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Viertes Kapitel.


Am andern Morgen kam Mischka mit der höflichsten Einladung für Fräulein von Serenyi und die Fremden von der Pusta zurück.

Am Nachmittage, gerade als Herr von Stein mit den beiden jungen Mädchen in den Wagen steigen wollte, um zu Frau von Horvath zu fahren, kam ein Bote von Elisabeths Bruder August aus Pesth angeritten. Er brachte einen Brief an Herrn von Stein und sollte auf Antwort warten, denn es handelte sich um mehrere Unterschriften des Herrn von Stein, welche für den gerichtlichen Abschluß des Verkaufs des Gutes noch nöthig waren und die Herr von Serenyi schon am andern Morgen in Händen haben mußte.

»Es bleibt mir nichts Anderes übrig,« sagte Herr von Stein ärgerlich, »als zurückzubleiben – diese Sachen muß ich durchlesen und abfertigen.«

Agnes wollte nicht ohne ihren Vater fahren, deshalb versprach er denn, binnen einer Stunde nachkommen zu wollen, wenn sie ihm sogleich den Wagen zurückschicke, was leicht zu bewerkstelligen war, da man in einer halben Stunde auf dem Gute sein konnte, wie Fräulein von Horvath versicherte.

So stiegen denn die beiden jungen Damen ein und Mischka schwang die Peitsche über seine drei leichten Pferdchen, die in einer Linie neben einander dahin schossen, als ginge es durch die Luft.

Als die Damen in den Hof der Pusta einfuhren, trat ihnen in der Thüre des Hauses eine große Gestalt mit starken, männlichen Zügen entgegen. Es war eine Frau, nahe den Siebzigen. Sie trug einen blauen faltigen Rock von Baumwolle, ein schwarzes Tuchjäckchen mit Schößen, und um Kopf und Hals hatte sie ein dunkelbraunes Tuch gewickelt, so daß man weder Haube noch Haare sah. Sie umarmte Elisabeth zärtlich; es war Niemand anders als Frau von Horvath. Nun wurde Agnes ebenfalls umarmt und auf beide Wangen geküßt; dann wendete die Dame sich wieder zu Elisabeth und dankte dieser, daß sie ihr den Gast gebracht. Sie sprach leider nur ungarisch, mit Agnes konnte sie sich also nur durch die Gefälligkeit eines Dritten unterhalten. An der Thüre des Zimmers standen die drei Fräu lein, eine fünfundvierzig, die andere vierzig, die jüngste dreißig Jahre alt. Diese waren städtisch, aber äußerst einfach gekleidet. Es waren drei blasse, schmale, verblichene Gesichter, voll stiller Resignation und Duldung; aber was sie alle drei anziehend machte, war die unendliche Herzensgüte, die aus ihren Zügen sprach. Auch sie begrüßten den Besuch mit Umarmungen.

Das Gemach, in das man nun trat, war lang, niedrig und finster. In der Mitte stand ein Tisch, der beinahe die Länge des ganzen Zimmers einnahm. Er war mit einem weißen Tuche bedeckt, worauf Früchte aller Art, Melonen, Trauben, Pfirsiche, Aepfel, Birnen, in altfränkischen Schüsseln und Tellern standen. An den Wänden waren hohe, geschnitzte Sessel zu sehen, in einer Ecke stand ein Wandschrank mit verhangenen Glasthüren, in einer andern ein alterthümliches Klavier, kein Kanapee.

Die jüngste Tochter holte selbst den Kaffee. Elisabeth und Agnes mußten sich setzen, während keine der Frauen des Hauses Platz nahm; jede stellte sich an eine Ecke des Tisches, um den Gästen aufzuwarten. Agnes war darüber im höchsten Grade betroffen und fragte leise ihre Freundin, was das zu bedeuten habe. »Alte Sitte,« sagte sie lächelnd, »jeder Gast ist ihnen ein König.« – Mit unglaublichem Eifer wurde in die Damen ge drungen, zu essen und zu trinken, und das Obst lag gehäuft auf den Tellern; die Wirthinnen waren trostlos, als der Besuch erklärte, fertig zu sein und aufstehen zu wollen.

Elisabeth bat die Mädchen, zu singen und zu spielen. Die Jüngste setzte sich sogleich gefällig an das Klavier und sang mit ihrer schwachen, sanften Stimme ein melancholisches Volkslied. – Elisabeth verrieth nun, daß Agnes auch singe. Ihr war das leid, hier that sie es nicht gerne, hier wollte sie nur sehen und hören. Die Mädchen aber fielen beinahe auf die Kniee vor ihr, sie beschworen sie, ihnen etwas aus einer Oper vorzusingen; sie hatten nie eine gehört, und so sang sie denn » Casta divaDie berühmteste Arie (1. Akt) aus der Oper »Norma« (1831) von Vincenzo Bellini. – Anm.d.Hrsg. Die drei Fräulein umstanden sie aufmerksam mit weit offenen Augen und sagten, als sie geendigt: »Das war eine andere Musik als unser armes Spiel.« Die jüngste nahm Agnes' Hand und sagte traurig: »O, bleiben Sie immer bei uns, Sie liebes Weltkind! Aber freilich, Sie sind noch jung, Sie müssen wieder hinaus, aber ich muß hier bleiben, bis ich sterbe, dann ist ja Alles gut!«

Sie führten Agnes nun im Hause herum. Das Zimmer ihres jüngsten Bruders war zu seinem Empfange eingerichtet, da sie ihn jeden Augenblick erwarteten; nachdem er seine Frau für einige Zeit zu ihren Eltern gebracht, und nach einem kurzen Aufenthalte in Pesth, wollte er hier einige Wochen zubringen. Dies Zimmer erschien Agnes als das einzige behagliche im Hause, es war elegant und modern eingerichtet mit Lehnstühlen, einem Wiener Flügel und einer ziemlichen Menge großer Bücher. Die Fräulein des Hauses erzählten Agnes, daß ihr Bruder ein halber Gelehrter sei, durch seine Kenntnisse in der Naturwissenschaft sei sein Name in halb Ungarn rühmlich bekannt. Agnes unterdrückte ein Lächeln, denn ihr schien, als sei das nicht sehr schwer, da in Ungarn die Gelehrten wohl nicht zu häufig sein konnten; da gebührte ihrem Vaterlande die Palme!

Plötzlich wurden sie durch einen lauten Lärm im Hause unten im Gespräch unterbrochen.

Die Fräulein eilten hinaus, um nachzusehen, während Agnes einsam im Zimmer des jungen Mannes zurückblieb, denn Elisabeth war unten bei Frau von Horvath geblieben. Endlich kam das jüngste Fräulein, um Agnes mitzutheilen, daß die beiden Erwarteten, Herr von Stein und der junge Horvath zugleich eingetroffen.

Agnes sollte nun auch hinunterkommen. Beim Eintritt in den Saal begrüßte sie ihren Vater, der im Gespräch mit einem auffallend schönen Menschen, und zwar von ächt ungarischer, feiner Schönheit, begriffen war. Ihr Vater stellte ihn ihr vor, es war der Sohn des Hauses. Man setzte sich, der Tisch wurde von Neuem mit Schüsseln und Tassen, Kuchen und Obst beladen, nur setzte sich diesmal Frau von Horvath mit der ältesten Tochter zu ihrem Sohne Lajos, von dessen lebhaft bewegtem Antlitz ihre Mutteraugen nicht ließen.

Jetzt erst bemerkte Agnes, daß noch ein dritter Herr anwesend sei; sie fragte Elisabeth nach ihm; Herr von Horvath, den auch wir bei seinem Taufnamen kurz Lajos nennen wollen, hörte die Frage, sprang eifrig auf und sagte, sich an Agnes wendend: »Bitte tausendmal um Verzeihung, Fräulein von Stein, daß ich versäumt, Ihnen meinen Freund vorzustellen! Herr Doctor Rose, ein Landsmann von Ihnen.«

Agnes erhob sich und verbeugte sich in ihrer freundlichen Weise, als sie aber ihr erröthendes Gesicht – sie erröthete bei jeder solchen Gelegenheit – wieder aufrichtete, um den Fremden anzusehen, stand er da mit einem Blick auf sie, von dem sie selbst nicht wußte, ob er mehr ihre Ueberraschung oder ihren Zorn hervorrief.

Seine großen, hellen, blauen Augen trugen das deutliche Gepräge spöttischer Neugier und schienen beinahe hörbar zu fragen: »Also das ist sie, um die man so viel Umstände gemacht hat?«

Agnes war zu schön, um nicht, ohne daß sie sich selbst dessen bewußt war, an eine gewisse Bewunderung oder doch mindestens Ueberraschung bei jeder männlichen neuen Bekanntschaft gewöhnt zu sein.

In den Zügen dieses jungen Mannes fand sie zum ersten Male nichts davon – und was berechtigte ihn, sie so übermüthig anzusehn? Was konnte er von ihr wissen? Nachdem sie sich von ihrer Ueberraschung erholt, unterwarf sie ihn einer scharfen Prüfung, die er mit dem größten Gleichmuth ertrug, indem seine hellen Augen ihren dunkeln, großen, stolz auf ihn gerichteten Sternen durchaus nicht aus dem Wege gingen.

Sie musterte ihn genau. Er war nicht, was man schön nennt, dazu war er für einen Mann zu fein gebaut, zu blaß und überhaupt zu wenig in die Augen fallend. Er sah klug, intelligent, ja er sah aus wie ein Denker, aber das war auch Alles! Hatte er von ihr reden hören? wo – was hatte er gehört? Ihre gute Laune war dahin; dieser Doctor Rose mit seinen unausstehlich klaren Augen war dem reizbaren Mädchen der Gifttropfen in ihrer unbefangenen Freude geworden.

Sie hatte seine Stimme noch nicht gehört, als ihr Vater sich mit der Frage: »In welcher Gegend von Deutschland sind Sie zu Hause, Herr Doctor?« an ihn wandte.

Unser alter Bekannter schwieg einen Augenblick, dann sagte er rasch: »Aus Schwaben, Herr Baron, oder wenigstens,« setzte er lächelnd hinzu, »was man hier zu Lande Schwaben nennt und worunter man ja das ganze südliche Deutschland außer Oesterreich und Bayern versteht.«

Der alte Herr war zu fein, um nicht zu fühlen, daß ihm Rose absichtlich eine ausweichende, ungenaue Antwort gab. Er schloß daraus, daß es dem jungen Mann aus irgend einem Grunde unangenehm sei, den Ort seiner Heimath zu nennen, und drang deshalb nicht weiter in ihn – den wahren Grund konnte er natürlich nicht errathen.

Prinz Albert hatte Wilhelm während der gemeinschaftlichen Reise vollständig zum Vertrauten seiner Liebe für Agnes gemacht. Wilhelm hatte aus Alberts Erzählungen sich weder von Agnes' Charakter, noch von dem Grade ihrer Zuneigung für den Prinzen ein klares Bild machen können, und eben, weil sie ihm räthselhaft war, hatte sie in ihm jenes aus Theilnahme und Neugierde gemischte oberflächliche Gefühl geweckt, welches wir gewöhnlich mit dem Worte »Interesse« bezeichnen.

Hier lernte er das Mädchen nun durch einen wunderbaren Zufall kennen, denn nach Alberts Erkundigungen in Wien mußte er glauben, was diesem erzählt worden, Herr von Stein habe sich nämlich in der Nähe von Ketskemet niedergelassen.

Herrn von Stein erinnerte er sich aus seiner Knaben zeit sehr wohl auf Waldheim gesehen zu haben, Agnes hatte er dadurch sofort erkannt. Im ersten Augenblicke fand er sie nicht so schön, wie er sie sich gedacht. Nicht daß Albert in seiner Schilderung übertrieben, aber Wilhelm hatte in ihr eine Art von Schönheit vermuthet, die ihm mehr zusagte, weil sie seinem Character angemessen war, wie das ja so häufig bei Beurtheilungen maaßgebend ist. Als Herr von Stein ihn nach seiner Heimath fragte, hatte er unbefangen Waldheim nennen wollen, da fiel ihm ein, daß er von diesem Augenblick an für Agnes nur noch ein Appendix von Albert sein würde; das wollte er nicht und überdem wünschte er unter vier Augen die Wirkung der Zauberformel: Waldheim, auf Agnes zu erfahren. An ihrem Benehmen bei seiner Erklärung: Ich komme von Waldheim, mußte er deutlich erkennen können, ob sie Albert liebe, ja ob sie ihn je geliebt habe. Seine Zauberformel wollte er also nicht unnöthig verpuffen, es waren auch zu solch einer Beobachtung zu viele Zeugen da.

»Wollen Sie sich als Arzt in Pesth niederlassen?« fragte Herr von Stein wieder nach einer Weile.

»Ich habe Lust dazu,« sagte Rose nachlässig, »werde aber auf jeden Fall erst das Land durchstreifen, denn in Ungarn zieht mich gerade das Land mit seiner wilden Uncultur am meisten an.«

»Als ob wir Barbaren wären,« sagte lächelnd der junge Horvath.

»Danken Sie Gott, daß Sie es sind. Obgleich ich für und durch die Bildung lebe, so liebe ich sie dennoch nicht. Sie verflacht das Leben und die Charactere und raubt ihnen jede Ursprünglichkeit – und Poesie ist ja nichts Anderes!«

Er sah Agnes an mit der festen Erwartung, daß sie etwas sagen würde, denn für sie und auf ihre Genialität bauend hatte er ja diese Worte gesagt, denen sie beistimmen sollte; aber sie schwieg und spielte gleichgültig mit den Ringen an ihren schlanken Fingern.

Herr von Stein sagte lächelnd: »Wenn ein gebildeter Mensch auf die Cultur schilt, so kommt mir das immer vor, als wenn ein Naturmensch auf Essen und Trinken schilt. Beide können Beides nicht entbehren, möchten es aber gerne, wenn sie nur ohne dasselbe leben könnten.«

» Sie sagen das und Sie haben sich doch hier angesiedelt, Herr Baron?«

»Erstens sind wir hier durchaus nicht so außerhalb der Cultur, wie Sie glauben, und dann bin ich ein alter Mann, der von Allem genug hat, und überdem ist mir hier mein angenehmster Zeitvertreib, die Gesellschaft meiner Tochter, gesicherter als ›draußen.‹«

»Aber Ihre Fräulein Tochter?«

»O, die ist noch jung genug, um später die Welt mit allen ihren Verfeinerungen genießen zu können, und alt genug, um selbst zu würdigen, was sie einsetzte, indem sie eine deutsche Residenz gegen ein ungarisches Landgut vertauschte. Nicht wahr, Agnes?«

Agnes nickte freundlich ihrem Vater zu und sagte mit wieder heiterm Ausdruck: »Ich war es ja, die Dich nach Ungarn verlockte, Väterchen.«

Wilhelm griff diese Aeußerung auf, um eine Unterhaltung mit Agnes daran zu knüpfen.

»Auf Ihren Wunsch, gnädiges Fräulein, ist Ihr Herr Vater in die Landeinsamkeit gezogen? Was kann denn eine so junge Dame bewogen haben, alle ihre Ansprüche an die große Welt so leicht aufzugeben?«

»Laune, nichts als Laune, Herr Doctor,« sagte Agnes ironisch. »Jeder Mann weiß ja, daß Launen das einzig bewegende Princip aller Frauenhandlungen sind!«

»Was berechtigt Sie anzunehmen, mein gnädiges Fräulein,« sagte Wilhelm mit komisch sanfter und süßer Stimme, »daß ich so grenzenlos albern bin, eine solche Antwort von Ihnen zu verdienen?«

Agnes hätte gern gesagt: »Weil Sie mich so impertinent angesehen haben,« aber das ging nicht, sie mußte also einen Umweg nehmen, doch sie nahm den kürzesten und sagte, indem sie lachte, um ihrer Antwort einen harmlosen Anstrich zu geben: »Sie haben mir nur den Eindruck gemacht, den uns Mädchen alle unsere weltbeherrschenden Zeitgenossen machen, den eines sehr selbstzufriedenen, die Welt und besonders die Frauen von Oben herab betrachtenden Philosophen.«

»Lieben Sie die Philosophen?« fragte nun Wilhelm statt aller Rechtfertigung.

Und Agnes schüttelte lachend dm Kopf.

»Also die jungen Männer überhaupt nicht?«

Das war wieder sehr impertinent, und doch fühlte Agnes, daß sie diese Frage eigentlich hervorgerufen, sie ergriff daher eine ächte Frauenauskunft, sie sprang ab.

»Wir wollen nicht unsere abgesonderte Unterhaltung zu lange fortführen, Herr Doctor. Sie kennen wohl die alte Behauptung, daß, wenn zwei Deutsche sogar am Nordpol zusammentreffen, sie so lange ihre Ansichten erörtern, bis sie in Streit gerathen. Wir wollen diesen einigen Ungarn selbst nicht im Kleinen den Triumph gönnen, die deutsche Uneinigkeit mit Augen zu sehen.«

»Nur noch ein Wort, gnädiges Fräulein, nur eins, um nämlich auszusprechen, wie leid es mir thut, daß Ihr Nationalstolz Sie verhindert, mich zu Ihrem Feinde werden zu lassen; denn wenn man sich Jemand beim ersten Zusammentreffen ohne irgend einen Grund zum Feinde ausersieht, so ist das von einer Dame Ihresgleichen jedenfalls ein eben so hoher Beweis von Achtung, als wenn ihn eine Andere so ohne Weiteres zum Freunde ausersieht.«

Agnes ärgerte sich über den jungen Mann immer mehr, sie fand ihn unerträglich, aber zum ersten Male seit langer Zeit wußte sie nicht einen Vorwitzigen zurechtzuweisen; sie fühlte, daß sie in ihrer bisherigen Unterhaltung durch jede Zurechtweisung, die sie ihm ertheilt, Grund verloren statt gewonnen hatte. Sie schwieg deshalb, indem sie nur die Hand etwas erhob und lächelnd die Geberde des Abwehrens gegen ihn machte.

Für Wilhelm fand sich keine Gelegenheit mehr, eine Unterhaltung mit ihr anzuknüpfen, weil sie sich unablässig mit den Damen des Hauses beschäftigte; nur beim Abschied fand er noch einen Augenblick, wo er ihr sagen konnte: »Nicht wahr, wenn einmal keine Ungarn zugegen sind, geben Sie mir die gnädige Erlaubniß, mich zu Ihrem ›Feinde‹ auszubilden?«

Agnes erröthete, ihre Oberlippe zuckte mehrmals, ohne daß sie sprach, dann rief sie aber rasch:

»Es ist ein alter Satz: der Mensch lernt nichts, als was er schon weiß; vielleicht kann man hinzusetzen: er bildet sich zu nichts, als was er schon ist. Denken Sie einmal darüber nach, Herr Doctor.«

Wilhelm verbeugte sich lächelnd und verbeugte sich nochmals, als der Wagen abfuhr, und sein blonder, kluger Kopf war das Letzte, was Agnes sah, als sie zum Thore hinausfahrend sich noch einmal nach der Familie umwandte.

Bei der Rückfahrt fragte Herr von Stein seine Tochter, wie ihr der junge Arzt gefallen; da es aber zu Agnes' Eigenthümlichkeiten gehörte, daß sie alles Unangenehme erst in sich überwinden mußte, ehe sie davon sprechen konnte, während das Angenehme, Erfreuliche gar keinen Reiz für sie hatte, wenn sie nicht Gelegenheit fand, sich auszusprechen – mit Einem Worte, sie behielt ihren Aerger für sich und theilte ihre Freude mit – so sprach sie sich auch jetzt nicht aus.

An Wilhelm vermochte sie nicht ohne tiefen Groll zu denken. Es war freilich nur ein ganz gewöhnlicher Mädchengroll, aber eben weil ihr dieser Groll selbst ohne tiefere Berechtigung erschien, war er ihr doppelt unangenehm, und ein Theil dieses Gefühls fiel natürlich auch auf seinen Urheber zurück.

Als ihr Vater die Frage wiederholte, antwortete sie kurz: »O, er scheint mir ein gescheidter Mensch zu sein.«

»Scheint?« rief Elisabeth verwundert. »Er ist es ganz gewiß.«

Herr von Stein fragte lächelnd die junge Ungarin, welche so gar besondere Weisheit denn der junge Mann entwickelt?

»Haben Sie nicht seine Augen betrachtet?« rief lebhaft Elisabeth; »darin steht es ja deutlich geschrieben. Ich habe noch nie so bedeutende, helle Augen gesehn.«

»Dann hat aber Agnes doch Recht, wenn sie sagt: er scheint. Denn das, was Sie in seinen Augen lesen, ist doch offenbar nur der Schein des Verstandes, der sich Ihnen zeigt, aber nicht der Geist selbst.«

»Sie deutscher gründlicher Baron,« lachte Elisabeth, »ist nicht, was ich sehe, eben so gut, wie was ich höre? Ist nicht ein intelligenter ironischer Blick oft unendlich schlagender, als ein schwerfälliges Wort? Kann nicht ein Blick des Einverständnisses uns unendlich mehr von einer Seele erfahren lassen, als die ausführlichsten Erklärungen?«

Herr von Stein hob neckend den Finger. »Fräulein Elisabeth, Sie reden da von Blicken des Einverständnisses« –

Eine dunkle Röthe bedeckte die hohe Stirne der Ungarin, sie machte eine abwehrende Bewegung, dann aber überwand sie sich sichtlich und sagte, indem ein paar Thränen in ihren hellbraunen Augen standen und sie die Hand des alten Herrn ergriff:

»Nehmen Sie mir es nicht übel, Herr Baron, wenn ich ganz offen eine Bitte gegen Sie ausspreche?«

»Liebes, gutes Kind, sagen Sie, was Sie wünschen.«

»Nun wohl, so bitte ich Sie, necken Sie mich nie mehr mit einem jungen Manne in der Weise, wie Sie eben gethan. Ich habe das nie gut vertragen können, jeder Gedanke eines näheren Verhältnisses zu einem Manne ist mir von jeher ganz fremd gewesen, bis – bis dieser Gedanke eine Gestalt fand und für lange, lange Zeit mein Herz erfüllte. Ich habe das jetzt überwunden, Sie wissen, nach welch traurigen Erfahrungen! Ich denke nie mehr an Liebe, nie mehr an den, der allein einmal mir dies Gefühl einzuflößen wußte, ich halte mich auch für ganz geheilt, bis ein Wort in der Weise, wie Sie es eben äußerten, mir entdeckt, daß mein Herz doch nur ein geflicktes, mit Religion und Selbstüberwindung zusammengeleimtes Ding ist – necken Sie mich nie mehr, denken Sie, ich wäre eine alte Frau!«

Herr von Stein küßte ihr statt aller Antwort die Hand, und mit einem Druck der Hände ward auch das Gelöbniß gegeben und empfangen, nie mehr die schmerzende Saite zu berühren.

Agnes aber betrachtete ihre Freundin mit einigem Erstaunen, weil sie einsah, daß sie nicht bloß ganz anders war, wie alle ihre bisherigen Mädchenbekanntschaften, sondern auch ganz verschieden von ihr selbst. Elisabeth kam ihr eben wie ein Mann vor, so klar, so offen, so ohne eine geheime, schüchterne, verschleierte Neigung; sie vergaß, daß Elisabeth ein ganz unverkümmertes Naturkind war, bei dem jede innere Blüthe sich frei und unbefangen nach Außen hin entwickelt hatte, daß sie darum so offen war, wie es sonst nur Männer sind – wenn sie es nämlich nicht der Mühe werth halten, sich zu verstellen!



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