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Heimweh

Ein rotes Scheinen spann sich von draußen in das Schlafgemach. Es war also die Stunde vor Sonnenuntergang.

Da erwachte Kikimora zum ersten Male. Gudru schlief noch pickelfest. Er hatte bis tief in den Tag hinein neben ihr gewacht und sie immerzu angesehen aus lauter Freude darüber, daß er eine so schmucke und weitgereiste Braut gefunden hatte.

Da hörte Kikimora draußen auf der Diele feine Stimmen. Es waren zwei Fledermäuse.

»Hier wären wir also daheim von jetzt ab, mein Schatz! Es ist eine ausgezeichnete Wohnung. Ich habe schon einmal ein paar Tage hier gehaust als Junggeselle. Für einen Junggesellen ist sie natürlich zu geräumig …«

»Na, hör' mal,« sagte die andere Fledermaus, »bist du auch ganz sicher, daß diese schöne Kammer inzwischen nicht anderweit vermietet worden ist? Riech mal! Ich glaube, wir sind nicht allein.«

»Ach,« entgegnete der unvorsichtige junge Ehemann, »das ist nur deine Angst! Du kannst dich darauf verlassen, ich habe nie so ungestört gewohnt als hier. Man darf doch nicht in jedem Mauerloch ein Ungeheuer wittern! Ich werde gleich einmal nachsehen. Sollte sich jemand erkühnen …«

Da trippelte Kikimora den Gang entlang. Sie hatte in der Nacht sehr gut und reichlich gegessen. Sie hatte vortrefflich geschlafen. Sie sah die Welt in dieser Stunde noch mit rosigen Augen.

Die Fledermäuse zitterten an allen Gliedern, als sie ihrer ansichtig wurden, und zwar nicht bloß die kleine Frau, sondern auch der junge Mann, der vor einer Minute so kühn geredet hatte.

»Meine Herrschaften,« sagte Kikimora in ihrer gemütvollen Art …

»Oh, wir bitten tausendmal um Verzeihung! Hätten wir geahnt, daß wir stören …«

Die Fledermäuse wären natürlich gleich auf und davon geflattert; aber der Schreck lähmte sie.

»Barmherzigkeit!« flehte die kleine Frau. »Wir sind erst seit drei Nächten verheiratet. Und denken Sie mal: wir haben schon fünfmal die Wohnung wechseln müssen. Ist das nicht schrecklich? Heute im Grauen des Morgens sind wir in die Klagemauer, die alte Tempelmauer, gezogen. Natürlich nahmen wir an, das Logis stehe leer. Und eben jetzt hat uns eine Dohle mit großem Geschrei hinausgesetzt. Es war lebensgefährlich.«

»Das kann ich mir wohl denken,« sagte Kikimora. »Und wie kommen Sie denn nun auf den verlorenen Einfall, sich hier Quartier zu suchen?«

»Weil wir hinaus in den Sonnenschein fliegen mußten, um unser nacktes Leben zu retten!« erzählte die kleine Frau mit zitterndem Herzen. »Wir sind ja ganz geblendet. Wir können uns beim besten Willen um diese Stunde nicht auf langes Suchen einlassen. Und dann: mein Mann empfahl diese Wohnung so warm. Wenn wir gewußt hätten, daß wir Sie belästigen – um keinen Preis hätte ich meine Einwilligung gegeben.«

»Sie können von Glück reden!« sagte Kikimora. »Mein Bräutigam schläft nämlich noch. Wir haben es uns in der vergangenen Nacht sehr wohl sein lassen, und so wird auch er nicht hungrig sein. Wir haben nämlich Verlobung gefeiert.«

»Ah, wir gratulieren!« unterbrach sie die kleine Frau. »Sie sehen auch ganz glücklich aus.«

»Danke! Nichtsdestotrotz würde ich Ihnen empfehlen, machen Sie sich so rasch als möglich aus dem Staube. Für meinen Bräutigam kann ich natürlich keine Gewähr übernehmen. Aber wir reisen heut abend. Dann wird die Wohnung frei.«

Der junge Ehemann hatte den guten Rat Kikimoras schon befolgt. Mit weitgespannten Segeln fuhr er draußen auf dem roten Lichtmeer herum und rief einige Male nach seiner Frau. Da steckte Gudru den Kopf aus dem dunklen Gange und lugte nach der Schwelle hin.

Das Fledermäuschen, das ganz vorn am Eingang saß, ließ sich vor Schreck hinabfallen. Aber es kam unterwegs auf die Flügel und schlüpfte in ein faustgroßes Mauerloch. Das lag fast zu ebener Erde und war natürlich keine geschickte Wohnung. Das Mäuschen hatte Mühe, sich seinem Manne bemerkbar zu machen, und konnte nicht mehr wagen, in den blendenden Sonnenuntergang zu fliegen.

Gudru war sehr erstaunt. »Du hast ja seltsame Gepflogenheiten,« sagte er zu Kikimora. »Deine Standesehre sollte dir verbieten, dich mit derartigen Leuten in ein Gespräch einzulassen. Sie machen jede Wohnung unbrauchbar.«

»Mäßige dich!« erwiderte sie. »Erstens hatte ich noch keinen Appetit, und zweitens habe ich ihr nur empfohlen, sich so rasch als möglich davonzumachen. Ich morde niemals aus Lust am Töten. Du etwa?«

»Du weißt ja gar nicht, ob ich nicht mit diesen Leuten ein Hühnchen zu rupfen hatte,« sagte Gudru. »Und ich hätte auch Hunger haben können.«

»Das nahm ich nicht an,« entgegnete sie kühl. Sie erregte sich über diese Zurechtweisung. »Ich muß sagen, ich bin solch einen Ton nicht gewöhnt.«

»Na,« sagte er, »dein Erster wird auch nicht immer liebenswürdig gewesen sein. Oder waren es vielleicht die Menschen?«

»O doch!« erwiderte sie. Es klang sehr bestimmt. »Menschen sind schwach in ihrer Urteilsfähigkeit, was uns anbelangt. Aber was können sie für ihre mindere Begabung? Sie haben mir immer viel Liebes getan.«

»Das klingt ganz anders als deine Rede von gestern abend.«

»Ach, keine Spur! Du hast mich einfach falsch verstanden. Huhuhuhuuu!« schluchzte sie.

Ihre Nerven hatten in der Gefangenschaft gelitten. Aber es war auch die fremde Art des Landes und die fremde Art Gudrus, mit der sie sich noch nicht abfinden konnte.

»Zu klagen gibt es da gar nichts!« begann Gudru wieder. »Ich möchte nur nicht haben, daß du dich ohne mein Wissen mit Leuten einläßt, mit denen ein anständiger Kauz nicht verkehrt. Solches Volk bringt man um, aber man führt nicht stundenlang liebenswürdige Gespräche mit ihm.«

»Huhuhuhuuu!« schluchzte Kikimora. »In meiner ersten Ehe habe ich solch eine Behandlung niemals erdulden müssen!«

Sie empfand ihre geistige Überlegenheit. Die schöne, stolze Gestalt Gudrus wollte gar nicht stimmen zu der Kleinlichkeit seiner Gesinnung. Ihr Herz widersetzte sich seiner Nüchternheit und seinem spröden Gemüt. Aber sie faßte sich.

»Hör' mal,« sagte sie, »ich nehme an, du bist reisemüde. Ich war so vergnügt aufgewacht. Du hast mir die ganze Nacht zerschlagen. Du bist zu lange unterwegs …«

»Ach, keine Spur!«

»Ich nehme es aber an,« sagte sie scharf, »und damit basta. Ich bin eine erfahrene Frau, und du kannst mit mir nicht umspringen wie mit dem erstbesten jungen Dinge. Ich möchte noch das Kloster am Horeb kennenlernen und dich in deinem Heim beobachten. Dann werden wir miteinander reden. Sollte deine Art, mit Frauen umzugehen, hierzulande Brauch sein, so müßte ich mich doch sehr bedenken.«

»Du bist ja eine recht energische Dame,« sagte Gudru.

»Ich fordere nur mein Recht!« pfiff sie ihn an. »Also bei Einbruch der Nacht reisen wir, verstehst du?«

»Können wir ja machen,« sagte er ein wenig kleinlaut. Dabei überlegte er sich: er wollte auf einem Umwege nach Hause ziehen. Sie war landfremd und konnte ihn nicht kontrollieren. Wenn sie ihm aber die Hölle weiter so heiß machte, dann konnte er ja auf der Reise eine Gelegenheit wahrnehmen, ihr zu entfliehen.

Eine Stunde saßen sie wortlos nebeneinander. Dann war es ganz dämmerig geworden, und – wie das in der Natur der Eulen liegt – die Herzen wurden ihnen fröhlicher.

»Es wird eine herrliche Reise,« sagte er. »Zuerst kommen wir also an das Tote Meer.«

Sie mußten da gar nicht hin. Aber Gudru hatte vom Gebirge auf der Halbinsel Sinai eine Vorliebe für derartige finstere und verlorene Gegenden. Auch wollte er Kikimora auf die Probe stellen. Am liebsten hätte er ganze vierzig Tage mit ihr in der steinigen Wüste gegen das Meer hin gelebt. Unaussprechlich einsam war es dort. Die Tiere heulten in den langen Nächten. Die Sterne hingen wie Feuerbälle am Himmel. Die trägen Wasser des Seebeckens schillerten von treibendem Salze. Das ganze Land schien einem ewigen Fluche verfallen. Die Nebel irrten durch die Mitternächte, als stiegen die Geister der Menschen herauf aus den schwefeligen Aschegräbern, in die sie der Sage nach vor Tausenden von Jahren geworfen worden waren.

Nun, auch Kikimora fand diese Gegend nicht ohne reizvolle Eigenart. Namentlich bei ihrer Ankunft. Des zum Zeichen stimmte sie tiefbewegt in die gespenstischen Rufe der Finsternis, die da erklangen. In seiner Verlorenheit war das alles großartig. Wüstenhaft. Schauerlich. Es machte den Eindruck, als seien Jahrtausende auf ihrer Wanderung über die Erde bis an dies Wegziel gelangt und dort zusammengebrochen. Eins nach dem andern. Jahrtausende …

Nicht in kühnem Schwunge warfen sich die Felsen empor gegen den Himmel. Und nicht in königlicher Macht und Schönheit dehnte sich dies Meer. Es war zertrümmertes Land, zertrümmerte Flut, es waren zertrümmerte Zeiten, zertrümmerte Berge. Und die Reste des Lebens, die noch kümmerlich atmeten, klagten hervor aus Schründen und Winkeln.

»Huhuhuhuuu!« rief Kikimora. Hundertmal rief sie in dieser einzigen Nacht. Und wenn sie ihre Blicke herumschickte, da kam es ihr vor: all die grauen Schreie der Eulen, die durch die Jahrhunderte in diesen Felsgründen erklungen, waren zu dem Stein geworden, der nun das tote, zehnfach tote Meer ummauerte.

Ganz schwermütig ward ihr ums Herz. »Na ja,« sagte sie, »ich kann mir denken, daß manche aus unserer Sippe Wohlgefallen an solch einem Lande haben. Aber weißt du – ich habe mich doch von Kind an ganz anders gewöhnt. Ich finde die Schauerlichkeit des herbstlichen Eichenhags im Teufelsmoor und im heulenden Weststurm großartiger.«

Kikimora hatte recht. Denn hier herrschte der Tod. Dort in ihrer Heimat aber jagte in wilden Nächten das Leben entfesselt über die schwarze Ebene. Dann brüllten die Stürme. Dann wühlte sich das Laubwerk rauschend in die Finsternis der Nächte. Dann heulten die Eulen eine wunderbare Begleitung zur tollen Fahrt des Heljägers. Hier aber? Oh, hier war seit Jahrhunderten alles auf den gleichen Ton gestimmt, Tag und Nacht, Sommer und Winter.

»Das ist auf die Dauer sehr eintönig. Und sehr langweilig. Das verändert den Charakter, und nicht gerade zum Vorteil,« sagte Kikimora nachdenklich.

Sie lernte viele ihrer Sippe kennen. Lauter Einsiedler. Und alles Leute, die in diese Steinwüste hineingeboren waren. Zuzügler gab es hier gar nicht. Es waren Ausländer. Mit seltsamen Saiten ihre Herzen bezogen. Man konnte mit ihnen nicht viel reden. Und die Liebenswürdigkeit, die Kikimora in ihrer biederen deutschen Art suchte, fand sie nirgends.

»Nichts für mich!« klagte sie. Heimweh überkam sie. Heimweh. Seit der alten Stadtmauer von Jerusalem wuchs es, wuchs.

Gudru zergrübelte sich das Hirn, was ihr fehlte und was das sei: Heimweh. Sie ward immer mißlauniger, karger.

In der dritten Nacht kreuzte sie ohne Unterlaß über dem Toten Meer und klagte herzzerbrechend. So schön klagte sie und so schauerlich, daß etliche einsame Nachtwandler in der schwarzen Finsternis ihr nachzogen. Die entsetzensvolle Innigkeit ihrer Rufe hatte etwas Berückendes.

Indessen hatte sich Gudru mit einigen Eremiten aus seiner Sippe bekannt gemacht. Die redeten mit ihm über Kikimora. Ihre andere Art gab ihnen Rätsel auf.

Kikimora aber begegnete in einer Felskluft um diese Zeit dem Uhu. »Es ist nichts für Sie, kleine Frau!« sagte der. »Ich kann das beurteilen. Es ist hier eine ungeheuere Einsamkeit. Denken Sie, ich wüßte, wie ein Mensch aussieht? Keine Ahnung!«

»Das ist ja schrecklich!«

»Tja. Und ich bin schon über zwanzig Jahre alt! Sogar die Mahlzeiten sind hier von unerhörter Gleichmäßigkeit. Freilich, auch solch ein Leben hat seine Vorteile. Man ist unangefochten, wissen Sie. Aber Sie könnten sich hier sicherlich nicht einleben.«

»Nie,« sagte Kikimora aus tiefstem Herzen. »Ich habe Heimweh. Erst vier Wochen auf dem Schiffe, an eine Kette geschmiedet …«

»O weh, o weh! Na, und das wünschen Sie zurück?«

»Ich denke nicht daran! Aber noch in diesem Augenblick werd' ich meinen Mann rufen. Wir reisen ohne weiteres ab; denn um hier zu leben, bin ich nicht der Gefangenschaft entronnen. Huhuhuhuuu!« Einen ungeheuren Schmerz schluchzte sie hinaus in diese gestorbene Welt.

Es dauerte nicht lange, da erschien Gudru. »Du machst dich und mich lächerlich!« sagte er.

»Das ist mir ganz egal! Wenn du noch einen Funken Teilnahme für mich hast, so brechen wir augenblicklich auf. Jawohl. Es ist von diesem Aufenthalte gar nicht geredet worden. Es scheint mir, du hast mich hintergangen und hast mir die Geschichte vom Horeb einfach vorgespiegelt. Bestehst du aber darauf, hierzubleiben – ich lasse mich nicht länger halten! Ich fühle: morgen vielleicht bin ich gar nicht mehr imstande, eine weite Reise zu unternehmen. Meine Kräfte schwinden. Mein Herz ist verkümmert. Darum: und müßt ich sieben Tag' und sieben Nächte fliegen – ich werde schon ein Land finden, in dem es mir gefällt.«

Gudru wollte es nicht aufs Äußerste ankommen lassen. »Du zerdonnerst mir zwar das ganze Vergnügen,« sagte er, »aber ihr Frauen müßt euren Kopf immer aufsetzen.«

»Lächerlich!« rief sie. »Du hast mir von deiner herrlichen Heimat vorgeschwärmt. Denkst du …«

»Ich denke schon längst nichts mehr.«

»Das ist auch gar nicht nötig!« sagte sie spitz. »Überlaß das für die Folge mir. Bis zu dieser Stunde hast du dich als vollkommener Schwachkopf erwiesen.«

»Na, hör' mal, das geht mir nun doch zu weit.«

Noch einmal setzte sie sich auf einer Felsnadel nieder und schluchzte. Nicht lange, so waren sie von einer ganzen Anzahl Eulen umringt. »Was ist denn los? Was ist denn los?«

»Es ist nichts von Bedeutung, meine Herrschaften, nur – meine Frau ist gemütskrank!« beruhigte Gudru.

»Hä – nichts von Bedeutung nennt er das! Ich werde mir noch sehr überlegen, ob ich deine Frau überhaupt werde!« rief sie. Dann kam es zu einer heftigen Aussprache. Und da sie die größere Zungenfertigkeit besaß, wurde die Sache für Gudru peinlich. Nicht deshalb, weil Kikimora viele auf ihrer Seite gehabt hätte. O nein, die wenigsten verstanden ihre Eigenart und was es mit ihr war. Heimweh kannten sie nicht. Und daß es ihr in dieser fürchterlichen Verlassenheit nicht gefiel, mochten auch nur wenige einsehen. Aber die nächtliche Szene war für sie eine Abwechslung. Und als einer der Neugierigen zu lachen begann, stimmten die anderen ein. Der Widerhall erwachte, und hundert Felsschründe lachten mit, als stünden die Toten auf in den Tiefen der Berge.

Im Grunde: Kikimora hatte nichts erlebt, was dieser Mitternacht an schauerlicher Schönheit und gespenstischer Fülle gleich kam! Das Gruseln hätte man kriegen können. Aber ihr Gemüt war zerrüttet. Sie verstand Land und Leute, sie verstand ihr Schicksal nicht mehr. Auf einmal –

Sie stürzte sich mit angezogenen Schwingen von der Felsnadel hinab gegen den leblosen Spiegel des Meeres. Unmittelbar ehe sie die salzige Flut berührte, breitete sie die Flügel und glitt in tiefer Fahrt dahin. Gudru folgte ihr. Hin und wieder rief er ihr ein Wort zu, um ihr die Wegrichtung anzudeuten. So schlugen sie das Meer hinter sich. So strichen sie über die Wüste. Sie fuhren über die Steppe. Und aber kamen sie in Wüste. Nach einer Zeit sah Kikimora ein Hirtenfeuer brennen. Oder ein Wachtfeuer der Araber, die am Rande der Steppe siedelten? Oder war es eine Karawane, die auf der Nachtrast lag? Palmen standen im Scheine des Feuers. Gudru warnte. Klingend, scharf zerschnitt sein Ruf die Finsternis. Aber Kikimora flog ihrer Sehnsucht nach.

Auf einer der Palmen schwang sie sich ein. Wie ein Geist umzog Gudru das Lager. »Komm mit! Komm mit!« Sie hörte ihn nicht. Er besah sich die braunen Gestalten. Mit weißen Mänteln zugedeckt lagen sie im Sande und lagen in der blauen Finsternis. Im Halsbogen seines Kamels hatte jeder sein Haupt gebettet. Die Tiere hatten ihre Köpfe auf den kühlen Sand gelegt, regungslos.

Nur einer, der die Nachtwache hatte, lehnte sitzend mit dem Rücken gegen den Schaft einer Palme. Der hatte die lange Araberflinte quer über den Knien, rauchte und verfolgte mit den Augen den angstvollen Flug Gudrus.

Über dem Wächter saß Kikimora im Baume. Die hatte sein Blick gar nicht erspäht. Sie begriff nicht, wie Gudru sich vor diesen Menschen entsetzen konnte! Aber nur nach Minuten maß sich ihre Rast. Dann flog sie hinter Gudru drein. Immer nach Süden. Wüste. Steppe. Eine Meile, zwei Meilen, sieben Meilen, hundert Meilen Sand oder Gestein oder raschelndes Gras, das die Sonne auf dem Halme gedörrt hatte. Heiß stieg es aus dem Boden wie aus dem Ofen eines Bäckers.

Da schwangen sich die beiden grauen Nachtfahrer hoch empor in die Kühle. Kikimora dachte, sie könne diese dörrende Luft nicht länger ertragen. Nach dem deutschen Eichwalde sehnte sie sich. Aber wo war ein Weg?

Der Morgen graute. Eine machtvolle Nebelsäule stand darin, mitten in der Wüste. Ein Berg aus Wolken gebaut von unten bis oben. Der Horeb!

Von der See her spielte eine leise Kühlung. Der Nebel küßte ihr Gefieder, oder er streichelte darüber wie eine sanfte Hand. Im Felsgestein, ganz hoch auf den Zinnen des Berges, ganz hoch, gelangten sie zur Wohnung Gudrus.

Wenige seiner Brüder nahmen Kenntnis von seiner Heimkehr. Die meisten lagen schon schlafen, denn es war fast Tag geworden.

Gudru war voller Enttäuschungen, und Kikimoras Herz voll zum Zerspringen. Leider konnte sie nicht drei Fuß weit sehen. Und dennoch: so heimatlich mutete sie das an. Sie konnte sich hinter den Nebeln Eichenhag und Moorheide denken, und lange, schnurgerade Schiffgräben, die sich hineinstachen wie silberne Lanzen, hinein in den Himmel, wo der auf dem Saume der Erde stand.

Eine Weile schwang sie sich in den kühlen Bergnebeln herum. Von Zinne zu Zinne. Sie hörte Menschen reden. Sie hörte ein Glöcklein erklingen: der englische Gruß. Sie hörte singen: den eintönigen frommen Morgengesang der Mönche. Sehr geheimnisvoll war das.

Nach einer Weile geriet sie auf den Fensterstock einer Zelle. Das Fenster stand offen. Sie schaute, vertraut mit menschlichen Bräuchen, in die braune Dürftigkeit dieses Wohnraums. Höher, noch einige Stockwerke höher als die Zellen der Käuze im Gestein, lag dies fromme Gelaß. Es war niemand da; denn fernher klang Menschensang.

Da trat sie hinein. Eine Heidelerche sandte ihr arglos einen Gruß hinter Gitterstäben hervor. »Schönen guten Morgen, liebe Landsmännin!« sagte die kleine Heidelerche. »Wenn ich nicht irre, hab' ich Sie im Vorjahr im deutschen Moore getroffen. Ich bin nämlich während meiner Winterreise hier von einem Klosterhirten gefangen worden.«

»O weh!« sagte Kikimora. »Ich kenne das!«

»Nun,« antwortete die Lerche, »es ist nicht so schlimm. Anfangs freilich war ich sehr traurig. Denken Sie mal, ich hörte meinen Mann draußen so sehnsüchtig singen! Sogar des Nachts, wenn er von mir geträumt hatte, schwang er sich empor in die Luft; denn er wußte: das liebte ich ganz besonders. Aber … Nun, man kann ungeheuer viel ertragen. Heute hab' ich überwunden. Es geht mir sehr gut bei diesen frommen Brüdern.«

Während sie sich unterhielten, wunderte sich Kikimora, daß sie von der kleinen Lerche nicht angeschrien wurde wie von allen andern Tagvögeln. Wohltuend war dieser freundliche Empfang.

»Ich hatte schon immer die Absicht, mich mit allem, was singen kann und Federn trägt, gut zu stellen,« begann sie. »Leider ist mir das nie gelungen. Lass' ich mich einmal am lichten Tage sehen, dann entsteht gleich ein Straßenauflauf, und man zetert um mich her: ›Holla ho, die Waldhexe! Die gehört auf den Scheiterhaufen! Schlagt sie tot, die Mörderin!‹«

»Alles, was recht ist,« sagte die kleine Lerche mit ihrer sanften Stimme, »ich habe noch nie Leid von einer Ihrer Sippe erfahren. Essen Sie denn überhaupt Vögel?«

Kikimora guckte an der Nase nieder. »Es mag ja hin und wieder vorkommen. Auch unsereiner hat einmal Appetit nach etwas anderem. Hin und wieder, sag' ich! Aber ich versichere Sie, wir gehen nie darauf aus. Wir vertilgen eine Unzahl Mäuse, jede von uns etwa dreitausend im Jahr. Na, und wenn wir uns da gelegentlich auf einer Nachtfahrt das Nestkücken einer Lerche vom Wegrand pflücken, so kommt das dagegen doch gar nicht in Betracht, nicht wahr?«

»Für uns ist es aber recht schmerzlich.«

»Ach, liebe Freundin, es gehen Tausende verloren! Und lassen Sie uns doch einmal fragen: wie viele der kleinen Vögel verzehrt allein die Schwarzamsel?«

»Hm,« entgegnete die Lerche, »in der Hauptsache gehorcht die bei derlei Räubereien der Not und nicht dem eigenen Triebe. Denken Sie sich: man hat daheim eine Stube voll kleiner Kinder. Da kommt eine Zeit der Dürre. Die Schwarzamsel kann soviel altes Laub umwenden, als sie findet – nirgend ist ein Wurm darunter; denn diese Gesellschaft hat sich in trockenen Zeiten einige Stockwerke tiefer begeben. Also daheim schreien die Kinder … nun, da räubert die Amsel auch mal ein Nest aus.«

»Aber wenn sie unsereinen bei Tage sieht, ist sie die Schlimmste! Sie sollten mal hören, was die für einen Höllenlärm schlägt! Dazu Markwart der Häher und Else die Elster. Nein, diese Ungerechtigkeit! Alles Leute, die selber genug Dreck am Stecken haben! Und darüber soll man sich nicht entrüsten?«

Das Zusammentreffen mit der kleinen Heidelerche im fremden Lande war für Kikimoren ein Ereignis. Der Mann der Gefangenen war im Frühling nach Deutschland gezogen. Und dennoch, sie hatte sich mit den Tatsachen abgefunden. Eine sanfte Wehmut umschleierte sie. Aber das machte sie nur noch liebenswerter. Kikimoras Leid milderte sich an der kleinen deutschen Frau und ihrer gemütvollen Art.

»Besuchen Sie mich bald wieder!« bat die Lerche beim Abschied. »Das Fenster steht stets offen. Ich plaudere so gern ein bißchen von der alten Heimat. Ade, ade!«


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