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Lulus Auferstehung

Die Königsnase nannten die Leute die Felspartie, in der Kilian und Kikimora hausten. Der Eingang zu ihrer Burg lag gar nicht hoch über den Dächern einiger freundlicher Menschenhäuser. Es teilte sich dort die Straße. Die eine führte am Strom entlang; die andere schlängelte sich empor zu dem Dorf auf den Hügeln.

Sehr nachdenklich war Kikimora diesmal aus der Spinnstube heimgekehrt. Sie sammelte in dieser Zeit Erfahrungen, von denen sie sich auf ihren großen Reisen nichts hatte träumen lassen. Erlebnisse hatte sie, die sie umprägten. (Es ist bei den Eulen genau wie bei den Menschen.) Erlebnisse, mit denen ihre gemütvolle Art nicht immer fertig wurde. Das Schicksal Lulus hatte sie innerlich sogar zerrissen. Sie unterzog ihre Weltanschauung einer sorgsamen Prüfung.

Kilian hals ihr dabei nicht. Er war kein Philosoph. Mit der Fracht schwerer Gedanken pflegte er sich nicht zu belasten. Er beschied sich bei dem gesetzmäßigen Dasein.

Besonders liebte er die Sonnenbäder. Dabei räkelte er sich im warmen Licht auf der kahlen Bergnase und wurde von keinem ungebetenen Gaste gestört; denn sein Rock sah genau so aus wie der verwaschene Stein. Kilian lebte seiner Gesundheit.

Im Gegensatz zu ihm empfing Kikimora zeitweilig Besuch. Die dicke Kunzin verbrachte fast den ganzen Tag bei Kilians Burg. Wenigstens dann, wenn die Sonne sommerlich herniederschien. Auch sie liebte die Lichtbäder. Kilians Gesellschaft war ihr dabei angenehm. Natürlich schickte sie ihn auch hin und wieder nach einem Mäuschen.

Einmal um diese Zeit machten Lila und Graulieschen ihren Abschiedsbesuch. Die Altenteilerin war in einer Nacht eingeschlafen und nicht mehr erwacht. Am folgenden Morgen hatte man dem grauen Lieschen die Freiheit geschenkt. Nun reisten sie beide in die dalekarlischen Wälder.

»Schade!« sagte Kikimora. »Ich habe sie sehr lieb gehabt, kleine Lila. Sie waren mir eine frohlaunige, kluge Freundin. Doch ich verstehe Sie: auch ich habe einst an Heimweh gelitten.«

Die Kunzin war über diesen Abschied erfreut.

Um Kikimora ward es nun einsamer. Die Behäbigkeit der Schleierkäuze war ja ganz nett, aber Kikimoras Temperament entsprach sie weniger. Deshalb lebte sie ihr Leben von Stund' an noch nachdenklicher und nicht immer nach ihrem Geschmack. Von Zeit zu Zeit machte sie, alter Gewohnheit gemäß, einen Flug durch den Tag. Auch sie war eine Freundin der Sonne. Und siehe da! Einmal fand sie Lulu vor der Krähenhütte des Jägers! War das eine Freude!

»Wie befinden Sie sich denn, meine Teure?« fragte sie beglückt.

»Ach,« antwortete Lulu, »ich kann nicht sagen, daß es mir immer schlecht geht. Und dennoch, ich fühle meine Kräfte schwinden. Ein Mäuschen als Mahlzeit ist eine Seltenheit. Meist muß ich kaltes Hackfleisch kröpfen. Oder ein Karnickelgescheide. Nun, das ließe sich vielleicht überstehen. Aber sehen Sie, ich war gewöhnt, in jeder Nacht ein Flußbad zu nehmen. Und Sie wissen, wie wir die Sonne brauchen! Im dunkelsten Winkel des Schuppens muß ich nun mein Dasein verbringen. Feucht und kalt ist's dort. Es ist schrecklich.«

Kikimora kannte die Kette, mit der Lulu an den Ast gefesselt war. Und Lulu erklärte ihr, welche Aufgabe sie vor der Krähenhütte hatte. Sie sollte die räuberischen großen Tagvögel anlocken, den Sperber, den Baumfalken, die Krähen, damit sie dem Jäger vors Rohr kamen.

Das war für Kikimora etwas ganz Neues. »Nun ja,« sagte sie, »ich entsinne mich, bei dem Italiener sollte ich ja zu etwas Ähnlichem gebraucht werden. Aber was Ihnen dieser Jäger zumutet, das ist doch unerhört! Das ist ja geradezu lebensgefährlich für Sie! Denken Sie mal, wenn solch ein niederträchtiger Krähenschwarm auf Sie herabstößt. Oder ein Sperber!«

»Nun,« sagte Lulu kleinlaut, »lebensgefährlich ist es wohl nicht. Das Schlimmste verhütet der Jäger ja mit seinem Fernrohr. Aber es ist aufregend.«

»Es ist geradezu darauf angelegt, uns verhaßt zu machen.«

»Jawohl!« bestätigte Lulu. »Es ist auch kein Posten für unsereinen. Anderswo benutzt man dazu unseren großen Vetter Uhu. Aber der ist in dieser Gegend nicht mehr zu Hause. Und weil ich ihm bis auf die Größe zum Verwechseln ähnlich sehe, muß ich nun seine Rolle spielen. Ich schaue recht sorgenvoll in die Zukunft.«

Kikimoren fiel es wie Schuppen von den Augen. »Was die Menschen für verschmitzte Einfälle haben!« sagte sie. »Man erfährt immerzu etwas Neues von ihnen, etwas Gutes leider nicht.«

»Und sehen Sie, da sitz' ich oft tagelang in meiner finsteren Kammer. Ich beobachte, wie die Mäuse unter mir im Stroh und Stückholz umherhuschen, und kann mir keine holen. Könnten Sie mir nicht einmal eine Guttat erweisen in der Nacht? Ich wohne in dem Schuppen hinter dem Jägerhaus. Bei Ihrer zierlichen Erscheinung können Sie leicht durch die Gattertür schlüpfen.«

Kikimora versprach das. Schweren Herzens ließ sie Lulu auf ihrem Posten. Und keine Nacht verstrich, ohne daß sie ihrer alten Freundin aus der Spinnstube ein Stündchen Gesellschaft leistete oder ihr ein Mäuslein brachte. Aber einmal – es war schon spät, und nur der Morgenstern stand noch am Himmel – einmal fand sie Lulu vom Stengel gefallen! Ein Bild des Jammers hing sie an ihrem Kettlein mit dem Kopfe nach unten. Ihre schönen grauen Schwingen hatten sich auseinandergebreitet. Sie war tot.

Da kröpfte Kikimora die Maus, die sie ihr zugedacht hatte, selber. Dann flog sie mit klopfendem Herzen in die Glockenstube. Sie hoffte, dort einige Freunde zu treffen. Aber sie sah sich allein. Allein?

Nein doch! Ganz oben im Gebälk hatte sich einer niedergelassen. Stand dort auf einem Beine und blinzte sie fragwürdig an. Dann plusterte er sich die Nacht aus den Federn und sagte: »Was wünschen Sie?«

Es klang nicht unfreundlich. Aber Kikimora war erschrocken, so erschrocken, daß sie kein Glied regen konnte. Denn dieser Gesell hatte eine verdächtige Ähnlichkeit mit dem Sperber (wenn er auch kleiner war) oder mit dem Baumfalken, und was jener Straßenräuber und Strauchdiebe mehr sind. Alle bildeten sich ein, sie seien edelen Geschlechts. Leute solcher Art waren in Kikimoras Sippe keineswegs geschätzt.

Doch faßte sie sich ein Herz. »Entschuldigen Sie, wenn ich störe,« sagte sie, »es ist hier nämlich das Vereinslokal der Spinnstube.«

»Spinnstube?« fragte der Graue. »Kenn' ich nicht!«

»Sie haben wohl nur hier übernachtet?«

»Keineswegs. Ich wohne hier fast schon eine Woche. Ich muß mich sehr wundern, daß Sie …«

»Ich sagte ja auch: entschuldigen Sie, wenn ich störe,« begann Kikimora. Die Sache war ihr nicht geheuer. Die allerfrüheste Dämmerung, die durch die Glockenstube schummerte, ließ den Eindringling freilich nicht ganz Herr seiner Sinne werden. Zum Glück. Kikimora merkte, diese Sinne waren noch vom Schlaf umsponnen wie die Wiesen vom Nebel. Sie überwand ihren Schreck und fühlte sich leidlich sicher. Sie stellte sich dem Fremdling vor.

»Und ich bin der neue Türmer,« sagte der. »Mein Name ist Nauke. Ich gehöre zum Geschlechte der Turmfalken. Ich bin Witwer. Und ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Diese hohe Siedelei paßt mir gerade.«

»Sehr interessant,« sagte Kikimora. »Zuerst habe ich mich vor Ihnen entsetzt.«

»Dazu haben Sie keine Ursache,« erklärte der Türmer.

»Deshalb sehen Sie mich auch nun so erfreut. Ihre Liebenswürdigkeit ist in allen Landen gerühmt. Wir wollen gute Nachbarschaft halten.«

»Warum denn nicht?« sagte Nauke.

Je heller es ward, desto gesprächiger wurde der Falk. Und als er eine Weile an seiner Schlafstelle mit den Schwingen schlug, um den Rest des Schlummers zu verscheuchen, sah ihm Kikimora wohlgefällig zu und sagte: »Ah, Sie sind der, der so prächtig rütteln kann? Dann gestatten Sie uns sicherlich, daß unser Verein Spinnstube hier wieder seine Zusammenkünfte hält. Sie sind uns ja sehr freundlich gesinnt. Und wir stören Sie nicht im geringsten.«

Der Türmer hatte dagegen nichts einzuwenden. Und Kikimora erzählte ihm, was sie zumeist bewegte: das Schicksal ihrer Freundin Lulu. »Na, was sagen Sie dazu?«

»Die Menschen sind ein Geschlecht von fragwürdiger Begabung. Und unzuverlässig. Man weiß nie recht, wie man's mit ihnen hält. Ich gehe ihnen aus dem Wege. In seiner Dummheit ist solch ein zweibeiniger Gesell imstande, unsereinen aus der Luft herunterzuknallen. Geschöpfe mit hundertfältig gebundenen Sinnen sind die Menschen. Die meisten haben keine Ahnung, daß jeder von uns bemüht ist, sie von den schlimmsten Feinden ihrer Felder zu befreien. Sehen Sie, ich zum Beispiel esse in der Hauptsache Käfer, Libellen, Heuschrecken und bin nebenher ein berühmter Ratten- und Mäusefänger. Das will heißen: ich müßte von jenen noch mehr geschützt werden als Sie; denn Heuschrecken und dergleichen nehmen Sie doch gar nicht …«

Die Unterhaltung dauerte lange. Kikimora wurde davon gefesselt. Auch von dieser Seite erfuhr sie, daß sie den Menschen zu hoch eingeschätzt hatte. »Ich bin ernstlich dabei, mich umzustellen,« sagte sie. »Ich fliege auch gern einmal am Tage. Vielleicht können wir gelegentlich eine Partie in die Sächsische Schweiz verabreden. Für heut empfehl' ich mich.«

Die Kunde von dem neuen Türmer verbreitete sich durch Kikimoren rasch. Nach Einbruch der Nacht war die Spinnstube wieder einmal vollzählig versammelt. Auch Graukopf, Lulus früherer Gatte, war gekommen. Doch hatte er seine neue Frau mitgebracht.

Anfangs ging es sehr ruhig zu in Rücksicht auf den Türmer. Aber weil Nauke droben im Gebälk sich nicht rührte, wurde die Versammlung alsbald lebhafter. Lulus Schicksal erregte alle.

Nach vierzehn Tagen hatte sich zwischen Kikimora und Nauke ein recht freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Mochte Kilian nun mit der Kunzin sonnebaden, soviel er wollte! Kikimora strich indes wohl auch einmal mit dem Türmer über Feld. Und da geschah etwas sehr Sonderbares. Sie kamen in die Nähe der Krähenhütte. Kikimora traute ihren Augen nicht. Wer saß da auf dem Querholz, schlug mit den Flügeln, wandte den Kopf nach oben?

»Daß du die Nas' ins Gesicht behältst – das ist doch meine Freundin Lulu!« staunte Kikimora.

Sie baumten also im nahen Feldholz auf. »Einmal werden Sie sich getäuscht haben,« sagte der Türmer, »entweder jetzt oder in jener Nacht, in der Sie Lulu tot an der Kette hängen sahen.«

»Unmöglich!« rief Kikimora. »Meine Augen sind absolut zuverlässig, bei Tag und bei Nacht. Fliegen Sie doch einmal hinüber und rütteln Sie über ihr.«

»Hm,« sagte der Türmer, »das ist für mich nicht ganz ungefährlich. Ist der Jäger ein Schießer, so knallt er mich herunter. Vor allem aber: ich kenne Lulu ja gar nicht. Daß das dort eine Ohreule ist, das sehen wir beide.«

Nauke war vorsichtig. Nun, Kikimora hatte schon einmal ein Gespräch mit Lulu an jenem Platze geführt. Damals war sie freilich ganz ahnungslos gewesen. Daß der Jäger in der Hütte auf Raubzeug lauerte, das hatte ihr erst Lulu verraten. Was der Türmer fürchtete, das konnte auch ihr geschehen. Aber das Vertrauen zu dem Menschen hatte sie trotz allem nicht ganz verloren. Und da sie eine Frau war, konnte sie ihre Neugier nicht besiegen.

»Lieber Vetter,« sagte sie zu dem Türmer, »das ist brennend interessant! Was meinen Sie, soll ich hinüberfliegen?«

»Tja,« sagte Nauke und schupfte die Schultern. »Ich kann da nicht raten. Wenn Sie nicht umhin können …«

»Na gut,« sagte Kikimora, »ich wag' es! Denn das ist ein so merkwürdiger Fall, daß man darüber zur Klarheit kommen muß – muß, verstehen Sie?«

Wie ein Schatten strich sie dahin. Im Fluge streifte sie die Spitzen der Sommerhalme. An Lulus Seite nahm sie Platz und fing an, sie zu betrachten. Sehr merkwürdig waren ihre Bewegungen. Manchmal spreizte sie beide Schwingen, und es war dazu gar keine Veranlassung. Manchmal drehte sie den Kopf wunderlich und kehrte das Gesicht gegen den Himmel. Sie war beweglicher als sonst. Aber ihre Bewegungen hatten etwas Ruckhaftes und Eckiges. Und sie waren von einer lächerlichen Steifheit.

»Sagen Sie mal, liebste Freundin Lulu« – Kikimora schaute sie mit erstaunten Augen an – »finden Sie nicht auch, daß Sie sich in den letzten Tagen stark verändert haben?«

Lulu hatte in einem fort ihre merkwürdigen Zuckungen; aber sie schwieg. Ihre Augen waren nicht mehr gelb und strahlend wie zwei Sonnen, sondern sie waren von einer verdächtigen Starrheit und Röte.

»Haben Sie die Sprache verloren?« fragte Kikimora. »Kann ich Sie heute nacht in Ihrem Schuppen besuchen? Haben Sie Leibweh oder haben Sie Schmerzen im Kreuz, weil Sie sich so sonderbar gebärden?«

Eine ganze Reihe von Fragen legte sie ihr vor. Aber Lulu antwortete nicht. Sie machte immer die gleichen starren Komplimente. Und schwieg. Und schwieg.

Auf die Dauer war das beängstigend. Ganz verschüchtert rückte Kikimora von ihr ab und trippelte ans äußerste Ende des Querholzes. Eine Weile betrachtete sie die unglückselige Lulu noch. Dann strich sie erschüttert ab.

»Nun?« fragte Nauke.

»Die Arme!« sagte Kikimora. »Sie ist um den Verstand gekommen. Schrecklich. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Schrecklich.«

»Hm,« sagte Nauke, »um den Verstand gekommen? Was soll man sich denn dabei denken?«

Es war wieder eine aufsehenerregende Geschichte. Hinter Kikimoren lag wahrhaftig ein bewegtes Leben. Aber dieses Vorkommnis war unausdenkbar, war unausdeutbar.

In der nächsten Nacht: Spinnstube. Die Unterhaltung wurde laut. Leider konnte Nauke daran nicht teilnehmen, so lebhaft es ihn auch gelüstete. In der Finsternis, die um ihn hing, hatten sich seine Sinne ganz verbiestert. Er hätte auch etwas Neues zu dem rätselhaften Fall nicht vorbringen können.

Die Schleierkäuze, von denen ungefähr ein Dutzend erschienen waren, hörten mit klopfenden Herzen zu. Sie waren abergläubisch. Und diese Erzählung klang so wundervoll gespensterhaft. Auch Graukopf und seine junge Frau entsetzten sich. Aber die dicke Kunzin versuchte die Sache ins Lächerliche zu ziehen.

»Liebe Kikimora,« sagte sie, »mir scheint, Sie reden im Fieber! Kilian, du siehst: die Sinne deiner Frau haben sich offenbar verwirrt. Du weißt also, wie du dich ihr gegenüber zu verhalten hast. Was meinst du, wollen wir sie nicht lieber aufessen, um ihrem beklagenswerten Zustand ein Ende zu machen?«

»Kilian!« schrie Kikimora. »Laß dir so etwas nicht einfallen! Welch eine schnöde Verdächtigung! Das könnte Ihnen wohl passen,« wandte sie sich an die Kunzin, »wenn Sie sich meiner auf so billige Weise entledigten? Ich werde morgen mit meinem Freunde, dem Türmer, Rücksprache nehmen. Der ist verwandt mit Hans Urian dem Sperber und ist auch verwandt mit Sturm dem Baumfalken … Vielleicht biegen Ihnen diese Herren den krumm gewordenen Verstand wieder gerade!«

Als vorsichtige Waldkäuzin hatte die Kunz von dieser Seite her wenig zu fürchten. Freilich – wenn man ihr in der Nähe des Sonnenbades auf der Königsnase auflauerte, dann konnte die Sache peinlich werden. Sie änderte also die Tonart.

»Sie verstehen eben keinen Spaß,« sagte sie zu Kikimora, »ich wollte Ihnen doch nur ein wenig Angst machen. Sie dachten, wir ließen uns von Ihnen zum besten haben!«

Sehr ärgerlich war diese Rede für Kikimora. Mit all ihren scharfen Sinnen hatte sie wahrgenommen, was sie über die arme Lulu berichtet. Sie hatte nichts verschwiegen und nichts hinzugesetzt. Und nun machte sie diese Kunzin verächtlich!

Zuletzt wurde beschlossen: die gesamte Spinnstube sollte morgen an Ort und Stelle sein und sich die merkwürdige Erscheinung betrachten, die Kikimora als Lulu wiedererkannt hatte.

Und als sie sich zur festgesetzten Stunde einfanden, war Lulu nicht da!

Peinlich. Sogar Kilian hatte nun für das Verhalten Kikimoras zornmutige Worte. Auch er hielt sich für gefoppt.

Da hatte Kikimora einen schweren Stand. Aber sie trotzte und sagte: »Ich will das Feldholz nicht verlassen, bis sich das Ereignis von gestern wiederholt! Ja, ich gehe nicht, und wenn ich sitzen soll bis ans Ende meiner Tage!«

»Das könnte dir wohl passieren,« sagte Kilian und verwarnte seine Frau. »Du kennst die Verhältnisse hier zu wenig. Man kann da sehr leicht zu Schaden kommen.«

»Laß das meine Sorge sein!« erklärte Kikimora. Sie wollte sich nach den Erfahrungen, die sie bei Ihren Freunden hatte machen müssen, sowieso für einige Tage in die Einsamkeit zurückziehen. Sie gedachte, ihre gequälten Nerven zu beruhigen. Und sie wich nicht vom Platz.

Gut ging es ihr gar nicht. Um Sonnenuntergang schwärmte ein ganzer Zug von Staren in das Holz. Die setzten ihr wild zu.

»Meine Herrschaften!« rief Kikimora. »Ich habe mich mit Ihresgleichen stets herrlich verstanden. In Neapel …«

Weiter kam sie nicht.

»Was wissen Sie denn von Neapel, Sie Steinkäuzin, Sie Nachtwandlerin, Sie Waldhexe!« schrien die Stare über sie hin. Rotkehlchen, Zaunkönig, Grasmücken, die freundlichen kleinen Taggesellen, alle wurden außer sich über die Anwesenheit Kikimoras. Und sie war froh, als die Nacht sich mitleidsvoll über den Wald senkte.

Ganz verändert war ihr Gemüt. Am liebsten hätte sie sich nun solch einen lästigen Gesellen von seinem Schlafsitz heruntergelangt und verzehrt.

Aber ihre liebenswürdige Art behielt zuletzt den Sieg. Und da man ihr angedroht hatte, in aller Herrgottsfrühe werde der Kampf gegen sie wieder ausgenommen, so bemühte sie sich die ganze Nacht hindurch um einen sicheren Unterschlupf.

Im Wald fand sie keinen. Hohle Bäume fehlten hier. Darum, als die Nacht bleich ward, verlor sich Kikimora in ein Kartoffelfeld. Es war nicht der schlechteste Aufenthalt. Aber sie fühlte: ihre Nerven widersetzten sich dem aufregenden Leben durchaus.

Drei Tage und drei Nächte verwartete sie. Am vierten kam der Jäger. Und siehe da, er hatte den Ast, auf dem Lulu saß, unter dem Arm.

Die arme Lulu! Sie durfte nicht einmal aufrecht sitzen. Sie wurde getragen wie ein Knüppel, den einer unter den Arm geklemmt hat. Wagerecht. Und fiel doch nicht herunter?

Kaum sah das Kikimora, so war sie auch schon auf dem Wege zu den Leuten von der Spinnstube. Als ob sie der Sturm trüge, hastete sie durch den Tag.

Kilian und die Kunzin holte sie aus dem Sonnenbad. Sie schrie Kieder und seine Frau aus dem tiefsten Schlummer im Taubenschlag. Sie lärmte durch den Buchenwald am Strom. Dort wohnten die Ohreulen. Und dort alarmierte sie ihren Freund Graukopf und seine Gattin. Dem war zwar an der Sache nicht so viel gelegen. Aber die Neugier brannte auch ihn. Kurz, aus allen Winden strichen Eulen gegen das Feldholz bei der Krähenhütte. Das Unerhörte mußten sie sehen.

Aber auch diesmal schien sich nichts Besonderes zu ereignen.

Lulu saß steckensteif auf ihrem Aste. Da mußte Kikimora die Scheu überwinden, die sie nun vor der seltsamen Freundin erfaßt hatte. Mit Selbstverleugnung flog sie zu ihr hinüber. Und siehe! Sofort begann das verblüffende Spiel der Flügel. Das Drehen des Kopfes. Das Nicken.

Alles war hölzern und war doch voll wunderlichen Lebens. Kikimora kehrte zitternden Herzens zurück in das Feldholz.

Kein Wort sprechen konnte sie. Aber ihren Augen sah man den Stolz und den Sieg an.

Daß sie ein Wort sagte, war auch gar nicht nötig, denn die Versammelten starrten ohn' Unterlaß zu dem beweglichen Bilde hinüber.

Dann kam eine Zeit, da regte sich Lulu nicht mehr.

Aber nachdenken konnte an diesem Platze von den erstaunten Eulen keine; denn ringsum bliesen die Drosseln zum Kampf. Es gab ein großes Geschrei.

Glücklicherweise kam Nauke der Türmer des Weges. Kikimora hatte ihn daheim nicht angetroffen. Er war auf seinem morgendlichen Pirschgange gewesen.

Nauke war eine Respektperson. Die Lärmer brauchten seiner nur ansichtig zu werden, da machten sie sich von hinnen. Er war nicht bösartig. O nein. Aber wenn sich solch ein kleiner Kerl, ein Goldhähnchen oder eine Meise, keck und selbstvergessen vor ihm aufpflanzte, dann pflückte er sich auch einmal einen vom Aste. Da wollte keiner gern derjenige sein.

Kikimora hatte ihren guten Ruf wieder hergestellt. Alle Eulen mußten ihre Beobachtungen bestätigen. Ganz schwermütig verließ Graukopf das Feldholz.

In der Glockenstube hatten sie eine lange Beratung. Aber das Rätsel blieb ungelöst.

Die arme Lulu, die dort vor der Krähenhütte saß, war ausgestopft und mit einem Mechanismus versehen. Ihr geheimnisvolles Leben hing an einem Faden, an dem der Jäger in der Hütte zog.


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