönchszellen und waren nie in ihrem Frieden gestört worden.

Was Gudru anlangte, so hätte er gern eine stärkere Anteilnahme Kikimoras an seiner Person gesehen. Die Hochzeit sollte gleich nach Weihnachten sein. Damit war sie nun einverstanden. Aber den Dingen in der Kauzenstadt stand sie im allgemeinen doch empfindlich kühl gegenüber. Dabei erfreute sie sich großer Achtung. Ihre fremde Art fesselte. Und dennoch: sie konnte nicht heimisch werden. Sie ließ Gudru viel allein. Der Lerche dagegen stattete sie um jede Morgenmette einen Besuch ab. Und sie machte den Eindruck einer Frau, die sich in der Liebe zu dem Mann ihrer Wahl sehr beherrschen konnte.

»Kikimora,« sagte Gudru eines Tages zu ihr, »ich erwarte, daß du deinen Eigensinn nunmehr ablegst. Es bleibt dir ja gar nichts zu wünschen. Die Stadt aus dem Berge ist jetzt deine Heimat.«

»Mein Freund, das ist durchaus meine Angelegenheit!«

»O nein!« hauchte er sie an. »Du bist meine Braut, und ich kann fordern, daß du dich endlich nach mir richtest. Wir werden von jetzt ab in den Nächten gemeinsame Ausflüge machen. Und du wirst deine Besuche bei dieser Lerche einstellen.«

»Na hör' mal, ich werde mir doch eine Freundin suchen können, die mir gefällt! Huhuhuhuuu!«

Gudru gab der Lerche die Schuld an Kikimoras schwerem Herzen. Er dachte: ›Weil sie an jedem Morgen eine Stunde mit ihr schwätzt, kommt ihr Gemüt nicht zur Ruhe; alte Wunden brechen dabei immer wieder auf.‹ Ja, das dachte er.

»Übrigens,« fuhr er fort, »dein Aufenthalt in der Zelle jenes Klosterbruders ist nicht ohne Gefahr. Menschen halten sich gefangene Vögel zu ihrer Kurzweil. Und du weißt wohl noch, wie es ist, wenn man an einer Kette hängt.«

Gudru versprach sich von dieser Rede eine große Wirkung. Aber die blieb aus. Kikimora betrat die Zelle ja nur, während die Mönche beim Gebet in der Klosterkirche weilten. Deshalb antwortete sie ihrem Bräutigam sehr überlegen.

Viele Tage war sie bei ihren Besuchen in der Mönchsklause unangefochten gewesen. Offenbar hatte der fromme Bruder gar keine Ahnung davon. Und sie selbst kannte die Verhältnisse nun so genau, daß sie ganz ohne Scheu in jeder Morgendämmerung durch das geöffnete Fenster eintrat.

Da kam sie einmal auf den verlorenen Einfall, ihr Gewöll auf der Fensterbank auszuwerfen. Und wie das in ihrer Sippe Brauch ist, benützte sie von nun ab dazu immer den gleichen Platz.

So fand der Klosterbruder zu seinem Erstaunen bei jeder Rückkehr von der Morgenandacht stets das gleiche Zeichen am gleichen Ort. Er berichtete also den Brüdern, daß zur Zeit des englischen Grußes regelmäßig eine Eule ihre Visitenkarte bei ihm abgebe. Allgemeine Heiterkeit!

Sehr unvorsichtig war das von Kikimora.

Nun hatte jener Klosterbruder in Kürze eine Reise nach Athen zu unternehmen. An den Hof des Königs von Griechenland. Dort sollte er für einige Monate ein geistliches Amt verwalten.

Der Vogel der Göttin Athene war ein Kauz gewesen, ein Sinnbild der Weisheit. »Also könnte man wohl auch eine Königin ehren, wenn man ihr einen Kauz vom Berge des Moses als Geschenk überreichte!«

Sehr sinnig fanden die frommen Brüder diesen Einfall.

Und siehe, am anderen Morgen war ein Schnürlein vom Zellenfenster nach der Tür gespannt. Kikimora bemerkte das gleich bei ihrem Eintritt. Aber sie dachte sich dabei nichts Schlimmes; denn sie ahnte nicht: draußen vor der Tür auf dem Gange lauerte ein Mensch! Der lugte durch ein kleines Loch in der Tür. Der hatte das Ende des Fadens in seiner Hand. Und als er daran zog, schloß sich lautlos das Fenster. Kikimora war gefangen.

»Schöne Geschichte!« rief sie und trippelte vor der Scheibe hin und her. »Was soll denn das heißen? Huhuhuhuuu!«

»Ist Ihnen nicht wohl, Nachbarin?« fragte die kleine Lerche.

»Reden Sie nicht so dumm!« schalt Kikimora. »Sie sehen doch, daß ich nicht mehr hinauskann! Wie peinlich! Wie peinlich!«

»Na,« sagte die kleine Lerche, »da brauchen Sie nicht gleich unangenehm zu werden! Möglicherweise hat Ihnen der Morgenwind diesen Streich gespielt. Und wenn man Sie wirklich überlistet hat, um Sie hierzubehalten – nun, es geschieht Ihnen sicherlich nichts Böses! Wir wollen recht treue Freundschaft halten miteinander, liebe Kiki …«

Da tat sich die Tür auf. Der Klosterbruder trat herein. Er rannte aber nicht mit großen Sätzen durch die Zelle; er stimmte auch kein Siegesgeheul an über den geglückten Fang, sondern er verwickelte Kikimoren in ein freundliches Gespräch.

Vertrauenerweckend klang das. Offenbar lag ihm daran, sie nicht aufzuregen. Er setzte der Lerche ihr Futter vor, gab ihr Trinkwasser und verließ die Zelle.

Eine halbe Stunde lang sprach Kikimora mit Polyxena der Lerche. Daß dies ihr Name war, das hatte sie erst jetzt von dem Mönch erfahren.

»Haben Sie nicht einen Gedanken, wie man entwischen könnte?« fragte Kikimora.

»Tja,« sagte die Lerche, »das wird schwerhalten. Sie können doch nicht mit dem Kopf durch die Fensterscheibe.«

»Das fragt sich!« antwortete Kikimora ärgerlich.

»Ha, machen Sie keine Dummheiten! Sie stoßen sich höchstens das Genick ab!«

»Daß mir, ausgesprochen mir, das wieder passieren muß!« klagte die Eule. »Warum habe ich nicht auf Gudru gehört! Wird man nicht immer erst gescheit, wenn es zu spät ist?«

Das Gespräch fand eine jähe Unterbrechung. Der Klosterbruder kam herein. Er trug einen starken Ast in seiner Hand. Unten daran hatte er ein viereckiges Brett genagelt als Fuß. Es hing auch eine schwache Kette am Aste.

O weh! Diese Einrichtung kannte Kikimora. Es war schlimm. Und dennoch: sie war nicht ohne Hoffnung. Eines Tages würde sich ja wohl eine Gelegenheit bieten …

Da trat der Mönch gelassen auf sie zu. Er streckte seine Hand nach ihr aus. Kikimora duckte sich auf das Fensterbrett, denn wie man sich in solch einem Fall am geschicktesten verhielt, das wußte sie aus ihrer ersten Gefangenschaft Und dieses Behaben nahm den frommen Bruder wunder. Zum Überfluß bemerkte er den Ring aus feinen Kettengliedern an ihrem linken Ständer, den sie als Erinnerung an die andere Zeit trug.

Augenblicklich bekamen die Worte des Mönches einen vertrauteren Ton. Mit einer Zange knüpfte er das Kettlein des Astes in den Gliederring an ihrem Fuß. Und dann erhielt Kikimora ihren Platz in einem Winkel der Zelle, in dem es hübsch dämmerig war.

Im Vergleich zu dem durchlärmten Aufenthalt auf dem Schiffe hatte sie es im Kloster auf dem Horeb sehr gut. Sie wurde selten in ihrer Ruhe gestört. Sie bekam gut zu essen. Sie konnte sich mit Polyxena unterhalten und durfte mitunter auf den Gängen auch nach Mäusen jagen.

Freilich, über Tag lag ihr daran nicht viel. Und mit den Flügen durch die Sternenfinsternis der Nächte war es nun vorbei. Für immer? Für immer?

Kikimora bekam in den nächsten Tagen häufig Besuch. Sogar der Abt beehrte sie. über die Maßen liebenswürdig empfing sie die Neugierigen nicht. Und manchmal, wenn ihr der Gäste zu viele wurden, kam sie einfach abhanden, das heißt: sie verwandelte sich zum Ast eines Waldbaumes. Bog den einen Flügel wie ein Stück borckiges Stockholz. Verschrumpfte ihr Federkleid wie Baumrinde. Stellte sich steil auf. Ward reglos. Verholzte.

Dann wunderte sich jeder Gast über ihre Kunstfertigkeit. Freilich: daß sie das nun gar nicht mehr sei, das glaubte ihr kein Mensch! Sie aber bildete sich's ein. Denn das hatte man sie so gelehrt. Und sie wußte aus ihrer wilden schönen Zeit im Teufelsmoor: sie war dadurch mancher Belästigung, sogar mancher Gefahr entgangen.

Ja, der Klosterkerker war erträglich. Es dauerte auch nicht lange, da –

Nein, befreit wurde sie nicht. Aber sie ging mit dem Mönch nach Athen! Man denke!

Die Reise war unangenehm. Sie stand stets im Mittelpunkte des Interesses. Erst fuhr sie auf einem Wäglein in der Sonnenhitze durch wüstes Land. Die Räder mahlten im glühenden Sande. Dann kam die Seefahrt, diesmal auf einem großen Dampfer. Es dauerte zwar nicht lange, aber es war das Schrecklichste, was sie ergebt hatte. Immerzu war sie von neugierigen Menschen umstanden. Und nichts war schwerer zu ertragen als die Liebe, die man ihr erwies. Auch das ging vorüber. Sie trug ihre Fessel leichter, weil sich nun auch die Aussicht auf die Ehe mit Gudru zerschlagen hatte. Die war für sie nicht verlockend gewesen. Der Klosterbruder vom Horeb brachte ihrer Eigenart mehr Verständnis entgegen als Gudru. Zum mindesten wollte er sie nicht anders haben, als sie war. Sogar für ein Bad sorgte er täglich. Das hatte sie auf dem Berge schwer vermißt. Denn wer dort baden wollte, der mußte auf eine Taunacht warten, die ein kümmerliches Laubwerk oder ein dürres Steppengras mit flimmernder Kühle übergoß.

Und dann: Griechenland! Athen! Sehr schmuck sah Kikimora aus, als sie der jungen Königin überreicht wurde. Eine schöne Rede hatte sich der fromme Bruder dazu ausgedacht; darin war Kikimora die Hauptperson. Und so etwas tat ihr als Frau ganz besonders wohl. Frauen sind ehrgeizig.

Danach kam sie in einen goldenen Käfig. Der stand in einem Glashaus. Oleander dufteten um sie her, und Blüten leuchteten über ihr wie die Sterne des Himmels. Palmen breiteten ihre Wedel um sie, und auf einem Becken, in das silberne Brünnlein fielen, wiegten sich Lotosblumen aus Indien.

So wohnte Kikimora nun. Aber natürlich: das goldene Gefängnis war nicht halb so herrlich wie die Freiheit zwischen zwei verdorrten Felsen der Wüste. Wenn sie an ihre Freiheit dachte, konnte sie ein recht schmerzvolles Klagen anstimmen.

In der Regel saß sie auf ihrem Stänglein, hatte den Schleier dicht über das Gesicht gezogen und rührte sich nicht.

Sie hatte auch einen Diener. Der mußte jeden Tag ihren Käfig säubern. Der mußte ihr ein laues Bad bereiten. Der mußte für lebendige Mäuse sorgen und für große Nashornkäfer. Kurz, der hatte mit ihr neben seinen Pflichten eine Menge Arbeit.

Eines Tages war Kikimora verschwunden.

Der Diener sagte zur Königin: »Sie hat in der Nacht die Käfigtür geöffnet und ist durch ein offenes Fenster des Palmenhauses entwischt.«

Ja, so sagte er; denn Könige und Königinnen – als es noch welche gab – mußten sich viel weismachen lassen.

Zur selbigen Stunde trat Kikimora eine Seefahrt an, von Griechenland nach der Insel Capri. Sie reiste mit dem faulen Checco, einem Italiener, dem sie nun gehörte.

Checco war ein Gipsfigurenhändler. Und zweitens: er reiste auf die Dummheit der Menschen. Das war von seinen beiden Geschäften das einträglichere. Zu diesem Zwecke hatte er in einem Kasten tausend kleine gedruckte Briefe. Daneben besaß er einen Finkenhahn. Den hatte er geblendet. Darum schlug der Fink oft mitten in der Nacht. Der kleine Kerl wußte ja nicht, ob es Dunkel oder Tag war! Dabei kletterte er auf dem Briefkasten herum, den der Italiener an einem Gurte trug. Und wenn jemand von den Leuten der Straße Geld übrig hatte und wissen wollte, was die kommende Zeit ihm bringen würde, so kaufte er sich von dem faulen Checco eine gedruckte Wahrsagung. Die mußte der kleine blinde Vogel mit seinem Schnabel aus dem Kasten ziehen; in jedem Briefe ward die Zukunft prophezeit.

Wegen seines schönen Gesanges gefiel der Fink jenem Diener der Königin. Es kam ein Tauschhandel zustande: der blinde Sänger und Wahrsager wurde von dem Diener eingehandelt gegen Kikimora die Waldhexe. Aber der kleine Fink kam nicht in den goldenen Käfig im Palmenhaus der Königin, sondern in ein armes Stübchen unterm Dach. Und Kikimora sollte fortan an seiner Stelle für abergläubische Leute die Orakelbriefe aus dem Kasten ziehen.

Dagegen sträubte sie sich mit allen Kräften. Mit ihren großen lebendigen Augen schien sie nicht so viel zu sehen wie der Fink mit seinen kleinen toten. Schade! Der faule Checco hatte sich, das sehr schön gedacht! Eine Eule – das Sinnbild der Weisheit – eine Eule wäre etwas ganz Einmaliges für solch ein Wahrsagergeschäft gewesen. Aber Kikimora machte nicht mit. Als hätte sie den Betrug durchschaut, zu dem ihr guter Ruf mißbraucht werden sollte!

Auf der sonnenhellen Seefahrt wurde sie von dem faulen Checco scharf in die Schule genommen. Aber weder Liebe noch Schläge, weder Hunger noch List machten sie mürbe. Sie lernte nichts. Und auf der Überfahrt von Neapel nach Capri hatte der faule Checco die Lust an ihr verloren.

Als er nach Capri kam, in der Grande Marina, verkaufte er Kikimora an einen Schuster. Der war im Nebenamte Vogelfänger. Aber nicht einer von denen, die sich am Gesange der Gefangenen ergötzen und mit ihnen Handel treiben, sondern kleine Vögel mit Reis waren seine Leibspeise.

Aber essen wollte er Kikimoren nicht. Kaum hatte er sie, so ging er mit ihr in einen Weingarten am Berge. Das Silberlaub der Ölbäume flitterte in der Herbstsonne. Zitronen und die goldenen Bälle der Apfelsinen dufteten über reifen Trauben. Letzte Goldäpfel, Tomaten, leuchteten an den Stauden. Es war schön.

Kikimora wurde an den Ast eines Ölbaums gekettet, und der biedere Schuster legte eine Menge Ruten, kreuz und quer um sie herum. Die Ruten hatte er mit Vogelleim bestrichen. Denn, sagte er sich, wenn die kleinen Vögel die Eule sehen, so werden sie alle herbeikommen und die verhaßte Waldhexe beschimpfen. Und so blind werden sie in ihrem Zorne sein, daß sie auf den Leim fliegen. Dann dreht man ihnen die Hälse um. Ha! Dem Schuster aus der Grande Marina lief das Wasser im Munde zusammen!

Er hatte sich einen Weidenkorb mitgenommen und wollte mit einem Schock kleiner toter Vögel heimkehren. Aber die Rechnung war falsch. Kikimora hatte gar nicht den Ehrgeiz, den gefiederten Sonnenpilgern als Gespenst zu erscheinen. Im Gegenteil. Aus ihrem Verkehr mit der Heidelerche im Kloster hatte sie mancherlei gelernt.

Zwar stürzte gleich eine Blauamsel herzu und schlug einen Höllenlärm. Darüber bekam alles, was Federn hatte, steile Sinne. »Was ist denn los? Was ist denn los?« schrie es von dort und da. Sie kamen aus dem Laubschatten und sie kamen von den blauen Zinnen der Berge geflattert. Es kam herbei, was auf den Felsen des Tiberius und was zwischen den Kakteen von Anacapri wohnte.

»Huhuhuhuuu!« rief Kikimora. »Machen Sie keine Dummheiten, meine Herrschaften! Hier ist nämlich ein großer Leim! Vorsicht! Vorsicht!«

An die hundert fahrende Sänger aus den Weingärten waren da. Aber Kikimora beruhigte sie aus gesicherter Entfernung. Und weil sie so liebenswürdig war, erkannten die anderen: zu einem Volksauflauf und einem öffentlichen Skandal war hier gar keine Veranlassung. Sie schlugen sich also wieder in die Büsche.

Sehr enttäuscht war der Schuster. Er mußte für diesmal seinen Reis ohne kleine Vögel löffeln. Und Kikimora bekam Polenta, jeden Tag Polenta. Das war eine recht unzweckmäßige Nahrung.

Wenn der Schuster arbeitete – es geschah auf der Straße vor seinem Häuslein –, so saß sie neben ihm auf der Stange und mußte sich die Ohren zerhämmern lassen. Traurig. Sehr traurig.

Darüber tauchten die Bilder vom Horeb in ihr auf. Und die alte Sehnsucht nach der Heimat ward stärker in ihr. Wie Herbstnebel wob die Melancholie sie ein. Und dennoch, an den Verkehr mit Menschen hatte sie sich allgemach gewöhnt. Auf den Schuster machte sie sogar den Eindruck, als habe sie ihr Leben nie anders gelebt. Von ihrer schönen wilden Freiheit im Teufelsmoor ahnte keiner etwas. Und keiner von ihrer Sehnsucht.

Einmal war das Kettchen an ihrem Fuße zerrissen. Da flog sie nicht fort. Sie hatte es gar nicht gemerkt, daß sie frei war, so tief war ihr Schmerz. Und die Sonne schien so leuchtend. Sie hatte keine Lust, hinauszufliehen in dies blanke Licht.

Von Stund an galt sie als ganz zahme Eule und bekam die Fessel nicht mehr an den Fuß. Im Lichte saß sie reglos auf ihrem Ast. Nur manchmal, manchmal schwang sie sich hinab und trippelte schwerfällig um den Schemel des Schusters. Gegen Abend ward sie ins Haus getragen.

Einmal, es war im Oktober. Die Wachteln kamen. Eine Reisegesellschaft von etlichen hundert Köpfen fiel auf der Insel ein. In allen Weingärten pückwerrückte es. Und die Leute von Capri schienen über der Freude dieses Wiedersehens den Verstand verloren zu haben. Sie strichen hinaus auf die Berge. Sie strichen in die Ölgärten und sammelten die ermüdeten Vögel in ihre Körbe.

An diesem Herbstabend war Kikimora ganz allein zu Haus. Man hatte die Haustür offen gelassen. Da entwischte sie.

»Sagen Sie mal,« redete sie einen Wachtelhahn an, »woher kommen Sie eigentlich? Ich höre überall bekannte Stimmen. Soundso geht es mir.«

»Das ist ein sehr merkwürdiges Schicksal, liebe Frau,« sagte der Wachtelhahn. »Und wir? Wir kommen aus Süddeutschland. Sonst kann ich Ihnen weiter keine Auskunft geben. Ich bin nämlich erst ein halbes Jahr alt und mache die Reise zum erstenmal. Sehr anstrengend, meine Liebe! Ich bin ganz außerstande zu einer langen Unterhaltung.«

Plötzlich duckte er sich ins dichte Gras; denn es kam ein stöbernder Hund und hinter ihm drein ein paar Menschen. Wachtelfänger.

Kikimora machte sich davon. Ringsum bemerkte sie wandelnde Lichter. Es wurde nach Schnecken gesucht und nach reisemüden Wachteln unter allen Büschen.


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